Zustand, Erinnerung und Ausblick. Mein Nachdenken über Emily.

No Coward Soul Is Mine: diese Zeilen, nein das ganze Gedicht der anderen, früher geborenen Emily werde ich an meiner bevorstehenden Beerdigung in diesem frühlingsfreudigen Mai 1886 vortragen lassen. Man wird meinem letzten Wunsch entsprechen, obwohl er wohl bei den meisten von jenen, die mich zu kennen und an diesem Anlass nicht fehlen zu dürfen meinen, ein Stirnrunzeln auslöst, vielleicht ein unwilliges Lächeln hervorbringt. Solche gewaltig tönenden Worte letztlich über sie, die sich sensibel vor der Welt verbarg, in einer der Erinnerung geweihten Situation? Was soll in einem solchen Moment dieser in Worte gefasste Fremdkörper? Nein, der bestimmende Körper bin ich selbst, war ich selbst – wohl von zarter Gestalt, indessen unbeugsam in seinem Ausdruckswillen.

Wer kannte mich schon, die ich, wie man weiß, vornehmlich im Hause, ja im Zimmer lebte? Da sind, da waren der das Heim der Dickinsons in Amherst prägende politisch tätige Vater und die Geschwister, also mein Anwaltsbruder mit der prachtvollen Schwägerin, meiner Schulfreundin Susan, meine Schwester Lavinia, die nach wie vor um mich in unserer Wohnstatt lebt – sowie der eine oder die andere gute, freundliche, freundschaftliche, auch liebevoll mir geistig zugewandte Bekannte. Nun, ich schrieb einiges: Zahlreich sind meine Briefe, in denen ich dann nicht allzu viel von mir verbarg, fügte ich ihnen eines meiner Gedichte bei. Ansonsten schrieb ergiebig ich nur für mich: Es dürften weit mehr als tausend Blätter in etwa fünfzig Manuskriptheften sein, die bei mir auf dem, in dem Pult liegen; fast nichts demnach wurde veröffentlicht. Rechne ich meine Umgebung nicht: Wer hätte schon die Lyrik einer Frau wahrgenommen, gar gekauft: Soll ich hinter diesen Satz ein Ausrufe- oder ein Fragezeichen setzen?

Ich zog mich zurück von der Welt. Ich zog mich zurück in mich. Freilich bedeutete das keine Weltferne. Ich nahm teil am Geschehen, gerade der große grausame Bürgerkrieg beschäftigte mich tief: Nicht dass ich kämpferische Passagen verfasste, er wirkte hinein in meine rastlosen Gedanken über die Begrenztheit des Lebens und die Sache dessen Endes selbst – mit, nein: in der Hoffnung, es bleibe vom einzelnen Menschen etwas Greifbares für die Nachwelt zurück. Und: Der Liebe gleich, der stetig ich ebenfalls nachsann, von Mann und Frau, von Mann zu Frau und umgekehrt, einer Liebe, die sich über die Grenzen hinaus verströmen sollte, verlangt meine mich uneingeschränkt zum Berührtsein und Empfinden aufrufende Teilnahme kein feminin sittsames Betragen, kein weiblich zurückhaltendes Auftreten, keine stille Bescheidenheit. Eine derartige, aus den starren Gesellschaftsregeln resultierende Haltung mag für das sich Aufführen in und außerhalb des Hauses Geltung besitzen. Bei welchem Benehmen, sollte ich nicht auffallen respektive wollte ich nicht anecken, ich eine bestimmte Rolle einzunehmen, sprich: im vorgegebenen Rahmen zu spielen hatte – wodurch in solchem Vollzug das Angepasste buchstäblich sich veräußerlicht.

Die innere Haltung ist eine ganz andere Sache: Hier verblasst, bin ich, wenn ehrlich, ganz bei mir selbst, die bürgerliche, die puritanische, die kirchlich geprägte Sozietät, wird zu Schattierungen des Gefühlten, wenn nicht gar zu immer stärker verblassenden Schatten degradiert. Hier ist die ewig kindliche Emotion erlaubt, das ewig kindliche Fragen ja Nachfragen angebracht, das ewig kindliche Aufbegehren legitim: im steten Verlangen erneut, neu aufbrechen zu können: wie im buntfrohen Aufblühen die Natur, welche mir in ihrer auf Entdeckung wartenden Sinnhaftigkeit unendlich viel bedeutet; wie zu kaum bekannten, dunstig grünen oder graubraunen Ufern, welche das Empfinden bereithält; wie in die herrliche frühe Helle oder die sanfte abendliche Kühle eines Maientags, wie in die angesichts der ungebunden strahlenden Fülle des die Jahreszeiten zusammenfassenden Indian Summer ausschwingende Seele: Not knowing when the Dawn will come, / I open every Door, / Or has it Feathers, like a Bird, / Or Billows, like a Shore – Doch ich formulierte ebenso: It would never be Common – more – I said – / Difference – had begun – / Many a bitterness – had been – / But that old sort – was done – Mein geistlicher Freund, inzwischen weit entfernt, weil hinüber an den Pazifischen Ozean übersiedelt, und die meisten all der anderen hätten wohl in dieser verknappten Struktur, in diesen Auslassungen, im frei gelassenen Schluss kaum das zum Weiterspinnen Aufgegebene, nur eine zumindest zum Teil ins Stocken geratene, reduzierte Beobachtung empfunden: nicht aber den Ausdruck einer eindringlichen Suche nach klarer Festigkeit.

Und ich ahne, nein ich weiß es, auch in Zukunft werden, nach der mutmaßlichen Publikation meiner Texte, viele Leser dieses Gebaren einer emanzipierten Bestimmtheit nicht nur schwerlich begreifen, sondern zugleich im umgekehrten Sinn rätseln, welche Beziehung sich darin ausdrücken sollte, dabei namentlich werweißend, welcher Mann, welche Frau angesprochen sein möchte. Im Bewusstsein, wie sehr die Lyrik, wie sehr meine Poetik in der Verdichtung vieles in Andeutungen verborgen, Geheimnisvolles undeklariert lässt, wie sehr Empfindungen, selbst wenn in unmissverständlichen Ausdrücken vorgelegt, in einer Echowirkung zugleich verstärkt zurückkommend wie abgeschwächt verhallend aufscheinen – muss ich lächeln: Bleibt doch mein Formuliertes offen, so offen, dass ich oft und gerne auf das Geschriebene zurückgreife, um es zu ändern.

No Coward Soul Is Mine: Durch diese mir eigene Kraft einer ebenso vorwärtsdrängenden wie Ungewohntes aufwerfenden, vermeintlich hart anmutenden Verkürzung wird: „War ihr, unerkannt, ein wildes, gar ein geheimes rebellisches Wesen eigen?“,  man womöglich fragen, nimmt man sich dereinst meine Gedichte vor. Ja, bis hinüber zum Pazifik ist der Wilde Westen hinausgezogen, von dem mich eine mittlerweile veränderte Welt zu trennen scheint. War hier im Staate Massachusetts jemals ein Westen, den es lohnte zu bezwingen? Ich erlaube mir die Gegenfrage, was denn ein Säkulum sei? Hundert Jahre vor meiner Geburt entstand an diesem Ort im Indianerland die erste Siedlung in einer, wie wir heute sagen würden, romantischen Landschaft mit hohen Erhebungen, mit tiefen Farben und ausgreifender Sicht.
Ein Rundumblick, stieg ich, wenngleich selten, hinauf. Dann allemal meinte ich ihn zu schmecken – den Anhauch der Weite, welcher die natürlichen Gegebenheiten ebenso wie die menschlichen Eingriffe enthält, vom Rauch der Feuer dort draußen seit alters her bis zum Rauch der Industrie aus jüngster Zeit unter mir – jene Luft, welche berichtet von den Interventionen der letzten Generationen in der Nähe, doch zugleich von dem fernen Geschehen in der Zeit und im Raum eines vermeintlich freien Lands.
Der Atem der Vergangenheit ist nicht mehr direkt fassbar: Wo sind sie hin, die Indianer und die Siedler, die Späher und die Kämpfer ebenso wie die Aufbauenden und die Kultivierenden? Ja, in meinem Sehnen überwinde ich die Vergangenheit, spüre ich die Unendlichkeit, obgleich der Weg zu ihr durch die starken Umformungen erschwert, wenn nicht verbarrikadiert ist – wäre da nicht das stete kleinteilige Leben, das in seinem Tagwerk nachweist, wie Grenzen den Träumen gleich überwunden werden können: To make a prairie it takes a clover and one bee, / One clover, and a bee, / And revery. / The revery alone will do, / If bees are few –

Das eine ist die Prairie, ihr Gegenpol die See; ich kann sie, so ich wollte, erreichen im Atlantik, er liegt nicht allzu entfernt von hier. Ihn mir zu vergegenwärtigen, genügt derweil meine Erinnerung und meine Phantasie – ewig bewegt in ein rauschendes Hinaus, das sich mittels der Horizontlinie wieder zu uns zurückbeugt: Land, ho! Eternity! / Ashore at last! Nicht nur hierbei, in einer Rückkoppelung, mir seit unendlichen Kindheitstagen vertraut, fuhr ich fort: There is no Frigate like a Book / To take us Lands away

I dwell in Possibility / A fairer Hause than Prose: Selbst wenn ich letztlich doch nicht alles niederschrieb von den Stimmen, Tönen, Worten, denen ich in mir nachging – es soll, es wird von meinen be-, von meinen verarbeiteten Möglichkeiten gleichwohl etwas bleiben. Da ist sie, die Stimme des Ewigen von vor der Zeit bis über die Zeit hinaus, wie, um darauf zurückzukommen, unser Indian Summer in seiner Endlosigkeit über die Höhen und Täler das Wesen des Ganzen enthält, Kraft und Vergänglichkeit, Reichtum und Vergehen, Zusammenbruch der Farbfülle und Aufbruch zu erneuertem Leben. Er ist als die wichtige Alternative zum, ich sprach es an, von mir gleich stark empfundenen Frühlingserwachen seinerseits nur in seinem Erscheinen zu erkennen; da galt es dann: The low Grass loaded with the Dew – / The Twilight stood, as Strangers do – / With Hat in Hand, polite and new – / To stay as if, or go – Was ist fremd, was bleibt uns fremd? Was ist gewohnt, was steigt nur aus uns hervor? Was bleibt, was vergeht? We never know we go when we are going / We jest and shut the Door / Fate – following – behind us bolts it – / And we accost no more – Nicht nur das Schreiben, auch das Erkennen ist, ich begriff es wohl, ein einsamer Prozess.

Gleichwohl, allein fühlte ich mich niemals: Die Religion gab mir den sicheren Standort. Es ist nicht mehr genug Platz und Zeit, Genaueres auszuführen, die Thematik ist ohnehin schlussendlich unerhört persönlich, nur dem, der Einzelnen eigen. Jedoch ich wusste immer: Gott sah mich! Indes, welcher Gott? Ich komme auf mein Wunschgedicht zurück: O God within my breast / Almighty ever-present Deity / Life, that in me hast rest, / As I Undying Life, have power in Thee heißt es dort in der nächsten Strophe. Ja, diese zweite, nein: Diese erste Emily schrieb es mir vor einem Vierteljahrhundert bereits aus dem Herzen. So ist Er, obgleich nicht greifbar, mithin hier, findet Raum selbst in der Enge des Zimmers mit Bett und Pult, weil in meinem das Umfassende des Seins suchenden Gemüt. Ich formulierte die Erkenntnis stärker von einem scheinbaren Punkt außerhalb meiner Person: Prayer is the little implement / Through which men reach / Where presence is denied them. Wobei ich betonen möchte, Er neigte sich mir persönlich zu, zu mir, wandte sich nicht zuletzt zu mir auch als bewusst weiblich empfindendem Wesen.

Ach Emily Brontë, so vieles Weiteres verbindet uns, hingesehen oder besser: hingelesen. Wir benötigen keinen Wechsel: Der unaufhaltsame Wandel ist ja, wenngleich für uns auf fester Grundlage, stets um und in uns. Die Farbe deines dortigen Moors und meiner weiten Wälder. Die Verbundenheit mit dem in allem Kreatürlichen zu erspürenden Leben – das über sich hinausweist – im immerwährenden Kreislauf – der ewige heraufziehende Nebel – ich –

Martin Stankowski
www.stankowski.info

veröffentlicht in: Literarisches Österreich 2020/2  «Freiheit», S. 93-97

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 20018

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