Das ist ein weites Feld. Theodor Fontane zum 200. Geburtstag am 30. Dezember 2019

Das ist ein weites Feld.[1]

Auf den Feuilletonseiten großer Zeitungen, als gedruckte Publikationen, in den Fernseh-Angeboten mehren sich zwischenzeitlich Übersichten, Zeugnisse und Interpretationen Fontanescher Werke. Zumindest frühere Schulzeiten (wie die des Schreibenden) prägte die Pflichtlektüre einzelner Gedichte und ausgewählter Romane, etwa «Die Brück’ am Tay» einerseits oder «Effi Briest» andererseits. Für Fontane jedoch gilt mehr noch als für viele andere: Ein Ausschnitt, so groß er sein mag, wird diesem Mann nicht gerecht. Sein immenses Werk stellt dafür nur einen Teilgrund. Sein Werk ist unlösbar verbunden mit seinem Leben, mit seiner persönlichen Entwicklung ebenso wie mit seinem Umfeld. Dies beschrieb er nicht nur in Erinnerungen in Mitteilungen zu seinen Kinderjahren und namentlich in dem im Alter entstandenen «Von Zwanzig bis Dreißig» sogar selbst; nahezu unüberblickbar erscheint seine inhaltlich und sprachlich reiche Korrespondenz. Auch wenn den meisten unbekannt, es sei denn in aus ihr (wie aus Romanen) als Aphorismen gebotenen Einzelsätzen (wie Die Dinge beobachten gilt mir beinah mehr, als sie zu besitzen[2]), ist sie doch integraler Teil des großen, großartigen Opus – und allein durch sie wäre Fontane bereits ein bedeutender Schriftsteller. Sein Ganzes zu begreifen dürfte immer ein Versuch bleiben, der sich aber unbedingt lohnt.

Die Anfänge sehen recht bescheiden aus: In dritter Generation einer in das reformierte Preußen ausgewanderten Hugenottenfamilie ist ihm der Beruf seines Vaters vorgegeben: Er wird ebenfalls Apotheker, wenngleich seine finanziellen Verhältnisse niemals ausreichen werden, ein eigenes Geschäft zu erwerben. Phasen der Akzeptanz wechseln mit Strecken beruflichen Zweifels, für den Außenstehenden sichtbar in seinen bereits früh verfassten Gedichten. Auf Umwegen erreicht er, nach Aufenthalten an verschiedenen Orten, bereits mit 24 Jahren in Berlin die Mitgliedschaft im «Tunnel über der Spree» genannten Literaturklub gebildeter Autodidakten ganz unterschiedlicher sozialer Niveaus. Eine eigene Stellung schafft er sich mit Balladen von einer von ihm immer mehr vervollkommneten (kunstvollen) Schlichtheit des Ausdrucks, die speziell zu packen vermag. Vorbild ist England, dessen Kultur, die für ihn nicht vom Alltag zu trennen ist, er sich bei zweimaligen vielmonatigen Aufenthalten in London als eine Art preußischer Korrespondent intensiv widmet.

Auf einer Schottland-Reise wird er sich bewusst, wie stark Landschaftliches von Geschichte geprägt ist, eine Erkenntnis, die zum Auslöser wird, nun auch die Mark Brandenburg um Berlin zu erfassen: Die «Wanderungen» werden zu einer vielverzweigten, meist in seiner Freizeit unternommenen Erforschung und Notationsarbeit, die ihn über Jahrzehnte beschäftigen und in vielen Bänden ihren Ertrag finden wird; sie entwickeln sich naturgemäß in ihrer Schreibweise, bleiben jedoch allesamt geprägt von einer Mischung aus möglichst genauer Feldforschung, einer klaren thematischen Struktur und einer angenehmen Lesbarkeit. … nur grüne Fläche (…); mal auch ein Kahn, der über diesen oder jenen Arm der Oder hingleitet, dann und wann ein mit Heu beladenes Fuhrwerk oder ein Ziegeldach, dessen helles Rot wie ein Lichtpunkt auf dem Bilde steht.[3]

Genau diese Methodik aus sachlicher Präzision und guter sprachlicher Nachvollziehbarkeit legt er einer Art Parallele im Reporterdasein zugrunde: Sie erwächst ihm aus der gleichfalls langwierigen Berichterstattung über die Kriege 1864, 1866 und 1870/71, die er jedoch nicht während der Kampfhandlungen, sondern durch Sammlung von Zeugnissen und nachträglichen Besichtigungen vor Ort – Das Büchermachen aus Büchern ist nicht meine Sache[4] – nachvollzieht. Nunmehr hält er als Neuerung fest: (Meine) Kriegsbücher sind etwas anderes: Gruppierung des Stoffs im Ganzen wie im Einzelnen; Übersicht und Klarheit; und, maßgeblich prägend für das folgende belletristische Werk, lebensvolle Darstellung und Fülle der Details[5].

Selbst daraus erwächst zwar neuerlich kein finanzieller Erfolg, aber er wird – nicht zuletzt auch durch die Kunde seiner Wochen als französischer Gefangener – bekannter bis hin zum Antritt einer zweiten beamteten Stellung. Wie in den besten (seiner) Novellen folgt der bühnengerechte Wendepunkt: Er kündigt als immerhin Mittfünfziger nach wenigen Monaten, weil er einsieht, wie sehr seine menschlichen Qualitäten und seine beruflichen Fähigkeiten unter den letztlich eingebildet-bornierten Umständen leiden müssen. Zumal seit einiger Zeit schon gilt, uns vor Erniedrigung und Unwürdigkeit zu bewahren. Und nur darauf kommt es schließlich an. Independenz über alles. Alles andere ist zuletzt nur Larifari.[6]

Die Dramatik gilt nicht nur innerlich, sie hat, trotz, wie er vorrechnet, bleibender Ersparnisse für ein Jahr, erhebliche existentielle Auswirkungen auf die sechsköpfige Familie. Nur langsam fängt sich etwa seine Frau und lässt nach und nach die schweren Sorgen hinter sich. Dahinter dürfte kaum der vielfach von Fontane bekundete Entschluss gestanden sein, in Zukunft nur noch als Schriftsteller tätig zu sein, sondern vielmehr die von ihm akzeptierte praktische Konsequenz: Courage ist gut, aber Ausdauer ist besser[7], konkret: hoher Fleiß, um des lieben Brotes halber am Trapez weiterzuturnen[8], was hieß im Beendigen der begonnenen «Serienwerke» inklusive verdichtetem Schriftverkehr mit Verlegern, Publizisten, Redaktionen von Zeitschriften und Wochenblättern, unermüdliche Theaterkritiken für die «Vossische Zeitung» (die über 19 Jahre anhalten), manchmal sogar umfangreichere Gelegenheits- oder Auftragsarbeiten wie Rezensionen und Essays. Und es folgen ab seinem sechzigsten Altersjahr die vielen Romane und Novellen in dichtester Folge.

Die Familie darbt nicht, verbleibt in der eher bescheidenen Wohnung mit Hausmädchen, die Kinder schließen jedes eine respektable Ausbildung ab, das Ehepaar verbringt Teile des Sommers auf dem Land (im Harz, Erzgebirge, in Schlesien oder Mecklenburg), später in Bad Kissingen. Man lebt aber ebenso wenig auf großem Fuß, muss sich finanziell stets nach der Decke strecken, was auch heißt, sich stärker aus dem gesellschaftlichen Leben zurückzuziehen. Die äußere Schlichtheit verinnerlicht Fontane und schreibt in dieser Anfangszeit: … daß ich an meinem Schreibtisch auf die Dauer am besten und am glücklichsten sitze. Einfache Lebensverhältnisse sind allem andern vorzuziehen; der Geist ist dabei am freiesten.[9]

Die Umstände bringen überdies mit sich, dass die Familie ein Rückzugsort wird, in oder vielleicht besser aus dem heraus sich differenziert das gesamte sich Blick und Denken darbietende Geschehen kommentieren lässt. «Bevorzugt» wird dabei eindeutig die Gattin in einem oft spannungsreichen aber immer ebenbürtigen Austausch, schriftlich fixiert in den oft durchaus längeren Trennungsphasen der Gatten. Emilie, aus vergleichbaren Verhältnissen stammend, akzeptiert zum einen das Patriarchalische mit den daraus folgenden umfassenden Diensten von Kinderaufzucht bis Haushaltsvorstandschaft, ist aber andererseits bis hin zu den Secretair-Diensten (…) täglich[10] – sprich den Abschriften aller komplexen Manuskripte und insbesondere dem Reinschreiben kaum endender Korrekturarbeiten des Perfektion anstrebenden Autors – oder gelegentlicher gesellschaftlicher Besuche eng eingebunden in die literarische Entwicklung der Zeit und insbesondere das schriftstellerische Vorankommen ihres Mannes.

Zumindest indirekt vermag man sich den Briefen Fontanes entnehmen, wie sehr Emilie in ihre Kommentierungen eingehend Bücher Dritter einschloss und in den Bewertungen der Werke des Gatten wie wohl auch in privaten Dingen oft kein Blatt vor den Mund nahm – wobei der so Beanstandete wusste, wie sehr er dies als Quell vieler Anregungen brauchte. Eine ähnliche «fachlich» vertraute Stellung dürfte nur noch die Tochter Martha, genannt Mete, gewonnen haben. Mit ihr erörtert er ebenfalls Detailfragen (wie etwa, wie die Menschen in den Texten sprechen sollten[11]) und Fragen der Literatur als Kunstsparte. Wesentliches des in den Briefen zur Arbeit Erwähnten – Basis bleibt Das Menschlichste, was wir haben, ist doch die Sprache[12] -– findet sein kreatives Echo in den publizierten Werken, während die politische und nicht zuletzt die «Welt der Texte» einen reichen Widerhall im Dialog nicht zuletzt mit den «außenstehenden» Briefpartnern erhält.

Selbst als die letzten Jahre des 80-Jährigen eine Art Durchbruch auf nationalem, ja internationalem Niveau bedeuten, bleibt er der höchst skeptische, das zutiefst Humane im Geschehen freilegende Geist und wird je älter je offener für neue Entwicklungen. Bei aller sezierenden pointierten Treffsicherheit, nicht zuletzt in seiner nach wie vor faszinierend reichen Ausdrucksweise, fehlen unbeugsam harte Urteile weitgehend, sondern sein Beobachterstatus erlaubt nur eine letztlich großzügige Haltung dem Leben gegenüber. Dies gebot womöglich seine gesundheitliche Labilität, die sich aus steter nervlicher Anspannung mit depressiven Anwandlungen speiste – und somit ein weiteres, auch aus vielen anderen Biografien bekanntes Schlaglicht auf das «Künstlerleben» eines wachen, sensiblen, schöpferischen Menschen wirft: der hier stark unter der jahrzehntelangen Nichtachtung litt und doch zugleich im grundehrlichen Wissen um seine schriftstellerische Qualität ein gleichsam nicht endendes bedeutendes Werk schuf, das erst mit Fontanes Tod im Alter von 88 Jahren sein natürliches Ende fand.

Kurz zuvor beendete er in erstaunlicher, bewundernswerter Geistesfrische (dokumentiert von Gesprächspartnern) voller Entwürfe, mit regstem Interesse für alles und jedes[13] einen nunmehr letzten umfangreichen Roman, «Der Stechlin». In ihm geschieht fast nichts an Aktion, es wechseln differenzierte Beobachtungen der räumlichen Umgebung und Dialoge einiger als Exponenten gewählter Personen. Und doch wird’s beim Lesen niemals langweilig, denn mit geistvollem Gespür, mit feiner Nuancierung und verständnisvoller Milde malt Fontane ein vielfältiges, sublim angelegtes Tableau seiner Jetztzeit der späten 1890er Jahre in der preußischen Gesellschaft … und zieht zugleich eine noch heute höchst beeindruckende, ja wunderbare Summe seiner eigenen Lebenserfahrungen.

[1] vor allem bekannt aus Effi Briest 1895, Kapitel 22 und 36
[2] an die Tochter Martha (Mete) 4.8.1883
[3] aus «Das Oderland» 1863, Blick von Freienwalde
[4] an die Gattin Emilie 12.4.1871
[5] an Otto Baumann 3.9.1872
[6] an Emilie 28.5.1875
[7] aus «Der Stechlin» 1898, 4. Kapitel
[8] an den Sohn Theodor 18.10.1886
[9] an Martha 21.9.1878
[10] so in einem Brief an Mathilde von Rohr 26.4.1874
[11] Brief vom 24.8.1882
[12] aus „Unwiederbringlich“ 1891, 13. Kapitel
[13] so Paul Schlenther Mitte Sept. 1898 anlässlich der Verlobung Marthas (nach O. Drude, Fontane. Ein Leben in Briefen, insel tb 540 Frankfurt/Main 1981, S. 480)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 20017

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