Geschichte einer Liebesgeschichte

Die Entstehung von Ali und Nino. (weiblich, Betonung auf o. )

Ein Roman von Kurban Said

Ich erkannte ihn sofort, durch die Glasscheiben und durch die dicken Rauchschwaden, an seinem Gang. Er war immer darum bemüht, eine noble Figur abzugeben. Aber diesmal stolperte herein wie ein Betrunkener. Die gläserne Drehtüre spuckte ihn zu schnell aus, fast wäre er gestürzt. Ganz und gar nicht gentlemanlike. Dabei war er sonst immer auf eine würdige Haltung bedacht, um seine aristokratische Herkunft zu unterstreichen. Ich sah, dass er wie immer seinen langen Regenschirm am Arm trug, aber keinen Fez auf dem Kopf hatte. Die Freunde kannten ihn nur so, mit dem hohen, roten Filzdeckel. Unbedeckt hatte ich ihn noch nie gesehen, ohne Fez schien er mir nackt und nicht er selbst. Essad Bey, bei uns in Wien war er der Esi. Die schwarzen Haare klebten an seinem Kopf, die Krawatte war nicht gebunden, und die Knöpferlgamaschen hingen lose um seine Knöchel. Seine großen, schönen Augen waren angeschwollen und trüb.
Nie würde er in einem solchen Zustand auf die Straße gehen. Ein Mensch in Auflösung, das sah jeder beim ersten Blick. In der rechten Hand hielt er ein Papier, mit dem er mir schon von weitem zuwedelte. Es musste etwas sehr Wichtiges sein, das ihn derart die Contenance verlieren hatte lassen.

Ich saß an meinem Stammplatz gleich neben dem großen Tisch mit dem Berg von Zeitungen. Der Herr Albert wusste, welche ich bevorzugte. Direkt vor mir stehend, beugte sich Esi über meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los und setzte sich mir gegenüber. Er war außer Atem und keuchte, als hätte er einen Marathon hinter sich. Dabei wohnte er in der Wallnerstraße, buchstäblich um die Ecke. Herr Albert hatte auf dem schwarzen Marmortischchen meine Wunschzeitungen angehäuft. Esi schob sie ohne Erlaubnis auf die Sitzfläche des dritten Stuhls. Obendrauf stellte er das Tablett mit der Kaffeetasse und dem Wasserglas. Eigentlich eine unverschämte Unhöflichkeit. Das war nicht mehr Esi. Nur mein Zigarettenspitz blieb, im Aschenbecher einsam vor sich hinrauchend, liegen.

Sogar die von ihm so geschätzte Anrede mit „Frau Baronin“ unterließ er. Frieda, es ist etwas Schreckliches passiert. Du musst mir helfen.

Na, das war nun wirklich nichts Neues. Bei Esi passierte ständig etwas Schlimmes, und wir taten seit Jahren fast nichts anderes, als ihm zu helfen. Unter uns nannten wir ihn liebevoll Gospodin Katastrofski. Sei es das Drama seiner Scheidung von Erika Loewendahl oder ein Finanzdesaster, ein literarischer Misserfolg oder seine zeitweisen Depressionen. Den Aufenthalt im Sanatorium auf der „Grünen Insel“ habe ich zusammen mit Omar eingefädelt. Hat leider nichts gebracht. Jetzt macht er eine Psychoanalyse beim Professor Freud. Zuletzt ging es ihm ein bisserl besser. Ein russischer Patient.

Er zog ein großes, weißes Taschentuch aus der inneren Jackettasche und wischte damit über die hohe Stirn. Er war nicht bleich, sondern grün-gelb im Gesicht. Seine Züge wirkten entstellt, die breiten Wangen waren zerflossen und hingen schlaff von den Backenknochen herab, auf der Oberlippe standen Schweißperlen. Der fesche, 31-jährige Esi sah plötzlich aus wie ein alter Mann. Mich fröstelte, ich drückte meinen Turban tiefer in die Stirn und zog die Nerzstola enger um mich.

Esi, was ist? Jetzt beruhige dich einmal und erzähl. Anstatt zu reden, hielt er mir das Papier hin.
Noch bevor ich den ersten Buchstaben lesen konnte, sah ich das große Hakenkreuz oben im Briefkopf. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Ich begann zu lesen.
Die deutsche Reichsschrifttumskammer teilte knapp mit, dass Herr Lev Avramowitsch Nussimbaum ausgeschlossen worden ist, er die Ansprüche auf sein Vermögen und alle zukünftigen Tantiemen verloren hat und im Dritten Reich nicht mehr publizieren darf. Grund war keiner angegeben.
Das war eine Katastrophe, ein Schicksalsschlag, von dem er sich nie wieder ganz erholen würde. Ich konnte lange nichts sagen, kaum atmen, nahm seine Hände in meine und wagte es nicht, ihm ins Gesicht zu schauen. Zwischen uns stand der Tod.
Esi, Esi, oh Gott, das ist ja schrecklich. Das war nicht gesprochen, sondern geflüstert.
Esi brachte nichts anderes als ein leises Stöhnen hervor.
Dass er seines Vermögens verlustig gegangen ist, war blanker Raub. Aber dass die Gestapo seine wahre Identität herausgefunden hatte, war ein Todesurteil. Das wussten wir beide und mussten es nicht aussprechen.

Jetzt kamen die Bodmershof, Imma und Willy, ins Herrenhof hereingeweht. Er – atemberaubend in den Frauenkleidern einer Gürtelhure, sie – im Herrenfrack wie für einen Hofball, eine androgyne Schönheit mit einem perfekten Bubikopf. Die New Yorker Millionärserben Binks und Jay Dratler hinter ihnen, die hatten noch ein unbekanntes amerikanisches Pärchen im Schlepptau. Bis auf dieses trugen alle sozusagen Hauskleidung. Jay und Binks hatten es ja nicht weit aus ihrer Wohnung im obersten Stockwerk des Ringturms runter ins Café Herrenhof.

Sie trugen Seidenpyjamas mit ausladenden Schals und Federboas, darüber Turbane aus weißem Atlas, sie mit Kranich-, er mit Flamingomuster, an den Füßen hatten sie reich bestickte, schnabelnasige Pantoffel aus Safin und Antilopenleder. Die ausladenden Wedel aus Pfauenfedern auf den Turbanen wippten lustig bei jeder Bewegung. Sie waren übermäßig stark geschminkt, dicke Ringe um die Augen, schwarze Augenbrauen und gigantisch überzeichnete Lippen in allen Farben. Jay mit baumelnden Ohrringen, Binks mit langen Perlenketten und Ringen an allen Fingern, im breiten Gürtel ein gekrümmter Dolch, ein kaukasischer Kindschal. Wahrscheinlich hatte sie Omar-Rolf gerade für einen seiner Filme ausgestattet, und sie genehmigten sich eine Pause. So tanzten sie aufgekratzt ins Herrenhof herein.

Die Kellner waren solche Szenen von den „gstopften Amis“ im Dachgeschoß des Ringturms gewohnt und schurlten diensteifrig um sie herum. Es umgaben sie Wolken von schweren Parfums, die nur von ihren Zigarren und Zigaretten übertroffen wurden. Verrückte, aber gutmütige Leute, die sich mit Trinkgeld nicht zurückhielten. Na ja, die haben mehr als genug. Sie werfen es uns hin wie eine Banane den Raubtieren im Käfig. Was wollen sie überhaupt hier, denkt der Ober, Herr Albert, während er buckelnd der Gesellschaft die Tische zuweist. Die junge Schauspielerin Paula aus Berlin führt eine Schildkröte an einer goldenen Leine mit sich, eigentlich ist sie ein Mann, sicher ein Jud. Angeblich schreibt Binks Romane und Jay malt Bilder.

Und es kommen immer mehr Leute, darunter viele komische Figuren, auch ein Orientale mit Pluderhosen, Tscherkessenmantel und Fez. Ein orientalischer Prinz solla sein. Haha, a Prinz, dass i ned lach, ich lass mi ned für deppert verkaufen. A verkleideter Jud is des, nix aundas. Der soll an Kaftan tragen. Ich kenn des, i riach die. I kriag eam, irgendwaun. Aber solang die Amerikaner gut zahlen, bleib ich ruhig, wahrscheinlich leben eh alle von irgendeinem Rothschild-Geld. Die Gstopften machen sich Tag und Nacht nur a Hetz und a Gaudi und führn an Karniwal auf. Owa mia miassn buckeln und hackln wie die Deppn. Aber wie alle gut gehaltenen Domestiken im Herrenhof halten sie den Mund. Jetzt noch.

Schnell brachten die Kellner das Übliche für diese Gesellschaft – Champagner und Evian originale. Aber da unterbrachen sie ihre überschüssige Freude und starrten auf Frieda und Esi, wie sie so da saßen.
Was ist passiert, wollten die Freunde wissen.
Nur Blicke. Niemand sprach. Frieda wedelte kurz abweisend mit einem weißen Rehlederhandschuh. Gehts weg. Esi hob nur kurz den Kopf, sah zu seinen Freunden auf, dann sank er wieder in sich zusammen. Es saß da wie ein zum Tod Verurteilter. Die anderen schlichteten sich um die Tische und ließen die beiden in Ruhe.

Es war Frühjahr 1936, Essad Bey und Elfriede von Ehrenfels, saßen einander im Café Herrenhof gegenüber, die Arme weit ausgestreckt, hielten sie die Hände des anderen fest umklammert. Beide ließen die Köpfe hängen und starrten wortlos auf ein Papier in der Mitte der Marmorplatte. Wer sie beobachtete, hätte sie für ein innig versunkenes Liebespaar halten können, das Papier ein Liebesbrief.

Für Esi war Frieda eine gute Freundin, die Frau seines Gesinnungsgenossen und Förderers, des Freiherrn Rolf von Ehrenfels, der, so wie er, zum Islam übergetreten war und sich seither Omar nannte. Rolf-Omar hat vieles studiert, interessierte sich am meisten für Anthropologie und östliche Religionen, dilettierte in der Literatur und drehte Stummfilme, die er alle in einem erfundenen Orient spielen ließ. Er musste nicht arbeiten, seine Familie besaß Schlösser und Güter um Prag und im Waldviertel. Außerdem hatte er mit Frieda in eine Familie geheiratet, die aus dem selben Milieu stammte. Rolf und Frieda von Ehrenfels und Willy und Imma von Bodmershof wuchsen gemeinsam auf und heirateten in erster Linie deswegen kreuzweise, um als Viererbande zusammenzubleiben.

Darüber hinaus experimentierten die Paare jeweils mit dem Partner des anderen und konsumierten so manches orientalisches Pflanzenextrakt. Sie taten damit nichts anderes, als was der Vater Christian von Ehrenfels als Professor der Universität Prag gelehrt hatte, in den glücklicheren Zeiten vor 1914. Er trug seine Gedanken zur freien Liebe, Rassen- und Kulturmischung, zur allgemeinen Promiskuität und Möglichkeiten der Bewusstseinserweiterung vor.
Ganz im Sinne des Vaters experimentierten die Geschwister-Paare mit gleichgeschlechtlicher Liebe, Inzest und Drogen. Christian von Ehrenfels war zu seiner Zeit der beliebteste Professor an der Prager Universität. Es mag total verrückt gewesen sein, was er dozierte, bis dahin ex cathedra noch nie gehört – „aber zumindest ist er kein Antisemit“, notierte sein junger Hörer Franz Kafka im Tagebuch. Seine Vorlesungen waren so sensationell und amüsant, dass ihm Hörer aller Fakultäten in Massen zuliefen. Er musste sie manchmal zwei- oder dreimal wiederholen. Sogar Seminaristen in Soutanen standen mit gereckten Hälsen auf den Gängen, um ein Wort von Prof. Ehrenfels zu erhaschen.

Der Jura-Student Franz Kafka musste innerhalb seines Studiums eine Pflichtvorlesung in Philosophie belegen, und er wählte „Praktische Philosophie“ bei Prof. von Ehrenfels. Die Erinnerungen an ihn sind ungerechterweise nicht an seine originäre Grundlegung der Gestalttheorie, nicht an seinen ausgedehnten Briefwechsel mit Sigmund Freud oder seine „rassenbiologischen Forschungen“ geknüpft, sondern an die Tagebucheintragungen des 19- jährigen Studenten F.K. im Sommersemester 1902 über ihn:
„Es ist so vergnüglich, schon am Morgen zu hören, dass das Beste, was einem Menschen passieren konnte, ein paar Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern zu haben.“ Kafka war bei all seiner Begeisterung für Ehrenfels’ Thesen nie imstande, ihnen im Leben zu folgen. Wie er darum kämpfte, lesen wir vor allem in seinen Tagebüchern und Briefen. Es war eher sein Freund Max Brod, der in seinem Ehealltag damit herumexperimentierte.

Jetzt, im Jahre 1936, war das alles undenkbar geworden, sogar zu einer lebensbedrohlichen Gefahr. Esis Fingernägel gruben sich tief in Friedas Handflächen, als wären sie die einzigen Rettungsanker auf der Welt. Sie beide wussten noch nicht, dass es tatsächlich so kommen würde. Natürlich nicht ganz so, aber immerhin würde aus der mondänen Gesellschaftsdame Baronin Elfriede von Ehrenfels die Schriftstellerin Kurban Said werden, der eine der berührendsten und unbekanntesten Liebesgeschichten der Weltliteratur zugeschrieben wird, „Ali und Nino“.

Ali und Nino sind Kinder, die Anfang des 20. Jahrhunderts in der Altstadt von Baku aufwachsen, Ali in einer moslemischen Adelsfamilie, Nino in einer christlichen Kaufmannsfamilie aus Georgien. Ali besucht das zaristische Gymnasium, wo russische Lehrer aus den kleinen Asiaten gute Europäer zu machen versuchen. Vom Dach seines Hauses kann er in den Gartenhof des georgischen Mädchenlyzeums zur heiligen Königin Tamar hinunterblicken. So beobachtet er mit zunehmendem Interesse die heranwachsende Nino, ohne selbst gesehen zu werden. Zuerst verliebt er sich aus der Ferne in das Mädchen, später auch sie in den Gymnasiasten. als sie sich heimlich begegnen. Nino muss als Christin keinen Schleier tragen, und so kann er in die schönsten Augen des Kaukasus schauen. Sie versprechen sich einander, in der Hoffnung, einmal ein Paar werden zu können.

Die Chancen stehen anfangs gar nicht so schlecht, hat doch das Zarenreich das hauptsächlich muslimische Aserbeidschan seit der Eroberung 1823 heftig russifiziert und sieht den Kaukasus als Teil Europas an. Dort sprudelt der erste Ölrausch aus der Erde. Dort tummeln sich Rothschild und Nobel, Investoren und Gastarbeiter, Casinobesucher und Glücksritter aus ganz Europa. Das neue Eldorado. Der junge Stalin, damals noch Dschugaschwili mit dem Kampfnamen Kuba, führt im Untergrund eine bolschewistische Terrorgruppe, organisiert zur Finanzierung der Partei spektakuläre und ertragreiche Banküberfälle. Aber dann kommt die Revolution, und mit der alten Welt versinken auch Ali und Nino. Die drei gehen aber nicht in der Revolution zugrunde, sondern an den strengen Gesetzen der muslimischen Welt.

Mehr von dieser tragischen Liebesgeschichte im Kaukasus am Ende der alten Zeit und am Beginn der Revolution soll nicht verraten werden. Zuerst muss das Geheimnis um Kurban Said gelüftet werden. Das ist schwer genug. Als der Kurzroman 1937 auf Deutsch erscheint, wird hinter dem Pseudonym Kurban Said die Publizistin Frieda von Ehrenfels vermutet. In Wirklichkeit steckt aber der 1905 im zaristischen Baku geborene Jude Lev Avramowitsch Nussimbaum dahinter.

Er war ein Flüchtling der Revolution, so wie hunderttausende andere Russen in den europäischen Hauptstädten. Lev besucht in Berlin das russische Gymnasium und beginnt 1922, sich als Prinz aus dem Morgenland auszugeben, als Sohn eines Ölmagnaten. Etwas, was ganz unmöglich ist, denn im zaristischen Russland durfte kein Jude in den Siedlungsgebieten eine Ölquelle besitzen, nicht im Westen, nicht im Osten des Reiches. In seiner Kindheit in Baku, einer halborientalischen Stadt am Kaspischen Meer, träumt sich der kleine Lev eine andere Familie und eine andere Welt zusammen: Seine Mutter, eine Jüdin aus Warschau, stirbt, als er acht ist, sein Vater, ein Kaufmann, hat nach dem Tod seiner Frau kein Interesse an dem Kind, es ist viel allein und wächst beim kranken Großvater mit einer Haushälterin auf. Die Mutter wird einmal eine polnische Prinzessin, einmal eine der Geliebten Stalins in dessen Bakuer Zeit.
Als er zwölf ist, bricht die Revolution aus, in Baku verüben Moslems Pogrome an Juden, Armenier an Moslems, Russen an Tataren, dann Rote an Weißen, jeden Tag liegen auf den Straßen Leichen, jeden Tag brennen Geschäfte, bis die Bolschewiken siegen und ihre Ordnung herstellen.

Er flieht mit seinem Vater in einer vierjährigen Odyssee übers Schwarze Meer in die Türkei, nach Italien, Paris und Wien bis nach Berlin. Schon als Schüler im russischen Gymnasium verkehrt er in Künstlerlokalen und gibt sich als Journalist aus. Er kleidet sich in einer Phantasiemischung aus 1000 und einer Nacht und Tscherkessenkrieger. Auf Fotos lässt er sich im weiten Tscherkessenmantel mit langem Silberdolch im Gürtel und Patronenstreifen als Revers ablichten, an den Füßen Stiefel aus feinstem Tscherkessenleder, am Kopf entweder eine hohe Fellmütze oder einen Fez. Der Traum vom Märchenprinzen aus dem Morgenland. Unter dem Namen Essad Bey veröffentlicht er zahlreiche Bücher. Vor allem “Blut und Öl im Orient“ wird ein Bestseller und in viele Sprachen übersetzt. Biografien über Nikolaus II. und Stalin folgen. Er ist plötzlich reich und berühmt. Nach einer kurzen Ehe mit der extravaganten Fabrikantentochter Erika Loewendahl und einem Intermezzo in New York lässt er sich in Wien nieder. Als eine Klatschzeitung verbreitet, Essad Bey halte sich einen Harem, reicht Erika die Scheidung ein. Er verkehrt in den Kreisen der Wiener Boheme, in der die Orientalistik gerade groß in Mode ist. Kurz vor der Okkupation Österreichs flieht er nach Italien, wo er 1942 an Sepsis stirbt, manche sagen, an seinem Opium-Konsum.

Wie weit sich Lev Nussimbaum mit seinen erfundenen Biografien identifiziert hat, wie weit er damit seine jüdische Herkunft verdecken wollte und wie weit er von der Mode des Orientalismus angesteckt war, verraten weder seine Bücher noch die Literatur über ihn. Er hat das Geheimnis mit ins Grab genommen. Ich neige dazu, dass er für sich eine Kunstfigur geschaffen hat, die ihm ein bisschen Sicherheit und Glamour gab, in einer Welt, die ihn jagte wie einen herrenlosen Hund.
Hoch oben über dem Golf, außerhalb des Friedhofs von Positano, steht eine schmale Grabstele mit einem Turban an der Spitze. Sie ist nach Mekka ausgerichtet und überblickt die ganze Schönheit der Amalfiküste.

 

Wie viel Tragik verträgt eine Lebensgeschichte?

„Genau zum selben Zeitpunkt greift Hitler nach dem Kaukasus. Im 2. Weltkrieg wollte sich Hitler unter allen Umständen des Öls bemächtigen. Er lenkte den Russlandfeldzug um, nur um an das Öl des Kaukasus heranzukommen. Im September 1942 schenkte ihm sein Generalstab eine gigantische Torte in Form des Kaukasus. In der damaligen Wochenschau kann man sehen, wie Hitler ein Stück davon abschneidet, auf dem in Zuckerguss BAKU steht. `Wenn wir das Öl von Baku nicht bekommen, brüllt er seine Generäle an, dann ist der Krieg verloren!`(……) Die ganze 6. Armee lässt er in Stalingrad im Stich, um nur ja keine Division aus dem Kaukasus abziehen zu müssen. Knapp 2 Jahre später rollen sowjetische Panzer in Berlin ein, im Tank das Öl aus dem Kaukasus.“

Tom Reiss Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey, S XIII, Osburg Verlag, 2005

 

1936 haben die Nazis seine wahre Identität entdeckt; ihm wurde der Anspruch auf sein Vermögen und die Tantiemen abgesprochen, er erhielt Publikationsverbot und war mit einem Schlag völlig mittellos. Er wusste um die Lebensgefahr, in der er als Jude schwebte. In dieser Notlage wandte er sich an seine exzentrischen Wiener Freunde, erfand zusammen mit seiner Freundin Elfriede – Frieda von Ehrenfels – die Autorin Kurban Said und schrieb die Liebesgeschichte von Ali und Nino. Ob sie daran überhaupt Anteil hatte, ist bis heute zweifelhaft. Die russische Stadt Baku und ihre Geschichte, der Lokalkolorit, die Problematik der Landbrücke zwischen Orient und Okzident, die Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges – damit war nur Lev Nussimbaum, alias Essad-Esi Bey, alias Kurban Said vertraut.

Wie kann man sich am ehesten diese „Kooperation“ zwischen Lev und Frieda vorstellen? Er schreibt in seiner Wohnung in der Wallnerstraße Kapitel um Kapitel und bringt sie ins Café Herrenhof, wo Frieda, Omar-Rolf, Willy und Imma und ihre illustren Freunde tagtäglich verkehren. Vor aller Augen, auch vor denen der anderen Gäste und der Kellner, gehen Frieda und Lev-Esi die Papiere durch, diskutieren, korrigieren, lektorieren, lachen und weinen zusammen. Sie diskutieren mit den Freunden viel über den Titel. Omar-Rolf schlägt „Liebe und Tod im Kaukasus“ vor.
Sie nehmen ihn als Arbeitstitel. Esi schreibt in orientalischer Manier auf langen Papierrollen mit einem Federkiel in mikroskopisch kleiner Schrift, die niemand außer ihm lesen kann. Noch 1936 schließen sie den Roman ab.

Es ist ein dünnes Buch, bestehend aus kurzen Kapiteln, spannend, bunt, orientalisch, romantisch, wild – alles wie aus einem Guss. Niemand würde zwei Federn dahinter vermuten. Frieda, zwar noch im kaiserlichen Triest geboren und später viel in Prag, hat Wien ab den Zwanzigerjahren nicht mehr verlassen, nur zu Besuchen im Schloss im Waldviertel. Wie kann sie den Orient beschreiben? Im Herrenhof lässt sich Frieda von der Freundesrunde mit einem großes Fest feiern. Alle können es sehen: Baronin Elfriede von Ehrenfels alias Kurban Said hat einen Roman fertiggestellt. Er erscheint als „Ali und Nino“ 1937 in Wien beim Verlagshaus E.P.Tal & Co und ist kurzfristig ein großer Erfolg.

Ein gewisser Alfred Ibach wird bei Tom Reiss als Arisierer genannt. 1938 flieht Lev-Esi nach Positano, und Frieda kann ihm bis zum Kriegsausbruch noch Geldmittel nach Italien übermitteln. Als sie versiegen, ist er so verzweifelt, dass er sich sogar Mussolini als Biograf anbietet: „Essad Bey und die größten Männer der Weltgeschichte“. Aber der lange Arm der SS reicht im faschistischen Italien bis ins malerische Fischerdörfchen an der Amalfiküste. Kurz bevor er verhaftet und ausgeliefert werden soll, stirbt er 1942. Der Polizeiwagen und der Leichenwagen haben sich fast gekreuzt.

Lev Nussimbaum ist bis heute unbekannt, denn das einzige Buch, das noch übersetzt wurde, „Ali und Nino“, erscheint nur unter dem Pseudonym Kurban Said, auf Englisch in den Siebzigerjahren, auf Deutsch 2014, auf Aseri 2008. Das postsowjetische Aserbeidschan hat sich die süßliche Liebesgeschichte mit dem unglücklichen Ende sogar als eigenen Schöpfungsmythos unter den Nagel gerissen, und das obwohl Kurban Said kein aserischer Name ist, sondern genauso wie Essad Bey (Herr Herr) der Phantasie des Lev Avramowitsch Nussimbaum entstammt. (Baronin) Elfriede (von) Ehrenfels, geb. Bodmershof, starb 1984 88-jährig auf Schloss Lichtenau. Sie hat nie auch nur ein einziges Wort über Kurban Said oder Essad Bey geäußert.

Quellen: Ali und Nino von Kurban Said, List Taschenbuch, 2014
Der Orientalist von Tom Reiss
Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre 1883 – 1910
Kurban Said: Der Mann, der nichts von Liebe wusste. Unveröffentlichte Tagebücher Veronika Seyr: Phantasie über einen Roman-Anfang

beg. 28.6.18, beendet 5.2.22

Veronika Seyr
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