Die Katze, die vom Himmel fiel

Susanne und ich waren mit dem Mitternachtszug aus Moskau am Bahnhof angekommen und nahmen ein Taxi zum Hotel in die Große Starokonjuschennij-Gasse. Weil an der Ecke des Newski eine Baustelle war, stiegen wir einige Häuser vor dem Hotel aus dem Taxi. Wir hatten jede nur einen kleinen Koffer mit und mussten nur drei Nummern bis zum “Feniks“ zu Fuß gehen. Wir waren auf einer Recherchereise für das geplante Festival zu St. Petersburgs 300. Geburtstag.

Obwohl die Strecke nicht mehr als einhundert Meter betrug, waren das wahrscheinlich die schwersten Schritte meines Lebens. Der Gehsteig war nicht vom Schnee gesäubert, sodass unsere Rollis nicht vorankamen. Wir mussten sie tragen und dabei darauf achten, dass uns der Schneesturm nicht umwehte. Ich wünschte mir einen Moment, dass ich einen Riesenrolli hätte und darin Ziegelsteine. Ich kenne Leningrad/St. Petersburg schon lange, habe jede Jahreszeit und jede Wetterlage erlebt. Aber so etwas wie in dieser Jännernacht hatte ich noch nie mitgemacht.
Der Wind stürmte von der Newa her und trug Millionen von winzigen Eisnadeln mit sich. Man konnte sich nicht schützen, er zerstach das Gesicht und blies unter den Mantel, dass er sich aufblähte und wegzufliegen drohte. Mit der einen Hand musste man den Koffer tragen, mit der anderen Mütze und Schal festhalten, also war keine Hand mehr übrig, um den Mantel wieder einzufangen. Jeder Schritt ein qualvoller Kampf. Ich blieb stehen, setzte den Koffer ab und versuchte, die Mütze mit dem Schal festzuzurren. Gerade als ich zu diesem Zweck die Arme hob, sauste etwas von oben an mir vorbei, so nahe, dass ich den Luftzug spürte, bevor das Ding neben mir mit einem dumpfen Knall am Boden auftraf. Es muss von großer Höhe und mit großer Geschwindigkeit gefallen sein, weil ich ein Sausen hörte und einen Luftzug an meinem Mantel spürte.

In der Gasse war es fast vollkommen dunkel. Der quer treibende Schnee verdunkelte die Straßenlaternen zur Unkenntlichkeit. Ich erschrak furchtbar, merkte aber, dass mich kein Ziegelstein getroffen hatte und ich nicht verletzt war. Nach so etwas schaut jeder automatisch nach oben, und da konnte ich gerade noch sehen, dass im 3. Stock zwei Fensterflügel geschlossen wurden. Natürlich meint man auch, das dazugehörige Geräusch zu hören.

Es war auch gar kein Ding, das da herabgefallen war, sondern eine Katze, die jetzt auf ihren vier Beinen stand, sich an mein rechtes Bein drückte und leise maunzte. Verdammt, war sie so etwas gewohnt? Wo war ich, in einer Erzählung von Gogol oder neben Susanne auf dem Weg zum Hotel „Feniks“? Ich schaute am Haus nach oben, drei Stockwerke und kein einziges Fenster erleuchtet.

Susanne hatte davon nichts mitbekommen und war weitergestapft, weit nach vorn gebeugt gegen den Sturm ankämpfend. Ich schrie mir fast die Seele aus dem Leib.
Bitte, bleib stehen, bitte warte, da ist eine Katze! Eine Kaaatzee!
Der Sturm verschluckte meine Stimme mit Leichtigkeit.
Sechs Schritte vor mir merkte sie, dass ich nicht mehr an ihrer Seite war und drehte sich um.
Was ist, komm weiter, was stehst du da rum?
Wir waren ziemlich gereizt gegeneinander, gegen die Kälte, den Sturm und den Eisnadelschnee.
Komm zurück, bitte, ich muss die Katze hineintragen.
Unwillig kehrte sie zu mir zurück.
Komm, gehen wir rein, ich trage die Katze rauf.
Du spinnst, komm, geh weiter, ich will ins Bett.
Nein, ich kann die Katze nicht allein lassen.
Du hast einen Vogel, ein wildfremdes Haus, es ist Mitternacht vorbei.
Weißt du, wo wir sind? Wir sind in Pieter, nicht in Wien.
Das weiß ich besser als du,
keppelte ich zurück auf den Russland-Neuling.
Ich war schon in Leningrad, da hast du noch in die Hose gemacht und nicht einmal gewusst, dass es Russland überhaupt gibt.
Ein ständiges Streitthema zwischen uns. Ihr frischer Blick der Unwissenden gegen meine Erfahrungen.

Höchst eigenartig, das Haustor war nicht abgesperrt. Die schwere Holztür ließ sich aufdrücken. Die Einfahrt war so hoch und breit, dass noch die größte Kutsche vom Newski-Prospekt einfahren hätte können. Leider war sie ohne Beleuchtung.
Wutschnaubend folgte mir Susanne und knallte ihren Koffer gegen eine Wand. Im Gegensatz zu mir hatte sie nichts für Katzen übrig. Mir waren Katzen schon immer fast teuer wie mein eigenes Leben.
Diese Katze, die vom Himmel gefallen war, hielt sich eigenartig steif, war aber eindeutig nicht tot. Unter meinem ständigen Streicheln begann sie leise zu schnurren und krallte die Pfoten in den Wollstoff meines Mantels.
Das alles war nicht ganz von dieser Welt, unter- oder überirdisch.
Kein Wunder in einer Stadt, die bevölkert wird von gestohlenen Mänteln, flüchtenden Nasen, lebendig werdenden Porträts, rückwärts laufenden Droschken und hellblauen Ferkeln, die aus Bäckereien auf den Newski Prospekt stürzen.

Bleib da stehen und pass auf die Koffer auf, ich geh rauf.
Ich hielt die Katze fest an den Körper gepresst und fand am Ende der Einfahrt einen offenen Stiegenaufgang, die zweite Auffälligkeit. Seit in Russland der Kapitalismus Einzug gehalten hatte, hatte sich das Land rasend schnell kriminalisiert. Die Menschen verrammelten sich noch in der letzten Hundehütte mit Alarmanlagen, Zahlencodes, Eisentüren, Ketten und Vorhangschlössern, manchmal alles in Kombination. Einen offenen Stiegenaufgang gab es im ganzen Land nirgendwo, noch unwahrscheinlicher um Mitternacht in einer Sturmnacht in St. Petersburg.

Trotzdem, diese Tür war eindeutig nicht versperrt, und im Stiegenhaus gab es sogar einen leuchtenden Lichtknopf. Es war eine breite Steintreppe mit einem pompös geschwungenen, reich geschnitzten Holzgeländer. In jedem Stockwerk gab es nur eine Wohnung, also ein hochherrschaftliches Haus, ich sehe darin die Karenins und Wronskis aus- und eingehen.
Ich horchte an der breiten Doppeltür - also die Hausherrenwohnung - im ersten Stock,  zu läuten traute ich mich nicht. Was sollte ich auch sagen, wenn tatsächlich jemand öffnete? Das Gleiche im zweiten Stock, eine geschlossene, aber einfache Tür, ich lege mein Ohr daran. Nichts.
Was hatte ich erwartet. War ja wirklich blöd, was ich da machte. Jetzt ging das Licht aus, und ich tastete nach dem Knopf. Als es wieder aufblitzte, blinzelte mich die Katze an, sie war groß wie ein Tigerbaby, langhaarig, semmelblond, bernsteinfarben ein Auge, das andere veilchenblau, sie schien zu schielen, ein Riesenschnurrbart und aus den Ohren kamen Fellbüschel. Sie war wunderschön. Nur die Nase war nach meinem Geschmack etwas zu flach, eingedrückt, was ihr ein leicht dümmliches Aussehen verlieh.
Sicher irgendeine kostbare Rasse. Wer warf so Prachtstück aus dem Fenster? Wer wirft überhaupt eine Katze aus dem Fenster? Und von selbst springen tun Katzen nie, außer vielleicht nach einem Vogel. Das konnte aber hier und jetzt nicht der Fall sein.

Ich keuchte in den dritten Stock hinauf und fand mich auf einer breiten Rampe mit einer balkonartigen Ausbuchtung ins Stiegenhaus. Beide Flügel der pompösen Wohnungstüre waren aufgeschlagen. Daneben brannten auf beiden Seiten Kerzen in fünfarmigen Haltern. Von außen sah ich in einen breiten Flur hinein, der mit ebenfalls Kerzen beleuchtet war, von den Wänden Kandelaber.
Ich trat nicht ein, lugte nur ins Halbdunkel, wo ich weiter hinten in einem ebenfalls mit Kerzen ausgeleuchteten Zimmer mehrere Menschen um einen runden Tisch sitzen sah.
In einer Formation wie zu einer Séance. Sie sprachen nicht und sahen alle auf einen leeren Stuhl. Die sechs Menschen waren gekleidet im Stil des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts. Ich rief laut ins Zimmer hinein:
Hallo, ich habe hier Ihre Katze. Sie ist aus dem Fenster auf die Straße gefallen.
Obwohl ich kein Französisch spreche, hörte ich mich, wie ein Tauber, der plötzlich zu einem Gehör kommt, ihn auf Französisch ansprechen.
Gleichzeitig bemerkte ich, dass die um den Tisch Anwesenden nicht schwiegen, sondern ebenfalls Französisch sprachen, sie saßen aber zu weit weg, als dass ich Worte hätte versehen können, eher so wie wenn auf einem Tonband der Soudtrack auf Französisch eingestellt war, ein französisches Rauschen sozusagen.

Ein Mann in Puschkin-Aufmachung löste sich vom Tischkreis und kam zu mir an die Tür. Ohne ein Wort nahm er mir die Katze ab und ging in das Zimmer zurück. Auch keinen Dank, als wäre dies die normalste Sache von der Welt, dass jemand die Katze auffing und zurückbrachte. Ich erkannte eine gekräuselte Perücke mit Zopf, hoher Stehkragen, bunte Weste, Spitzenjabot, Kniebundhosen, weiße Strümpfe, Schnabelschuhe und ein Stöckchen mit Silberknauf - eine perfekte Imitation, so viel konnte ich in der Geschwindigkeit erhaschen.
Vielleicht eine Theaterprobe?
Ein Schauspielerklub?
Verein der Freunde Gogols?
Puschkin lebt! e.V.

Vieles war möglich in dieser phantastischen Stadt. Manchmal meint man ja, dass man es mit einer Fata Morgana am Meer zu tun hat, in einem wirren Albtraum oder Fieberwahn steckt, nicht in einer modernen Viermillionenstadt.
Aber wenn es eine Séance war, um Puschkin, Gogol oder Tolstoj herbeizurufen, warum musste man eine Katze aus dem Fenster werfen?
War sie ihr Medium? Eine Inkarnation? Käme dann der Geist eher?
Ich kann mich nicht erinnern, je in der russischen Literatur von einer fliegenden Katze gelesen zu haben, nicht einmal bei Gogol. Der hat es nur zu fliegenden Kürbissen gebracht.
Aber Katzen gelten ja seit den alten Ägyptern als heilige und geheimnisvolle Tiere, oft als Begleiterinnen von Zauberern, aber auch des Teufels. Teuflisch, unheimlich, dass meine Phantasien manchmal wahr werden. Aber wenn jetzt noch Anna Karenina und Wronski hereinrauschen, werde ich mich freiwillig für verrückt erklären lassen.

Ich stürzte die drei Treppen hinunter. Susanne stand im Eingang, scharrte ungeduldig mit den Füßen und rauchte. Vom Innenleben dieses Hauses erfuhr sie nichts, wir gingen schweigend bis zum Hotel. Genauso gut hätte ich ihr erzählen können, ich sei einem Einhorn begegnet. Sie war absolut phantasielos. Ich verriet auch nicht, dass ich gerne noch geblieben wäre, um diese seltsame Runde vielleicht beim Verlassen des Hauses beobachten zu können. Wir haben nie über dieses Erlebnis gesprochen. Sie hat auch nicht gefragt. Sie ist ein zu nüchterner Charakter, als dass sie mir ein Wort von dem Gesehenen geglaubt hätte. Sie hat auch keinen Bezug zu den St. Petersburger Besonderheiten, dieser phantastischsten, unwirklichsten Stadt der Welt.

Deshalb erfuhr sie auch nichts von meinen Assoziationen zu Puschkin, Gogol und den Karenins. Vielleicht hat sie das Tagebuch eines Wahnsinnigen schon gelesen? Zu oft schon hat sie mich für meine überschäumende Phantasie ausgelacht, als sei dies etwa eine Krankheit oder zumindest eine schlechte Gewohnheit, die ich mir besser abtrainieren sollte. Ich habe sie daher auch nicht für meine Kunstprojekte engagiert, sondern als Assistentin für Finanzen und Organisation. Das machte sie ausgezeichnet. Für die fliegenden Katzen war ich zuständig.

Nur einmal wurde Susanne stutzig. Ein Teil des Festivals sollte im Stadtschloss der Fürsten Scheremtjew abgehalten werden. Es diente seit der Revolution als städtischer Kulturpalast. Der erste Scheremetjew war ein Mitstreiter und Günstling Peters des Großen und für seine Dienste reich belohnt worden. Später wurden sie reicher und mächtiger als alle anderen Adeligen zusammen, fast so reich wie die Romanows. Sie unterhielten ein eigenes Theater für Opern und Ballette mit dreihundert Leibeigenen, eine Musik- und Malschule, viele Paläste, eine Flotte und dreihunderttausend Seelen auf Gütern im ganzen Reich. Ein Scheremetjew heiratete sogar eine junge, schöne, begabte Sängerin der Oper, eine Leibeigene.

Der Direktor persönlich gab uns eine Führung und zeigte uns in einem der Säle eine geheime Tapetentür, hinter der eine enge Wendeltreppe in die Tiefe führte. Es war der Hinterausgang des Palastes zur Fontanka, wo Bewohner und Gäste ein Boot besteigen und ungesehen verschwinden konnten. Ob ich hinabsteigen darf? Ja, der Direktor ging uns mit einer Taschenlampe voran und führte uns durch kanalartige Gänge bis zu einem Türchen. Dieses könne er allerdings nicht öffnen, das dürften nur die Beamten für das städtische Flusswesen. Ich bedauerte dies sehr, dachte ich doch an die Besucher in der Bolschoj Starokonjuschennij. Susanne ließ sich zu ihrer emotionalsten Äußerung hinreißen, die ich je von ihr gehört hatte:
Tolle Geschichte, toll erfunden und noch toller inszeniert.

Ich dagegen glaubte dem Direktor jedes Wort und sehe sofort die Figuren vor mir, die in Kapuzenmäntel gehüllten Liebhaber, Geliebte, Ballettmädchen, Zigeunerinnen, Zauberer, Geldwechsler, Goldmacher, Wunderärzte, falsche Mönche und Meuchelmörder, wie sie durch die Korridore schleichen, durch das Türchen treten, in die auf der Fontanka wartende Barke steigen und lautlos im Dunkeln entkommen.

Das Rätsel um die Katze aus dem Palais in der Bolschoj Staronkonjuschennij perulok Nummer 7 und seine Besucher konnte ich nicht aufklären, obwohl ich in den nächsten Tagen noch zweimal zu diesem Haus ging. Das Haus stand tatsächlich da und sah bei Tageslicht genauso aus wie um Mitternacht. Es war aber jedes Mal fest verschlossen und hinter den Fenstern nichts zu sehen. Ein ehemals herrschaftliches, jetzt aber heruntergekommenes Stadtpalais, wie es sie in St. Petersburg um den Newski Prospekt herum zu Hunderten gibt.

14.7.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17145

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