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Die Errettung der Schwalben

Als sich der Vorfall ereignete, von dem ich jetzt erzählen möchte, war ich ganze fünf Jahre alt.
Der Sommer war schön gewesen, ein ganz besonders guter Sommer, sagten die Erwachsenen. Die Donau führte Niedrigwasser, und wir kleineren Kinder konnten ohne Gefahr in den warmen Tümpeln zwischen den Uferfelsen planschen, die älteren durften sogar im Hauptstrom schwimmen. Dazwischen waren wir oft in den Wäldern Beeren sammeln und Schwammerl pflücken, am Dimbach durften wir Forellen und Krebse fangen, der Obstgarten mit Äpfeln und Zwetschken, mit Quitten und Nüssen versprach reiche Ernte, der spärliche Weizen und Hafer waren auch schon gedroschen, in den Gärten der Tanten blühten die Dahlien und Gladiolen, die Hofhündin beim Schmiedgruber hatte vier Junge geworfen, das Hausschwein Rosalia meiner Tante Sofie fünf Ferkel, und ich hatte meinen jüngsten Bruder bekommen – genau in dieser Reihenfolge interessierte mich der Kreislauf der Natur. In der Kirche und in jedem Haus wurde das Erntedankfest vorbereitet.

Das Leben war ein einziges fröhliches und reiches Geschenk, und ich wünschte, dass sich daran in alle Ewigkeit nie etwas ändern sollte. Ich hatte lesen gelernt und war nicht mehr auf die Gnade der älteren Geschwister angewiesen. Zusätzlich hatte mir mein Vater, der in der großen Stadt arbeitete, die erste Blockflöte mitgebracht. Ich war sicher, ich würde Musikerin und Komponistin werden.

Anfang September schlug das Wetter plötzlich um; es brach ein furchtbares Gewitter los, und danach hörte es nicht mehr auf zu regnen. Am Abend saß die ganze große Familie mit allen Dienstboten um den Esstisch herum und betete in endlosen Schleifen den Rosenkranz. In den verschlossenen Fenstern flackerten hinter den Vorhängen die Kerzen. Draußen blitzte und donnerte es, in den Pausen hörte man das anschwellende Rauschen der Donau, während der Regen an die Fenster peitschte. Warum klopften einige Tropfen besonders hart und laut an die Scheiben? Durch das enge Donautal heulte der Sturm, manchmal in einem misstönigen Winseln, manchmal in einem rasenden Getöse, als hätte er alle Felsen und Wälder der Ufer mit sich gerissen, dann wieder in leisem, dumpfen Grollen. Dazwischen murmelten wir die Gegrüßet-seist-du-Marias auf und ab. Ein ganzer Schwarm gehetzter, vom Schreck gepackter Geister raste durch den engen, gewundenen Strudengau wie durch eine auf Hölle gestimmte Äolsharfe, an der niemand Geringerer als der Teufel den Ton angab.
Dann wieder das Vaterunser und das ewige Gegrüßet-seist-du-Maria, dein Leib sei gebenedeit, Heilige Jungfrau, Mariamuttergottes, da konnte es nur noch unbarmherziger und grausamer werden. Aber die verschlafenen Kinder waren schon längst, in Decken gehüllt, in die Zimmer im Oberstock gebracht worden.

Am nächsten Morgen sah man, was die Nacht gebracht hatte: Vom Krautberg hinter unserem Haus war eine Mure abgegangen, die sich fast bis an den ersten Holzstadel heranschob, in wüsten Wellen, von Felsblöcken, Wurzeln und Baumstämmen durchsetzt. Kurz danach brach im Schweinestall meines Onkels eine Seuche aus, alle Tiere mussten notgeschlachtet werden. Wir kannten sie alle persönlich, von der Geburt bis zur Blunzen und zum Speck. Jedes hatte einen Namen, auf den es hörte, und jedes seine Persönlichkeit. Dieses schnelle Vergraben hinter dem Stall und das notdürftige Verscharren in Gruben mit Erde und Kalk, aus denen manchmal noch die Beine herausstanden – die Urkatastrophe meiner Kindheit. Gestank und Fliegenschwärme waren von geringerem Grauen, jeder Bauernhof hatte so etwas. Auch wenn die Kadaver längst verwest waren, konnte ich später nie wieder an diesem Ort vorbeigehen. Die Schweinezucht sollte uns nicht nur ernähren, sondern das zweite Bein des Haushalts der Großfamilie werden, nachdem das Biergeschäft nicht gut ging. Im Bierkeller meines Onkels stand das Wasser schon knöchelhoch, die Holzfässer begannen zu schwimmen, und die Gesichter der Erwachsenen wurden immer ernster.
Von Sintflut und Arche Noah war die Rede, danach, oben um den Tisch. Die Geschichte kannte ich schon vom Vorlesen des Vaters aus der Kinderbibel, sie war eine meiner Lieblingsgeschichten, wegen der Tiere in Paaren, obwohl die Bedeutung von biblischen Strafen der Sünden für mich noch im Dunkeln lag. Mein älterer Bruder raunte mir in einer Rosenkranzpause zu, das ist nur wegen dir, du bist schuld. Warum? Wegen der Schwalben. Ich sah an mir herunter, sah nichts Schuldiges außer meinen kurzen und dünnen Beinen, sah wieder hoch auf das rot-schwarze Kreuzerlstichmuster im groben Naturleinen des Tischtuchs. Daran hielt ich mich bei den endlosen Gebeten, Litaneien und Gesängen, die mir vor den Augen wie endlose rot-schwarze Ameisenstraßen vorbeiliefen und das Hirn verriegelten. Am Ende nahm meine Großmutter einen Besen aus dem Weihwasserkessel heraus und besprengte uns alle in großen, feuchten Bögen.

Die Dorfbewohner gingen trotz aller Arbeit jeden Nachmittag in die Kirche, um mit dem Rosenkranz gegen den Regen anzubeten, so wie sie in trockenen Sommern mit Kreuzen und Heilgenbildern unter Gesängen und Litaneien durch die Wiesen und Felder zogen, um Regen zu erbitten.
Der September war die Zeit, in der sich die Schwalben auf den Telegraphendrähten zwischen unseren beiden Häusern versammelten, um in den Süden zu fliegen. In den Eingängen des Bräuhauses und in den Ställen nisteten jedes Jahr Schwalben in ihren an die Decken geklebten Nestern. Es gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen, wenn die erste kam, der Vorbote des Frühlings, wenn sie im Frühjahr in Scharen einzogen und wir erklärt bekamen, dass es immer dieselben Paare waren, die kurz darauf viele piepsende, gelb geränderte, weit aufgesperrte Mäulchen stopften, sirrend, pfeifend und zwitschernd ein- und ausflogen, unermüdlich. Ich hatte von den Erwachsenen gelernt, an dem Verhalten der Schwalben die Wetterprognosen abzulesen. Je nach Luftdruck flogen sie hoch oder tief, ebenso wie die Fliegen. Die beiden zusammen waren verlässlicher als das Barometer meiner Großmutter.

Während die Erwachsenen immer sorgenvoller ihren Tätigkeiten nachgingen und immer wortkarger wurden, beobachteten wir Kinder die Schwalben auf den Telegraphendrähten. Sie saßen dicht gedrängt, manchmal mehrstöckig, manchmal flogen Gruppen gemeinsam wieder auf, zogen Kreise weit hinaus über die Donau und ließen sich wieder nieder. Wer befahl ihnen, dass sie da draußen sitzen mussten und nicht in ihren Nestern die Regentage abwarten konnten? Niemand hatte Zeit, so eine Frage zu beantworten, sollte sie jemand gestellt haben.
Aber wie so oft, wird die unbestimmte Antwort unter Achselzucken wahrscheinlich gelautet haben: die Natur eben. Zum Beispiel, wenn eine Muttersau fünf Ferkel bekam und eine andere nur zwei, das war doch ungerecht, oder unter einem Schwalbennest ein zerbrochenes Ei oder ein winziger Vogelkörper lag, wobei klar war, dass die Katzen Minka und Murli in so eine hochgelegene Ecke nicht hinaufgelangt sein konnten. Unten machten sie sich gütlich an der Beseitigung dieser Unfälle.
Oder die während der Schweineseuche getöteten Tiere, die alle ihre Namen hatten, sie waren doch unschuldig, hatten nichts angestellt, wurden ermordet und hatten uns nicht einmal zu Schinken, Speck, Schmalz und Blunzen verholfen, immer hieß es: die Natur eben. Aber ich war, wie bereits gesagt, fünf Jahre alt, und in Anbetracht der Umstände, denen man sich zu fügen hatte, konnten meine Fragen nicht beantwortet und meine Wünsche nicht berücksichtigt werden.
Ohne mich vorzudrängen, glaube ich in Erinnerung zu haben, dass ich der Liebling meiner Großmutter war. Dieses Gefühl eben, gegenseitige Zuneigung. Sie war meine Heilige und sie ließ mich schlimm sein. Sie verteidigte mich sogar vor anderen Erwachsenen, denn ich galt als schwieriges, zumindest ungewöhnliches Kind.

An einem Nachmittag entdeckte ich auf dem Mäuerchen unterhalb der Telegraphendrähte die ersten toten Schwalben. Ich stand fassungslos da und sah dem Massensterben zu. Die Vögel fielen einfach von den Drähten, wie Steine. Es regnete Vögel. Manche der kleinen Lebewesen zuckten noch mit den nach oben gedrehten Beinchen. In großer Aufregung sammelte ich sie in einen Korb, der neben dem Hühnerstall für das Eierausnehmen bestimmt war, und lief zu meiner Großmutter.
Sie stand an dem riesigen Herd in der Küche und rührte in einem großen Topf. Omama, bitte. Ich streckte ihr den Korb entgegen.
Hier verlassen mich meine Erinnerungen über diesen Vorfall. Die Verzweiflung aber spüre ich bis heute in der Kehle aufsteigen, wahrscheinlich meine erste Begegnung mit dem Sterben, mit der Hilflosigkeit angesichts der grausamen Natur. Solche Worte hatte ich damals natürlich noch nicht, aber das Gefühl.

Den Ofen kann ich genau beschreiben, weil er noch lange über diesen Vorfall hinaus dort in dieser Küche stand. Damals, mit fünf, werde ich kaum über den oberen Rand hinausgeragt haben, unten gemauert, mehrere Türchen, Fetzen, darüber weiße Kacheln, dann Eisen, Gestänge darum herum und oben auf der Platte, Eisen, vier Löcher mit abnehmbaren Eisenringen, Schürhaken drumherum und Riesentöpfe. Links oben köchelte immer der größte Topf von allen mit dem „Sauquascht“- Schweinefutter – dort kamen im Laufe des Tages alle Abfälle hinein, die als Schweinefutter geeignet waren.
Vorne vielleicht ein Topf mit Stosuppe, einer mit Erdäpfeln, Schmalz aus Schweinespeck, Grammeln, frische, das war mir das Liebste, gleich hinter der Küche eine Backstube, aus der es duftete. Wenn daraus das frische Brot in langen oder runden Körben kam, kam das Himmelreich auf die Erde.
Das große runde Brot kam aus dem Korb auf den Tisch. Großmutter holte aus der Lade unter dem Esstisch ein Messer hervor, zog an ihrer Brust ein Kreuz an der Unterseite des Brotes durch und fing feierlich an, es anzuschneiden. Das erste Scherzl bekam ich, weil ich die Kruste so gerne mochte. Sie sagte zu mir, mein Eichhörnchen.
Bevor es mit Schmalz und Grammeln bestrichen wurde, roch ich daran, Salz natürlich, an Zwiebeln und Schninttlauch erinnere ich mich, und zog das Scherzl unter meiner Nase immer wieder vorbei, sog den Geruch ein, atmete aus und ein wie ein Opiumsüchtiger mit seiner Droge.

Die Großmutter seufzte: „Die Schwalben sterben heuer wie die Fliegen, so ein Jammer, ohgottohgott, das ist kein gutes Zeichen für den Winter, der wird hart.“ Sie bekreuzigte sich mehrmals, führte das Kreuz an ihrem Halskettchen an den Mund, legte die Hand auf das Herz, murmelte Gebete und drehte die Augen zum Himmel.
Ich ließ den Korb fallen und stürzte ihn um. Die Schwalben purzelten auf den Kachelboden vor dem Herd, ein schwarz-weißes Häufchen in einer Regenlache. Ich sah ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht, zumindest war sie nicht böse auf mich.
Wie in allen Bauernküchen üblich, verlief oberhalb des Herdes ein Gestänge, auf dem Geschirrtücher, Lappen und Putzfetzen aufgehängt waren, aber auch unsere nassen Socken und Kleider, die in der Früh dann nach Holz und Rauch rochen.
Omama räumte alle Tücher vom Gestänge weg und setzte die Schwalben darauf, eine nach der anderen, die noch ein Lebenszeichen von sich gaben. Sie befestigte die Krallen mit Vogelringen, die gleichzeitig die Füßchen stärken sollten. Einige drehten sich sofort nach unten und fielen dann mit einem leisen Zischen auf der heißen Ofenplatte auf. Es roch leicht wie nach verbranntem Haar. Omama fischte sie sofort herunter, öffnete eine Ofentüre und warf sie ins Feuer. Dort zischten sie noch etwas lauter als auf der Platte, manche explodierten zwischen den glühenden Holzscheiten, wahrscheinlich die Gedärme, manche lüfteten ein letztes Mal die Schnäbel nach oben, vor allem die Jungen mit den gelben Schnabelrändern, die Flügel- und Schwanzfedern plusterten sich noch einmal auf in einem winzigen Feuerregen und verbrannten still in kleinen, roten Flammen, im Höllenfeuer. Wofür sie bestraft wurden, konnte ich nicht verstehen. Aber dass manche im Verbrennen noch die Füßchen ausstreckten, als wollten sie sich ein letztes Mal entspannen, fand ich tröstlich. Sie wurden im Sterben wieder lebendig.

So sah die biblische Welt meiner Großmutter aus: Schwarz oder weiß, gut oder böse, oben oder unten, Himmel oder Hölle, Gnade oder Verdammnis. Und immer das schreckliche „Die Natur eben, da kann man nichts machen.“ Dann schloss Omama schnell die Ofentür und schaute nach, ob sich eine Schwalbe oben gehalten hatte. Sie wollte für mich ein Wunder vollbringen, obwohl sie nicht daran glaubte.
So ging es lange. Allmählich kamen mehr andere Hausbewohner dazu, die auch Schwalben eingesammelt hatten.
Langsam ließ man das Herdfeuer ausgehen und legte feuchte Tücher auf die Platten. Jetzt schlafen sie und bald du auch, sagte meine Großmutter, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Das Ende der Schwalben-Rettung an diesem finsteren Abend bekam ich nicht mehr mit, es sollen aber einige Schwalben gerettet worden sein. Die Erwachsenen sprachen nie wieder darüber, und ich wagte nicht zu fragen. Der nächste Morgen war strahlend, die Sonne stand groß im blauen Himmel, und auf den Telegraphendrähten saßen die Vögel dicht an dicht, flatterten auf und ordneten sich neu nach ihren Gesetzen, übten ihre Formationen vorher schon, das Sirren und Zwitschern klang in unseren Ohren fröhlich, als sei nichts geschehen und als freuten sie sich auf ihre lange Reise. Irgendjemand meinte, sie nehmen die Jungen zwischen sich und verabreden sich, wer für wen Verantwortung übernimmt. Der Trost einer Familie nach der Katastrophe. Aber ich bekenne, die Bilder von diesem Schauspiel könnten auch vor der Tragödie entstanden sein.

20.2.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 17083

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Schatten des Minaretts

Nur Reisen ist Leben,
wie umgekehrt das Leben Reisen ist.
Jean Paul

 Wer sich vor dem Tod fürchtet, geht nicht auf Reisen.
J.W. Goethe, Der west-östliche Diwan

 I‘m not going to die before my time.
Lisl Steiner, Fotografin, mit 88

Seit der Jugend-Lektüre von Sven Hedins „Zu Land nach Indien“ ließ mich die Seidenstraße nicht mehr los.
Ich begann schon früh zu träumen und lernte die Namen der Orte auswendig, als könnte ich sie damit in die Landkarte einnageln, ich schlug in Lexika nach und sah mir später jede Dokumentation an. Die Musik der Seidenstraße war bei uns noch nicht bekannt. Stattdessen sagte ich mir wie eine Litanei die Namen der Wunderorte auf. Ich schob sie an meinem Gaumen herum, schliff sie glatt wie der lispelnde Demosthenes die Kiesel am Strand gegen die rauschende Brandung, ordnete sie neu und umkreiste sie meditationsartig wie Stupas im tibetanischen Totengebet. Das ägyptische Totenbuch kannte ich noch nicht. Meine Wort-Reisen gingen nach Buchara, Samarkand, Taschkent, Chiwa, Fergana, Aschchabad, Astrachan, Karaganda, Dschambul, Duschanbe, Machatschkala, Urgentsch, Osch, Alma-Ata, in die Wüsten der Kara Kum, Karakul, Ust-Urt, Kysyl Kum, Hungersteppe, zu den Flüssen und Seen Amu Darja, Syr Darja, Issyk Kul, Aral-See und zu den Gebirgen von Pamir, Tienschan und Hindukusch. Von einer wirklichen Reise durch den sowjetischen Orient, wie die früher Turkestan genannten späteren SS-Republiken Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan, Kirgistan und Kasachstan, wagte niemand in dieser Zeit zu träumen.

Aus mir wurde kein Cook, kein Humboldt und kein Darwin. Eindeutig herrschte bei mir das literarische Gen vor. Meine Jugendliebe hat sich auf die russische Sprache geschlagen und ist dort geblieben. Aber im Mai 1971 war es so weit. Seit Jahresanfang studierte ich mit einem Stipendium an der Lomonossov-Universität in Moskau und stellte sofort nach meiner Ankunft im OVIR– der Reisestelle für westliche Ausländer, die Imperialisten, eine KGB-Abteilung – einen Antrag auf eine Reise durch die zentralasiatischen Republiken.

Meinen zwei Kolleginnen, Lisa und Schanna, und mir wurde nach vier Monaten des ständigen Drängens der Besuch der Städte Taschkent, Buchara und Samarkand genehmigt mit Ausflügen nach Chiwa-Urgentsch und Fergana-Osch. Das war zwar nur ein kleiner Teil meiner Wunschorte, aber mehr war nicht realistisch. Mir war bewusst, dass diese Route für eine Individual-Reise schon an ein Wunder grenzte. Es gab in Zentralasien sehr viele gesperrte militärische Geheimorte. Immerhin drei Wochen Studienbefreiung, drei Wochen auf der Seidenstraße.
Die Militär-Parade zum 1. Mai erlebte ich noch in Moskau und ergatterte einen ziemlich guten Ort mit Aussicht auf den Roten Platz, gestört weniger durch die gefährlich drängenden Menschenmassen als durch einen blitzschnell aufgezogenen Schneesturm. Durch einen ungewöhnlich milden April verführt, war ich für diesen Wintereinbruch zu leicht angezogen.

Auf dem Flug von Moskau nach Taschkent spürte ich erstmals ein Halskratzen und Ohrensausen, wofür ich die spartanisch ausgestattete Tupolew verantwortlich machte und was ich mit vielen Gläsern Tee zu bekämpfen versuchte. Das hauptsächliche Ablenkungsmittel war aber die Aufgeregtheit über meine erste große Reise innerhalb der Sowjetunion. Vorher hatte ich schon Leningrad besucht und die Städte des Goldenen Rings rund um Moskau. Alles war neu und spannend: von der ausgesuchten Hässlichkeit und Ruppigkeit der Stewardessen, die auf Fragen grundsätzlich nicht antworteten oder nur knurrten, die Tabletts über die Sitzreihen warfen oder sie auf die Tischchen knallten, als wären sie beim Nationalzirkus zur Schule gegangen, den ausgemergelten Sitzen, die sich entweder nicht nach hinten verlagern oder nicht mehr aufrichten ließen, von den 3500 Kilometern unter mir, bis zu meinen Versuchen, ob ich die Windungen der Wolga und das erdölerleuchtete Baku erkennen könnte, den Elbrus, das Kaspische Meer, den Ebrus und den Ural, die Wüsten Kasachstans und die Bergketten des Pamir und Tienschan.
Nach sechs Stunden und vier Zeitzonen sollten wir in Taschkent landen. Taten wir aber nicht, sondern kreisten mehr als eine Stunde über der Stadt. Anfangs meinten wir noch, dies sei ein Spezialservice, um uns einen Überblick zu verschaffen. Erklärungen des Personals gab es nicht, ebenso wenig wie auf Antworten zu hoffen war. Erst später erfuhren wir von dem Brauch, dass sowjetische Piloten dazu angehalten waren, vor der Landung ihren gesamten Sprit zu verbrauchen.

Als wir um fünf Uhr dreißig endlich aus dem Flugzeug entlassen wurden, schlug uns warme Luft entgegen, hier herrschte schon der Frühsommer, Rosen blühten, die Bäume standen in üppigstem Grün, die Frauen trugen bunte, kurzärmelige Kleider und nach hinten geknüpfte Kopftücher aus Kunstseide – im Zentrum der Seidenspinnerei eine der vielen sowjetischen Absurditäten. Wir dagegen schmachteten in unseren Moskauer Wintersachen. Den Schüttelfrost, der mich beim Verlassen des Flugzeugs erfasste, führte ich auf diesen Gegensatz zurück. Unser Hotel Inturist lag direkt am Flughafen, was wir anfangs spannend fanden, drei startende und landende Flugzeuge pro Minute aus nächster Nähe zu beobachten, und praktisch, weil wir von dort gute Busverbindungen ins Stadtzentrum hatten.

Taschkent, Hauptstadt der Usbekischen SSR, mit etwas mehr als zwei Millionen Einwohnern viertgrößte Stadt der SU, die größte Zentralasiens, gelegen in einer Oase des Syr Darja an der Seidenstraße und den Ausläufern des Tienshan (Gottes Gebirge). Seine beschneiten, in die Tiefe gestapelten Gipfelketten sind von Taschkent aus nach Nord-Osten ein traumhaft schöner Anblick. Pik Kommunisma und Pik Lenina sind mit ihren 7400 und 7100 Metern kaum niedriger als das Dach der Welt. Was der stalin‘sche Bebauungsplan von der orientalischen Altstadt übriggelassen hatte, wurde bei dem verheerenden Erdbeben am 26. 4. 1966 fast zur Gänze dem Erdboden gleichgemacht. Nur wenige Straßenzüge mit engen Gässchen und einfachen, einstöckigen Häusern aus Stampflehm und sonnengetrockneten Ziegeln blieben erhalten. Aber sofort nach der Katastrophe setzte der Neubau ganzer Satellitenstädte mit breiten, geometrisch angelegten Straßen ein, sodass Taschkent sich jetzt kaum von anderen sowjetischen Großstädten unterscheidet.

Ich erinnere mich, dass mir die dichten, schattenspendenden Maulbeerbäume und Platanenalleen an den Straßen auffielen, die gepflegten Grünanlagen mit unzähligen Brunnen, Blumenrabatten und Tamariskenhecken und dass die Stadt ausnehmend sauber war – ein Park, in den sich zufällig einige Häuser verirrt haben. Neben den obligaten Bronze-Lenins ließ man offenbar auch Tamerlan-Statuen als Zugeständnis an die Nationalgeschichte zu. Vor dem Theater fiel mir ein Springbrunnen in Form einer überdimensionalen Baumwollknospe, der Nationalpflanze, auf. Im flachen Becken darunter tobten halbnackte Kinder durch das Wasser, ein sonderbarer Anblick für uns, die gerade aus dem Schneesturm kamen. Am Vormittag hatte es schon 30 Grad, und wir suchten im Basar nach sommerlicher Kleidung.

Schon am Flughafen war augenfällig geworden, dass die Sowjetunion ein Vielvölkerstaat war: Usbeken, Tadschiken, Turkmenen, Kirgisen, Kasachen, viele davon in ihren malerischen Nationaltrachten, viele Russen natürlich, unauffällig modern gekleidet. Aber in der Stadt stachen noch mehr die Nachkommen der von Stalin verbannten Völker hervor: Tataren, Burjaten, Kalmücken, Karakalpaken, Jakuten, Japaner, Tschuktschen, blonde Balten und Wolgadeutsche, Griechen, verschiedene Kaukasusvölker und sibirische Ureinwohner – alle, die Stalin als Kollaborateure eingestuft hatte.
45 Nationalitäten sollen es sein. So hat Stalin aus einem Land einen riesengroßen, warmen Vielvölker-GULag geschaffen. Die schönsten Bilder davon erhielten wir auf dem Zentralmarkt, nicht nur von der Vermischtheit und Unterschiedlichkeit der Menschen, sondern auch von der Fülle der landwirtschaftlichen Produkte. Es war für mich der erste orientalische Markt, und ich kannte damals keinen Menschen, der aus eigenem Erlebnis einen solchen hätte schildern können außer Sven Hedin und Scheherazade. Sobald der Schnee im Pamir und Tienschan schmilzt und sich die Flüsse füllen, beginnen sie in der Ebene schon zu ernten. In meinem vom Schüttelfrost vernebelten Blick meinte ich, dass es nirgendwo so viele Geschenke der Erde gab, dass sich hier alle Buntheit und Üppigkeit der Welt mitsamt den entsprechenden Gerüchen versammelt hatte. Es herrscht ein unbeschreiblicher Lärm, alle Verkäufer schrien in höchster Lautstärke und gestikulierten wild, der Oktjabrski Rynok, der Oktober-Markt. Pyramiden von Melonen aller Art, gelbe, grüne, rote, manche groß wie Wagenräder und aufgeschnitten, das fleischige Innere zur Schau stellend. Berge von Salzgurken, Paradeisern, Granatäpfeln, Mandeln, Nüssen, Rosinen, Trauben, Obst, Gemüse, Gewürzen, Zöpfe von vielfarbigen Zwiebeln, Paprika und Knoblauch, vieles kenne ich nicht und alle Worte sind zu wenig für die Pracht; man muss es gesehen und gerochen haben.

Auf der anderen Seite des Basars haben die Handwerker ihre offenen Werkstätten, die Kupfer- und Silberschmiede, Schlosser, Tischler, Schuster, Sattler, Weber, Gerber, Schneider und Jurten- und Filzmacher. Ich verliebe mich sofort in die Stände mit Samowaren, hölzernen Kinderwiegen und Hochzeitstruhen mit Brandmalereien, alten Schlössern und bei den Töpfern in die riesengroßen flachen Keramikschüsseln mit wunderschönen vielfarbigen Dekorationen, das Geschirr für das Nationalgericht Plov. Fast nicht losreißen können wir uns von den Porzellan-Werkstätten, in denen das klassische usbekische Teegeschirr hergestellt wird, die blau-weiß-goldenen Piali, kleine Schüsselchen ohne Henkel mit Untertassen und Teekannen.
Das Kaufen muss warten bis zu unserer Rückkehr. Das Einzige, was wir sofort erstehen, sind die usbekischen Kopfbedeckungen, die runden, kunstvoll bestickten Tjubeteikas, obwohl sie nur Männer tragen. Die Haufen von Pelzmützen aus Biber-, Karakul-, Fuchs-, Otter- und Nerzfell treiben den Schweiß aus den Poren. Überall, wo wir auftauchen, erregen die drei Grazien Aufsehen, westliche Touristen gibt es hier kaum. Aber die Menschen sind höflich und dezent, sie verbergen ihre Neugier. Wir sprechen ja Russisch, wir könnten auch Sowjetbürgerinnen aus einer Hauptstadt sein.

Ich komme kaum aus dem Markt für die Lebendtiere heraus, meine zwischen Ekel und Faszination schwankenden Freundinnen müssen mich von all den zum Verkauf angebotenen Hühnern wegziehen, von den Ziegen und Schafen. Gleich angewidert sind unsere zartbesaiteten Seelen von den an den Beinen in riesigen Bündeln aufgehängten Hühnern. In geflochtenen Steigen sehe ich Fasane, Hermeline, Schlangen, Schildkröten und einige mir unbekannte Vogelarten. Der Lärm, den die Tiere zusammen mit Händlern und Käufern veranstalten, ist kaum zu beschreiben, der Gestank noch viel weniger.

Vom Revolutionsplatz über die Karl-Marx-Straße stehen in westlicher Richtung bis zur Leninstraße und zum Lenin-Prospekt viele repräsentative Gebäude: das Lenin-Museum, der Stadtsowjet, die Künstlervereinigung, die Hotels Taschkent und Usbekistan, das Schauspielhaus, das türkische Bad, das Museum des Erdbebens und das Museum der Völkerfreundschaft. Ich verschaue mich in das soz-realistische Denkmal für den Schmied Schachmed Schamachmudow und seine Frau Bachri Agramowa, die im Großen vaterländischen Krieg fünfzehn Kriegswaisen adoptierten. Das Opern-und Ballettheater haben nach 1945 japanische Kriegsgefangene erbaut, der Betonbau ist der einzige, der das Erdbeben völlig unbeschadet überstanden hat. Die siebzehn Metrostationen sind von einer Üppigkeit, die einem die Augen übergehen lässt. Sie zeugen in einer unnachahmlichen Übersteigerung jedes Klischee von den Schätzen des sowjetischen Orients.
Im Jahr 1971 gab es noch kaum privaten Autoverkehr, die Straßen waren leer wie ein Architekturmodell, aber die Stadt war stolz auf ein gut ausgebautes Metro-Netz.

An die altislamischen Baudenkmäler kann ich mich nicht erinnern; einerseits waren viele dem Erdbeben zum Opfer gefallen und fünf Jahre später noch nicht wieder aufgebaut, andererseits war Taschkent nie die schönste Perle an der Seidenstraße gewesen.
Anders als ihre berühmten Schwestern Samarkand und Buchara, in die wir nacheinander flogen. Die Beschreibung hier überlasse ich den inzwischen zahlreichen Reiseführern und Kunstbüchern.
Außerdem ergeht es mir mit den Erinnerungen an diese beiden Städte ein bisschen so wie mit Kindheitserinnerungen, von denen niemand genau sagen kann, ob es sich um Selbsterlebtes handelt oder um später Erzähltes, Gehörtes oder Gelesenes. Ich erinnere mich, dass dort meine Zweifel begannen, ob wir nicht überhaupt unsere Kopfbilder vom Orient hierher einschleppen und dann ständig auf der Suche nach ihnen sind. Verschärft wird diese Unsicherheit zusätzlich durch den ständigen Schleier, den meine aus Moskaus Schneesturm mitgebrachte Grippe erzeugte.

Wieder zurück in Taschkent, kauften wir Flugtickets nach Fergana und Osch im Osten, schon sehr nahe der chinesischen Grenze und nach Nukus, Chiwa, und Urgentsch, die Wüstenstädte am westlichen Unterlauf des Amu Darja in der Kysyl Kum, die nach Gobi und Sahara die drittgrößte Wüste der Welt. Wie schon mehrmals in dieser Gegend, bestaunte ich die Selbstverständlichkeit, mit der sich auch die einfachsten Wüstenbewohner in die Flugzeuge schwangen, genauso selbstbewusst wie auf ihre Eselskarren am Boden. Ich hatte damals erst zwei Flüge absolviert, nach der Matura einmal nach New York und zurück. Das Reisen mit Flugzeugen war für unsereins in Europa noch keine Alltäglichkeit. Auch in die Sowjetunion war ich mit der Bahn angereist, im Chopin-Express vom Wiener Ostbahnhof über Warschau, Brest-Litowsk nach Moskau, Weißrussischer Bahnhof. In diesen weiten Landschaften Zentralasiens gab es keine Überlandstraßen und kein Eisenbahnnetz, das Flugzeug war so selbstverständlich und kaum teurer als die Straßenbahn.

Eingepresst in die eng stehenden Stühle, vollgestopft mit Binkeln und Bündeln, Säcken, Körben und Kisten, flog die kleine Tupolew in geringer Höhe über die Kysyl Kum (Roter Sand), ein leicht rötliches Sandgelb ohne Erhebungen und Schatten. Der einzige Schatten war der unseres Flugzeuges, der uns manchmal schneller vorausflatterte, als wir flogen, oder links und rechts auftauchte. Diese optische Täuschung hat mir noch niemand erklären können, ob das eine Form der fliegenden Fata Morgana ist?
Plötzlich erschien im kleinen Fenster eine graue Linie, wurde zu einer Schlinge und dann zu einer zweiten und zu einer Schlange. Ein Fluss, das musste er sein, der Amu Darja! Ich presste mein Gesicht ans Fenster. Es ging ganz langsam. Wie ein Kaleidoskop machte sich ein Bildchen nach dem anderen auf, Bilder, die ich sah oder seit vielen Jahren im Kopf hatte.
Der Sehnsuchtsfluss seit meiner Sven-Hedin-Lektüre.

In meiner Jugend waren Sven-Hedin-Bücher noch immer sehr populär. Es gab unzählige Titel aus dem Brockhaus-Verlag. Im Herzen Asiens, zwei Bände, Abenteuer in Tibet, Transhimalaya, drei Bände, Zu Land nach Indien, zwei Bände, mehr als zweihundert Titel, die wissenschaftlichen nicht eingerechnet. Zu Land nach Indien – in diesem Buch floss für mich alles Fernweh zusammen, und es blieb mir am lebhaftesten in Erinnerung. Die Stelle mit der dramatischen Suche nach Wasser am Amu Darja war im Lesebuch für die dritte Klasse Gymnasium abgedruckt, und ich konnte noch die Generation nach mir für Sven Hedin begeistern. Fast noch lieber vertiefte ich mich in seine Illustrationen, Aquarelle und Fotografien. Hedin war auch ein begnadeter Topograf und Kartograf. Sein asiatischer Atlas in einer Jugendausgabe wurde mein Vademecum. Am wildesten Stück der Donau geboren und aufgewachsen, in meinem Leben persönlich bekanntgeworden mit Dimbach, Giessenbach, Enns, Salzach, Fuschler Ache, Inn, Isar, Rhein, Hudson und Moskwa, habe ich mich jugendlang hingeträumt zu Nil und Niger, Amazonas und Orinoco, Mississippi, Colorado und Amu Darja, der sagenhafte Oxus des Alexander-Iskander.

Lisa, Schanna und ich hatten bei unserer Einreise beschlossen, unsere Namen zu russifizieren. Die Wiener Liesl wurde zu Lisa, die Kärntner Susi zu Schanna, ich zu Weranika. Schanna ist die Ernsthafteste unter uns, sie studiert Russisch-Dolmetsch und Geschichte, Lisa ein bisschen Russisch, Literatur, Anglistik, von allem etwas, Psychologie und Arabistik, aber nichts wirklich akademisch. Sie holt sich, wenn sie Lust dazu hat, von allem das Beste, wie an einem reich bestückten Buffet. Dafür hatte sie Talent. Sie war in Wien mit einem Palästinenser verheiratet, der als Arzt im Elisabeth-Spital angestellt ist, sogar schon mit einer gemeinsamen Wohnung auf der Hohen Warte. Reden kann sie über alles und jeden für sich einnehmen. Ganz leicht. Ich musste feststellen, dass das ein Talent war, über das ich nicht verfügte. Sie hat recht und es richtig erkannt, worauf es ankommt.

Als Sven Hedin mit seiner Karawane, nach langer Durststrecke und völlig erschöpft – ein Begleiter und sieben Kamele waren schon gestorben – endlich auf den Amu Darja stößt, müssen sie feststellen, dass dieser vollständig ausgetrocknet ist, ein zwei Kilometer breites, flaches Band aus Sand und Geröll ohne einen Tropfen Wasser, nicht für Mensch, nicht für Tier. Hedin hatte sich bei der Durchquerung der kasachischen Wüste Ust-Urt verspätet und aus Ungeduld, schnell weiterzukommen, es an der letzten Wasserstelle verabsäumt, die Schläuche bis zum letzten Wassertropfen zu füllen. Die Spannung war kaum zu übertreffen, zusammen mit den drängenden Fragen nach der Schuld. Sie gehen in das Flussbett hinein und drehen jeden Stein um, ob da nicht doch noch in einer Kuhle ein wenig Flüssigkeit übriggeblieben war. Die Luft flirrt in der Hitze, sie können das andere Ufer nicht sehen, nur die Luftspiegelung der Tamarisken. Sie sind am Ende ihrer Kräfte und ihrer Vorräte. Sie machen Halt im schütteren Schatten eines Tamarisken-Haines, der sein Ufer säumt. Hedin lässt die Kamele lagern und überlegt mit seinen einheimischen Begleitern, ob sie den letzten Hahn in ihrem Gepäck schlachten sollen, um sein Blut zu trinken. Essen oder trinken? Was brauchen sie jetzt mehr, nachdem auch das letzte Karakul-Schaf aufgegessen war? Dabei wissen sie, dass das Blut in der Hitze sofort stockt und kaum Flüssigkeit bringt. Dazu ist der Gestank unerträglich.

Die Begleiter machen ein mageres Lagerfeuer aus trockenen Tamarisken-Zweigen. Die andere Möglichkeit wäre, den Urin der Kamele zu trinken. Das wäre aber noch schrecklicher als das gestockte Blut des Hahns, im Orient ist das eine Foltermethode. Außerdem würden sie ihre Lasttiere durch das Urin-Melken schwächen, weil die Kamele ihren Urin recyceln und sich neu zuführen können. Ein Kreislauf, der sie zu den begehrten Wüstenschiffen macht. Bei all diesen Abwägungen kauen Sven Hedin und seine Begleiter an den Blättern der Tamarisken, ungenießbar bitter, man bekommt eine raue Kehle, es regt den eigenen Speichel an, vergiftet aber den Magen. Tamariske, Brunnen der Wüste, sagen die Einheimischen.

Schon als Dreizehnjährige fieberte ich, wie sie sich entscheiden würden. Sie braten den letzten Hahn und legen sich halb hungrig und mit schmerzenden Gedärmen schlafen. Am nächsten Morgen wachen sie früh unter einem leisen Rauschen auf, und die geübten Ohren sagen ihnen: Der Amu-Darja ist da, und er hat Wasser! Es ist nur ein kleines Rinnsal in der gewundenen Mitte des Geröllfeldes, aber frisches, fließendes Wasser, welch ein Wunder! Sven Hedins Begleiter meinen, dass irgendwo weiter oben im Hindukusch vielleicht ein Gletscher abgestürzt und geschmolzen ist. Heute wissen wir, es war wesentlich unromantischer; in einer Baumwoll-Kolchose hatte jemand eine Schleuse der unzähligen künstlichen Kanäle geöffnet. Sie führen als Erstes die Tiere in das Rinnsal, dann trinken sie selbst ohne Ende. Nur Hedin gönnt sich das Vergnügen eines Wasser-Bades, die Einheimischen meiden das Wasser, dafür füllen sie die Schläuche. Die Kamele werden beladen, und sie brechen auf, weiter entlang der Seidenstraße nach Osten. Da lese ich zum ersten Mal von Chiwa, Buchara und Samarkand, Taschkent, Kokan und Fergana Hedin entdeckt den Issyk-Kul-See, den Bosten und Lot, die Karawane überquert den Hindukusch, dringt in die Gobi vor, durchwandert Tibet, immer kartografierend, fotografierend, illustrierend und notierend, entdeckt er die Quellen des Bramaputra und Indus und kommt tatsächlich nach Indien.

Wie sehr Sven Hedin, ein Verehrer der germanischen Rasse und mit Nazi-Größen von Hitler an abwärts, in das nationalistische Regime eingebunden war, erfuhr ich erst viel später während des Studiums. So widersprüchlich das war, hatte er sich auch Verdienste um die Errettung von Juden und Norwegern aus den Fängen des Verbrecherregimes gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, dass von Hedins Nazi-Vergangenheit jemals zu Hause oder in der Schule die Rede war. Mit den Mitteilungen über die Verbrechen der Sowjets war man nicht so sparsam.
Von Hedins Forschungsreisen konnte ich mich trotzdem nicht losreißen. Die Bilder seines Orients hatten mich in ihrem Sog eingefangen, nach Osten, und immer weiter nach dem Osten.

Chiwa unter mir, die alte Tupolew kreist einige Male, ich sehe die Bremsklappen neben mir, dann wieder nicht. Wir sacken ab, streifen die Türme und Minaretts in Kurven und Schlingen, der Schatten flattert unter uns, wir kommen ihm näher, und er saust schneller als wir. Ein Schlingern in den Gedärmen, Bremsen, Sinken, es spürte sich an wie eine Faust in den Magen, ein kurzes Aufwallen wie im Lift. Dann glücklicherweise Sand, kurzes Holpern, ein kleiner, blinder Schlag, eine sachte Neigung der Schnauze nach vorne und ich mit ihr, dann Stillstand und Schweigen. Es gibt keine Nerven, nur Körperempfindungen, direkt. Wir sind gelandet, weich, aber ich sehe das Fahrgestell nicht, aber auch keine Flammen, weil ich mir schon lange die Hände vor die Augen gehalten habe, noch immer das Gesicht an die kleinen Fensterscheibe gepresst, die Nase so flach wie die Augen. Im Flugzeug war es sterbensstill. Nur die anglophile Lisa neben mir flüsterte beim Abschnallen ungeduldig: „Go on, go on, well, there we are, this is Khiwa, finally.“ Die Grande Dame unter uns war wie immer und überall cool. Die rothaarige Schanna war so bleich, dass ihre Sommersprossen violett aussahen.

Irgendetwas kann nicht so gut gelaufen sein bei dieser Landung. Nach langer Wartezeit ging eine Tür auf und kochend heiße Luft strömte herein wie aus einem offenen Ofenloch. Nur über eine schmale Strickleiter konnten wir aussteigen, für die rundliche Schanna eine extreme Turnübung, für die langbeinige Lisa ein Katzensprung. Die kleine Tupolew saß mit dem Bauch im Sand, leicht vornüber gekippt, wie ein Vogel mit gebrochenem Nacken in seinem Sandbad. Eine Bruchlandung ohne einen Bruch. Die einheimischen Mitreisenden waren noch cooler als Lisa, sie wunderten sich sichtbar über nichts, protestierten gegen nichts, holten ihr Gepäck selbst aus dem Bauch der Maschine und verteilten sich auf wartende Taxis und Eselskarren. Die einzigen Pflanzen weit und breit waren niedrige, verkrüppelte Tamarisken, gepflanzt vielleicht als Begrenzung des Pistenrandes. Die vier Propeller glänzten im knallblauen Himmel, die beiden gesenkten Schwanzsteuer ebenfalls. Flimmern der heißen Luft darüber wie flüssiges Glas. Von diesem intensiven Azurblau des Firmaments hatten die Handwerker das Glänzen und Funkeln der Kacheln abgeschaut. Ansonsten gab es in der Wüste keine Farbe.

Im Süden lugten die Gipfel-Girlanden des Kopeth-Dagh-Gebirges aus der Wüste, die Grenze zum Iran. Jetzt noch die Füße in den Sand setzen und die Grenzen von Geschichte und Geographie überschreiten, im Orient ankommen. Wenn man es genaunimmt, standen wir in der Wüste Kara Kum, am linken Ufer des Amu Darja, die Kysyl Kum lag am rechten Ufer, kurz bevor er sich in ein vielarmiges Delta aufteilt und bei Nukus in den Aralsee mündet. Dorthin wollte ich ohne Lisa und Schanna einen illegalen Abstecher wagen, denn näher würde ich vielleicht nie mehr kommen, so meine Überlegung. Das von Stalin begonnene und von Chruschtschow fortgeführte Versanden des Wüstensees wollte ich mit eigenen Augen sehen. Zur Steigerung der Baumwollproduktion hatte der Diktator die nördlichen Flüsse umleiten lassen und einen Großteil der Wassermassen zur landwirtschaftlichen Nutzung in Kanäle gezwängt.

Was wir noch nicht wussten: Es war nicht Chiwa, wo wir gelandet waren, sondern der Flughafen von Urgentsch. Man ließ uns keine Zeit, die im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung gegründeten Handels- und Gelehrtenstadt an der Seidenstraße zu besichtigen, sondern verfrachtete die nach Chiwa weiterreisenden Passagiere in einen klapprigen Autobus der Marke ZIL.
Nur aus der Ferne konnten wir von den Mauern von Kunja-Urgentsch träumen, von den Badehäusern, Teehäusern, Mausoleen, Moscheen, Koranschulen, Minaretten und Palästen, in denen berühmte Gelehrte wie Al-Biruni, Fachr-ad-Din-Rasi, Al-Khwarizmi und Ibn Sina, der Medicus Avicenna unter dem Emir Mahmud Gurgandsch gewirkt hatten.
1221 eroberte Dschingis-Chan die Stadt, ließ die gesamte Bevölkerung töten und siedelte seine Mongolenheere an. Im Hof der Juma-Majid-Moschee steht eine tausend Jahre alte Säule, an die Dschingis-Chan sein Pferd gebunden hat. Sie hielten sich nur rund hundert Jahre, bis die Sufi-Dynastie unter Emir Kutlug Urgentsch zu einem Machtzentrum ausbaute.

Das einzige Bauwerk, das wir vom Bus aus wahrnehmen konnten, war das Minarett Kutlug-Timur, mit 62 Metern das höchste in ganz Zentralasien. Da fällt mir auf, dass das Reiterheer mit dem größten aller je existierenden Reiche in keinem der besetzten Länder staatliche oder architektonische Spuren hinterlassen hat, nicht einmal in seiner Urheimat, der Mongolei, sollte man Grabhügel nicht zu Architektur zählen. Auch nicht in Russland, wo sich die Goldene Horde zweihundert Jahre lang niedergelassen hatte.
Hat das schon jemand untersucht, warum das so ist? Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist das russische Sprichwort: Kratzt du an einem Russen, kommt ein Tatar hervor. Es gab also kein „Paarungsverbot“ zwischen den moslemischen Besatzern und den christlichen Untertanen. Alle tatarischen/mongolischen Elemente in der russischen Architektur und Alltagskultur stammen von den Siegern über die Goldene Horde als Ausdruck ihres Triumphs. Von der Basilius-Kathedrale am Roten Platz bis zur neo-mongolischen „Kirche am Blut“ in St. Petersburg.

Für den Besuch in Chiwa hatten wir nur einen Tag genehmigt bekommen, wogegen wir im Ovir der Universität nicht protestiert hatten, weil wir meinten, für diese 30000-Einwohner-Stadt nicht mehr Zeit zu benötigen. Es gab ja in der Sowjetunion zu dieser Zeit weder Touristenführer noch Landkarten. Lisa und Schanna waren ausschließlich meiner literarischen Schwärmerei gefolgt. Beide waren viel später und eher zufällig zum Russisch-Studium gekommen als ich. Ich brachte uralte Liebe und schäumende Begeisterung mit. Schanna, eine Kärntner Wirtstochter, war die gelassene Wissenschaftlerin, die die sowjetischen Verhältnisse unter ihr Mikroskop legte und für alles eine analytische Erklärung hatte. Lisa, die Diplomatentochter aus Wien, eine unbarmherzige Kritikerin, verglich alles im Arbeiter- und Bauernparadies im Russland des Breschnew mit Frankreich, GB und USA.
Aber immerhin hatte ich die beiden bis hierher schleppen können. Denn mir allein hätte das Ovir die Reise nicht genehmigt, obwohl mein Russisch am besten gefestigt war. Ein Kleeblatt, wie es unterschiedlicher nicht hätte sein können.

Ich habe in einem Album ein Foto, das uns drei zeigt, in unendlichem Sand. Ein Kamel, auf dem die pummelige Schanna aufrecht sitzt, die rote Lockenpracht ausgebreitet bis auf die Schultern, daneben Lisa, das Kamel fast überragend, in einem Minirock mit model-artig vorgestelltem Bein im Sand, die braune Mähne neckisch an den Hals des Tieres geschmiegt, und ich, fast unter dem Bauch, eine kleine blonde Figur, aber strahlend wie der Morgenstern. Die war am Ziel der Träume. Das Foto wird wahrscheinlich der Eselführer gemacht haben. Im letzten Viertel am rechten Rand des Fotos ist eine Formation zu sehen, ein verwaschener, rötlich-brauner Hügel. Aber ich weiß, dass es eine Lehmziegel-Burg aus dem 4. Jahrhundert ist, eine der wenigen Befestigungen entlang der Seidenstraße aus vorislamischer Zeit, die noch erhalten ist.

Chiwa, eine Kleinstadt, hat dreimal mehr Kunstschätze als Einwohner. „Cheiwak“ – ah, was für ein gutes, wohltuendes Wasser, oder auch Zufriedenheit, Gott, wie gut, steht, sagen die Legenden. Andere haben daraus Heureka gemacht, schaut mal, was für ein Wasser! Ich hab‘s gefunden. Noahs Sohn Sem hat hier schon graben lassen und aus der Quelle getrunken. Im Nordwesten der Altstadt steht immer noch der Itschan Kala. Ich habe aus ihm getrunken und meinen ganzen Kopf darin gekühlt, fast bis zum Ertrinken. Ohne Kenntnisse und Stadtplan taumeln wir drei grünen Europäerinnen durch die Altstadt, unbehelligt, aber wahrscheinlich eine Sensation. Wo immer wir auftauchen, schlüpfen die Frauen in die Häuser zurück, die Männer wenden sich intensiv ihren Pfeifen zu oder gehen in die andere Richtung weiter. Kein Lächeln, aber auch keine Abwehr, keine Zudringlichkeit und auch keine Unterwürfigkeit. Ich würde gerne mehr fotografieren als Wüstensand, Esel und Mauern, aber die Menschen lassen das nicht zu. Es wirkt hier offenbar noch immer das islamische Bilderverbot mit. Vor allem Porträts von den schönen, alten Männern würde ich gerne machen. Aber sie wackeln verneinend mit dem ausgestreckten Zeigefinger und wenden sich ab. Wer ein Bild von einem Menschen macht, der raubt ihm die Seele, heißt das Verdikt.

Fenster gibt es keine, die gehören offenbar nicht zu den Errungenschaften des Orients. Wohin wir uns auch wenden, stoßen wir auf Mauern, die Stadtmauern aus Stampflehm und Ziegeln, fast sechs Kilometer lang und bis zu sechzehn Meter hoch. Das habe ich aber erst viel später nachgelesen. Im Flirren der schon aufgeheizten Vormittagssonne sehen sie wie niedrige Gebirge aus, die sich in den Weiten der Wüste verlieren. Die zehn Meter tiefen Stadttore, die begehbaren Bastionen und Schutzwälle zeugen von Chiwas eintausendsechshundert Jahre langer Wehrhaftigkeit gegen die Eroberungsgelüste aller Potentaten zwischen dem Kaspischen Meer und China. Chiwa war in seiner Hochzeit die reichste Handelsstadt der Seidenstraße, aber auch ein gefürchtetes Räubernest, der größte Sklavenmarkt in Zentralasien. Als der Zar etwa Mitte des 19. Jahrhunderts Chiwa einnahm, fand sein deutscher General Kaufmann noch 30000 Sklaven vor, darunter dreitausend Russen. Als der Emir Islom Huia knapp vor der sowjetischen Eroberung Elektrizität, Telegraph und Telefon einführen wollte, brachte ihn die Geistlichkeit um.

Wir betraten die Stadt durch das wunderbar restaurierte doppeltürmige, von zwei Kuppeln gekrönte Ata-Darwasa-Tor. Es war so breit, dass wir uns leicht die ganze Phalanx von einmarschierende Reiterheeren und Kamelkarawanen vorstellen konnten. Dahinter breitete sich die vollkommen intakte Altstadt Itschan Kala aus, nach der wir schon so lange dürsteten. Gleich hinter dem Ausgang konnten wir schon einen Blick auf die Amin-Chan-Medrese werfen. Bevor wir hinaustraten, entdeckten wir in einer der Innenmauern ein kleines Büro von Inturist, wo wir uns mit einem Stadtplan, Karten und Broschüren ausstatten wollten. Außer verstaubten Souvenirs und einer kleinen Auswahl von vergilbten Ansichtskarten hatte das Inturist nichts Derartiges zu bieten. Der Tourismus hatte hier noch viele Entwicklungsmöglichkeiten. Pläne und Führer gab es ja aus Sicherheitsgründen von keiner sowjetischen Stadt zu erhalten. Stattdessen schlug uns der Angestellte hinter der Budel vor, einen Kamelritt in die Wüste hinein zu unternehmen. Er habe eine Tour anzubieten: mit dem Esel-Taxi ein paar Kilometer nach Westen zu einer Oase mit der Festung Gora, einer Wehranlage an der Seidenstraße aus dem 4. Jahrhundert, Besichtigung mit einem kurzen Kamelritt zu einem Nebenfluss des Amu Darja. Meine Begleiterinnen zweifelten, sie wollten eher die Stadt besichtigen, ich war sofort Feuer und Flamme und brannte lichterloh in den Bildern von Sven Hedins Schilderungen.

Man gab mir nach, und wir buchten die Tour. Sofort tauchte vor dem Tor ein Arba auf, ein zweirädriger Eselskarren mit einem Lenker in einer pittoresken Tracht. Auf diesem schwankenden Gefährt fuhren wir in die Wüste hinein, eben und ohne Ende. Das Zeitgefühl geht einem in der Wüste wahrscheinlich auch im besten Gesundheitszustand verloren. Aber wenn man sich in einer Nichtgegend, in der absoluten Leere befindet, beginnt der Raum sich zusammenzuziehen und auszudehnen. War das ein schwarzes Loch? So plötzlich wie beim Umblättern eines Märchenbuches trat ein braungebrannter Mann in langem, weißen Hemd und Tjubetejka aus dem Tamariskenhain heraus, ein einziges Kamel am Zügel mit sich führend. Offenbar das Vorzeige-Kamel zum Abfotografieren. Es war keine Rede mehr von einem Kamel-Ritt an den Nebenfluss, sewodnja nje rabotajut, sie arbeiten heute nicht, sie haben einen sanitarnij djen, einen Gesundheitstag, war die Auskunft. Also machten wir uns daran, das einzige Kamel abzufotografieren. Schanna ließ sich in den Sattel hieven, Lisa schmiegte sich in Model-Pose mit neckisch vorgestelltem Bein an seinen Hals, mir war für beides zu schwindelig, ich blieb am Boden.

Ab da finde ich bei mir kaum Erinnerungen, nur dieses Foto in meinem Album, als man seine Reiseeindrücke noch in Bücher und Mappen klebte. Ein Kamel in einer Ebene ohne Anfang und Ende, ohne Palmenoase und Festung, im Sattel die strahlende Schanna, Lisa an den Hals des Kamels gelehnt, die dieses fast überragte, zu Füßen eine unkenntliche Erhebung, die sich kaum vom Wüstensand abhob und auch eine Sanddistel gewesen sein könnte, das war ich, die zu diesem Abenteuer verleitet hatte.
Dieses Foto aus einer Schnellbildkamera hat eine ockerfarbene Patina angenommen wie ein sonnengebrannter Ziegel.

Alles Folgende sind verstreute Erzählungen im Nachhinein mit kurzen Öffnungen der eigenen Wahrnehmungen. Der Karren brachte uns offensichtlich zur Stadt zurück und lud uns am Dschuma-Minarett an der Stadtmauer ab. Meine Begleiterinnen lagerten mich bequem in den Schatten einiger Maulbeerbäume, legten mir nasse Tücher auf und labten mich mit Wasser. Unser Eselführer machte den Vorschlag, mich in das Teehaus bei der Amin-Chan-Medrese zu bringen. Er dürfe mit dem Karren nicht in die Altstadt hineinfahren. Wie es meinen Kolleginnen gelungen war, die Ohnmächtige dorthin zu befördern, kann ich nur meiner Phantasie überlassen. Sie waren zu aufgeregt, um sich danach noch genau zu erinnern. Sie durften nicht ins Teehaus, die Männer drängten sie hinaus: Geht nur, alles wird gut, kommt am Abend wieder. Ich als Ohnmächtige hatte offenbar mein Geschlecht verloren. Einmal wache ich auf und sehe mich auf einer Bank liegen. Es ist ein großer, halbrunder Raum, mit einer Bühne in der Tiefe, ein steiles Amphitheater, mit Teppichen und Kissen bedeckte Stufen. Über mir sehe ich turbanbedeckte Männerköpfe und spüre, dass man mir Tee einträufelt, die Piali mit grünem Tee immer wieder an meine Lippen hält, hinten im Hals ein kleines Rinnsal.

Einmal kommt das Bewusstsein so weit zurück, dass ich die goldverzierten Girlanden entlang der Wände wahrnehme und einige auf den Stufen lagernde Männer mit langen Bärten und in langen weißen Wallehemden.
Die Arabesken und Grafiken vermischen sich mit den sowjetischen Transparenten und Parolen, den Tafeln mit den besten Arbeitern und bei den Subotniks ausgezeichneten Genossen, die grün-weiße Majolika-Kacheln auf blauem Untergrund zerfließen mit den Blumenornamenten. Fiebrige Verzerrungen, Traumfetzen, Gefühlsreste, alles strömt ins Surreale zusammen, rauschendes Murmeln, die Luft hängt voller Geschichten, ich höre die Männer in meiner Nähe summen, Kindheitszustand, klingen so usbekische Wiegenlieder?
Sven Hedin zieht mit seiner Karawane durch meinen Kopf, das Wasser im Amu Darja donnert aus den Pamir-Schluchten in die Ebene, im weitverzweigten Fluss treiben kleine grüne Inseln in Spiralen, Ursymbole für Augen, auf dem Wasser Barken mit roten Segeln, an den Ufern weiße Zelte, dazwischen Herden von Karakulschafen, die durstigen Kamele unter den Palmen brüllen, der letzte Hahn kräht um sein Leben, und über den versandeten Aral-See pfeifen die Giftwinde. Innenwelt, Kindheitsbilder und Jenseitsgeographie bevölkert mit den Vorausgegangenen. Die freundliche Macht der Bilder verwischt alle Grenzen und löst die Zeit auf.

Lisa und Schanna buchten bei Inturist eine ungestörte Führung durch die schönste Altstadt des Orients: Sie besichtigten die Koranschulen/Medresen Schigasi-Chan und Islam Chodscha, die Mausoleen Pahlawan-Mahmuds und Sayid Alauddins, den Palast Tasch-Hauli, die Festung Kunja Ark, den Harem, das Badehaus, den Sommer- und Winterpalast und die Dschuma-Moschee, an deren Minarett meine Lebensgeister fast aufgegeben hätten.
Und wieder kam der dünne Rand einer Piali an meinen Lippen; wenn ich sie nicht öffne, netzen sie sie mit einem in grünen Tee getränkten Lappen, einen anderen legen sie mir auf Schweißstirn und Schläfen.
Was ist da drinnen, Absinth, Baldrian- und Tamarisken-Sud? Eine Hand streicht immer wieder über die Haare wie einer vielgeliebten Enkelin. Ich kannte nie einen Großvater, aber bei meiner Großmutter war es so. Ich habe das als zärtliche Gesten in Erinnerung, so fieber-vage und flüchtig sie auch sind: angenehm, friedlich, angstfrei. Fühlt es sich so in Abrahams Schoß im Paradies an? Eine Versammlung von Gelehrten und Dichtern: Abu Mansur al Saalibij, Abu Sahl al Yasihiy, Abu Nasr Mansur Ibn Irak, Abdullah Muhammad Ibn Muso al Khorezmiy. Orientalische Ur-Ur-Großväter, Patriarchen, auch meine Vorfahren. Angeblich habe ich phantasiert, unverständliche Worte hervorgestoßen und wild um mich geschlagen. Zwei Alte sitzen dicht an meiner Seite wie Grabwächter und bewahren mich vor dem Abstürzen über die steilen Stufen.

Eine eingeschleppte Grippe mit einheimischem Sonnenstich, ziemlich viel auf einmal. Seither habe ich mich oft gefragt, ob es sie große Überwindung gekostet haben mochte, gegen ihre Kultur, obwohl die gleichmachende Sowjetunion damals schon 64 Jahre gewährt hat. Bedingungslose Gastfreundschaft in Oasen lässt sich nicht so schnell austreiben. Den heimlichen Ausflug an den Aral-See musste ich vergessen, und den Rückflug nach Taschkent hat mein Gedächtnis nicht behalten.

Noch weitere drei Tage lag ich weggetreten im Hotel Inturist neben dem Flughafen, nur Fetzen von Bildern blieben im Gedächtnis hängen. Ab und zu kam ein weiß gekleideter Kartoffelsack mit hoher, weißer Mütze und verabreichte mir einen gehäuften Teelöffel Chinin, eine Büffel-Dosis, war das die Küchenchefin? Die dreimal am Tag startenden und landenden Flugzeuge flogen ausgerechnet immer durch meine Träume. Darüber wunderte ich mich schon sehr. Noch mehr, als ich einmal beim Taumeln durch die Gänge, auf der Suche nach einer Toilette, an offenen Türen vorbeikam, hinter denen weiß gekleidete, alte Männer mit weißen Bärten und weißen Turbanen im Schneidersitz auf weißen Matratzen saßen, Pfeife rauchten und Tee tranken aus weißen Schalen. Der liebe Gott hatte sich vervielfältigt. Also war ich gestorben, lag auf den Wolken im Himmel mit Sven Hedin.

Meine Freundinnen flogen währenddessen nach Fergana und ließen sich drei Tage in der sagenhaften Oase von Osch den Wind vom Hindukusch um die Nasen wehen.
Ich hatte auch ohne den Aralsee und das Fergana-Tal wahrlich viel gesehen und erfahren auf dieser Reise nach Zentralasien, die beharrlichsten und buntesten Eindrücke vom Orient kamen aber aus dem Teehaus von Chiwa.

4.3.15 – 2.2.17

Veronika Seyr
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In der Nähe das Böse

Zum ersten Kaffee am Morgen lese ich üblicherweise fünf überregionale Tageszeitungen, zwei Wochen-Magazine, Beiträge mehrerer Nachrichten-Agenturen und drei Lokalzeitungen, online kostenlos natürlich. Ich stürze mich in die großen internationalen Ereignisse, ob Politik oder Naturkatastrophen, Kultur oder Wirtschaft, manchmal schaue ich noch in Science und People rein. Das Einzige, was ich wirklich nie lese, sind Börsenkurse und Sport. Am längsten bleibe ich bei den vermischten Nachrichten hängen, sei es ein Haiangriff in Australien, tot, mit einem abgebissenen Arm oder Bein, ein brennender Schweinestall in der Steiermark, entlaufene Pferde auf der A1 oder ein Familiendrama im Mühlviertel. Manches notiere ich mir oder kopiere etwas, vor allem wenn die Meldung eine irrwitzige oder komische Note hat. Immer auf Themensuche. Ich kann von mir sagen, dass ich eine recht geübte und abgebrühte Leserin bin.

Und trotzdem komme ich von einem Ereignis nicht los. Der Mord an einer jungen Frau, Amerikanerin, Studentin und Babysitterin in einer Wiener Familie, schreibt die Zeitung unter Lokales. Sie war an einem Montagmorgen nicht zur Arbeit erschienen; die Arbeitgeber informierten die Polizei, die die 26-Jährige tot in ihrer Wohnung fand, erdrosselt oder erstickt. Dazu war ein Foto abgedruckt, das Polizisten auf der Straße vor einem Haus zeigte, das ich sofort erkannte.
Es war mein Nachbarhaus, zweistöckig, gelbes Biedermeier, lange Ruine, kürzlich vorbildlich renoviert, mit einem grünen Innenhof, obenherum zwei Stockwerke bewachsene Pawlatschen-Gänge, genutzt von einem Edel-Italiener und hoffentlich auch den Bewohnern. Ein Juwel, ein Idyll und ein hervorragendes Beispiel für moderne Altstadt-Wiederbelebung. Ich pflegte dorthin öfter meine bevorzugten Gäste auszuführen oder chillte gern dort allein ab. Hier war für mich Wien, wie es von der besten Seite nur Wien sein kann.
Eigentlich liegt das Haus auf meiner Straße zwei Nummern entfernt, aber ein Stück seiner Rückseite ragt in meinen Hof hinein, so dass ich sie hinter den Bäumen immer im Blick habe. Mit einigem Kopfverrenken könnte ich auf die kleinen Klopfbalkone, in die schmalen Fenster der Gangklos und in die Gangfenster hineinsehen. Im Sommer mit den Blättern der Bäume ist alles verborgen, im kahlen Winter allzu deutlich.

Ich muss bekennen, dass mich dieser Mord mehr erschütterte als alles andere in der Welt. Seither denke ich darüber nach, warum das so ist, warum mich das Gefühl des Grauens bis heute in den Krallen hält. Ich spüre es, wie sich mein Herz zusammenkrampft und immer wieder Übelkeit aufkommt. Nimmt die Stärke der Betroffenheit mit der Anzahl der Kilometer ab, und mit der Nähe von ein paar Schritten zu, obwohl ich diesen Menschen gar nicht kenne?

Die Zeitung berichtete, dass Mary Louise M. aus Houston, Texas, seit einem Jahr dort gewohnt hatte und von ihren Arbeitgebern als äußerst verlässlich beschrieben wurde. Ich hätte sie auf meiner Straße gesehen haben können, an der Straßenbahnhaltestelle direkt vor dem Haus, im Supermarkt in einer Schlange mit ihr gestanden, in der Trafik, dem Blumengeschäft oder der Parfümerie. Ein Detail im Zeitungsbericht machte mir besonders zu schaffen: In der Wohnung des Opfers seien alle Glühbirnen herausgeschraubt, aber überall Kerzen aufgestellt gewesen. Eine Romantikerin, eine Ästhetin, ein Sparefroh?
Die ausgeschraubten Fassungen rauben mir die Fassung.

War es notwendig, dass man sogar ihr Passbild abdruckte, das eine hübsche, junge Frau mit langen, blonden Haaren und einem strahlenden Lächeln zeigte? Das pralle Leben, mit viel Hoffnung in den leuchtenden Augen sichtbar, alles vor sich. In mehreren Folgeberichten, die ich alle verschlang, kamen immer mehr Details ans Tageslicht. Die junge Amerikanerin habe nicht nur an der Universität studiert und die Au-pair-Kinder betreut, sondern ein lustiges Nachtleben geführt. Nachbarn wollen beobachtet haben, dass sie oft Besuch hatte und in der Einzimmer-Wohnung gerne Partys feierte. Nach einigen Tagen fällt der Verdacht auf einen neunzehnjährigen Ghanesen, einen Asylwerber, den man in der Schweiz aufgegriffen hat. Es wird seine Auslieferung beantragt. Dann war länger nichts mehr über den Fall zu lesen. Ich war allein mit meinen Überlegungen, warum sie nicht stärker gewesen war als ein unterernährter Flüchtling, sich zu wehren gegen etwas, was sie nicht wollte. Das durchtrainierte mexikanische Girl. Weil sie so etwas nicht in Wien erwartet hat. Aber das ist zu schrecklich. Und daran kranke ich.

Bei meinem nächsten Ausgang zündete ich eine Kerze an und legte ein paar Blumen vor dem Hauseingang nieder. Ich war nicht die Einzige, gut zu wissen, dass es anderen ähnlich ging, mit Grausen, Trauer und Trostsuche. Rechts vom steingemeißelten Torbogen waren im ersten Stock zwei Fenster mit braunem Packpapier verklebt. Davor waren noch immer zwei halb abgebrannte Kerzenstümpfe zu sehen.
Danach konnte ich nie wieder direkt am Haus vorbeigehen, sondern wechselte schon bei meiner Haustüre die Straßenseite, wobei ich immer auf die blinden Fenster blicken musste. Das ist jetzt ein Jahr her; der Ghanese wurde ausgeliefert und erwartet seinen Prozess. Er leugnet, obwohl die forensischen Beweise erdrückend sind. Vielleicht nur ein Unfall, kein Mord? Auch nicht tröstlich. Das Letzte, was ich darüber in der Zeitung las, waren Aussagen aus ihrem Umfeld, dass Mary Louise öfters Flüchtlinge bei sich übernachten ließ. Eine warmherzige, mitfühlende Seele.

Das hätte ich nicht lesen sollen, denn seither wird mir dieses fremde Schicksal vollkommen zur Obsession.
Ich konnte nun nicht einmal mehr dieses Stück der Straße benützen, mied die Trafik, den Bankomaten und den Blumenladen auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ließ die Straßenbahnstation vor dem Haus aus, nahm einen Umweg über mehrere Gassen zur U-Bahn in Kauf und richtete nie wieder einen Blick auf die verklebten Fenster. Meine Schreibtisch-Sicht auf die Rückseite des Mordhauses deckte ich mit Hilfe des rechten Vorhangteils ab. Das waren natürlich nur hilflose Versuche, diesen Mord aus meinem Sinn und meinen Gefühlen zu vertreiben. Vielleicht sollte ich auch mit aufgeklebtem Packpapier das Grauen draußen halten.

Das Grauen blieb allgegenwärtig. War es die örtliche Nähe, die mir so ins Herz griff? Viel mehr als die hunderttausenden Kriegs- und Hungertoten in aller Welt? Als alle seither im Verkehr Verunfallten oder Lawinenopfer? War es die Vorstellung von einer lebenslustigen, jungen Frau, die Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf gab? Wurde sie auf diese schreckliche Art dafür belohnt, bestraft? Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit! Wer macht so etwas, wer lässt das zu? Der Groll, die Wut wird nicht weniger. Groll und Wut, gegen wen eigentlich? Ich haderte mit den kindlichen Vorstellungen von einem barmherzigen oder rächenden Gott. Diese Mary Louise M. aus Texas, die hier selbst eine Fremde war. Vielleicht nannten sie ihre Freunde Malou? Hi Malou! Die Kinder riefen sie vielleicht Malli oder Ma-lo! Und sie sagte, Hallo, my sweety, my honey, my darling. Sie konnte gut singen und spielte Gitarre. Die Kinder liebten sie und verbrachten viel Zeit mit Malli, Mulli, Mallo.

Und der Gedanke an ihre Familie in Houston, die sich nicht vorstellen hatte können, dass ihrer Tochter, Schwester, Enkelin ausgerechnet in Vienna, Austria, eine Gefahr drohte. Ich sehe sie in der Gerichtsmedizin, wie sie sie identifizieren müssen und später weinend am Rückflug nach Houston mit dem Sarg. Ich lege darauf einen spirituellen Blumenstrauß, umarme die Eltern, spende in der Paulaner Kirche ein Requiem, stelle eine Kerze in mein Hoffenster, eine dunkellila Primel dazu und merke, wie der Bann langsam zu wirken beginnt.

Vor einigen Tagen ertappte ich mich dabei, dass ich an dem Torbogen vorübergelaufen bin und nebenan beim Installateur B. eine Klobrille gekauft habe, ohne an Malou zu denken.

23.1.17

Veronika Seyr
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Was sind Clementinen?

Einen Tag vor Weihnachten hat mich in meiner Billa-Filiale ein spanhölzernes Steigerl mit CLEMENTINEN (Herkunftsland Spain, kernlos) verführt, obwohl ich nicht genau wusste, was Clementinen sind. Mandarinen, Tangerinen, Nektarinen, Serpentinen, Satsumas kenne ich, Clementinen nicht, schon wieder eine neue Züchtung?
Oh my darling, oh my daarling, oh my daaarling, Clementine! Das Lied mit diesem Refrain haben wir gern geschmettert. Aber die Clementine im Lied ist doch ein ganz anderer Typ?
Die Früchte im Steigerl sehen sehr schön und einladend aus. Eine Verführung, der ultimative Traum vom Süden in unseren lichtarmen Tagen, das Versprechen eines strahlend blauen Himmels, mit Wärme und leichtem Meeresrauschen.

Sie sind etwas größer als Mandarinen und Nektarinen, fast rund, durchgehend knall-orange wie eine Clowns-Perücke, glänzend wie mit Schweinespeck eingeschmiert, geschmückt mit Zweigen und immergrünen Blättern, alles direkt dran an den Früchten, wie gerade selbst vom Baum gepflückt. Die können das, die Kaufverführer aller Nationen.
Wer das macht in Spain, pflegt und erntet, wie und unter welchen Bedingungen, wir wissen es, aber angesichts dieses orange-grünen Versprechens waren alle Vorsätze wie weggewischt, dass ich aus Spain nichts mehr kaufen darf.
Nach all diesen vorbeihuschenden Fragen, Einsprüchen und Überlegungen stelle ich das Körbchen in meinen Wagen.

An der Kasse frage ich die Kassierin, was denn Clementinen sind. Ich kenne die Frau schon lange, eine freundliche Frau, der man ihre ostdeutsche Herkunft bei jedem Atemzug anhört. Sie pflegt einen speziellen Humor, etwas rau, aber sie hat für jeden Kunden ein freundliches Wort, lacht gern und trägt immer einen Scherz auf den Lippen. Ich glaube, dort heißt es, sie hat Lippe. Fast Wienerisch. Ich finde es immer noch toll, dass wir Einwanderer aus der früheren DDR in Wien haben. Was da wohl für ein Lebenslauf dahintersteckt? Ich habe mich aber nie danach zu fragen getraut. Schade.
Auf meine Frage nach den Clementinen lacht sie mir offen und schallend ins Gesicht: „Dos frogen S‘ ausgerechnet mich? Wie soll ich dos wissen, Clementinen, hahaha, ich kannte ja bis vor kurzem nitamol Bananen!“ Die Mauerfall-Begrüßungsgeschenke sind lange her, sie hat sie nicht vergessen und ich auch nicht, die Bilder von den von Wessis als Willkommensgeschenk verteilten Bananen. Sie nimmt es ihnen offenbar bis heute nicht übel.
(Herrlich, diese Frau gehört auf eine Bühne mit politischem Kabarett, auf Deutsch KAbarettth oder Comidi.)

Übrigens, bei meinem Clementinen-Steigerl-Kauf habe ich mich völlig übernommen. Ich war über Weihnachten schwer verkühlt, sagte alle Besucher und Besuche ab, nahm nur das Lebensnotwendige zu mir, weil nichts wirklich schmeckte und vor allem die Zitrusfrüchte auf den aufgesprungenen Lippen brannten. Die Schnupfennase und alles drumherum sowieso. Sogar die Hektoliter Tee habe ich nur mit Honig, ohne Zitronen und Clementinen, geschlürft.

Als es mir etwas besser ging, und ich aus den verschlierten Augen herausschauen konnte, schritt ich zur Tat, nachdem diese wunderschönen Clementinen-Darlings jeden Tag mindestens eine neue faulige produzierten. Ich nahm das den Darlings ziemlich übel, hatte ich sie doch farblich mit dem Gedeck, den Gläsern, den Küchenwänden und dem Tischtuch abgestimmt so drapiert, dass keine die andere berührte. Also ziemliche Prinzessinnen auf der Erbse, nicht vertikal wie im Märchen, diese Clementinen.
Oh my darling, Clementine.

Ich griff zum Messer und zerschnipselte die Clementinen samt und sonders, verrührte sie und verkochte und passierte sie gleich zweimal, einmal mit dem Mixstab, dann noch einmal mit der flotten Lotte. Ich versetzte den Brei neben Gelier- noch mit Vanillezucker, mit Ingwer, Gewürznelken, Kardamom und Citronat. Im Übermut fügte ich noch ein kleines Stück Bitterschokolade, Akazienhonig, einen Kaminzauber-Teebeutel, ein paar Rosinen und einen Teelöffel Cognac hinzu. Mehr Gutes fand ich nicht im Haus oder in meinem Schnupfenkopf.

Schließlich konnte ich zwölf Gläschen mit Clementinen-Gelee befüllen und beschriften mit „Clementine, 31.12.16“- der Geburtstag meiner Schwester Hedwig. Wie diese Multi-Kombi-Marmelade wirklich schmeckt, konnte ich noch nicht erforschen. Die Geschmacksknospen sind noch immer beeinträchtigt. Aber sie durchzog die Wohnung mit dem feinen Duft der Sehnsucht nach dem Süden. Das Land der Sehnsucht mit der Seele der Clementinen suchen. Wer nie das Brot mit Tränen aß. Vielleicht dufteten sie sogar bis nach draußen, aber das hätte nur ein gesunder Besucher vor der Tür feststellen können. Mit großem Vergnügen und Genugtuung betrachte ich die Reihe mit den zwölf Gläschen in der Farbe von gesättigtem Bernstein, 44 Millionen Jahre alt. Ich habe das Clementinen-Steigerl verewigt.

Erst als ich mich heute fast vollständig gesund fühlte, ging ich ans Googeln: „Eine Clementine ist eine Hybride zwischen Mandarine und Pomeranze.“ Aha, und was ist eine Pomeranze? Du blöde oder eingebildete Pomerantschn, das war einmal vor undenkbar langen Zeiten ein ländliches Schimpfwort, ich glaube, hauptsächlich zwischen weiblichen Kampfhennen. Ähnlich veraltet wie du Kuh, du Ziege, du Gans. Die bei uns neu angekommene Orange, die Pomeranze als beneidete Konkurrentin des gemeinen Apfels? Der Paradiesapfel. Tussi würde man heute wohl sagen.

Heute ging ich erstmals im neuen Jahr auf die Straße und wollte mich bei der lustigen Kassierin mit einem Gläschen meines Clementinen-Gelees bedanken. Und siehe da, die Billa-Filiale bei mir an der Ecke zur Mozartgasse wurde geschlossen und ist vier Straßenbahnstationen weiter die Wiedner Hauptstraße hinauf übersiedelt. Für mich heute zu weit für dieses junge Jahr und meine schwache Gesundheit.
Irgendwann werde ich es einmal zum Wiedner Gürtel hinauf schaffen.

In der kurz vor Weihnachten eröffneten Spar-Gourmet-Filiale genau gegenüber kaufte ich dann als Eröffnungsangebot ein Körbchen mit Rudolfinen.

2.1.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 17035

 

 

Schlaflosigkeit

(Before sunlight)
(Sweet dreams)

Das habe ich nun davon. Von einem geruhsamen Leseabend. Einmal bin ich ausnahmsweise früh ins Bett gegangen und so um zwölf eingeschlafen. Tatsächlich einfach eingeschlafen, ganz natürlich, ohne irgendetwas. Sonst lese ich meistens, bis mir das Buch von den Knien und die Brille von der Nase rutscht, oder ich sehe fern, bis ich vor Erschöpfung nur noch auf allen Vieren ins Schlafzimmer krabbeln kann.
Und dann das. Der fluoreszierende Wecker zeigte genau vier Uhr neunzehn. Was soll das? Wofür werde ich bestraft? Dass ich einmal nichts getrunken habe. Sieht so die Belohnung guter Vorsätze aus, dass ich hier lebendig begraben in der Dunkelheit liege? Im Sarg, das ist gar nicht nett, gar nicht berauschend.

Es war Jänner und noch stockdunkel, aber ich war hellwach wie der lichte Tag. Bei der ersten Körperregung sprang meine Katze mit Schwung aus zwei Metern Entfernung auf meinen Berg von Kopfpolstern und forderte laut schnurrend ihr Frühstück. Ich versuchte zuerst, nicht zu reagieren, aber man kann keine alteingesessene, vielleicht keine einzige, Katze überlisten, wenn sie meint, es sei ihr gutes Recht, hungrig zu sein. Nein, kann man nicht. Sie weiß, sieht oder riecht alles. Beobachtet sie die ganze Nacht die Falten meiner Bettdecke und die Bewegungen meiner Körperteile? Was macht eine Katze sonst in der Nacht, wenn sie ohnedies fast den ganzen Tag schläft? Ich hasste sie in diesem Moment und schleuderte sie mit den Beinen in hohem Bogen weg. Sie war unbeeindruckt von meiner Gefühlsaufwallung, war sie doch nur ein Beweis meiner Wachheit, und legte sich, das Köpfchen mit weit ausladenden weißen Schnurrbarthaaren und Pfötchen an Pfötchen geschmiegt, seelenruhig neben mich und schaute mich mit ihren wagenradgroßen, phosphorisierend bernsteingelben Augen so durchdringend an, dass ich ihren Blick noch unter geschlossenen Lidern spürte.
Die Unschuld in Person. Ein schwarzes Loch mit Schwanz und weißen Pfoten. Sie konnte den Röntgenblick. Ich sollte sie Medizinern, Kriminalisten und Personalchefs als Personalizerin anbieten. Nichts passiert. Ich verweigerte das Füttern und das Lesen und knipste die Lampe nicht an. Hatte mich doch ausgerechnet das frühe Abbrechen der Lektüre in diese verdammte Lage gebracht, in die Büchergruft.

Lesen als Brauch tut das Bett nicht auf.
Vor zwölf im Bett macht meschugge und fett.
Wer mit den Hühnern ins Bett geht, sich besser gleich im Grab umdreht.
Ich hatte eindeutig keine Affinität mit Hühnern, musste ja auch nicht jeden Morgen ein Ei legen.
Ich war wie so oft mit einem Albtraum aufgewacht. Das Herz klopfte oben in der Kehle bis in die Ohren, der Pyjama war besonders im Nacken und sonst auch überall feucht. Der ganze Körper zuckte noch von den vergeblichen Abwehrhaltungen, sich herausdrehen, nach oben wie ein Korken, ein Messer an der Kehle, eine Hand im Schritt. Mehrere an den Brüsten. Schlechte Zähne um mich oder gar keine, fauliger Atem aus Fratzen. Warum sind alle jung. Ich atme kaum mehr, ersticke, bin verloren, so klar wie kaum einmal. Diesmal wirklich. Es passiert.
Dann ist es vier Uhr neunzehn.

Mir war schlecht, ich kotzte und bekam Durchfall. Aufschreiben, den Film, diesmal waren es gleich mehrere. Ich trippelte ein paar Runden mit kleinen Schritten durch die Zimmer, die Hände am Solarplexus, bis das Herz an seinem angestammten Platz war und ich wieder schlucken konnte. Ein Glas Wasser, nocheinsundnocheins, über das Becken gebeugt, kaltes Wasser in den Nacken und auf die Brust. Schweres Atmen zuerst, dann leichterundleichter, die Hände auf dem Bauch ausgebreitet wie Sonnenblumen, Sternschnuppen, Sternspritzer.

Der Alb-Inhalt tut in diesem Falle nichts zur Sache, hat nichts mit meiner vor-mitternächtlichen Lektüre zu tun, sie ist unschuldig, Dorothy Parker mit den New Yorker Geschichten. Mein Traum spielte in Moskau, in der Gegenwart. Als ich mich in meine Potatoe-Couch stürzte und den Fernseher einschaltete, zeigte er vier Uhr siebenunddreißig. Ein uralter Kitzbühel-Krimi aus dem kriminellsten Dorf Österreichs, wahrscheinlich schon dreimal gesehen.
Alternativen waren eine noch ältere Folge von Rex, der Ur-Rex mit dem Ur-Tobias-Moretti, beide auf deutschen Kanälen mit Untertiteln. Als ich anfing, in Moskau mit meiner jugoslawischen Schäferhündin Laika spazieren zu gehen, hörte ich von allen Seiten ein Gemurmel, das ich nicht verstand. Rxrxrx, mal freundlich fragend, mal knurrend. Ich lebte damals schon durchgehend fünzehn Jahre im Ausland und kannte die österreichische Fernsehlandschaft so wenig wie die von Ulan-Bator. Und dann das Wetter-Alpenpanorama von gestern mit der Dumm-Dumm-Musik, dem Dauerlandler. Leider gibt es diese wunderbaren Serien der schönsten Eisenbahnstrecken nicht mehr, mit denen ich schon, im Führerstand und kommentarlos, durch die phantastischsten indischen Schluchten gefahren bin, durch die trockensten Wüsten der Welt und die höchsten Berge der Alpen. Ich fand das eine viel bessere Einschlafhilfe als das künstliche Kaminfeuer oder die Autofahrten durch öde deutsche Vorstädte.

Die Eisenbahnfahrten sparten viele Einschlaf-Pillen, Schlaftees und andere unwirksame Hausmittel. Bei warmer Milch mit Honig habe ich mich schon als Kind angekotzt. Mein russischer Freund empfahl immer das alte Hausmittel Wodka mit Knoblauch und Pfeffer, ich konnte mich aber damit nicht anfreunden. Ich schlief zwar wirklich schnell ein, bekam aber davon nichts mit und fühlte mich am nächsten Tag wie ein im Winterschlaf aufgeweckter Bär.

Nach einem kurzen Gastspiel bei Rex und Soko Kitzbühel kroch ich reumütig in meine dunkle Schlafhöhle zurück und musterte im Geiste die Stapel der Bücher auf meinem Nachtkästchen. Auf mehr Dorothy Parker hatte ich keine Lust, auf die russischen und polnischen Phantasten noch weniger, war mir doch mein eigener Kopffilm noch viel zu nahe, der stand der bösen Wirklichkeit sehr viel näher als alle Strugatzkis, Sorokins und Lems zusammen. Ich war am Wühlen und Wälzen zwischen meinen Polstern, Daunen- und Kaschmirdecken. Feine Bettwäsche wurde mir immer wichtiger, sofern die Außenwelt immer unwichtiger wurde.
Das schöne Insel-Bändchen mit jüdischen Weisheiten – in Jiddisch und Deutsch – konnte mich um vier Uhr dreiunddreißig nicht befeuern. Jeden Tag fünf Worte, nicht einmal das ging sich aus. Alle hundertmal gelesen, über und über angestrichen, Bemerkungen, Spuren der Versuche, das Jiddische zu erlernen. Ich habe einfach kein Talent dafür, vielleicht auch nicht genügend Respekt, um es wie jede andere Sprache zu erlernen. Ich werde noch einmal an meiner Wachheit eingehen. Das wird einmal die originellste Todesursache sein, wenn sie denn festgestellt werden kann.

Noch eine Kanne Gute-Nacht-Sleep-Well-Einschlaf-Tee. Als ich das blass-blaue Baldrian-Salbei-Gemisch schlürfte, spürte ich einen hasserfüllten Neid aufkommen auf den Rest Welt, der im Tiefschlaf lag. Und auf die Freunde, die sich jetzt gerade nach einer lustigen Nacht nach Hause begaben, sich schlaftrunken auf die Taxis verteilten, in ihre Wohnungen torkelten und sich bis Mittag in sanftem Schlummer von der Welt absonderten. Die Leute dürfen nicht das Gefühl haben, sie müssten ihre zerstörerischen Angewohnheiten ändern und sich nach mir richten. Überhaupt nicht, neinneinnein. Ich bin out.

Der Sturm und Anouilhs Antigone liegen da so wie ein gelbes Reclam-Heftchen mit der von Sophokles – nicht gerade eine klassische Gute-Nacht-Lektüre. Aber wegen Grete Weills Buch Schwester Antigone bin ich an Antigone dran. Schon länger, ohne gutes Ergebnis. Kombination mit Penelope Livelys Moon Tiger. Klauklauklau. Aber Shakespeare war auch nur eine große Wurstfabrik. Auf die Mischung kommt es an.
Wie klein und dünn und abgegriffen diese Theater-Bändchen immer sind. Ich könnte sie im Finstern sicher ertasten. Das waren sie auch schon in der Schultasche, ob Räuber oder Faust.

A – Anouilh, Antigone – das Alphabet, das wäre ein Ordnungsprinzip. Baudelaires Les Fleurs du Mal sind auch kein freundliches Ordnungsprinzip für schlaflose vier Uhr zweiundvierzig, die liegen immer da und verstauben.
Schon gar nicht Rimbaud und Verlaine, weit hinten im Alphabet. Mir wäre es angenehm, wenn sie mit ihrem ewigen einander Hinterhersein mich nicht belästigen würden. Ich kann ihnen da auch nicht helfen. Überhaupt Männer, überhaupt in meinem Alter. Obwohl angesichts der Schönheit ihrer Verse beides keine Rolle spielt.
Ob sie in französischen Schulen noch gelesen werden? Ich bin nicht die Buchhalterin des französischen Schulsystems. Sollen sie doch selbst sehen, ob sie nur noch verrückt sind nach Mathe-Informatik.

Camus, Delacroix, Dostojewski, EEE? keiner, ah, Ebner-Eschenbach, kenne ich zu gut und zu lang, wenn sie auch, endlich, andere entdecken, Bozena, das Gemeindekind, Krambambuli, Er lässt die Hand küssen, darüber habe ich schon in meiner Kindheit geweint und die Autorin geliebt. Flaubert, Hugo, La Rochefoucauld, was geht mich dieser alte Zyniker an, ich weiß nicht einmal seinen Vornamen und kann kein einziges Wort zitieren. Das Einzige, was ich von ihm kenne, ist der Spruch von der kleinen Freude, die wir immer verspüren angesichts der Missgeschicke auch unserer liebsten Freunde.
Mein Freund Carlo M., 1,95 groß, schlug sich einmal auf der Fähre von Lipari nach Messina den Kopf an, als er eine Leiter hinunterstieg. Die Treppen des italienischen Schiffes waren nicht bemessen nach Menschen von dieser Länge. Carlo taumelte auf eine so komische Art, dass ich, die Kurzgewachsene, unten einen unwiderstehlichen Lachanfall bekam, von dem ich mich und dann auch unsere Liebschaft sich nicht mehr erholte. Ich konnte ihm das La- Rochefoucauld-Prinzip nicht erklären, weil ich es damals noch nicht kannte.

Liebste Freunde, jaja, die liegen jetzt irgendwo im Vollrausch herum, während ich bei aller Nüchternheit in der Dunkelheit eingehe. La Fontaine. Ich erinnere mich an eine Buchhändler-Gehilfin in meiner Jugend, die ich nach Fontane fragte. Wir sollten ein Reclam-Bändchen kaufen, um Effie Briest zu lesen, vom Deutsch-Lehrer aufgetragen. Meine Eltern hatten natürlich, wie fast alles, Effie Briest im Regal, aber irgendwo in einer grindigen Gesamtausgabe von Gilde Gutenberg aus dem Jahre 1935. Aus einer Zeit, als sie unter Nadler deutsche Volksstämme-Literatur vorgesetzt bekamen. Die Verkäuferin verschwand nach hinten ins Lager und kam nach langer Zeit achselzuckend zurück: „Tut ma leid, Tane hamma kaan.“

Die Buchstaben ziehen vorüber bis zu Tolstoi und Zola, ohne mich anzumachen. Allerdings, die Neuübersetzung seiner „Auferstehung“ soll gut sein, wenn auch leider nicht mehr von Swetlana Geier.
Auf Dorothy Parker, die ich sehr mag, hatte ich keine Lust, auch nicht auf ihre ebenso geniale Freundin Carson McCullers, nicht in dieser Nacht. Ich litt auch schon ohne sie an galoppierender Melancholie. Vielleicht ist das ja auch meine Stunde null. Drehen und Wenden in den Decken und Kissen.

Was schickt mich zurück in den Schlaf?
Das Aufzählen der offenen Rechnungen, alle meine manischen To-do-Listen, to call, to buy, to write, das Wirtschaftsjournal, der Kalender, die Steuererklärung – alles keine gute Idee. Allein die Überschriften erhöhten den Blutdruck und raubten die letzte Chance auf Schlaf. Die guten und schlechten Freundschaften – das ist nicht leicht zu unterscheiden, zumindest nicht jetzt. Freund-Feind, eine sehr flüssige Frage. Zumindest nicht jetzt. Was ich wirklich mag, allerdings ohne eine Wirkung zu spüren, ist das Ausdenken von Lottozahlen. Es bringt mir zwar keinen Schlaf, ist aber eine angenehme Hirntätigkeit, positiv, beflügelnd, vorwärts gerichtet, was werde ich mit dem Millionengewinn machen? Wen beschenke ich, wie viel behalte ich für mich? Werde ich verrückt oder bleibe ich normal?

Ein zweites Hirnspiel mag ich auch sehr gerne: an die schönsten, klingendsten oder lustigsten Ortsnamen zu denken. Schon als Kind habe ich das gespielt. Astrachan, Aschchabad, Aralsee, Ararat, Archangelsk, Alma-Ata, Taganrog, Trapezunt, Samarkand, Popokatepetl, Taklamakan, Samara, Agrigent, Feodosija, Orenburg, Tschernobyl, Fukushima, Kilimandscharo, Fujiyama, Kysil-Kum, Amu-Darja, Hokkaido, Samsun, Isfahan, Sewastopol, Murmansk, Wladiwostok, Sachalin, Kamtschatka, Marrakesch – alles nach Städten, Flüssen, Seen, Bergen, Wüsten und Vulkanen ordnen oder einfach nur alphabetisch. Wenn ich das hinter mir habe, kommen die Kategorien, wo ich schon war und wohin ich noch fahren möchte. Lustige Ortsnamen wie Damüls, Nest, Fucking, Mösing, Ameising, Gugging, Obergraus, Unterstinkenbrunn, Alt- und Neuschmecks. Noch eine andere Kategorie eignet sich: komische Familiennamen: Buxtehude, Humperdinck, Aiwasowski, Schoiswohl, Powischer, die rechte Partei PIS in Polen und die faschistische Schas-Partei in Israel. Das ist neutral oder macht zumindest lächeln, bringt keine schlechten Gedanken, keine Angst oder Traurigkeit hervor, wenn man in der Dunkelheit liegt und in den Ecken die Dämonen lauern. Wenn ich gut drauf bin, spüre ich die Synapsen flappsen.

Meine Eltern pflegten es selbst untereinander, vor uns und gaben es an uns weiter: das Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten: Schläft ein Lied in allen Dingen … findest du das Zauberwort. Das Zauberwort. Die Sprachgläubigkeit meiner Bibel-Eltern. Am Anfang war das Wort und das Wort. Gelassen stieg die Nacht ans Land. Wie schaurig ist‘s übers Moor zu gehen wenn. Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal. Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe und im Schwalle sich ergieße. Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden. Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt. Zum Kampf der Wagen und Gesänge. Eine feste Burg ist unser Gott. Tochter Zion freue dich. Komm auf mein Schloss, mein Leben. Dies Bildnis ist bezaubernd schön. Ach ich habe sie verloren. In Fried und Freud ich fahr dahin. Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.

Lässt sich übrigens auch vorzüglich anwenden, wenn man auf die Straßenbahn wartet, besser als die berühmte Zigarette, oder wenn man eine Nadel in den Arm gerammt bekommt. Meine Mutter legte noch mit 84 Jahren Schwüre darauf ab, wie wirksam es ist, dass sie sich Balladen und Rilke- und Mörike-Gedichte aufsagte, um ihr ohnedies gutes Gedächtnis zu schärfen. Sie las täglich fünf Tageszeitungen und rief ihre sieben Kinder mehrmals täglich an, um ihnen immer das Gleiche zu erzählen. Manchmal, wenn sie etwas sehr interessierte oder aufregte, lernte sie ganze Artikel auswendig, um sie am Telefon rundum wiederzugeben. Bei Fernsehsendungen schrieb sie mit, um sich am Telefon über tausende Kilometer darüber ärgern, was die Roten schon wieder alles verbrochen hatten. Sie war eine leidenschaftliche Anti-Kommunistin, und schon noch so rosaroteste Sozialdemokraten konnten sie in Wallung bringen. Ihr Ärgern war ihr Lebenselixier, es hielt sie jung und hirnflüssig.

Es wird schon im Vor-Schlummer gewesen sein, als mir die uralte Methode des Schäfchenzählens in den Sinn kam. Ich hab mein Lebtag Schafe gehasst, außer auf dem Teller. Was sollen, wollen sie bei mir, in meinem Zimmer? Das Dümmste, was uns je in der Kindheit eingeredet wurde. Eine Herde immer wieder von eins bis hundert. Das grenzt an eine Phobie, wenn eines in meinem Zimmer steht, eins bis hundert und immer wieder von vorne. Sie stinken, blöken, schnüffeln und scharren auf dem Bettvorleger. Ich zähle sie ja nur im Kopf, aber wenn eines in meinem Zimmer steht, bin ich wieder hellwach und denke, dass ich bis zur nächsten Schur im Juli nicht mehr einschlafen kann. Wie sie riechen von ihren kleinen Köpfen und vom Fell her, erinnern sie mich an die feuchten, kratzigen Schafwollpullover unter dem nassen Wetterfleck, wenn wir im Salzburger Schnürlregen auf den Postbus von St. Gilgen nach Mondsee warten, sind sie sicher keine Schlafbringer.
Aber eines muss ich zugeben, die Schafe, die mich besuchen, sind durch die britische Erziehung gegangen, sie treten mir nie zu nahe, sprechen nicht zu laut und verhalten sich untereinander so dezent wie englische Parlamentarier vor dem Brexit. Wenn ich je alle die ungezählten Schafe der Welt aufrufen würde, wäre ich die reichste Schafzüchterin von England, Schottland, Australien, Neuseeland zusammen. Die höchste Dichte haben allerdings die Färöer, dort kommen auf die 50 000 Einwohner 80 000 Schafe. Die Statistik von Patagonien kenne ich nicht.

Aber vielleicht habe ich noch nie die richtigen Nacht-Schafe aufgerufen und gezählt. Ich muss mein bisheriges Wissen über Schafe vergessen, sie neu verstehen lernen und von vorne zu zählen beginnen. Aber warum ist noch nie jemand draufgekommen, Schweinchen, Ziegen oder Murmeltiere zu zählen, in Australien vielleicht Kängurus oder Tasmanische Teufel, in Afrika Gazellen und Löwen, in Lateinamerika Lamas und Krokodile, in den USA Bären und Büffel?
Da komme ich auf mein Lieblingstraumtal in den Colorado-Rockys, wo die Büffel dichter stehen als die Bäume. Dort kann ich verweilen und mich erholen.
Vielleicht wollen sie ja mit allen diesen Namen von A – Z gefüttert werden. Nur dann sind sie hilfreich und gut.
Gutgutgut. Ich werde jetzt das Licht anschalten und mich dumm und dämlich lesen, bis es zum nächsten Mal Punkt vier Uhr neunzehn schlägt. Vielleicht sogar den alten Zyniker La Rochefoucauld aufschlagen. Irgendwo muss es ein Reclam-Hefterl geben.

10.1.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17034

Der Geiger vom Donskoj-Friedhof

Gewöhnlich ging der alte Mann gegen Mittag zum Spielen hinaus. Unter dem Arm trug er einen alten, abgewetzten Geigenkasten. Gekleidet war er in einer Art von Uniform der sowjetischen Rentner. Auf dem Kopf eine Lenin-Schiebermütze, am Körper einen etwas zu groß gewordenen Stoffmantel mit abgestoßenen Kanten und großen, aufgesetzten Taschen. Immer hatte er auch eine Netztasche bei sich, wie alle Sowjetmenschen, für den Fall, dass es unterwegs unerwartet, aber immer erhofft, etwas zu kaufen gab. Er war sicher kein typischer Proletarier, sondern hatte einmal eine seriöse Anstellung gehabt. Sicher nicht in einem großen Orchester. Vielleicht in einem Kulturzirkel eines Arbeiterkollektivs? Vielleicht ein Musiklehrer einer volkseigenen Musikschule?
Wenn am Nachmittag die großen Begräbniszüge kamen, baute er sich vor dem Haupttor auf, etwas abseits der Mitte, damit er niemanden behinderte.

Vier Stufen führen vom Sockel des Denkmals für Wassilij Puschkin, den Onkel des berühmten Alexander, hinauf. Dort lässt sich der Geiger nieder, öffnet den Geigenkasten und wendet sich der Straße zu.
Er ist gut sichtbar in dieser Höhe, und er sieht von Weitem, wie groß und prächtig eine Prozession sein würde, welche viel Volk, Geistliche, Blumen und eigene Musik mitbringen würde. Kaum hat er seine Geige ausgepackt und den Bogen angesetzt, bleiben schon Menschen stehen in Erwartung seiner Musik: Kinder, Passanten, Liebespaare, Käufer vom Blumen- und Tabakskiosk. Alle lassen die Zeitungen sinken, verstummen und blicken zu ihm auf. Denn jede Musik tröstet und ist ein Versprechen auf ein besseres Leben. Im offenen Geigenkasten liegen ein Apfel und ein Stück Schwarzbrot, damit er, wenn er Hunger bekommt, etwas essen kann.

Sogar wenn nur ein einziger Zuhörer stehen bleibt und einsam lauscht, spielt er die Melodie zu Ende.
Er macht diese Arbeit freiwillig, nicht um Geld zu verdienen. Er bekam eine kleine staatliche Rente, von der er leben konnte. Wenn er auf Gewinn ausgewesen wäre, hätte er sich sicher nicht hier, an einem so stillen, abgelegenen Ort, sondern im Zentrum aufgebaut, zum Beispiel beim großen Alexander-Puschkin-Denkmal auf der Gorki-Straße, wo es einen ununterbrochenen Strom von Menschen gab.

Er war etwas anderes, er war kein Bettler.
Er wollte den Menschen etwas Gutes tun, und darum ging er bei jedem Wetter zum Donskoi Friedhof, um dort zu spielen. Ob er mehr als eine Art von Katzenmusik machte, war nie endgültig auszumachen und auch nicht wichtig. Die Klänge seiner Geige erhoben sich über den Straßenlärm, stiegen auf und senkten sich von oben wieder herunter. Manchmal waren die Töne zerrissen, manchmal waren ganze Melodienbögen eindeutig zu erkennen. Sie drangen in die Herzen der Menschen ein, berührten sie und beflügelten sie in ihrer Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die Zuhörer holten sofort Geld hervor, Kopekenstücke, alle waren mehr oder weniger gleich arm, aber auch Fünf- und Zehn-Rubelscheine waren dabei.

Weil er oben auf der vierten Stufe stand, wussten die Leute nicht, wohin sie das Geld legen sollten. Manche versuchten, mit einem kühnen Wurf in den Geigenkasten zu zielen. Andere ließen es einfach auf einer der Stufen liegen, zu Füßen des marmornen Puschkin-Onkels.
Seit das Donskoi-Kloster wieder geöffnet, wenn auch noch nicht renoviert war, kamen vermehrt Spaziergänger auf den Friedhof. Es ist noch nicht lange her und unter den Liebhabern des alten Moskau noch ein Geheimtipp. Jeder kannte den nahen Gorki-Park mit seinen zahlreichen Vergnügungsattraktionen, kaum jemand das Donskoi, über dem sich ein Rad eines Karussels wölbte.
Auch der Radioturm von Schukow gleich nebenan war ein unübersehbares Wahrzeichen am südlichen Rand der Moskauer Innenstadt. Der Staat des noch nicht ganz neuen Russland im letzten Jahr des Gorbatschow hat das Donskoi der orthodoxen Kirche zurückgegeben, 73 Jahre nachdem die Bolschewiki Kloster und Friedhof zum Teil zerstört und dann geschlossen hatten. Es lag verborgen hinter einer hohen Mauer im schon 73 Jahre andauernden Dornröschenschlaf. Gebaut ist es als eine Wehranlage mit zwölf gigantischen Türmen, obwohl gerade im Gründungsjahr 1591 die letzte große Gefahr, der Ansturm der Krimtataren, unter Zar Fjodor siegreich abgewehrt werden konnte.

Ich kannte es wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen gut, zumindest aus dem Vogelblick, weil ich vom Balkon meiner Wohnung im siebten Stock der Donskaja ulica direkt in den Friedhof und auf das Kloster hinabsehen konnte. Bald hatte ich einen Mann ausgeforscht, der als Wächter ab und zu auf das Gelände kam, ich weiß nicht, wofür. Für ein paar Kopeken ließ er mich ins Innere, es war zu sehen, dass er dem Wodka nicht abgeneigt war.

Die Große und die Kleine Kathedrale waren in einem erbärmlichen Zustand. Viele Mauerstücke lagen wüst vermengt mit Unrat am Boden, selbst schon wieder bedeckt von der Patina des Efeus und Hollunders.
Seit der Revolution war nichts renoviert worden, vielmehr vieles zerstört, abtransportiert und gestohlen. Wie viele kirchliche Gebäude hat man sie zweckentfremdet, entweiht und dem Verfall preisgegeben. Die Grabdenkmäler und Grabsteine waren zum Teil umgestürzt, manche Figuren geköpft oder anderweitig verletzt mit abgeschlagenen Armen und Nasen, mit ausgekratzten Augen und zerstörten Inschriften. Auch die wuchernden Pflanzen und die unbarmherzige Witterung trugen das Ihre zum Zerstörungswerk bei.

Dabei lasen sich die Namen auf den Grabsteinen, soferne man sie noch lesen konnte, wie das Moskauer Who is Who des 18. und 19. Jahrhunderts, fast so viele ehr- und gedenkwürdige wie auf dem größeren und berühmteren Friedhof des Neujungfrauen- Klosters. Der erste Dichter in russischer Sprache Sumarokow war hier begraben.
Auch der erste Philosoph Pjotr Tschaadajew, Sollogub, ein Schriftsteller, Schukowski, ein Mathematiker und Luftfahrtpionier, der Maler Perow.
Der letzte Klosterbewohner war Patriarch Tichon, ein erklärter Gegner der Revolution, den die Bolschewiken hier bis zu seinem Tod 1925 einsperrten. Die 28 Mönche hat man umgebracht oder vertrieben.

Wenn die großen Begräbnisse vorüber waren, packte der alte Geiger seine Sachen zusammen. Er wickelte die Geige in ein schwarzes Tuch, verstaute den Bogen in einem Sack und setzte sich zu Füßen des Puschkin-Onkels nieder. Er blickte rund um sich und verzehrte seine Jause. Die Kopekenstücke und Rubelscheine sammelte er achtlos und ohne sie zu zählen auf und steckte sie in die Manteltasche. Dann verließ er seinen Posten auf den Stufen und ging eilig tiefer in den Friedhof hinein.

Lange verstand ich nicht, was der Alte dort suchte.
Er beachtete keine der Kirchen, nicht das Refektorium, keines der Mausoleen, keine der Werkstätten, auch die Urnenmauer interessierte ihn nicht. Keines der verwahrlosten Kulturdenkmäler erregte offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Er schlenderte nur, ohne dass ich ein Muster erkennen konnte, so wie ich ihm von Grabstein zu Grabstein, von Baum zu Baum, nachging, über die Wege zwischen den Grabsteinen, in unerforschlichen Schlingen. Traumpfade. Er interessierte sich offensichtlich nicht für die Architektur, nicht für die verworrene Natur oder die halb lesbaren Grabinschriften.
Suchte er jemand bestimmten? Wollte er sich an etwas oder jemanden erinnern, das und den es nicht mehr gab? Wartete er auf jemanden?

Ich hatte nicht so viel Zeit, ihn öfter und näher zu beobachten, wie ich es gewünscht hätte. Denn meine Arbeit beanspruchte mich sehr, und ich war oft auf Reisen. Eine sehr bewegte Zeit.
Eines Tages im Oktober setzte das erste Schneegestöber ein. Ich sah auf meinem Weg vom Büro in die Mittagspause, dass das Haupttor zum Donskoi offenstand. Schnell stellte ich das Auto ab und lief über den Vorplatz auf das Kloster zu.

Der alte Geiger stand wie immer auf der obersten Stufe des Puschkin-Onkels und spielte das letzte, das 24. Lied der “Winterreise“ von Schubert, das traurige Lied vom Leiermann. Die Worte flogen mir unhörbar zur Melodie dazu: Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann / Und mit starren Fingern dreht er, was er kann.
Es klang etwas kratzig, manche Töne waren schief, wahrscheinlich waren seine Finger auch schon starr.
Er hatte keine Zuhörer; er spielte für sich und für die verfrorenen Spatzen. Sie umflatterten ihn zerzaust und hofften auf ein paar Krumen von seinem Schwarzbrot.
Ein besonders fürwitziger Spatz sprang hinein und suchte selbst nach Brosamen. Der Geigenkasten war schon halb zugeweht vom Schnee.
Als er die letzten Klänge beendet hatte, packte er schnell zusammen und verschwand im Inneren des Friedhofs. Ich schlich ihm nach, obwohl ich nicht mehr zu meinem Mittagessen kommen würde. Weit hinten entdeckte ich den Geiger an einem frischen Grab. Die Grube war offen, und vor dem Grab stand einsam ein Pope, der Gebete herunterleierte, eine violette Stola umgelegt hatte, das Weihrauchfass schwang und aus einer Metallschüssel mit einem Besen freigiebig Weihwasser über die Grube verspritzte. Da verstand ich das Wort „Einsegnung“ zum ersten Mal.

Und die Aufgabe, die sich der alte Geiger gestellt hatte: Es sollte kein Mensch ohne Begleitung von dieser Erde gehen müssen. Der Pope war sozusagen nur ein offizieller Abgesandter, der seinen Dienst versah, so wie es vorgeschrieben war. Aber ein so einsamer Mensch, der allein gestorben war und niemanden hatte, der ihn auf seinem letzten Weg begleitete – der sollte zumindest von ihm mit seinem Geigenspiel verabschiedet werden.
Der alte Mann hatte sich seinen eigenen Dienst vorgeschrieben.
Er machte das nicht für Geld, nicht für Ruhm, nicht für Ansehen, nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Denn da hätte er auch zu Hause bleiben und in seinem warmen Wohnzimmer spielen können. Vielleicht machte er das in Gedanken an seinen eigenen einsamen Tod.

Wer würde ihn begleiten? Wie oft würde er spielen müssen, bis er sich seine eigene Auferstehung erspielt hatte? Nach orthodoxem Glauben muss ein Verstorbener einen Begleiter haben, denn sonst kann er am Jüngsten Tag nicht aus Hölle oder Fegefeuer herausgeführt und erlöst werden. Die Todes-Vorbereitungen des alten Geigers rührten mich so, dass es mir hinter meinem Baum die Kehle zuschnürte und ich diese grausame Religion verfluchte.
Nach diesem Winter sah ich den alten Mann nie wieder.

Zu Ostern wurden die Glocken der Großen Kathedrale neu geweiht. Als ich sie zum ersten Mal von meiner Wohnung aus läuten hörte, brach so ein Sturm los, dass ich dachte, das Jüngste Gericht sei angebrochen. Ich hoffe, es hat auch den Geiger erlöst.

25.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 17022

 

Das Mädchen von nebenan

für C.K.

Ich lernte Conny zwei Wochen vor Weihnachten kennen, als wir beide Patienten auf der psychosomatischen Station des AKH waren. Conny war ein viel beschäftigtes Mädchen; sie zeichnete Selbstporträts, malte Aquarelle, schrieb kleine Geschichten und Gedichte. Sie war anteilslos gegenüber Mitpatienten, nahm aber an allen Aktivitäten teil. Wir begegneten uns mehrmals in der Kunsttherapie und der Schreibwerkstatt. Vor allem aber machte sie Zukunftspläne. Sie hatte zu Heiligabend Geburtstag und würde heuer sechzehn.

Es war auf bunten Plakaten angekündigt, es sollte eine Party mit Besuchern auf der Station geben, und sie würde dabei sein dürfen. Unter einer Bedingung: Sie müsste vierzig Kilo auf die Waage bringen, sagten die Ärzte. Conny hatte achtunddreißigeinhalb. Es waren noch sechs Tage bis Weihnachten. Das Personal achtete genau darauf, dass sie nicht schummelte, ihren Bauch mit Wasser auffüllte, aß und erbrach oder ihre Körperöffnungen mit allerhand Gegenständen vollstopfte. Bei jeder Trickserei kamen sie ihr auf die Schliche. Es war nichts zu machen, es half nur essen. Und genau das wollte sie nicht.
Es sollte die erste Party ihres Lebens sein. Conny war magersüchtig und wäre mit vierunddreißig Kilo vor einem Jahr fast gestorben.

Eigentlich hätte Conny gar nicht hier sein sollen, auf der Psychosomatik, sie gehörte in eine Abteilung für Kinder und Jugendliche. Da fand man aber keinen Platz für sie, und sie hatte offenbar niemanden, der sich genügend für sie einsetzte. Conny kam aus der „Stadt des Kindes“, einer der besten Sozialeinrichtungen der Stadt, war also ein Sozialfall. Besuch von der Familie bekam sie nie, die hatten ein Annäherungs- und Betretungsverbot, Großvater, Stiefvater und sogar die leibliche Mutter. Die zwei jüngeren Geschwister waren in einem Kinderheim untergebracht. Einmal sah ich eine elegante, mittelalte Frau mit ihr im Besucherbereich zwischen den Kübeln mit halbdürren Philodendren und Yukkapalmen sitzen, Papiermappen auf den Knien, Conny schaute in die andere Richtung, vielleicht eine Erzieherin oder Sozialarbeiterin.

Ich bemerkte Conny zuerst auf den Korridoren, eine erbärmliche, bemitleidenswerte Gestalt. Sie schlurfte durch den Korridor, gebückt wie eine alte Frau, auf die Stange des Tropfs gestützt, die sie langsam neben sich herrollte. Wenn es ihr schlechter ging, schob sie sich in einem Rollstuhl durch die Gänge. Einmal sah ich, wie sie ein Pfleger hinter sich herzog. Ich kam ihr entgegen und lächelte ihr zu, sie versuchte zurückzulächeln. Es kam dabei aber nur eine Grimasse heraus; sie war so mager, dass ihr Gesicht wie ein mit altem Pergament überzogener Totenkopf aussah, gelblich und faltig, in den Augenhöhlen blau. Eine sechzehnjährige Greisin, ein Gespenst in einem lindgrünen Bademantel.

Sie war wahrscheinlich einmal ein hübscher Teenager gewesen, von dem nur noch die großen, dunklen Augen übriggeblieben waren. Sogar die Lockenpracht war ihr ausgefallen. Sie trug immer ein gehäkeltes Häubchen auf dem kahlen Kopf, einen gebatikten Seidenschal um den dünnen Hals und an den spindeldürren Kinderärmchen eine Ansammlung von schlotternden Freundschaftsbändern.

Dass wir unsere Zimmer nebeneinander hatten, stellte ich erst am vierten Adventsonntag fest, als wir vom angesagten Chorsingen zufällig gemeinsam in unseren Gang zurückgingen. Mit ihrem Greisinnen-Lächeln verabschiedete sie sich vor ihrer Türe und schob sich und die Stange ins Zimmer. Da fiel mir ein, an wen sie mich erinnerte, an meine tot aufgebahrte Großmutter, aber die war über achtzig gewesen.

Ich setzte mich auf mein Bett und las weiter in meinem derzeitigen Lieblingsbuch „Das Licht aus dem Osten“ von Peter Frankopan, halb aufrecht mit dem Rücken an der Wand, tief in einen Kissenberg gelehnt. Mir ging es ausnahmsweise ziemlich gut, rundherum, ich konnte diesen Zustand deutlich wahrnehmen. Ich war auf Seite 117 und freute mich, dass ich in dem ziegelschweren Buch noch 873 Seiten vor mir hatte.
Anfangs klang es wie Rascheln oder Nagen oder Schaben, sodass ich mich unwillkürlich im Zimmer umsah, ob es irgendwo Mäuse gäbe. Ich lauschte weiter um mich herum und erkannte unrhythmische Unterbrechungen in den unbestimmten Geräuschen zwischen Rascheln und Zischeln. Das kam nicht aus meinem Zimmer, da war ich mir sicher, es war nicht mein eigenes Raucher-Rassel-Atmen oder das Buch-Seiten-Umwenden. Eindeutig, es kam von jenseits der dünnen Betonwand. Leise, stockend und unterdrückt, aber es war eindeutig ein Schluchzen. Conny weint.

Was tun, überhaupt etwas tun, ich kenne sie nicht. Misch dich nicht ein, du hast deine eigenen Probleme, spiel dich nicht auf, immer die Samariterin, selbst hilflos, es ist kein Zufall, dass du hier bist, auf der Psychosomatik, wenn auch aus anderen Gründen.
So redete ich mir zu, und dann kam das Aber: Sie ist so jung und zerbrechlich, vielleicht braucht sie nur einem Menschen neben sich, ein Wort, eine kleine Aufmunterung. Ich klopfte an ihrer Tür und hörte ein leises, fragendes Ja? Sie saß tief gekrümmt in ihrem Rollstuhl, der Balkontür zugewandt. Ich sah, dass es ihren mageren Rücken im lindgrünen Frotteemantel schüttelte. Das Häubchen war verrutscht, und der Schal lag neben ihr am Boden.

„Conny, was ist, brauchst du was, kann ich etwas für dich tun?“
Ich hatte sie noch nie angeredet und kannte auch ihre Stimme nicht. In der Kunsttherapie arbeitete sie immer stumm vor sich hin, und beim Adventsingen war sie auch nur dabeigesessen. Durfte ich sie überhaupt mit Du ansprechen? Eine fast Sechzehnjährige? Sie kauerte zusammengesunken im Rollstuhl, protestierte aber auch nicht, als ich mich daneben auf einem Stuhl niederließ, vorsichtig, nur an der vordersten Kante, damit ich schnell aufspringen konnte, wenn sie mich verjagte. Ich wagte nicht, ihr auch nur die Hand auf die Schulter zu legen. Sie wischte sich über die Augen, zog durch die Nase auf und sagte fast unhörbar:
„Ich habe mich so auf die Party gefreut. Verstehen Sie das? Es ist ja mein Geburtstag und Weihnachten auch noch dazu.“
Ich glaube, dass die zu Heiligabend geborenen Kinder alle mit diesem Geburtsdatum hadern. Keines bekommt doppelt so viel.

Was sollte ich tun, völlig ausgeliefert ihrem Unglück und meiner eigenen Hilflosigkeit, aber ich hatte mich schon eingemischt.
„Conny, magst du mir was von deinen Arbeiten zeigen?“
In den Malstunden ließ sie nie jemanden in ihren Zeichenblock hineinschauen.
„Meinen Sie, aber das mach ich doch nur für mich, das ist ja alles nichts.“
„Aber mich interessiert es, ich würde so gerne etwas von dir sehen.“
Ich bin keine Therapeutin und habe keine eigenen Kinder. Wie lenkt man Unglückliche ab, wie bringt man sie an das andere Ufer?
Sie schniefte tief, rückte das Käppchen zurecht, hob den Schal vom Fußboden auf und rollte zu ihrem Nachtkästchen. Aus der Lade zog sie aber keine Zeichenmappe heraus, sondern ein Schulheft mit kariertem Umschlag.
„Die Zeichnungen sind schlechtes Zeug, nur Gekritzel, nix zum Herzeigen, aber ein paar Gedichte sind mir gelungen, glaub ich“, sagte sie fast entschuldigend. Schau, ist doch gar nicht so schwer, dachte ich mir.
Sie kam zum Fenster zurück und begann im Heft zu blättern, dann zu lesen, zuerst leise für sich, sie bewegte nur tonlos die Lippen.

Irgendwann kam die Stimme hervor und wurde lebendig, sie las mit brüchiger Stimme:

Gedanken
Gedanken wanken
schwanken
Gedanken über Sachen
die meist nur
Sorgen machen
Gedanken verbinden
Seelen und Herzen
das bringt nur unnötige Schmerzen
Gedanken
können böse sein
doch manche schrei‘n:
„erlöse, erlöse“
Hüte deine Gedanken,
hüte sie gut
verrate damit
keinen Mut
Deine Gedanken sind noch rein
Nun weißt du es genau
hoffentlich wird das lange
noch sein
Nun weißt du es genau:
Gedanken
schwanken
C.K.

Sie hatte das Gedicht ins Reine geschrieben und ihre Initialen darunter gesetzt, was mir wie ein Zeichen eines nicht unbedeutenden Selbstbewusstseins vorkam.
Später hat sie es mich abschreiben lassen.
„Conny, das ist gut, sehr gut sogar!“, platzte ich heraus, und legte nun doch meine Hand auf ihre Schulter.
„Wirklich, meinen Sie?“
„Ja, meine ich, du kannst was, es klingt so gut und ist so tief, ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst!“ Was gibt es da zu verstehen, sie sagt es ja.
Gott, wie schrecklich primitiv ausgedrückt, aber mir gefielen diese Zeilen wirklich.
„Conny, ich würde es so gerne noch einmal hören, ich hab mir nicht alles gemerkt, magst du es noch einmal vorlesen?“

Wenn man bei einem jungen Greisengesicht von Strahlen reden könnte, wäre es das jetzt gewesen.
Gehorsam wie eine Schülerin fing sie noch einmal von vorne an, und ihre Stimme gewann zunehmend an Stärke und Sicherheit.
Sie begann zu intonieren und zu modulieren, versuchte sich in ungehörten Tönen. Wahrscheinlich hatte sie das Gedicht selbst noch nicht laut gehört und wunderte sich über den Klang und den Rhythmus. Sie schaute von unten auf mich herauf und blinzelte mir fragend zu: „Gut so?“, ja gut, blinzelte ich zurück.
Sie las es ebenso sehr zu ihrem wie zu meinem Trost, und die Schönheit der Sprache brachte uns beiden am Vorheiligabend im Krankenhaus Hoffnung und Frieden. Vor dem Fenster hatte es zu schneien begonnen. Die Flocken fielen schräg zwischen die Bäume und Büsche des Anstaltsparks.

Es klopfte kurz an der Tür, und eine Schwester schwebte lautlos wie ein Weihnachtsengel herein.
Essensausgabe.
„Bitte Schwester, bringen Sie mir mein Tablett hierher, wir essen gemeinsam, Conny und ich.“
„Gerne, bin gleich zurück.“
Inzwischen blätterte Conny in ihrem Heft, vor und zurück, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
„Wollen Sie noch eins hören? Das da ist, glaub ich, auch nicht schlecht.“ Ich hörte ihr zu.

Fast unbemerkt hatte sie zu essen angefangen, langte zuerst nach einer halben Buttersemmel, dann kamen ein Alma-Eckerlkäs, auf die Schnitte Schwarzbrot eine Scheibe Emmentaler mit zwei Sorten Wurst, ein hartes Ei, einen Paradeiser und ein Gurkerl drauf; die zweite Semmelhälfte mit Honig, dann ein Linzer Auge, das zweite nahm sie von meinem Teller, zu dem allen gesüßter Tee. Das übliche Krankenhausabendessen ab vier Uhr nachmittags. Wenn auch nur aus dem Augenwinkel, es entging mir nicht, dass sie selbstvergessen die runden Marmeladelöcher zwischen den Keksscheiben mit der Zungenspitze auszulecken begann. Sie kehrte zurück.

Am liebsten hätte ich alle Ärzte, Schwestern, Therapeuten, Pfleger, Zimmernachbarn und Portiere zusammengetrommelt, denn das hatten sie in den letzten zwei Jahren noch nicht gesehen.

Die Party am 24. Dezember fand statt, für Connys Geburtstag und Weihnachten. Scharen von Besuchern, Familien und Freunden füllten den Aufenthaltssaal und feierten mit.
Conny las einige ihrer Gedichte vor, mit fester Stimme und einem rosigen Hauch auf den Wangen, vom Publikum begeistert beklatscht. Sie war schön, sie war ein Star.

Conny war ein Mädchen mit großartigem Mut. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, hatte sie das Psychologie-Studium beendet und begann eine Ausbildung auf der Psychosomatik.

16.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16176

Der schreckliche Herr Kaplan

Nur in seltenen Fällen wird man vom Tod eines Menschen, den man einmal kannte, durch die Zeitung erfahren. Ich lese Todesanzeigen, diese schwarz umrandeten Verlautbarungen eines wirklichen oder angeblichen Verlustes haben etwas rührend Altmodisches, als gäbe es noch so etwas wie Mitbetroffenheit, einen Sozialkörper; ich soll Bescheid wissen, ich gehöre dazu. So schön aufgereiht standen sie da wie die schwarz verhangenen – oftmals leeren – Kutschen eines neapolitanischen Trauerzuges.
Vor nicht allzu langer Zeit las ich eine solche Todesanzeige. Ein gewisser Monsg. A. ist hoch in den Achtzigern und treu versorgt und mit geistlichem Beistand in P. gestorben. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, so etwas auch in meiner eigenen Todesanzeige zu lesen.

Jedes Kind lernt es schon ganz früh. Niemand darf sich über das Unglück anderer freuen, über den Schmerz, den Kummer oder den Tod eines Menschen oder Lebewesens. Sicher wurde dieses wichtigste Lebensprinzip auch mir eingebläut. Ich erinnere mich, dass ich gemäß dieser Regel nicht nur für tote Regenwürmer und Schmetterlinge, sondern auch für Blumen Begräbnisse veranstaltet habe.

Und trotzdem ist es passiert. Ich gebe es zu, offen und freiwillig, dass ich mich gefreut habe, als ich es in einer Zeitung las.
Wie kam es zu dieser Gefühlsregung zu einer Person, die ich sicher vierzig Jahre nicht gesehen, an die ich nie wieder gedacht, von der ich nie etwas gehört oder gelesen habe?
Er war Kaplan, der Herr Kaplan in unserer Kleinstadt, Religionslehrer und Führer der katholischen Jungschar, er leitete die Heimabende und die Sommerlager.

Obwohl die katholische Jungschar eine Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg war, verraten die Namen schon, woher der Geist noch heftig wehte. Ich war begeistertes Jungscharmädchen und ließ keinen Heimabend und kein Jungscharlager aus. Wir sangen, musizierten, spielten Theater, wanderten und betrieben Sport. Wir Mädchen waren alle kindlich ein bisschen verliebt in den Herrn Kaplan, wir schwärmten für ihn, wir fanden ihn sehr schön, er hatte volles, schwarzes Haar, konnte wunderbar singen und Gitarre spielen. In der Kirche schritt er so wunderbar feierlich in vollem Ornat aus, auf der Fußballwiese balgte er sich mit den Buben, beim Wandern drängten wir uns an ihn heran, jeder wollte an seiner Seite gehen und mit ihm reden. Ich erinnere mich noch an seine weichen Hände, mit denen er uns über Haar und Wangen strich.

Die Pfarrhelferin, Fräulein Annemarie B., ein altes, unscheinbares Mädchen, tat ungleich viel mehr und Wichtigeres für uns, wir waren alle ihre Kinder. Sie gab die Bücher aus der Pfarrbibliothek aus, studierte Lieder und Theaterstücke mit uns ein, kam aber gegen unseren Helden nicht an. Sie blieb im Allgemeinen unbemerkt, obwohl ich ihr mein erstes Bühnenerlebnis verdanke. Sie besetzte mich mit dem siebten Zwerg in der Schneewittchen-Produktion, obwohl ich eigentlich noch zu klein war fürs Theater. Die Jungschar war nach der Schule die wichtigste soziale und erzieherische Einrichtung in meinem Leben, gefolgt von Sportverein und Musikschule.

Mit diesem kleinen, schwarz gerahmten Viereck in der Zeitung kamen die Erinnerungen zurück.

Wir waren einmal auf Sommerlager im Waldviertel, ich schätze, dass ich acht oder neun Jahre gewesen sein werde. Lagerfeuerromantik gehörte dazu. Wir saßen im Kreis, und das Gespräch kam auf das Sterben und den Tod – sehr romantisch. Jeder sollte von seinen Erfahrungen damit erzählen. Ich erinnere mich noch, wie ich in ein begeistertes Schwärmen geriet, als ich meine Beobachtungen vom Sterben der Erdäpfelkäfer und Larven zum Besten gab. Bei meiner Großmutter im Mühlviertel wurden wir Kinder eingesetzt, um in Gläsern mit Äther getränkten Stoffstreifen die Schädlinge einzusammeln. Wir kamen uns wichtig vor und wurden sogar dafür entlohnt, ein paar Groschen, für die Käfer natürlich mehr als für die Larven.
Die ausgewachsenen Tiere nannten wir Vater und Mutter, die Larven Kinder.

Ich hatte besonders schnelle Augen, mir entging keiner, und ich war immer für einen guten Wettbewerb zu haben. Die roten Larven starben unauffällig, aber das Sterben der ausgewachsenen, schwarz-gelb gestreiften Käfer, der schlimmsten Feinde unseres Erdäpfelackers, war langsam und ließ sich gut beobachten. Ich fand das interessant und lustig, das Zappeln und Zucken und letztendliche Strecken der Beinchen nach oben. Das muss ich lebhaft und zu lustvoll geschildert haben. Denn der Herr Kaplan brach eine Verdammungsrede auf mich herab, dass ich ein grundböses und gottloses Kind sei, das einmal in der Hölle braten werde, wenn ich nicht sofort bereuen und versprechen würde, solche Lustmorde nie wieder zu begehen. Ich weiß nicht mehr, ob er mir aufgab, diese Sünden zu beichten.

Natürlich verstand ich damals nicht, wie es sein konnte, dass ich bei meiner Familie im Mühlviertel eine nützliche und belohnte Arbeit vollbrachte, im Waldviertel bei der Jungschar für genau das gleiche Handeln Höllenqualen angedroht bekam.
Von Doppelmoral wusste ich damals noch nichts. Ich glaube heute, dass der Kaplan nicht so sehr das Töten selbst verurteilte, sondern meine lustvollen Beobachtungen.
Hätte ich sie mit Leichenbittergallenmiene und Trauer im Herzen töten müssen?

Die zweite und letzte Begegnung mit dem schrecklichen Herrn Kaplan wird sich etwa fünfzehn Jahre später ereignet haben. Ich ging mit meinem Freund in der Kärntner Straße spazieren, als nicht weit vom Stephansplatz ein Herr in schwarzer Soutane mit roten Litzen auf mich zustürzte und mich zu beschimpfen begann: Wie ich das meinem Vater antun könne, er werde sich im Grab noch einmal umdrehen, ich hätte ihn umgebracht und bringe ihn weiter ständig um, weil ich mich dem Antichrist verschrieben hätte.
Er schwang dabei in heftiger Erregung eine schwarze Aktentasche in meine Richtung, war hochrot im Gesicht und spuckte vor mir aus. Es war dieser schreckliche Kaplan, damals schon in höheren Würden, aber ich erkannte ihn sofort, er hatte immer noch sein äußerst markantes Gesicht mit einer schwarzen Haarfülle. Mein Freund verstand gar nichts, er dachte wahrscheinlich, ein zufälliger Irrer hätte mich angesprochen und fand das komisch.

Mein Vater war erst vor Kurzem an einem Herzinfarkt gestorben, und ich damals Aktivistin bei einer marxistisch-leninistischen Sekte. Wir standen trotzdem in engem Kontakt und führten viele Diskussionen. Ich war verbohrt und militant, mein Vater verständnisvoll und tolerant, in dem Sinne: „Wenn einer mit zwanzig kein Sozialist war, war er kein Idealist, wenn einer mit vierzig noch immer ein Sozialist ist, ist er ein Trottel. Du wirst auch von dem Baum der Weltrevolution wieder herunterkommen.“
Und Recht hatte er.

Eine solche Flut von Erinnerungen und Gefühlen kann also das einfache Lesen einer Todesmeldung auslösen.
Dass sich der schreckliche Kaplan überhaupt irgendwo in meinen Gedächtnisspalten erhalten hatte, darüber staune ich noch immer.

14.12.16

Veronika Seyr
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Sieben Meere

Gedanken über Karl Lubomirskis Gedichtband: Sieben Meere, edition pen, Bd. 22, 155 S., Löcker, Wien 2015

Wer immer ein Buch von Karl Lubomirski aufschlägt, begegnet zuerst einer Zweierbeziehung, eine zwischen dem Dichter und der Welt, ihren Menschen, Dingen, Orten und Zuständen.

Der Person Lubomirski hätte man in Hall/Tirol, wo er 1939 geboren wurde, begegnen können, später in Innsbruck, wo er aufwuchs und studierte, seitdem lebend und als Manager arbeitend in Mailand und Rom, von wo er immer wieder auf Reisen geht. Im Land selbst, nach Griechenland, in den Nahen Osten, nach Russland, Zentralasien und Indien. Immer wieder Europa, wobei Polen einen Mittelpunkt bildet. Ich habe nie nach dem Grund gefragt, aber er könnte aus der Familiengeschichte herrühren, war doch die Fürstenfamile Lubomirski eng mit der europäischen Geschichte verflochten, von der Rettung Wiens unter Sobieski bis Mailand. Hauptsächlich von dort aus war er unterwegs auf Reisen. Er dringt mit seiner wachen Dichterseele in die Kulturen ein und verarbeitet seine Eindrücke in wissende und warmherzige Reiseessays. Keine Wegbeschreibungen von da nach dort. Er nimmt sich die Länder, ihre Menschen und Kulturen „zur Brust“, beklopft, befragt sie und schreibt auf, was er ihnen abgelauscht hat.

Als ich vor zwölf Jahren die Gelegenheit hatte, ihn bei einem Russlandbesuch durch die Klosterstadt Sergiev Posad zu begleiten, fielen ihm die Zeitgleichheit und die Parallelen in den Lebensgeschichten des russischen Sergius, des italienischen Franz von Assisi und des französischen Bernhard auf. Welche Konstellation! Was hatte das für die Welt zu bedeuten?
Darüber müsste er nachdenken. Er zog ein kleines Buch aus seiner Manteltasche und machte Notizen. Dabei stand er im steifen Märzschneewind auf dem Hof zwischen der Sergius-Kathedrale und dem Grab des Boris Godunow. Viele Reisen hätte ich gerne mit ihm gemacht.

Aber doch kehrt er in den sechs Jahrzehnten des Schreibens und Reisens immer wieder zur Lyrik zurück, 14 Bände bisher, einige davon zweisprachig: deutsch-polnisch, deutsch-italienisch, deutsch-französisch, deutsch-bulgarisch. Ein weltliches Oratorium und Prosabände.

„Sieben Meere“ ist sein jüngster Lyrikband.

Er schaut, beobachtet und lauscht. Er betrachtet die Dinge, und sie schauen auf ihn zurück. Er spricht die Dinge an, und sie sprechen zurück. Er horcht in sie hinein. Daher verraten sie ihm etwas, haben Botschaften, weil da jemand ist, der ihnen zuhört. Sehr genau, mit feinstem Ohr, tiefster Spurensuche dreht er sie um sie und sich herum, entlässt sie, fängt sie wieder ein, lässt sie ins Gegenteil kippen und macht sie so zu Instrumenten, um aus Dingen Leben zu machen. Er klopft die Worte ab, er klopft an die Worte wie an Geheimtüren und dringt in sie vor wie ein in sein Metier verliebter Höhlenforscher. Ein Leben wie ein Kaleidoskop auf einem Karussell, nach dem Regen unter dem Regenbogen im Sonnenuntergang, aus den Gruften in die Morgensonne. Alle Worte sind frisch und tragen doch Moosbärte. Die Sinnesorgane noch völlig verklebt vom eigenen Untergang, jubilieren wir wie die Schwalben über dem Dom von Krakau, den Gräbern der Via Appia und den sardinischen Eichenwäldern. Der Reichtum der Erde und ihrer Freuden kennt keine Grenzen. Hallo Leute, wacht auf, läutet er aus eingewanderten Kirchtürmen in Sardinien, oder er spendet Trost mit dem Haiku:

HERBST / dich liebe ich / Frühling des Winters.

Jahreszeiten atmen, Bäume reichen dir die Hände, Steine sind nicht tot, sie verflüssigen sich unter den lebendigen Flechten, Türme sind eingefallen wie Wanderfalken und fliegen wieder weg, im Feuer zwei Körper, sie verbrennen nicht.

Lubomirski kreist in großen und kleinen, einfachen und verschlungenen Liebesumarmungen um die Welt, die mich, alle und alles einschließt. Ich fühle mich genannt und einbezogen in den Kosmos seiner Wortgalaxien. Dabei ein leiser, vollkommen unpathetischer Dichter.
Es trifft auf alles zu, was Lubomirski zum Erscheinen seines Sammelbandes „Propyläen der Nacht – Gedichte 1960 – 2000“ schrieb: „Das vorliegende Buch ist nicht zum Auslesen geschrieben. Es besitzt weder Einheit noch Wissenswertes. Es ist unnütz im weitesten Sinn. So wie Tropfsteinhöhlen und Perlenketten unnütz sind. (…) Vielleicht ist es nur ein Gespräch von Gedichten untereinander, und ich war der Zuhörer.“

Die Dinge sprechen, weil ihr Betrachter sie liebt, bedingungslos, sie so sein lässt wie sie sind, weil es für Liebe ja nie Bedingungen geben kann. Indem er sie in Liebe betrachtet und ihnen das Innerste ablauscht, kommen sie als Worte auf die Welt, werden sie zu Welt und Wirklichkeit. Jedes Gedicht eine Geburt. Wirklicheres kann einem Leser kaum zustoßen.

Ich habe Lubomirskis Werk vor 15 Jahren kennengelernt, und im Laufe der Zeit wuchs ein betörender Gedanke in mir, dass sein Schreiben, sicher immer zuerst ein Selbstversuch der Selbst- und Welterfassung, im Resultat aber eine Form des Liebens ist. Wenn Liebe auf Worte trifft, ist das Poesie. Liebende haben immer eine besondere Hörfähigkeit.

Er schreibt in der Gewissheit, dass die Zugänglichkeit der Dinge die Zulänglichkeit der Worte sichert. Aufschreiben heißt immer Mitteilen, Lesbarmachen, Bedeutung Geben. Bei Lubomirski noch intensiver: Beseelen, die anima Einhauchen.
Ich erinnere mich dabei an zwei spätmittelalterliche Darstellungen von Marias Empfängnis: die eine, in der eine Taube an ihr Ohr heranfliegt und sie auf diese Weise mit dem zukünftigen Erlöser befruchtet; in einer anderen, späteren, die ich besonders liebe, flattert die Taube vor Marias Mund, nicht ohne dass der Maler gestrichelte Linien zwischen dem knienden Engel, der Taube und Marias Mund zieht – ein überdeutliches Comic, fast eine Sprechblase, aha, da kommt alles her! Empfangen durch Ohr oder Mund? Dazwischen liegt, meine ich Lubomirski zu verstehen, der feine Bruch zwischen Alt- und Neuzeit. Das Ohr, das immer offene, empfangsbereite, aber passive Organ, der Mund, der aktive, der sich schließen oder öffnen läßt. Das Ohr hört, der Mund kann etwas sagen.
Und dann ein Gedicht.

Dazu kommt jetzt die Dreierbeziehung. Was machen diese Gedichte mit mir, mit ihren in Zeichen, in Buchstaben gedruckten Worten? Die in ihren vom Dichter genau gesetzten Formen weitere Bedeutungsebenen erschließen, je nachdem, wie man sie liest, vor allem, wenn man sie immer und immer wieder liest. Sie vervielfachen sich, aber nicht in Wiederholungen, auch nicht in Serien oder in Variationen wie in einer Fuge, sondern am ehesten wie vielstufige Kaskaden eines Wasserfalles, über dem Regenbögen aufsteigen und in vielfältige Farben zerspringen.
Ich kann nichts interpretieren, sondern nur feststellen, dass die Bilder, die sich auftun, etwas anstellen, etwas bewirken, etwas tief in einem ergreifen und zum Klingen bringen. Lubomirskis Gedichte haben einen Hallraum, der den eigenen, vielleicht verschütteten, aufschließt wie einen vergessenen Goldaderstollen, eine Diamantenmine. Diese Gedichte tun einem gut, wie eine über den Kopf streichelnde Hand oder eine zärtlich ins Ohr geflüsterte Tröstung. Liebevolle Erschütterungen.

Man kann sagen: Wir kennen uns nicht persönlich, aber auf der Via Appia oder in Sardinien war ich auch schon. An vielen anderen Orten seiner Gedichte auch, aber an den meisten noch nie. Ob in den kaiserlichen Gärten von Kyoto oder in den Steppen Tibets, er macht einen zu Hause dort. Irgendein Gegenüber muss ihm vor Augen gestanden sein, ein Du, oft aber Selbstansprache, und im Wir und Ihr soll, kann jeder gemeint sein, der die Einladung annimmt. Verdammt hinter all den längst schon besiedelten und beseelten ästhetischen Kulturorten, die schon lange vor uns bewohnt waren. Diese Tiefe der Zeit, das Vorleben der Dinge, die Prähistorie der Beziehungen bis hin zum betroffenen Leser des heutigen Tages – das zieht einen in eine Karl Lubomirskis eigene Ewigkeit und einen Raum der Unendlichkeit. Was ist ein Magier? Ein Überwinder von Raum und Zeit, an dessen Tätigkeit ich teilnehmen darf.

Wenn man zu den Formen kommt, zu den angeblich klassischen und deren Definitionen, stehe ich bei Lubomirski vollkommen an. Aber ich bin ja keine philologische Leserin, sondern habe mit jeder Lektüre ein Privatissimum mit Poesie. So viel verstehe ich: Er beugt sich keiner einzigen Form oder besser, er beugt sie alle, sogar das minimalistische Haiku bricht er noch einmal herunter.

Soviel zu Gestalt und Inhalt. Es lohnt sich, einen Blick auf die gängigste Denkfigur zu werfen, für die L. eine besondere Vorliebe hat. (Gewagt, denn ich weiß nicht, ob man das „Technik“ nennen darf und ob er sie bewusst anwendet). Sie besteht in der Technik, dem Leser in einer scheinbar hoffnungslosen Situation doch noch dadurch eine positive Aussicht zu eröffnen, dass ihm durch einen plötzlichen Gedankensprung oder eine abrupte Volte die Möglichkeit geboten wird, die Situation aus einer anderen Perspektive zu überschauen oder sogar zu seinen Gunsten zu wenden.

DER HIMMEL / wird dich töten. / Der Himmel, / aber er stellt keine Fallen.
L. denkt aber auch in die umgekehrte Richtung. SCHULAUSFLUG / Beneide sie nicht, / diese Jungen und Mädchen, / die die Gruben nicht kennen / und nicht die Löwen,/ und nicht / die Schrift / an der Wand.
Für ihn gilt Novalis‘ ästhetischer Merksatz: Beim Kunstwerk soll das Chaos durch den Flor der Ordnung durchschimmern.

In dem Buchtitel gebenden Gedicht „Sieben Meere“ heißt es: Keine Zeit mehr / für Weiß, Schwarz, Sichel, Hammer / Grün und Rot, Streifen, Sterne / Kreuze, Moscheen, Tempel / keine Zeit mehr / … / Hinter der Zukunft / Sieben Meere der Hoffnung.
Wie düster auch immer die Welt aussehen mag, an ihrem Ende und am Ende des Verstandes steht immer eine Hoffnung, wenn man offen und bereit genug ist, diese wahrzunehmen. Dazu ruft er auf. Das ist die Botschaft, sollte es eine geben. Das ist die Verführungskunst des Dichters. So lasse ich mich gerne verführen.

Lubomirski ist ein Nomade zwischen Himmel und Erde, ein Nomade zwischen Zeiten, Menschen und Ländern. Sein lebenslanges Reisen findet seinen Niederschlag in Gedichten über seine Wahlheimat Italien, im Näheren Milano, aber sie führen einen in einem ganzen Zyklus nach Sardinien, nach Norwegen, China, Tibet, Japan, Krakau, Cernowitz, auf die Malediven und immer wieder nach Griechenland. ES TÖNT DIE LUFT / vom Blühen der Linden; / aber / in der Tiefe des Baumes / schläft ein Boot / über den Styx.

Obwohl oder gerade weil L. fast sein ganzes Leben mit und in der Sprache verbracht hat – es ist sein 14. Gedichtband – weiß er um ihre Grenzen und die Gefahren des Sprachgebrauchs. L. glaubt nicht an große Welterklärungen, sondern steht immer voller Staunen vor Rätseln, die oft eine schöne Gestalt haben, aber nicht zu lösen sind. DEZEMBERTAG / Ich weiß nicht, / was mir die Sonne / erzählen wollte. / Aber ich ahne, / dass es etwas sehr / Schönes war.

Oft nimmt L. einen scheinbar kleinen Gegenstand ins Auge – eine Blume, einen Baum, Stein, Vogelflug, Ort, Traum und lässt daraus einen ganzen Kosmos entstehen.

ALB / Mir träumte / ich war eine Maus / Und du / eine lautlose Eule. / Und als ich erwachte, / staken im Herzen / geschliffene Krallen.
GEDICHTE / Die Eisblumen / der Erwartung.
KEIN VULKAN / speit / fremde Lava.
EWIG LEBEN? / Wem?

Man erlebt die Wucht der Schlichtheit, das kleinstmögliche Chaos gebändigt in Form eines blitzenden Aperçus.

Welche Welten und philosophische Gedankenräume können aus nur fünf, drei Worten sich auftun, wenn sie so aufgestellt sind, wie Karl Lubomirski es tut.
Ich stehe in Staunen und Dankbarkeit vor Wundern und muss immer wieder innehalten: Er kennt mich. Er meint mich. Er hat mich durchschaut, erkannt und will mir nichts Böses. Von wem lässt sich so etwas schon sagen. Er hat mich in unserer gemeinsamen, wie lange vergessenen Ursprache angesprochen. Von der Lyra eines Orpheus im Lorbeerhain angeschlagen, die Klangschale im Wind.

Lubomirski lesen heißt, eine Reise machen durch die Herzen der Menschen, seines ist das erste, das er auftut. Von diesem liebenden Dichter lasse ich mir freiwillig und freudig ins Herz greifen.

Veröffentlicht unter dem Titel: Eine Reise durch die Herzen der Menschen. Gedanken zu Karl Lubomirskis Gedichten. In: Der literarische Zaunkönig – die Zeitschrift der Erika Mitterer Gesellschaft, Ausgabe 3/2016

Pfingsten 2016

Veronika Seyr
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Weihnachten im Schatten der Eiche

Manchmal, wenn es im Juli kochendheiß und der Nachmittag leer war, trafen meine jüngere Schwester, unser kleiner Bruder und ich im tiefen Schatten der Eiche zusammen. Wir waren unserer Sommerspiele überdrüssig, waren müde und sprachen dösend von Weihnachten. Der kleine Bruder saß oben im Baumhaus, und wir sangen zu dritt Weihnachtslieder. Es wird scho glei dumpa, Wer klopfet an, In dulci jubilo-oho, Adeste fideles, Maria durch ein Dornwald ging, Sti-hille Nacht, Alle Jahre wieder, Jingle bells, Vlesustojalajolotschka, Es hat sich heut eröffnet, das himmlische Tor, die Engelen, die Bauzelen, die kugelen hervor, O Tannenbaum. Das war das Stichwort. Die Eiche begann zu rauschen und warf ihre Eicheln auf die grasenden Schweine herab.

Das Rauschen und das Abwerfen kühlte die Luft, und mich überkam das erste Staunen über das Geheimnis der Physik. Und das Geheimnis der Zeit. Jetzt und später, in vier Monaten ist Weihnachten. Und wer bin ich dann?

Hedi und Franzi hatten Scharlach gehabt, und ich war gerade vom Keuchhusten genesen.
Die vier älteren Geschwister überstanden in diesem Sommer den unabsichtlichen Vergiftungsversuch der Mutter. Sie hatte Waldmeistersekt angesetzt, der zwar wie abgestandenes Blumenwasser schmeckte, aber offensichtlich fermentiert war und alle zu ruhrartigem Brechdurchfall brachte. Im September gelang es ihr wieder nicht, denn unser Vorkoster, der Vater, entdeckte in einem Schwammerlgulasch einen bitteren Geschmack. „Mama, da stimmt etwas nicht! Kinder, Finger weg!“ Unter die essbaren braunen Baumstämmlinge hatte sich offenbar ein gleich aussehender, aber giftiger Blauröhrling geschummelt.

Im Oktober öffnete die Mutter den großen Mottenkasten auf dem Treppenabsatz und holte die Winterkleidung hervor. Wir probierten die Wintersachen, und es stellte sich heraus, dass unsere Krankheiten und der Sommer uns soweit gutgetan hatten, dass wir aus allem herausgewachsen waren. Das war nichts zu machen. Es gab niemand Jüngeren mehr in der Familie, der das Zeug erben könnte, es wurde an die jüngeren Cousinen in St. Nikola geschickt.

Im Dezember ging meine Mutter mit uns in die Stadt zum Kaufhaus Frank und kleidete uns neu ein. Was Hedi und Franzi bekamen, weiß ich nicht mehr, ich erinnere mich nur an den Kauf meiner unglückseligen Schihose. Wir waren nicht häufig Käufer beim Frank, weil es wenig Geld für Einkäufe gab. Aber immerhin waren wir zehn Personen, die selten, aber ab und zu doch etwas Neues brauchten. So kam uns der alte Herr Frank mit freudigen Schritten und offenen Armen entgegen und begrüßte meine Mutter. Der junge Herr Frank, Joe genannt, ging mit meinem zweitältesten Bruder in eine Klasse und durfte manchmal auch schon bedienen. Gnä Frau, Frau Professor, Frau Doktor, Frau Direktor … Meine Mutter winkte wie immer mit den Armen wild wedelnd ab, sie mochte die ihr zugedachten Titel nicht und sagte uncharmant griesgrämig: Seyr genügt.

Was brauchma denn, etwas fürs gnä Fräulein? Das gnä Fräulein hatte schon sieben Weihnachtsfeste hinter sich und freute sich auf das achte Christkind. Seit dem Sommer mit den Weihnachtsliedern unter der Eiche war ich damit beschäftigt, einen Brief an das Christkind zu entwerfen.

Meinen eigenen Karl-May-Band Der Schut, meine eigenen Klassischen Sagen des Altertums von Gustav Freytag, meinen eigenen Band mit den nacherzählten Shakespeare-Stücken, und der dritte Band der Hochreiterkinder von Marlene Haushofer – das stand ganz oben. Ich sah sie schon im Flammenschein unter dem Christbaum liegen und mich im tiefsten Winkel meines Bettes lesen, allein und unendlich lang, ohne das Buch in einer bestimmten Frist auslesen und weitergeben zu müssen. An Spielzeug wünschte ich mir eine neue Babypuppe, da ich die alte, meine geliebte Lotte, den ungarischen Flüchtlingskindern von Rädda Barnen in Judenau gespendet hatte. Ein Säckchen mit neuen Murmeln wäre schön und eine ganze Tafel Bensdorp-Schokolade, die man nur zu Weihnachten und zum Geburtstag nicht durch sieben teilen musste.

Was ich mir sonst noch wünschte, weiß ich nicht mehr, wahrscheinlich war das ohnedies schon sehr viel. Einen Indianeranzug für den Fasching hätte ich mir wünschen können und vielleicht auch Schlittschuhe in einem Stück, nicht die Schraubendampfer, die ich bisher fuhr und immer mit Abneigung und Scham im Aufwärmbunker des Eislaufplatzes unter den Augen der reichen Kinder anschrauben musste. Aber wahrscheinlich hätte ich mir nicht getraut, so viele Dinge und solche Extravaganzen in den Brief ans Christkind zu schreiben. Wir hatten als Kinder den Trick, etwas besonders Gewünschtes, Begehrtes, Ersehntes nicht in Worten aufzuschreiben, sondern zu zeichnen.

Das wirkte nicht so unverschämt und war immer mit einem Prickeln verbunden, ob das Christkind klug genug war, den Wunsch zu erkennen.

Eigentlich mochte ich den alten Herrn Frank gern. Er war immer lustig und sah lustig aus: Er war klein, hatte volles, dunkles Haar, hielt sich leicht gebückt und schritt mit breiten Schritten aus, wobei er mit den Beinen schlenkerte, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er die Füße überhaupt auf den Boden stellen sollte. Zu uns Kindern war er aufmerksam und sagte witzige Worte. Besonders mochten wir ihn dafür, dass er uns, abgesehen von den Einkäufen, den Besuch in seinem Kaufhaus versüßte. Bei der Kasse stand ein Körbchen mit Heller-Zuckerln – das waren langgezogene, mit Marillenmarmelade gefüllte Köstlichkeiten – in das wir die Hand hineinstecken und uns auch mehr als ein Zuckerl herausnehmen durften.

Da sah ich, wie Mutter dem alten Herrn Frank etwas ins Ohr flüsterte, und der laut und strahlend zurück: „Ah, eine Schihose zum Christkind! Schön, kommen Sie, gnä Frau, schauma, was ma ham.“

Ich stand wie vom Donner gerührt, was brauchte das Christkind eine Schihose? Ging das Christkind auch auf Schulschikurs? Ich verstand anfangs gar nichts, und es schüttelte mich bei der Vorstellung vom Christkind auf Schiern oder auf der Rodel im tiefen Schnee.
Sein weißes Spitzenkleidchen, die goldenen Locken, den Heiligenschein mit den Sternchen darüber – und darunter eine Schihose, eine Pudelhaube, Fäustlinge und Goiserer mit Norwegerpullover und Hubertusfleck?

Pures Entsetzen packte mich, ich war getroffen, ich war versehrt und stand so in Flammen, dass ich mich weigerte, die von Herrn Frank präsentierten Schihosen zu probieren. Übrigens gab es eh nur ein einziges Modell in verschiedenen Größen, eng geschnitten aus schwarzem, dehnbaren Lastex mit einem Steg an den Beinen unten, wenn ich mich richtig erinnere. Ich war so störrisch, dass mich meine Mutter nicht einmal mit Gewalt in die Probierkabine zerren konnte. „Gut, wir nehmen die, entschied die Mutter, die passt sicher, aber zwei Nummern größer, bitte, damit sie die Hedi nächstes Jahr auch noch tragen kann.“

Was war der größere Schock? Dass es kein Christkind gab oder dass die Schihose so groß war, dass sie sofort von der Hausschneiderin Frau Trofeit Hosenträger und zweifache Stulpen aufgenäht bekam? Dieser Operation fielen auch die rutschfesten Stege, die mich eventuell mit dieser Schihose versöhnen hätten können, zum Opfer.

Peinlicher und qualvoller habe ich vier Jahre später nur den Kauf des ersten BHs in Erinnerung, noch immer mit Mama und im Kaufhaus Frank. Da hat der junge Herr Frank, Bruder Bernhards schnittiger Freund Joe, schon ständig bedient, wenn auch nur in der Männerabteilung. Wahrscheinlich bekam Mama beim Frank mehr Prozente, Großfamilienrabatt. Ich wäre so gerne zum Kaufhaus Stift gegangen, die hatten eine Palmers-Abteilung mit geschulter Damenbedienung. Beim Frank bekam ich ein untragbares Gerüst Marke Stalingrad, das ich sehr schnell verschwinden und mir von der ältesten Schwester Agnes einen ihrer amerikanischen Spitzen-BHs schenken ließ.

Der ganz große Skandal kam kurz nach Weihnachten. Ich war in den Ferien zu Besuch in St. Nikola, bei Tante Sofie und Onkel Klaus und ihren vier Kindern. Ich überredete einmal meine gutmütige Cousine Michaela, mit mir Kleider zu tauschen, also meine Schihose anzuziehen. Sie sah nicht nur zu mir auf und war mir hörig, weil ich älter war, sondern weil ich aus der Stadt (oö. Schdott) kam, auch wenn Tulln damals kaum diesen Namen verdiente. Aber wer und was von dort kam, galt den St. Nikolaern (o.ö. Nigloan) geradezu als überirdisch. Gerade am Dreikönigstag gab es einen schrecklichen Unfall.
Michaela geriet zu weit über die Rodelpiste am Danzer-Bergerl hinaus und brach in das Eis des Dimbaches ein. In letzter Sekunde zog Tante Sofie sie heraus. Ich sehe es noch vor mir, wie die Rodel unterging und Michaela am Bachrand hing. Im Trubel, der diesem Unfall folgte, in dem sogar ein Gendarm ins Bräuhaus kam und überprüfte, ob Tante Sofie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen sei, ging meine Schihose irgendwie verloren, und Hedwig kam im nächsten Winter nicht in den Genuss dieser Erbschaft. Ich nehme an, dass sie, sonst immer meine nächste Rivalin, über den Verlust nicht traurig gewesen sein wird.

Ob meine alte Babypuppe Lotte eine Nachfolgerin bekam, weiß ich beim besten Willen nicht mehr. Aber an das kränkelnde Herz mit der Erkenntnis, dass das Christkind und das liebe, kleine Jesulein nicht die Leute waren, für die ich sie gehalten hatte, daran erinnere ich wie an gestern. Lange Zeit konnte ich mich nicht entscheiden, wem ich mehr grollen sollte, meiner Mutter oder dem alten Herrn Frank, ob er mir das Christkind geraubt hat, es entzaubert, verstoßen oder ob er mich davon erlöst hat? Ich entsagte und genas, indem ich mich für einen Trick entschied, dass sich das Christkind wahrscheinlich auf diese Weise von mir verabschiedet hat. Es war ja schließlich allmächtig und allwissend. So wurde meine Schihosen-Geschichte doch wieder ganz rund.

8.12.16

Veronika Seyr
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