Der schreckliche Herr Kaplan

Nur in seltenen Fällen wird man vom Tod eines Menschen, den man einmal kannte, durch die Zeitung erfahren. Ich lese Todesanzeigen, diese schwarz umrandeten Verlautbarungen eines wirklichen oder angeblichen Verlustes haben etwas rührend Altmodisches, als gäbe es noch so etwas wie Mitbetroffenheit, einen Sozialkörper; ich soll Bescheid wissen, ich gehöre dazu. So schön aufgereiht standen sie da wie die schwarz verhangenen – oftmals leeren – Kutschen eines neapolitanischen Trauerzuges.
Vor nicht allzu langer Zeit las ich eine solche Todesanzeige. Ein gewisser Monsg. A. ist hoch in den Achtzigern und treu versorgt und mit geistlichem Beistand in P. gestorben. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, so etwas auch in meiner eigenen Todesanzeige zu lesen.

Jedes Kind lernt es schon ganz früh. Niemand darf sich über das Unglück anderer freuen, über den Schmerz, den Kummer oder den Tod eines Menschen oder Lebewesens. Sicher wurde dieses wichtigste Lebensprinzip auch mir eingebläut. Ich erinnere mich, dass ich gemäß dieser Regel nicht nur für tote Regenwürmer und Schmetterlinge, sondern auch für Blumen Begräbnisse veranstaltet habe.

Und trotzdem ist es passiert. Ich gebe es zu, offen und freiwillig, dass ich mich gefreut habe, als ich es in einer Zeitung las.
Wie kam es zu dieser Gefühlsregung zu einer Person, die ich sicher vierzig Jahre nicht gesehen, an die ich nie wieder gedacht, von der ich nie etwas gehört oder gelesen habe?
Er war Kaplan, der Herr Kaplan in unserer Kleinstadt, Religionslehrer und Führer der katholischen Jungschar, er leitete die Heimabende und die Sommerlager.

Obwohl die katholische Jungschar eine Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg war, verraten die Namen schon, woher der Geist noch heftig wehte. Ich war begeistertes Jungscharmädchen und ließ keinen Heimabend und kein Jungscharlager aus. Wir sangen, musizierten, spielten Theater, wanderten und betrieben Sport. Wir Mädchen waren alle kindlich ein bisschen verliebt in den Herrn Kaplan, wir schwärmten für ihn, wir fanden ihn sehr schön, er hatte volles, schwarzes Haar, konnte wunderbar singen und Gitarre spielen. In der Kirche schritt er so wunderbar feierlich in vollem Ornat aus, auf der Fußballwiese balgte er sich mit den Buben, beim Wandern drängten wir uns an ihn heran, jeder wollte an seiner Seite gehen und mit ihm reden. Ich erinnere mich noch an seine weichen Hände, mit denen er uns über Haar und Wangen strich.

Die Pfarrhelferin, Fräulein Annemarie B., ein altes, unscheinbares Mädchen, tat ungleich viel mehr und Wichtigeres für uns, wir waren alle ihre Kinder. Sie gab die Bücher aus der Pfarrbibliothek aus, studierte Lieder und Theaterstücke mit uns ein, kam aber gegen unseren Helden nicht an. Sie blieb im Allgemeinen unbemerkt, obwohl ich ihr mein erstes Bühnenerlebnis verdanke. Sie besetzte mich mit dem siebten Zwerg in der Schneewittchen-Produktion, obwohl ich eigentlich noch zu klein war fürs Theater. Die Jungschar war nach der Schule die wichtigste soziale und erzieherische Einrichtung in meinem Leben, gefolgt von Sportverein und Musikschule.

Mit diesem kleinen, schwarz gerahmten Viereck in der Zeitung kamen die Erinnerungen zurück.

Wir waren einmal auf Sommerlager im Waldviertel, ich schätze, dass ich acht oder neun Jahre gewesen sein werde. Lagerfeuerromantik gehörte dazu. Wir saßen im Kreis, und das Gespräch kam auf das Sterben und den Tod – sehr romantisch. Jeder sollte von seinen Erfahrungen damit erzählen. Ich erinnere mich noch, wie ich in ein begeistertes Schwärmen geriet, als ich meine Beobachtungen vom Sterben der Erdäpfelkäfer und Larven zum Besten gab. Bei meiner Großmutter im Mühlviertel wurden wir Kinder eingesetzt, um in Gläsern mit Äther getränkten Stoffstreifen die Schädlinge einzusammeln. Wir kamen uns wichtig vor und wurden sogar dafür entlohnt, ein paar Groschen, für die Käfer natürlich mehr als für die Larven.
Die ausgewachsenen Tiere nannten wir Vater und Mutter, die Larven Kinder.

Ich hatte besonders schnelle Augen, mir entging keiner, und ich war immer für einen guten Wettbewerb zu haben. Die roten Larven starben unauffällig, aber das Sterben der ausgewachsenen, schwarz-gelb gestreiften Käfer, der schlimmsten Feinde unseres Erdäpfelackers, war langsam und ließ sich gut beobachten. Ich fand das interessant und lustig, das Zappeln und Zucken und letztendliche Strecken der Beinchen nach oben. Das muss ich lebhaft und zu lustvoll geschildert haben. Denn der Herr Kaplan brach eine Verdammungsrede auf mich herab, dass ich ein grundböses und gottloses Kind sei, das einmal in der Hölle braten werde, wenn ich nicht sofort bereuen und versprechen würde, solche Lustmorde nie wieder zu begehen. Ich weiß nicht mehr, ob er mir aufgab, diese Sünden zu beichten.

Natürlich verstand ich damals nicht, wie es sein konnte, dass ich bei meiner Familie im Mühlviertel eine nützliche und belohnte Arbeit vollbrachte, im Waldviertel bei der Jungschar für genau das gleiche Handeln Höllenqualen angedroht bekam.
Von Doppelmoral wusste ich damals noch nichts. Ich glaube heute, dass der Kaplan nicht so sehr das Töten selbst verurteilte, sondern meine lustvollen Beobachtungen.
Hätte ich sie mit Leichenbittergallenmiene und Trauer im Herzen töten müssen?

Die zweite und letzte Begegnung mit dem schrecklichen Herrn Kaplan wird sich etwa fünfzehn Jahre später ereignet haben. Ich ging mit meinem Freund in der Kärntner Straße spazieren, als nicht weit vom Stephansplatz ein Herr in schwarzer Soutane mit roten Litzen auf mich zustürzte und mich zu beschimpfen begann: Wie ich das meinem Vater antun könne, er werde sich im Grab noch einmal umdrehen, ich hätte ihn umgebracht und bringe ihn weiter ständig um, weil ich mich dem Antichrist verschrieben hätte.
Er schwang dabei in heftiger Erregung eine schwarze Aktentasche in meine Richtung, war hochrot im Gesicht und spuckte vor mir aus. Es war dieser schreckliche Kaplan, damals schon in höheren Würden, aber ich erkannte ihn sofort, er hatte immer noch sein äußerst markantes Gesicht mit einer schwarzen Haarfülle. Mein Freund verstand gar nichts, er dachte wahrscheinlich, ein zufälliger Irrer hätte mich angesprochen und fand das komisch.

Mein Vater war erst vor Kurzem an einem Herzinfarkt gestorben, und ich damals Aktivistin bei einer marxistisch-leninistischen Sekte. Wir standen trotzdem in engem Kontakt und führten viele Diskussionen. Ich war verbohrt und militant, mein Vater verständnisvoll und tolerant, in dem Sinne: „Wenn einer mit zwanzig kein Sozialist war, war er kein Idealist, wenn einer mit vierzig noch immer ein Sozialist ist, ist er ein Trottel. Du wirst auch von dem Baum der Weltrevolution wieder herunterkommen.“
Und Recht hatte er.

Eine solche Flut von Erinnerungen und Gefühlen kann also das einfache Lesen einer Todesmeldung auslösen.
Dass sich der schreckliche Kaplan überhaupt irgendwo in meinen Gedächtnisspalten erhalten hatte, darüber staune ich noch immer.

14.12.16

Veronika Seyr
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