Archiv der Kategorie: Bernd Remsing

Die überdrehte Wäscheleine

Ich bin schon gespannt zum Zerreißen
Wie könnt’ ich da Leine noch heißen?
Ein Höschen nur auf mich gehänget
Und schon wär ich gänzlich zersprenget!

Was ist bloß aus mir geworden?
Einst trug ich den Höschenbandorden
Für leichte bis Mittelgewichte
Hört her, was ich euch berichte:

Verflucht sei der Tag als der Spatz kam
Und einfach so auf mir Platz nahm
Ich fragte ihn, ob’s auch bequem
Er drauf: Man werd’ es ja seh’n

Ob meine Kräfte auch fassten
Sein Spatzengewicht schweres Lasten
Gewöhnt sei er Ankertrossen
In Häfen voll Haien mit Flossen

Nur elementaren Tauen
Könnt’ er sich als Spatz anvertrauen
Ich schämte mich in den Kardeelen
(Dort sitzen bei Leinen die Seelen)

Er merkte, wie sehr ich mich schämte
Er plusterte sich und er gähnte:
„Hätt’st du etwas von Tauwerken
Du würdest dich, um dich zu stärken

In dichteste Schlingen legen
Und fest um dich selber drehen
Doch bist du ja bloß eine Leine
Von denen, da hält mich keine!“

Flog auf und er zog gegen Norden
Um andere Leinen zu morden
Unzählige schmerzhafte Stunden
Hab ich mich seit damals verwunden

Ich wand mich in Wahn und von Sinnen
Um aus mir ein Tauwerk zu spinnen
Da plötzlich, da hörte ich Stimmen:
„Die Lein da, die wird bald zerspringen!

Einst hat sie uns Amseln geschaukelt
Jetzt hat ihr der Spatz was gegaukelt
Seitdem ist sie ganz vermessen
Verspannt und von Ehrgeiz zerfressen

Und doch wird sie keine von denen
Mit Stahlkern und stählernen Sehnen
Die sich nur auf eines verstehen:
Immer im Dienst und nie dehnen!

Wie locker hatt’ sie’s doch als Leine
Mal ihre Höschen, mal seine
Doch das wird wohl nie mehr gescheh’n
Was musst’ sie sich auch um sich dreh’n?“

Da kam ich mit Ruck zu Verstand
Ach, Mensch, leih mir doch deine Hand!
Zerschneide mich mit deiner Schere
Und lasse mich fallen ins Leere!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um …| Inventarnummer: 22072

Wutrede eines Schafes

Um uns die Wolle abzuscheren
Genügt doch schon weitaus
Unser ängstliches Begehren
Nach Sicherheit und Haus

Es geht vermess’nerem Verlangen
Kein Schafskopf auf den Leim
Doch um Schafe einzufangen
Braucht’s nur ein Bedürfnis sein

Wir halten still ein ganzes Leben
So wurden wir erzogen
Und stell’n nach diesem Leben eben
fest:
Wir wurden d’rum betrogen

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 22070

An die Brandung

Du gischtverhangene Wolke
Du kennest nicht Rilke, noch Nolte
Du wolkenverhangene Gischt
Auch du brauchst der Feder nicht

Ihr hebet von selbst und ihr senkt euch
Wie mach ich’s nur, dass auch ich euch gleich
Dann würd’ es mir wieder lichtel
So bleib ich Verseschmiedwichtel

Ach, hätt’ meine Seel’ endlich Fried!
Nicht den! Der war auch Verseschmied.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 22068

Der falsch gezog’ne Schluss

Dass der Mensch vom Himmel sei
Das ist ja deutlich auch vorbei
Dass er deshalb national
Sein muss
Oder wirtschaftsradikal
Das ist der falsch gezog’ne Schluss!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 22067

Den freundlichen Arrivierten

Den freundlichen Arrivierten,
die ganz deiner Meinung sind,
die alles schon kritisierten,
glaub ihnen nicht, mein Kind.

Sie öffnen dir zwar ihre Türen,
doch immer nur einen Spalt,
durch den sie mit dir diskutieren –
drinnen ist’s warm, doch dir wird es kalt.

Sie klagen dir ihre Sorgen,
als wärst du von ihnen einer.
Ach, willst du dir nur was borgen,
wird der Türspalt schon kleiner.

Frag nie, wie sie hochgekommen,
wie ihre Verdienste hießen:
Die Stimmung würde beklommen –
sie würden die Türen schließen.

Süß klingt es, ihr Bekanntnis
zum klassenlosen Ton.
Es hat damit kein Bewandtnis;
es lässt sich verkaufen, das schon.

Und reden sie auch im Gleichnis
verwegen, edel und hehr:
Lies nach im Inhaltsverzeichnis –
Siehe, es ist leer!

Sei ihnen nicht bös gesonnen:
Was brächte dir schon ihre Not?
Sie haben den Fahrstuhl genommen,
den ihnen ihr Elternhaus bot.

Sieh hin und lern es zu fassen:
Es ist noch die Fahrstuhltür!
Sie haben den Lift nie verlassen
Und riechen den Kot an dir.

Was könnten sie dir also bieten,
außer Knöpfen mit Zahlen?
Wer weiß, wo sie hingerieten,
entschiedest du ihre Wahlen?

Sie haben nur Knöpfe mit Zahlen –
die Liberalen.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 22052

Terrestrische Navigation 4

Stop!
Um in den vollen Genuss dieser Geschichte zu kommen,

lesen Sie zuvor Teil 1Teil 2 und Teil 3.

Die Antwort darauf, warum sie mich nicht mehr in ihre Wohnung ließ, ergab sich vor etwa drei Wochen. Ich stieg mit der Milch für Frau Apfel in den viel zu kleinen Lift und vor mir stand Alex. Ich erkannte ihn, trotz seiner Maske. Immer noch hatte er die kleine Narbe auf der Stirn. Mit seiner linken Hand umklammerte er einen Strauß Margeriten. Mit der anderen eine Packung Katzenstreu. Als wir in meinem Stockwerk ankamen, sah ich, dass er schwitzte. Wir gingen in meine Wohnung. Er hatte beträchtlich zugenommen und ließ sich schwer in mein Sofa fallen. Ich öffnete zwei Flaschen Bier, trotzdem schwiegen wir weiter. Schließlich seufzte er, ich erkannte dieses Seufzen sofort.

Er begann: Nach unserem letzten Gespräch, so drückte er sich tatsächlich aus, (nach unserem letzten Gespräch!) habe er sich erinnern können, wer die Frau Apfel sei. Dann sei ihm klar geworden, wie sehr sie ihm damals geholfen habe, mit seinen Schulaufgaben. Nein, er habe kein schlechtes Gewissen gehabt, wegen der Sache mit ihrer Wohnung. Er sei sogar froh, dass seine Tochter nun diese Wohnung nutzen könne, während ihres Studiums. Er habe aber nicht lange gebraucht, um zu begreifen, dass er ihr noch was schulde, der Frau Apfel. Er habe auch nicht lange gebraucht, sie zu finden, es gebe ja nicht viel Äpfels in Wien. „Viele Apfels!“, korrigierte ich ihn.

Er machte dazu, wie immer, wenn ich ihn korrigierte, seine wegwerfende Handbewegung. Sie habe bei ihrer Schwester am Stadtrand gewohnt, meinte er, dort habe er sie gefunden. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie Frau Apfel eine Schwester haben sollte. Er behauptete, sofort gesehen zu haben, dass diese Wohnsituation Frau Apfel nicht zuträglich gewesen sei, außerdem vertrage sie sich nicht mit ihrer Schwester. Überhaupt, ergänzte er, sei Frau Apfel ein Charakter, der es vorzöge alleine zu wohnen. Da musste ich ihm Recht geben. Also habe er ihr, fuhr er fort, über die Partei diese Gemeindewohnung besorgt und sehe seitdem öfter vorbei. Gerade jetzt in der Pandemie sei es sinnvoll, dass er bei ihr regelmäßig vorbeischaue, wegen der Einkäufe und so. Dann haben plötzlich die Milchtürme und das Katzenzeugs bei ihr begonnen, von selbst zu wachsen und sie habe ihm gestanden, dass der Jonas, also ich, hier im Haus wohne. Da habe er sie gebeten, mich nicht mehr einzulassen.

Ich solle übrigens damit aufhören, so viel Milch und Katzenzeugs zu bringen, sie habe doch gar keine Katze. Es genüge völlig, wenn er ihr ab und zu ein wenig Streu bringe. In mir stieg die Wut hoch. Ich bringe gar keine Streu und auch kein Futter, bändigte ich mich und fragte wie nebenbei, ob sie ihn denn immer in ihre Wohnung einlasse. „Ja, wieso nicht, ich habe sie ihr immerhin besorgt?“, antwortete er trocken. Da explodierte ich: „Du bist doch dafür verantwortlich, dass Frau Apfel hier in diesem Sozialloch haust, und wagst es auch noch, groß den Samariter zu spielen?“, schrie ich ihn an. Er darauf: Ob ich Trottel denn nichts bei ihm gelernt habe, sie wäre doch sowieso rausgeflogen! Und er habe noch das Schlimmste verhindert!

Das Schlimmste verhindert! Wie soll das gehen? Da standen wir schon beide. Die Bierflaschen drohend in der Hand. Ich wies ihm die Tür. Er ging.

Ich wollte wissen, ob er das Haus verlassen hatte oder zu Frau Apfel gegangen war. Ich wartete, bis ich mich etwas beruhigt hatte. Dann stieg ich leise die Treppen hinauf und lauschte an ihrer Tür. Ein schäbiges Verhalten, ich weiß, aber blieb mir eine andere Wahl? Ich hörte eine Männerstimme, die aber nicht die Stimme von Alex war. Das verwirrte mich. Dennoch, irgendetwas kam mir an dieser anderen Stimme bekannt vor. Es war weniger die Stimme selbst, eher war es diese stockende Art zu reden.

Am nächsten Tag fand ich am Boden des Liftes den Blütenkopf einer Aster. Ich konnte nicht widerstehen und ging wieder an Frau Apfels Tür. Diesmal hörte ich eine andere Männerstimme, und auch diese kam mir bekannt vor. Mir kamen die verrücktesten Ideen, einige davon sogar recht schmutzig. Ich bildete mir grauenhafte Dinge ein, solche, die ich hier gar nicht niederschreiben möchte. Ich sage nur: Sie hatten alle mit Alex und seiner Gemeindebau-Wohnungsvermittlung an Frau Apfel zu tun. Dafür schäme ich mich sehr.

Meine Besuche bei Frau Apfel wurden seltener, die anderen, die mysteriösen Besuche meine ich, wurden hingegen immer häufiger. Ich konnte mir immer noch nicht erklären, wer das war, und hörte immer wieder einen der beiden Männer oder Alex hinter ihrer Tür. Einmal sogar eine Frauenstimme, die mir auch bekannt vorkam. Lauter Stimmen, die mir auf irritierende Weise vertraut erschienen. Ich bekam Einschlafschwierigkeiten. Auch mein altes Alkoholproblem kehrte wieder. Dabei hätte es so vieles gegeben, worüber ich mit Frau Apfel reden wollte. Nicht über meine Geldsorgen natürlich, sondern darüber, wie ich jetzt weitermachen sollte. Dass es mir einfach an Kraft fehlte, einen neuen Job zu finden, dass ich vor lauter Panik, einem möglichen Arbeitgeber die Lücke in meinem Lebenslauf erklären zu müssen, immer mehr trank.

Die Lücke in meinem Lebenslauf wurde dadurch immer noch größer und infolgedessen sah ich mich immer weniger in der Lage, mich umzusehen und so weiter. Aber das war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren meine Albträume. Immer wieder träumte ich: Ich stehe vor dem Schalter von Frau Apfel und schiebe die Terrestrische Navigation über die Pflanzenschneise. Plötzlich blitzt es und die Menschen gehen stöhnend zu Boden.
„Komm!“, sagt Frau Apfel und nimmt mich an der Hand. „Wenn ein Atomkrieg ausbricht, musst du in die Donau, sagt sie und zieht mich nach kurzem Lauf über die Wiesen in die Donau. Wir stehen in der Donau bis zum Hals und blicken auf den Kahlenberg, auf dem die Menschen wie Fackeln brennen. „Warte noch“, sagt sie, „bald wird alles vorüber sein.“ Dann sehe ich die Raumschiffe am Himmel. Über diese Träume hätte ich zum Beispiel auch sehr gerne mit ihr geredet.

Der Zweite, den ich aus unserer ehemaligen Bücherei-Bande im Lift antraf, war Philipp. Philipp war unser Hund Timmy. Er sprach mich tatsächlich mit „George?“ an. Er war derjenige, erkannte ich in diesem Moment, dessen stockende Stimme ich durch die Tür von Frau Apfel gehört hatte, ohne seine Stimme ganz wiederzuerkennen. Auch ihn lud ich in meine Wohnung ein. Philipp war deswegen unser Hund Timmy, weil wir uns die Fünf Freunde nannten. Ich muss das etwas näher erklären: Nach Enid Blyton bestehen die Fünf Freunde aus vier Kindern: Aus zwei Buben und zwei Mädchen und dem Hund Timmy, also musste einer von uns der Hund Timmy sein. Genauso, wie ich Georgina sein musste, aber wie Georgina darauf bestand, George gerufen zu werden. Alex und Christian waren natürlich Dick und Julian. Bei Anna mussten wir nur das „a“ zu einem unausgesprochenen „e“ ändern: Anne. Wir betrachteten das als gutes Zeichen. Alle Namen natürlich Englisch ausgesprochen. Erst später erfuhr ich, dass Philipp eigentlich „Freund der Pferde“ heißt und dachte viel darüber nach, ohne zu einem richtigen Schluss zu kommen. Waren wir die Pferde und er der Mensch?

Mit Philipp saß ich lange zusammen. Er hatte mit Anna kein Glück gehabt, genau wie ich es vermutet hatte. Die Adresse von Frau Apfel fand er ganz einfach in seinem Telefonbuch. Vor einem Monat habe er sich an sie erinnert, sagte er, weil er beim Aufräumen in seiner Wohnung ein Porzellanpferd gefunden habe, mit einer unterschriebenen lateinischen Widmung am Hals. Wer hat, frage ich mich, heute noch ein Telefonbuch? Wenn ich unser Gespräch memoriere, hat der Philipp überhaupt kein Glück gehabt. Dabei war er der einzige von unseren Fünf Freunden, dem ich immer Glück wünschte, auch später. Das ganze Glück meine ich. Schlecht sah er aus, aber er sagte, die Besuche bei Frau Apfel täten ihm gut. Es täte ihm leid, dass nur ich nicht in ihre Wohnung dürfe, ihm und den anderen von den Fünf Freunden hätte der Alex das nicht verboten.

Da begriff ich, und ich ging wieder öfter zu Frau Apfel. Anna kam mit hochwertigem Kaffee und sehr speziellem Katzenfutter und außerdem exquisitem Wein. Ich fragte sie gar nicht, wie sie zu Frau Apfel gefunden habe. Sie hatte es, wie man so sagt, zu etwas gebracht und war Leiterin des Jugendamts geworden. Ihre Haut wirkte ausgetrocknet und sie hatte viele Falten bekommen und ein Kind. Jede dieser Falten steht ihr, finde ich. Man sieht sie nur, wenn die Sonne darauf fällt, wie feine Bleistiftstriche, die das Gesicht konturieren. Christian kam vorgeblich als Nachzügler, jeder wusste, dass das nicht stimmte, aber wir gönnten ihm diese kleine Lüge, die er da völlig sinnlos aufstellte, warum auch immer.
Er war Lehrer geworden und hatte keine Ahnung warum und litt furchtbar unter dem vorgeblichen Online-Unterricht. Wir waren uns damals immer sicher, dass er Tischler oder Zimmerer werden würde, weil er uns immer die besten Baumhäuser baute. Er war es, der Unmengen an Katzenstreu brachte, obwohl wir ihm sagten, es sei zu viel. Ich selbst beschränkte mich auf die Milch und Philipp konnte sich nichts leisten.

Keiner von uns brachte Schnittblumen. Wir sprachen uns ab und standen seither alle am Gang. Die Gang-Gang waren wir jetzt. Für Frau Apfel haben wir einen Korbsessel organisiert, den wir ständig ersetzen mussten, weil er alle paar Wochen von Alex entfernt wurde. Gar nicht so einfach in der Pandemie. Vielleicht haben wir ihr deshalb erzählt, wer damals für ihren Wohnungsverlust gesorgt hat. Ansonsten hatten wir lange Gespräche über Literatur und das Leben. Nach der Katze fragten wir nicht. Wenn Alex kam, ging ich. Wenn Alex kam, gingen wir alle. Und dann öffnete sie ihm die Tür.

Ich habe, wie gesagt, den Zettel an mich genommen, den Frau Apfel an ihre Brust gedrückt hielt, als sie starb. Es handelt sich um eine Schenkungsurkunde. Eine Schenkungsurkunde über ihre ehemalige Wohnung im Alsergrund. Ausgestellt von Alex, der immer das Schlimmste verhindern wollte.

Frau Apfel ist tot. Ich sitze jetzt da, die Terrestrische Navigation auf meinen Knien. Ich würde jetzt gerne Philipp anrufen oder Anne, ich meine Anna. Oder Christian. Am liebsten Philipp. Nicht Alex. Aber es ist zu spät in der Nacht dazu.

Ich schlage die Terrestrische Navigation auf:

„Schon in der Bibel“, lese ich, „werden Grundlage und Ausgangspunkt der terrestrischen Navigation präzise dargelegt: ‚Er spannt über dem Leeren den Norden, hängt die Erde auf am Nichts.‘ Hiob 26:7.“

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Terrestrische Navigation 3

Moment! Kennen Sie schon Teil 1 und Teil 2?
Hier folgt der nächste Teil dieser Geschichte.

Am nächsten Tag läutete ich an. An ihrem Türöffner unten auf der Straße meine ich, ich weiß nicht warum, aber es erschien mir unstatthaft, an ihrer Wohnungstür zu läuten. Die Terrestrische Navigation hatte ich bei mir. Trotz der unvermeidlichen Verzerrung durch die Sprechanlage, es gibt da anscheinend keinerlei technischen Fortschritt, erkannte ich sofort ihr langgezogenes „Jaaaa?“ und das verschlug mir kurz die Rede. Ich brachte nur ein ungeschicktes „Ja, Frau Apfel, hier ist der Jonas!“ hervor. Dann kam lange nichts. „Der Jonas?“, quäkte es blechern, Pause, dann schepperte Frau Apfel: „Ja, der Jonas? Der kleine Raumfahrer?“ „Habe Schiffbruch!“ kämpfte ich mit meiner Stimme. „Komm doch herauf!“, sagte Frau Apfel.

Es fällt mir schwer zu schildern, wie das für mich war, der Besuch bei Frau Apfel. Wieder roch es nach Kaffee und Zigaretten und wieder war alles vollgestellt mit Büchern und mit dicken, breitblättrigen Topfpflanzen, als ob sie die ganze alte Stadtbücherei einfach mitgenommen hätte. Nur dass sie selbst noch viel dünner war, fast durchsichtig wirkte und ein wenig gebeugt. Sie sei nicht direkt entlassen worden damals, sagte sie. Es sei die Rede gewesen von Zentralisierung und Kostensenkung und so, aber sie hätte kein Interesse gehabt, für Altersteilzeit quer durch die ganze Stadt und noch dazu zu unmöglichen Zeiten in die Arbeit zu fahren. Und überhaupt, sie habe sich das angesehen, das sei ja keine richtige Bücherei gewesen, mehr eine Bahnhofshalle voller Rechner! Dann wäre plötzlich die Miete gestiegen und die habe sie sich nicht mehr leisten können mit ihrer Frühpension. Jemand habe ihr dann diese Gemeindebauwohnung vermittelt, wofür sie sehr dankbar sei. Trotzdem habe ihr das alles schon sehr zu schaffen gemacht. Besonders als sie die Katzen abgeben musste, weil hier ja keine erlaubt seien, das täte ihr besonders leid.

Ich merkte, dass sie nicht wusste, welche Rolle Alex bei ihrer Delogierung gespielt hatte. Ich legte die Terrestrische Navigation auf den Tisch. Dass ich dieses Buch die ganzen Jahre zurückgeben wollte, aber nie dazu kam, sagte ich. Sie nahm die Terrestrische Navigation in die Hand und sagte: „Aber das gehört doch dir, das war doch längst makuliert, ich dachte, das ist das richtige Geschenk für dich! Vielleicht hätte ich die Signatur runternehmen sollen?“ Dann kicherte sie: „Wie schön, dass du das noch hast!“ Darauf beugte sie sich über den Küchentisch und flüsterte, eine der Katzen habe sie heimlich mitgenommen, die Feli, die kleine Stinkerin, das müsse aber unter uns bleiben. „Strikter Geheimhaltungscode, verstehst du, Captain Jonas?“ Ich sah mich um, konnte aber keine Katze sehen. Nur Säcke mit Streu und eine Menge Schachteln Katzenfutter sah ich im Flur stehen und darauf lag ein Haufen Schnittblumen. Sonst käme sie sehr gut zurecht, sagte Frau Apfel auf dem Weg zur Tür, sie könne nicht klagen.

Ob sie irgendetwas brauche, fragte ich, ich könne ja gerne für sie einkaufen gehen in der Pandemie. Dann hat sie mich wieder angesehen mit ihren klugen Augen und gesagt: Milch, Milch für die Katze könne sie brauchen, ob ich denn morgen einkaufen gehe? Dann sagte sie etwas Seltsames. Sie sah mir noch genauer in die Augen und es fühlte sich an, als streichelte sie mich mit ihrer Stimme über den Kopf: „Du bist ein Guter!“, sagte sie. Aber bis heute bin ich mir nicht sicher, ob da nicht ein Fragezeichen dabei war. Beim Hinuntergehen in meine Wohnung fiel mir auf: Sie sprach mich immer noch mit „du“ an. Ich war froh darüber. Ich habe ihr dann die Milch vor die Tür gestellt, weil sie auf mein Klingeln nicht öffnete. Dabei hatte ich mir vorgenommen, sie diesmal zu fragen, wie sie das gemacht hatte mit dem Tippex.

Ab und zu öffnete sie dann doch. Wegen des Virus bat sie mich aber, es bei Gesprächen am Gang zu belassen, wo sie einen Aschenbecher am Fensterbrett stehen hatte, den niemand anderes benutzte, obwohl fast alle Parteien rauchen in unserem Gemeindebau. Durch meinen Ex-Beruf merke ich das sofort, ob jemand raucht im Haus. Mittlerweile hatte ich aber auch wieder begonnen mit dem Rauchen.
Neben den Aschenbecher stellte ich ihr eine breitblättrige Topfpflanze aus der Blumenhandlung gegenüber, das freute sie sehr. Es wurden zahlreiche Topfpflanzen und immer stand bei dieser Gelegenheit ihre italienische Kaffeekanne auf dem Fensterbrett und klemmte eine Blaise-Pascal-Ausgabe aus den 80ern zwischen den Fensterflügeln, um den Rauch rauszulassen. Diese Gespräche taten mir gut und ich merkte, wie es mir von Tag zu Tag besser ging. Sogar mit dem Trinken hörte ich fast auf.

Nach der Katze erkundigte ich mich nie und auch nicht nach dem Tippex. Bei einem dieser Gespräche hörte ich ein Geräusch in ihrer Wohnung: Jemand seufzte schwer. Ich fragte sie aber nicht danach, wer das sei, da ich nicht den Eindruck hatte, dass sie das wollte. Ich fragte mich dann aber, ob Frau Apfel mich wirklich wegen des Virus nicht mehr in ihre Wohnung einlud. Ich hätte mir das schon sehr stark gewünscht.

Auf ins Finale zu Teil 4!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Terrestrische Navigation 2

Halt! Haben Sie Teil 1 schon gelesen? Dies ist die Fortsetzung.

Wenn die Erwachsenen Beratung suchten, gingen sie zu Frau Apfel. Wenn nur ihre Kolleginnen da waren, fragten sie erst gar nicht. Auch wenn die Erwachsenen Beratung suchten, die nichts mit Büchern zu tun hatte, gingen sie zu Frau Apfel und redeten anfangs von Büchern, dann erst von ihren Problemen. Wir waren dann die Einzigen, die ihren Namen kannten. Wir gingen nämlich, wenn wir nicht weiterwussten, auch zu ihr, meistens handelte es sich um Schulaufgaben, bei mir waren es die in Latein. Es schimmerte grün, es roch nach Kaffee und Zigaretten, und eigentlich gab es keine Probleme. Wenn doch, dann delegierte Frau Apfel diese Probleme entweder an ihre Kolleginnen, oder, und das war ganz selten, wir durften sie in ihrer Wohnung besuchen, gegenüber der Stadtbücherei. Neben ihrer Tür hatte sie ein hellgrünes Schild in Apfelform. Darauf stand in feinen Linien Frau Apfel. Jeder von uns, der es sah, merkte sich ihren Namen.

Dort war es auch grün und roch nach Kaffee und Zigaretten. Und dort lösten sich dann selbst die schlimmsten Probleme in Rauch auf.

Von einem Tag zum anderen beschloss ich, Bücher aus der Erwachsenenabteilung auszuborgen. Da ging Frau Apfel mit mir und beriet mich, und es gab einen schrecklichen Streit mit ihren Kolleginnen über Forests Barbarella, von der ich die Herausgabe sämtlicher Bände forderte. Frau Apfel war dafür, ihre Kolleginnen dagegen. Diese Sumpfhühner! Trotzdem habe ich dann in Barbarella nur geblättert und nicht wirklich gelesen. Es waren keine Tippex-Stellen darin. Genau wie bei der Terrestrischen Navigation zum Beispiel, die jetzt vor mir liegt. Aber das ist ein schlechtes Beispiel, weil bei der Terrestrischen Navigation trennten sich meine Eltern. Wie sehr hätte ich Frau Apfel da gebraucht.

Weil ich zu meiner Mutter zog, konnte ich das Buch nicht zurückgeben und verlor außerdem meine Fünf Freunde. Meine Mutter und ich wohnten viel zu weit weg, als dass ich mich alleine zu Frau Apfel zu fahren getraut hätte. Und als ich so weit war, die Strecke zu bewältigen, schränkten sie die Öffnungszeiten ein, wegen des Sparpakets, wie mir meine Mutter erklärte. Und sie fand das auch ganz in Ordnung so, weil es denen ohnehin immer zu gut gegangen wäre. Ich solle doch das verdammte Buch behalten, erklärte sie mir, das geschehe denen nur ganz recht. So hätte sie früher nie geredet.

Ich wurde Speditionslogistiker. Erst viel später habe ich an der Abendschule maturiert. Mein Vater schickte mir aus diesem Anlass ein Stück Berliner Mauer. Er wäre damals dabei gewesen, las ich auf dem Stück Papier, in das er das Mauerstück eingewickelt hatte. In seinem Scheidungsjahr wäre er dort hingefahren, las ich, und es hätte sich historisch angefühlt, dieses Stück aus der Mauer zu schlagen. Mit diesen Schlägen hätte er auch sich selbst renoviert. Seitdem habe er beruflich Glück gehabt und könne mich in meinem Studium unterstützen, vorausgesetzt es sei BWL.

Statt Geographie studierte ich also BWL, ohne viel Freude, aber auch mir war klar: Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Ich wollte aber ein Haus und ich baute auch eins. Doch das hat auch keine Freude gemacht. Als unser erstes Kind auszog, kam es kurz darauf zu diesem Prozess und ließ sich meine Frau von mir scheiden. Als ich auszog, stieß ich beim Füllen der Schachteln wieder auf dieses Buch: Terrestrische Navigation. Übungen und Aufgaben. Von Axel Bark. Aber aufgeschlagen habe ich es nicht. Damals hätte ich auch ihre Widmung gar nicht verstanden: „… denn auch die Erde ist ein ferner Planet.“ Aber erst Monate später kam ich auf die Idee, die Terrestrische Navigation zurückzugeben.

Ich erinnere mich an meine damalige Begründung dafür: „Dieses Buch passt nicht zu meinen sonstigen Büchern.“ Ich muss außerdem daran gedacht haben, dass die Leihgebühren mittlerweile astronomisch seien, aber das hat mich nach den ganzen Prozesskosten wahrscheinlich auch nicht mehr gestört, das heißt, das kann für mich keinerlei Wirklichkeitswert mehr gehabt haben. Ich versäumte auch, wenigstens nach den Öffnungszeiten meiner etwas abseitigen Kindheitsfiliale der Wiener Stadtbüchereien zu sehen. Ich ging einfach mit der Terrestrischen Navigation hin. Dann stand ich vor dem Leerstand. Ich begriff, dass es meine Firma gewesen war, die im Auftrag einer Fitness-Studio-Kette diesen Leerstand bewirkt hatte. Der Plan war gewesen, dieses Studio über alle Etagen des Hauses zu ziehen. Ein fünfstöckiges Fitness-Studio-Haus.
Die Leihbücherei im Erdgeschoß störte diesen Plan natürlich erheblich. Ich war damals derjenige, der wusste, mit wem er zu reden hatte, um dieses Haus aus dem städtischen Besitz zu lösen, um damit nicht nur das Haus, sondern gleichzeitig auch das Erdgeschoß freizubekommen.

Gerade das freigewordene Erdgeschoß brachte mir damals die dringend benötigte Aufstockung und einen ansehnlichen Bonus ein. Nur dass mir das alles erst wieder einfiel, als ich vor diesem Leerstand stand. Das muss 2008 gewesen sein, ein wildes Jahr, wo wir die Aufputscher wie Soletti fraßen und auch ein Jahr, das erklärt, warum mit dem Fitness-Studio dann doch nichts weiterging. So etwas in der Art dachte ich mir auch damals, als ich vor dem Leerstand stand, und dann ging ich etwas trinken. Ab da wurde das immer häufiger, das mit dem Trinkengehen.

Beruflich machte ich keine besonderen Fortschritte mehr. Bei den obligaten Lokalbesuchen nach einem Geschäftsabschluss nahm mich Alex immer häufiger zur Seite und meinte, ich solle wenigstens bei den Geschäftsgesprächen nicht so oft soziale Bedenken äußern wie in letzter Zeit; das schade nicht nur dem generellen Ablauf, sondern auch mir. Alex kenne ich seit meiner Zeit in der Stadtbücherei. Er war sozusagen der Chef unserer Fünf Freunde, unserer Bücher-Bande, und hat mir nach meinem Studium den Weg in seine Firma geebnet. In den ersten Jahren waren wir oft Skifahren und auf Festivals. Einmal sogar auf Roskilde. Auf dem Roskilde-Festival hat er bei unserem gemeinsamen LSD-Trip auf mich aufgepasst wie ein großer Bruder. Schon immer fühlte er sich für mich verantwortlich, ganz wie bei unserer Bücher-Bande, wo er sich auch immer für alle zuständig fühlte. Weil er merkte, dass mit mir nichts mehr so recht ging, versuchte er mir den Kopf zurechtzurücken. Das machte er immer vor dem Pissoir. Einmal sagte er sogar, meine Einwürfe wirkten verschroben und unpassend.

Dann bekam ich mit, dass er Frau Apfel delogieren ließ und sich ihre Wohnung unter den Nagel riss. Ihre Friedenszins-Wohnung im Alsergrund bildete nun seine stattliche Altersvorsorge. Bei einem unserer Pissoirgespräche machte ich ihm deshalb Vorwürfe. Er lachte mich aus, fragte, wer denn diese Frau Apfel sei, und bezeichnete mich als Sozialromantiker. Laut Protokoll habe ich ihn daraufhin offenbar am Hinterkopf gefasst und mit der Stirn so heftig gegen die Pissoirwand geschlagen, dass er bewusstlos zu Boden sank. Es kam zu diesem Prozess, der mich Haus und Ehe und schließlich den Job kostete, und wir gingen uns seitdem aus dem Weg.

Ich muss an dieser Stelle ein gutes Wort für Alex einlegen. Es war mir vor, während und nach unserem Prozess immer klar, dass er es gut mit mir meinte. Es ging mir dabei immer nur um Frau Apfel und das hat er damals eben nicht verstanden. Das hat mich wahnsinnig aufgeregt. Ich weiß auch, dass er recht hatte damit, dass ich immer unpassender wurde. Im Immobiliengewerbe bist du ein T-Rex. Aber ich wollte ein T-Rex sein, der zum Vegetarismus aufruft. Verschroben und unpassend, da hat sich der Alex sogar noch schonend ausgedrückt. Er wollte mir helfen. Aber er konnte schließlich auch nicht verhindern, dass ich gekündigt wurde. Meine Kündigung hatte nichts mit Alex und auch nichts mit der Pandemie zu tun, wie das meine Mutter je nachdem behauptet. Das hatte nur mit mir zu tun. Da mache ich mir nichts vor.

Im Zuge der Pandemie machte die Stadt den Zugang zu ihren Klein- und Kleinstwohnungen in ihren Sozialbauten frei und so viel Kraft und Geld hatte ich noch, eine davon zu beziehen, auch wenn ich sie bis jetzt nicht eingerichtet habe. Als ich Monate später mein Namensschild bei der Haustür einschob, fiel es mir auf: Frau Apfel. Mit der höchsten Türnummer. Zwei Stockwerke über meiner Wohnung. Wäre auf der Türöffnerleiste nichts weiter gestanden als Apfel, hätte ich mir nichts dabei gedacht, aber Frau Apfel – noch dazu in dieser Schrift, mit der immer ein wenig zu blassen Tinte? Unmöglich, dass das jemand anders sein konnte.

Weitere Entdeckungen warten in Teil 3.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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