Archiv der Kategorie: Bernd Remsing

Fahrradlieder 1 – Expressionistische Überlandfahrt

Rrrr, rrr, tk, tk, tk pfeifst du, tönst du, singst du mir,
wenn der Wind dir, sirr, durch die Speichen fährt,
singst du windgenährt
Mein musikdurchdrungenes Alurennrad.
Dein frisch gehäutetes Kirschrot leuchtet und glänzt schelmisch (matt) bei Tag
und glüht in der Nacht, ich weiß es, wenn du träumst von der Jagd durch die Stadt,
vom Sprung über die Schwelle vom schräggebissenen Straßenbahngleis.

Dann werden wir überlandfahren,
wenn das Land vom Winter befreit.
Wie Windräder im Sturm
deine Laufräder schwirren,
sphärische Klänge erzeugend.
Die rasende Wut in den Naben gefangen
macht dich rotieren.
Dein Kopf vibrierend gesenkt,
blitzende Kreise in den gespannten Rädern,
gegenläufige Räder aus Licht.

Ja, lass uns überlandfahren!
Die autogeschundenen Städte werden wir meiden
– solang‘s dich nicht nach andren Rädern sehnt, nach Kettenöl oder einem neuschneefrischen Lenkerband, das kühlend und fest um deine stolzen Hörner ich wickle.

Mein mir gefundenes, musikdurchdrungenes Alurennrad.
Einst hab ich dich getragen aus dunklen Kellergewölben, nun trägst du mich ans Licht.
Lass uns nach Holland fahren, wo alle Räder frei!
Und dort an den Grachten
werden wir
die silberbespiegelten Wasser betrachten.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15138

Politpersonal

Der Präsident
Da hat man ihn behangen
Mit Titeln, Ehren und mit Orden
Und ist dann doch aus ihm
Nur ein verzog‘nes Kind geworden

Der Bundeskanzler
Es hat sich in die Nische
Die ihr der Markt noch lässt
Die Faust der Sozialisten
Fest hineingepresst

Der Wirtschaftsminister
Ein Putzerfisch im großen Teich
Putzt den kapitalen Wal
Und verkündet stolzesbleich
Dies ist mein Freund
Mit ihm teil ich das Reich

Der Rattenfänger
Ist er die Antwort
Wie er beteuert
Dann ist die Frage
ziemlich bescheuert

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16002

 

Das Rote Meer

An jenem Samstagnachmittag
Oder war‘s Abend, es leuchtete sehr
Die Sonne auf unsren Uferplatz
Da stießt du mich mit einem Satz
Direkt ins Rote Meer
Und das gibt, wen es hat, nicht mehr her

Da wäre noch ein anderer
Und du dächtest nicht, dich zu teilen
Das war dein Satz und dann stand‘st du da
Und begannst dich sehr zu beeilen

Auch ich hatt‘ es plötzlich eilig
Denn mein Spiel, dass ich jener andre sei
Das war mir ja immer noch heilig
Und darum wollt‘ ich vor dir nicht weinen
Und so ganz nebenbei
Fürchtete ich, dass mit den Beinen
Etwas nicht in Ordnung sei

Doch, sie folgten die Beine
Waren es die, die ich kannte?
Ich rannte bis zum nächsten Licht
Doch egal, wie lang ich rannte
Meine Beine schmerzten mich nicht

Und lief und rannte bis heute
Etwas gefühlt hab ich seither nie
Ich grüßte und verabschiedete Leute
Dann und wann gab es auch eine Sie
Traurig war‘s, als Großmutter starb
Und schlimm steht‘s um die Welt
Doch ist seither bei mir irgendetwas abgestellt

Es fehlt die Selbstverständlichkeit zu leben
Die Gedankenlosigkeit
Die räumliche Verlässlichkeit
Zwar lebe ich, doch ist bei mir – alles etwas daneben
Wie ohne Brille in einem Film in 3D
Das ist nicht so schlimm
Es tut einfach nichts weh

So ist das mit dem Roten Meer
Das gibt, wen es hat, nicht mehr her.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 15135

Wiener Hafen

Legst du dich
Mit dem Bauch nach unten
Flach auf die Stadt
Sind die schräggestellten Dächer
Rote Wellenberge
Und im Winter bricht
Ihr Kamm als weißer Rauch
Ist doch die Dächersee zu dieser Zeit
Besonders stürmisch

Doch frag mich nicht, was unter den Wellen
Oder dazwischen
Da tun sich Abgründe auf
Und du wärst nicht der Erste
Dem das Herz so schwer wird vom Gesehenen
Dass es ihn abwärts zieht
Wie einen gekappten Anker

Frag lieber, wo der Wiener Hafen liegt
Denn der ist nicht leicht zu finden
Dort warten nur Schiffe auf Passagiere wie dich
Du weißt schon, solche, welche die ferneren Ziele hatten
Und noch immer nicht in Anspruch nahmen
Ihre Plätze
Im Ober- , Unter- und Zwischendeck

Zahlst du mir meins, rat ich dir eins!

Du musst erstens auf den Höhepunkt
Der niedrigsten Erniedrigung der Stadt steigen
Sagen wir auf irgendeinen Flakturm
Oder den Milleniumstower

Dann muss zweitens die Sonne ganz flach stehen
Und die Dächer anstrahlen, dass sie aussehen wie
Rote Wellenberge
Also am Abend oder besser am Morgen
Nach einer durchzechten Nacht
Denn es hilft, betrunken zu sein
Dann wirst du dich umsehen und erkennen
Du bist schon auf einem Schiff
Das gerade einfährt
In den Wiener Hafen

Und wenn du dann drittens Kurs hältst
Die Augen streng nach Süden
(Es hilft dabei, in Richtung Bug zu geh’n
Und wie erwähnt, nicht nach unten zu seh‘n)
Wird der Hafen vor dir liegen.

Und dann?
Ja, wenn du dann gelandet bist, suchst du dein Schiff.
Ob man dir ohne Karte den Zutritt verwehrt?
Aber nein!
Von allen, denen ich bisher auf die Sprünge half
Hat sich keiner je beschwert.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15134

Fluten

I)
Auf den strudelbraunen Massen
schaukeln Dächer, schaukeln gräber-
füllend Särge und Gesichter
werden sichtbar:
Längsverzerrte, blindgespiegelt,
steh‘n sie da im zielerstrebend,
selbstbewegten Räubernass.

Doch der Abbilder Besitzer
achten nicht der Wasserzeichnung,
sondern richten ihre Blicke
auf den sie verlassend Fluchtpunkt
ihres einst´gen Hab und Guts.

Eternitbewehrter Giebel,
der einst treu geschützt ihr Haupt,
kreiselt nun vertraulich spielend
mit dem haltlos Element.
Fleischbewahrend Tiefkühlschränke
tümpeln träge auf und nieder,
um das rote Ziegelschiff.
Tümpeln ab und wieder auf –
Bausteinhauses Daches Wiegen
wird noch lustig imitiert
von gleichroten, von gleichspitzen
Gartenzwerge-Zipfelmützen.

Und die Blicke werden trüber,
denn mit des Verlusts Entfernung,
steigt durch böser Trauer Gärung
die Träne unverdient gestrafter Bürger.

Vollgesogen bis zum Rand
mit verborg‘ner Flüssigkeit,
aufzunehmen, aufzusaugen
angeboren und gebaut,
bieten diesem neuen Drang
die Augen keinen Halt.
Getrieben von dem inn´ren Druck,
steigt so auf weißem Apfelgrund
ungeahntes Tränennass
bis zum rosa Liderbund.

Und fällt
(von der Höhe in die Tiefe),
fällt als Nachschub großer Massen
auf der Trauergäste Boden.
Vollgesogen bis zum Rand
eben grad Gewähr noch bietend
einem wankend Bürgerstand.
Satt bis an die Grashalmspitzen
kann der Grund den Trauerregen
nicht mehr halten,
der verblieb‘ne Trockeninsel
jetzt zum Überlaufen bringt.

Von der Tiefe in die Höhe
bricht´s heraus und strömt es über,
über festversproch‘ne Gründe,
über kleinkarierte Zäune,
über neuerworb‘ne Wägen,
über Straße, die zur Firma,
die, versunken, nichts mehr führt,
nicht mehr führt.

So gemehrt in ihrer sturen
bodenwendend Wasserkraft,
dreht die Flut die Gräber um –
frischentleerte Särge bringend,
seinen neuen, seinen stummen,
sehr betrübten Trauergästen.

II)
Auf den braunen Wassermassen
schaukeln Dächer, schaukeln Zwerge,
schaukeln nunmehr zwecklos volle,
magenlose Tiefkühlschränke.
Und ertrunkene Gesichter
werden sichtbar, werden weiter:
In ihrer Augen staunend Ringe
tauchen Bilder lang vertraute,
längst verdaute wieder auf:
Bauch nach oben,
neunzig Zoll unter Wasser,
langsam treibend,
wird des Wassers
Oberfläche unten spiegelnd,
wird zum flüssig-starren Schirm
tief bewegter Projektionen.

Und sein Ton macht
stumm-betroffen,
dumm-besoffen,
formt erst Glucksen,
formt dann Murmeln,
wird schon hörbar
ist jetzt Wörter
ist lange längst Beschwörungsformel.
Denn Notprogramm,
sorgsam verwahrt in der Keller gruftig Kühle,
wird aufgetaut und angerührt.
wird von Neuem aufgeführt.

Wird aufgeführt zum Jubiläum
vernichtender Naturgewalten,
die planlos blind und ganz verrucht
das rein und schuldlos Volk der Alpen
wieder einmal heimgesucht:

Aufbaurede wird geschwungen
als die weithin sichtbar Fahne
selbstvergess‘ner Einigung
geschwenkt von Vätern, Töchtern, Söhnen.
Hatten zwar die Kinder viele –
diese Farbe kennen alle:
Es strömen Alt und Jung herbei
den unversichert Obdachlosen,
durch Hilf und Helf zur Seit‘ zu steh‘n,
regen rührend ihre Glieder,
spenden ihre Taschengelder,
für sie ist Hilfswerk Ehrensache.
Und getragen und ergriffen
von der Hilfsbereitschaft Welle
scheut sich keiner mehr zu singen
das Lied notwendiger Selbst-Beschränkung,
der aufgehob‘nen Gegensätze,
der aufgeschob‘nen Steuersätze,
der Arbeitslosen Einsatzkräfte.

Sie werden alles neu errichten.
Fertighausreih‘n soll´n entsteh’n,
Plastik-Hausgott-Plastiken
werden feist den Zaun beseh‘n.

Die Straße wird zur Firma führen
und bald fahr´n wieder neue Wägen
durch aller braven Glieder Rühren
auf Extra-Reifen gegen Regen.

Es stranden wohlig grunzend Leiber
aufgeschwemmt im trocknen Brei
und wieder nach der großen Flut
ist Österreich von Neuem frei.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15132

 

Geschenktes Huhn

Ja, das hab ich mit Dörrobst und Birnen gemacht. Erst eine Menge Zwiebel, dann eine Lage Kartoffelscheiben, dann das Dörrobst, mit Birne gespicktes Huhn drauf, ein paar Kräuter und Wein drüber. Ab ins Rohr – aber schon fast eine Stunde.
Das ist übrigens ein glückliches Bio-Bergland-Huhn aus Oberthalham bei Gmunden. Da stand sogar die Seehöhe drauf auf dem Etikett. Über 500 Meter liegt das! Hab ich sozusagen vom Leo bekommen. Der wollte das nicht. Wieso nicht? Na, das hängt mit der Claire zusammen. Der hatte das Huhn nämlich von der Claire. Das war gestern, also das ist schon noch halbwegs frisch, das Huhn.

Claire, ja, die Claire, die hat er jetzt gerade wieder getroffen. Kannst du mal das Bier aus dem Eisfach tun? Ist das jetzt wirklich so interessant, dass sich die mal wieder getroffen haben, die Claire und der Leo? Ja, im Kaffeehaus. Claire… ja, die Claire, welches Kaffeehaus? Irgendein Kaffeehaus eben. Na, das Weidinger, wo der Leo immer hingeht. Das ist doch nicht wichtig, welches Kaffeehaus. – Nein, wichtiger ist doch: Die beiden haben sich ja schon zwei Jahre nicht gesehen! Warum nicht? Weil der Leo mit seinen Eroberungsversuchen bei ihr gescheitert ist – aber gründlich! Kennt ihr doch eh alle, die Geschichte. Zwei Jahre hat er alles versucht und dann großes Jammertal.
Das wisst ihr doch, was soll ich da noch groß erzählen. Was meinst du? Ob er damals wenigstens irgendwas erreicht hat? Einen einzigen Kuss, wenn du’s wissen willst, einen Kuss hat sie ihm gegeben. Einen einzigen Kuss! Den dafür unter einer echten Straßenlaterne, romantischerweise. Da war er dann tagelang ziemlich gut drauf, wegen dem einen Kuss, weiß ich noch genau, ja wisst ihr doch noch alle, hat er ja allen oft genug erzählt, und es war ja auch auffällig, wie der auf einmal strahlt wie ein Solarium.

Abgenommen hat er auch! Ihr wisst aber nicht, was dann passiert ist, das hat er nämlich nur mir erzählt! Beim nächsten Treffen nämlich, da hat die Claire nicht mal eine Berührung zugelassen – da hat er’s dann endgültig aufgegeben, der Leo. Das war zuviel. „Das hört ja nie auf“, wird er gedacht haben, „saublödes Fangenspiel, idiotisches“, solche Sachen eben, denk ich mir mal, was man sich eben so denkt. Völlige Funkstille war sein neues Motto. War auch vernünftig so. Ist ja das Beste so.
Gelitten hat er halt, ist ja normal! Ja was wollt ihr dann jetzt eigentlich noch wissen? Das mit dem Kaffeehaus? Mensch, seid ihr nervig! Okay okay, wenn’s unbedingt sein muss. Also, ich geb zu, dass er mir in den zwei Jahren, nachdem sie ihn sitzen gelassen hat, richtig Sorgen gemacht hat, und da hab ich manchmal mit der Claire geredet. Ja, stimmt, sein Kühlschrank war auch immer leer. Was? Ja, ist wahrscheinlich immer noch leer! Eher tragisch!

Was ist denn jetzt mit dem Bier? Wieso unterm Sofa? Na, egal. Wieso ist meins schon offen? Ich wollt extra ein geschlossenes wegen meiner Schwellung im Gesicht. Ich kann das ja nicht kühlen mit einer offenen Dose! Na egal. Ja ja, ich red ja schon. Vorgestern also hat ihm die Claire sozusagen „verziehen“. Die hat ihn einfach angerufen. Das muss man sich vorstellen: nach zwei Jahren! Und macht sich einfach ein Treffen aus mit ihm. Das war am Freitag, weil getroffen haben sie sich am Tag drauf, also gestern, weil heut ist Sonntag.
Genau. Also sie kommt jetzt vom rituellen Familien-Samstag mit Kartenspiel – richtige Familie, nicht so welche wie unsere, da gibt‘s noch so richtig fixe Rituale und so! Der Leo kriecht derweil aus seiner verdunkelten Wohnung raus, Richtung Kaffeehaus. Claire hat aber an dem Tag nach dem Kartenspielen von ihrer Mutter („Du siehst ja ganz blass um die Nase aus!“) das Oberthalhamer Bio-Bergland-Huhn geschenkt bekommen und dazu den Auftrag, es sich zu Hause ins Rohr zu stellen.
Na, am Schluss hab‘s ja dann ich bekommen. Mensch, wir essen das ja gerade, hab ich doch gesagt. Ihr hört eben nicht zu, das ist es. Außerdem, die Claire weiß nicht mal, wie man Tiefkühlpizza zubereitet, geschweige denn ein Bio-Huhn. Ich weiß noch, wie sie einmal so eine Pizza aufs Fensterbrett in die Sonne gelegt hat, voll überzeugt, die durch die Fensterscheiben gebrochenen Sonnenstrahlen reichen durch „prismatische Wirkung“ aus, für eine fertige Fertigpizza. Hat sie dann gegessen die Pizza, aber mehr zum Beweis. Außerdem: Die Claire ist Vegetarierin. Aber nicht nur bloß wegen der armen Tiere – ihr habt ja keine Vorstellung! Sie ist echte Hard-Core-Vegetarierin, also schon mehr politische Veganerin, seit zehn Jahren! Ja, und das hängt mit einem, mit einem … Erlebnis zusammen! Kann ich mir eine von deinem Tabak dreh‘n? Danke!

Damals, vor zehn Jahren, hat die Claire Gesang am Reinhardtseminar studiert und war schon, wie’s immer so heißt, eine „große Hoffnung“ beim Arnold-Schönberg-Chor. Tja, da schaut ihr. Die Claire nämlich. Alle Chancen auf eine große Karriere hatte die, und die wollte auch so richtig ganz nach oben, und die Eltern natürlich auch wahnsinnig stolz. Ihr eigentliches Debüt war die Matthäus-Passion vom Bach. Ihr wisst eh, was ein Debüt ist? Russisches Roulett mit Noten, das ist ein Debüt, so muss man sich das vorstellen.
Danach hatte sie dann das Erlebnis. In der Passion hat sie alle Sopran-Arien gesungen. Blute nur, du liebes Herz zum Beispiel hat sie da gesungen und Buß und Reu hat sie … Was? Alt-Arie – okay, Buß und Reu hat sie dann wahrscheinlich nicht gesungen. Jetzt weiß ich nicht mehr… hast du mein Bier? Ah, da ist es! Danach jedenfalls, nach der Matthäus-Passion, geht sie mit ihren Freundinnen essen. Nichts Besonderes, sie gehen zum McDonalds und freuen sich auf die probenfreie Zeit, da sieht die Claire, wie jemand intensiv den Mistkübel in der Ecke, direkt gegenüber ihrem Tisch, durchwühlt, bis er was Essbares findet, die angebissenen Burger und alte McNuggets und Chef-Salat-Reste, so was eben. Das verdrückt der alles, und dann noch sorgfältig den Inhalt von einigen weggeworfenen Getränkebechern zusammengeleert und nachgespült. Basta!

Also die Claire hat da genau zugesehen und ist jetzt auf einmal weiß wie die Wand, schaut sich um und stellt fest, dass alle an ihrem Tisch, alle ihre Freundinnen vom Chor nicht mal auch nur was bemerkt haben wollen. Spielen alle plötzlich mit dem Handy oder studieren die Nährwertlisten von den Burgern, die der Mäckie immer aufs Tablett drauflegt. Sie aber jetzt regt sich voll auf: ob sie denn alle keine Augen im Kopf haben, die nackte Not direkt vor ihrem Junk-Food-Fressi-Fressi-Fraß und immer fein wegschau‘n, ob sie sich nicht mal schämen würden, ob sie denn alle komplett vertiert und verroht wären in ihrer noblen Arnold-Schönberg-Käseglocke und so weiter.
Aber da merkt die Claire, wie ihre Freundinnen sie nur offen besorgt anschauen: Ihre ganze Aufregung, die ist daneben – aber total. Stille im Saloon. Ihre beste Chorkollegin, auch Sopran wahrscheinlich, sagt dann was von, sie versteht das schon, wirklich, war ein harter Abend und die Arie war wirklich schwer, sie hätte ja angeboten, Blute nur statt der Claire zu singen, weil der geht’s grad eh nicht so gut, schon länger nicht und die arme Claire ist ja die ganze Zeit nicht so ganz fit gewesen, aber es ist ja klar, das ist ja völlig normal, nach so einer Anstrengung und so elendes Profigequatsche eben. Das gibt der Claire dann den Rest – sie steht auf und geht.

Die Woche drauf ist die Claire aus dem Chor und dem Seminar ausgetreten, hat sich gezwungen, starke Zigaretten zu rauchen, um sich sozusagen den Rückweg abzuschneiden, hat den Jean Ziegler gelesen und die Grenzen des Wachstums vom Club of Rome, das ist so ein Umweltbericht, den hat sie regelrecht auswendig gelernt. Den musste ich dann auch lesen. Hat sich überhaupt nur noch mit Fragen der Welternährung beschäftigt. Dann wurde es ganz arg: Sie ist von dem Döblinger Haus ihrer Eltern ausgezogen, in dem sie oben eine riesen Wohnung praktisch für sich gehabt hat. Die Eltern waren ja erst ganz froh, weil die haben das dann vermieten können. Die hatten ja alles in Aktien und 2008 hat sie’s voll erwischt. Sogar ihren Buchladen gibt‘s nicht mehr. Die Claire wohnt jetzt in einer überbezahlten Substandardwohnung an der Stadtperipherie zwischen Müllverbrennungsanlage und Autobahn. Die Einrichtung ist … na ja, die hab ich gesehen, darum weiß ich das. Und zwar besteht die aus einer Matratze und einem Metallregal. Sonst nix, nada, niente!

Ja, jetzt ist die Claire so Ende zwanzig und arbeitet nachts in einer Schlafstelle für obdachlose Jugendliche, am Tag telefoniert sie meistens für ein Marketinginstitut – weil solche Sozialjobs, die bringen ja nichts. Manchmal schiebt sie noch irgendwas in einem Krankenhaus ein – nur das Allerschlimmste natürlich, was sie dort finden kann. Keine Ahnung, Kotzkübelauswaschen oder so was. Sie arbeitet jedenfalls so viel und so oft sie kann und immer mit lächerlicher Bezahlung – davon gibt‘s ja genug und sie konsumiert nur das Notwendigste, schläft selten und isst wie gesagt kein Fleisch – wegen der Welternährung eben.
Der Leo hat ja mal gemeint, das ist ihre Art sich umzubringen. Alles Fleisch und alles, was durch die Eltern in ihre Wohnung kommt, und alles Geld, das ihr übrig bleibt, verschenkt sie dann an irgendwelche Leute und Sozialeinrichtungen. Eine echte neue Heilige: Santa Claire, bitte für uns! Nein, und der einzige Luxus, den sie sich gönnt, das ist: in einen Tschechischkurs gehen und klassische Gitarre lernen – wie sie da die Zeit und die Energie dafür findet, ist mir völlig schleierhaft. Aber dass da sowas wie eine Beziehung nicht viel Platz hat, ist klar. Da müsste sie schon mindestens auf den blöden Tschechischkurs verzichten.
Wo ist denn jetzt mein Bier schon wieder? Ah ja, was wollt ich eigentlich? Ja ja, die beiden haben sich wieder getroffen, wollt‘ ich eh grad erzähl‘n. Was soll das jetzt wieder heißen? Überhaupt nicht lenk ich ab, es ist nur wichtig, dass man die Claire versteht.

Also der Leo und die Claire. Genau. Es ist so weit. Und er sitzt schon da, mit seinem ewigen, gammeligen Sakko, ja, das schwarze, eh klar, und sonst auch wie immer ganz schwarz und alles schon so leicht schillernd. Hat, völlig unbelehrbar, der Leo, große Hoffnungen. Muss man sich auch vorstellen. Ich meine, nach den vier Jahren! Immer noch Hoffnung! Zwei Jahre, ja stimmt, nach den zwei Jahren. Egal, er ausnahmsweise zu früh, sie wie immer zu spät – das macht insgesamt eine ganze Stunde. Genug Zeit zum Vorbereiten. Der Leo plant nämlich Klartext. Er hasst ja diese Spielchen. Er will ihr sagen, dass er gelitten hat, wie ein Schwein gelitten hat. Ohne Geplänkel und ohne Kumpelhaftigkeit. Woher ich das weiß? Das hat er mir nachher gesagt. Wir haben ja telefoniert heute ziemlich lang. Das ist er sich schuldig, das mit dem Klartext, hat er gesagt. Und er wird ja auch gedacht haben, mit so einer richtig schonungslosen Offenheit bei ihr Eindruck zu machen. Ohne jede Kumpelhaftigkeit jedenfalls.

Dann kommt sie. Hat, eh klar, ihr tiefgekühltes Huhn dabei, das schon ein wenig durch die Plastikverpackung ins Billasackerl tropft, in dem sie es von Döbling nach Neubau getragen hat. Das heißt aber: Auf dem Boden vom Billasackerl hat sich mittlerweile ein blutiger See gebildet. Ja, hat er gesehen, nein, nicht gleich natürlich. Ist ja klar, muss so sein. Wenn man ein gefrorenes Huhn längere Zeit … Okay, ist ja auch völlig egal, mit oder ohne Blutsee, ist ja egal! Ist noch eine Dose da? Danke!
Die Claire also. Die hat ja daran gedacht, es ihrem Nachbarn zu schenken, das Huhn. Aber da hätte sie vorher nach Hause müssen, und dann hätte der Leo noch länger gewartet – alles sehr kompliziert also. Der Leo merkt natürlich nichts von ihren ganzen Problemen – hat nur Augen für die Claire. Er sieht aber auch sicher nicht, wie mager und blass sie ist, und nicht die extrem kaputten Sachen, die sie in der letzten Zeit immer anhat. Ich meine ihren uralten graugelben Columbo-Trenchcoat kombiniert mit Wollpulli knielang plus ungewaschene Ringelstrümpfe und dazu die ewigen Crocs. Furchtbar! Vom Donner gerührt, der Leo.

Und dann ist das ungefähr so gelaufen: Sie setzt sich hin und sucht sofort ein Platzerl für ihr Sackerl: „Soll ich’s einfach unter den Tisch stell‘n? Geht doch, oder?“ „Ja, einfach unter den Tisch … machen alle so.“ Pause. „Du Claire, ich finde, ich muss dir sagen …“, will der Leo jetzt anfangen, aber die Claire sofort: „Wie, das machen alle so? Das ist doch ein Huhn da drin, laufen doch nicht alle so herum, einfach so mit toten Tieren im Plastiksackerl, hoffe ich, oder?“ Der Leo lacht ein bisschen, hört aber damit gleich wieder auf. Pause. Claire: „Und selbst wenn – unterm Tisch! Kann man das? Das ist doch irgendwie respektlos, ich meine, dem Huhn gegenüber, auch wenn es schon ganz tot ist!“

Der Leo hat natürlich bis dahin gar nicht wissen können, dass da ein Huhn drinnen ist, und er versteht erst jetzt das Problem, aber irgendwie versteht er‘s trotzdem nicht so richtig und wird ein wenig konfus. Jedenfalls hat er gar nicht mehr richtig anfangen können mit seiner garantierten Schonungslosigkeit, wo ja die Claire dauernd einen Platz für ihr Huhn sucht, das passt einfach alles nicht.
Hab ich doch schon gesagt, dass ich mit Leo telefoniert hab, hat er mir ja alles ganz genau erzählt und die Claire auch. Meistens hat eh die Claire geredet. Weiß ich sogar ungefähr, was alles. Zum Beispiel, dass ihr grad wieder eingefallen ist, dass sie „das Tier“ ja dem Nachbarn schenken wollte und ob er ihren Nachbarn eigentlich kennt? Aber natürlich nicht, er war ja schon ewig nicht mehr bei ihr!
Dabei ist das ein richtiges Original, der Nachbar. Dem seine Hauptbeschäftigung besteht nämlich darin, einfach älter zu werden. Und dem Älterwerden gewinnt er mit Drogen und Fernsehen eine angenehme Seite ab. Irgendwie faszinierend, nicht? Das alles hat sie ihm beschrieben. Und der Leo hat da wahrscheinlich an seine verdunkelte Wohnung denken müssen und sich gefragt, ob das jetzt eine Anspielung war.
Ab da war er jedenfalls richtig konfus und nichts mehr mit seinem Offenlegungskonzept. Die Claire schiebt derweil das Billasackerl mit beiden Händen auf den Tisch. Der Kellner zieht vorüber. Ganz normal. Machen alle so. Manchmal, hat sie dann erzählt, wenn sie wieder „was zum Weitergeben“ hat, besucht sie diesen Nachbarn. Dann rauchen sie ganz gemütlich was, er spielt ihr alte Platten vor, Hendrix, The Who und Frank Zappa und so, und dann erklärt er ihr, worin der eigentliche Wert dieser Musiker besteht: Denen ihre Arbeiten nämlich hätten das Potenzial gehabt, die Menschheit zu verändern. „Die Menschheit“, sagt aber die Claire, „will sich nicht verändern, die Menschheit ist blöd wie Salami!“

Diesen letzten Satz dürfte sie aber ziemlich laut gesagt haben – da ist der Kellner nämlich gekommen mit der Bitte um Ruhe im Kaffeehaus – und da hat er das Huhn bemerkt und das Rinnsal, das da schon heruntergetropft ist. Eben, also doch Blutsee! Gutes Kaffeehaus und so, Blutsee am Tisch. Geht gar nicht! Und dann noch zwei so Gestalten, die die Menschheit beschimpfen. Das heißt, der Kellner hat die beiden eingeladen zu gehen, wie das mal ein Innenminister so schön zu unseren Asylwerbern gesagt hat.
Aber da hat er nicht mit der Claire gerechnet. Die ruft jetzt so was wie „Moment bitte!“ und steht dabei auf, sie brächte das Huhn ja nachher zur Obdachlosenhilfe, zur Gruft nämlich, und die dort in der Gruft würden sich alle schon sehr darauf freuen. Das sei auch nicht irgendein Huhn, sondern ein echtes Oberthalhamer Bio-Bergland-Huhn! Und auch die Ärmsten in diesem scheiß Fascho-Staat hätten mal das verdammte Recht, ein gutes Huhn ohne Antibiotika­­­­­­ zu essen, und sie selber hätte einen engen Zeitplan – der Herr Ober wolle das alles doch nicht verderben? ­

Da hat sich dann aber keiner mehr ausgekannt. Und mitten in das Schweigen hinein die Claire: Ob der Herr Ober vielleicht eine Schüssel hätte für das Huhn? Auch das ist nämlich die Claire, die kann plötzlich so ganz dings werden, sonst flüstert sie ja praktisch nur. Der Kellner, weil ein Herr Ober ist das ja gar nicht, ist dann auf einmal weggegangen und hat eine Schüssel gebracht. Da hinein hat er das Huhn gelegt und es in die Küche getragen. Hat noch gesagt, dass es später dort abzuholen wäre. Nicht zu fassen, oder?
Na servus, jetzt hab ich mein Bier umgehauen! Wo ist denn jetzt die Küchenrolle? Ah, genau – und ja vielleicht wischt wer noch den Tisch ab? Vielleicht auch ein wenig den Boden? Bringst du mir eine neue Dose mit? Ah, besser. Was ich mich schon frage, ist: Hat der Kellner vielleicht nach dem Auftritt von der Claire in den beiden nicht mehr zwei heruntergekommene Endzwanziger mit Bluthuhn gesehen, sondern was anderes? Also ich glaub ja, der Kellner kann von dem Gruftgerede gar nicht so beeindruckt gewesen sein. Der hat wahrscheinlich nur gedacht, die sind ja durchgeknallt und das tut er sich jetzt nicht an mit denen und wenn die eh gleich zur Gruft gehen …

Genau, dass sie jetzt unbedingt in die Gruft gehen müssten, hat die Claire jetzt zum Leo gesagt. Dass das das Beste wäre, was sie jetzt tun könnten mit dem Huhn, da hätte sie gleich dran denken müssen. Ob er denn sonst irgendwas vorgehabt hätte? Der Leo war aber jetzt schon ziemlich fertig und hat sie nur noch angestarrt. Er hat gemeint, er muss ausgesehen haben wie ein Mensch, der nicht weiß, ob er gleich aufspringen und davonrennen oder an Ort und Stelle kollabieren wird.
Ihm ist aufgefallen, dass er plötzlich alles wahnsinnig deutlich hat hören können. Die Claire hat die ganze Zeit mit den Füßen gescharrt und das hätte geklungen wie die Schleifarbeiten auf der Baustelle vor seiner Wohnung. Dabei hat er gewusst, dass sich die Claire sicher fragt, worauf er jetzt so lange wartet. Das Huhn hat er auch in der Küche tropfen gehört, ganz überdeutlich. Zumindest behauptet er fix, dass er sich in einem Kanal gesehen hat, wo das Kondenswasser von der Decke in ein Sammelbecken tropft.
Genau wie im Schluss von Der dritte Mann. Und gleichzeitig wäre ihm alles durch den Kopf gerast. So was wie: „Ein Geständnis, alles rauslassen – ist ja egal, wie sie reagiert – Hauptsache mir ist nachher besser – aber ist mir dann nachher besser? Wie lang ist mir dann nachher besser? Ganz kurz vielleicht und dann? Dann haut sie mich wieder aus ihrem Leben raus. Der Abgrund! Abyssus abyssum invocat! Ein Abgrund zieht den anderen nach! Wo steht das eigentlich? In der Bibel? Nein, echt Vulgata? Wird schon stimmen.

Was? Woher ich weiß, was der Leo alles gedacht hat? Okay, ich denk mir halt, was er gedacht haben hätte können. Na gut, ich hör ja schon auf. Aber ich bin grad so gut drinnen! Nur noch ein bisschen: „Nein, lieber strategisch angehen, irgendwas Witziges sagen. Über Hendrix zum Beispiel, da kennst du dich doch aus! Hendrix als Wagner des 20. Jahrhunderts!“ Das hat er sich nämlich sicher gedacht. Ist ja dem Leo seine alte Nummer. Soll ich die jetzt für euch bringen? Klar kann ich das.
Ich kann’s sogar noch problematisieren mit: die Rolle des Kultes in der modernen Musik. Hat er mir ja oft genug gepredigt, der Leo. Kann ich auswendig. Aber hallo: Findet ihr das wirklich so toll? Dem Leo sein Wagner-Hendrix-Vergleich ist doch überhaupt nicht witzig. Er ist nicht mal gescheit! Wir, weil wir seine Freunde sind, finden das alle immer ganz supergenial. Also der hat wirklich keine Chance mehr gehabt, der Leo.

Und jetzt die Claire: Die hat inzwischen aber den Eindruck, nein, „das deutliche Gefühl“, so würde die das formulieren: „… das deutliche Gefühl, dass der Leo nicht so recht bei Sinnen ist.“ Schon gar nicht, dass er sie begleiten will in die Gruft: Er scheint ja offensichtlich an etwas völlig anderes zu denken. Aber was sie jetzt getan hat, das kann ich mir einfach wirklich nicht erklären. Weil kurz entschlossen steht die auf, geht in die Küche, greift sich das Huhn, legt es zurück auf den Kaffeehaustisch und zieht die Plastikfolie von dem weich gewordenen aber immer noch kalten Fleisch und fragt so ganz vorsichtig: „Du isst doch Fleisch?“

Der Leo starrt sie nur noch an und nickt abwesend. Und dann hat sie, ausgerechnet jetzt in dem Moment, hat sie ihm das zwischen mir und ihr gesagt.

Dummerweise bin ich dann ins Weidinger gekommen, da war die Claire schon weg. Der Leo ist immer noch an dem Tisch gesessen und ich bin an der Tür stehen geblieben, weil er mich so arg angeschaut hat. Ich hab gedacht, besser ich geh wieder, aber grad wie ich mich umdreh‘n will, hör ich den Leo schreien: „Kannst du behalten!“ Ich hab nur noch gesehen, wie was Schweres, Rundliches, Weißes den Luster gestreift hat und dann auf mich zugeschossen ist. Bringt mir wer noch eine Dose? Ich krieg grad wieder Kopfweh.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 15119

Vom mangelnden Gespür der Basler für die Feinheiten des Wiener Idioms

Vor ein paar Tagen hab ich die Marta getroffen auf der Thaliastraße. Schräg, sie nach so langer Zeit zufällig wiederzusehen und noch schräger, dass wir uns gleich angesprochen haben, denn eigentlich hätten wir mit gesenkten Köpfen aneinander vorbeirasen sollen, ohne uns umzudrehen, bei unserer Vergangenheit.

Aber offenbar verbinden nach einer gewissen Zeit böse Erinnerungen genauso wie gute, und wir sind dann gleich ins Weidinger auf einen Kaffee. Als wir dann eh gleich Bier getrunken haben, war auch bald alles von damals verziehen. Das war leicht, weil wir heute sagen können, das waren nicht wir, das waren die damaligen Umstände. Diese Umstände waren – wie soll ich sagen, zukunftsweisend: kein Job, kein Plan, keine Wohnung, wenig Schlaf, dafür alles, was einem den Verstand rauben kann. Insofern gutes Training für unser Prekariat heute. Ende der 90er hörte ich dann, dass die Marta sich den Tim geangelt hat, einen von diesen „überaus erfolgreichen IT-Managern“, wie es damals in den Magazinen immer hieß. Der wusste privat ihre Qualitäten als Damen-Catcherin und beruflich die als Hobby-Hackerin zu schätzen, nahm sie gleich mit nach Basel wie eine originelle Trophäe und lebte da mit ihr in einer Art offenen Beziehung. Zum ersten Mal hatte die Marta eine fixe Adresse und ein sorgenfreies Leben.

Ich frage mich nur, wie sie das all die Jahre ausgehalten hat. Weil, zum Beispiel der Comic-Andi – der heißt so, weil er mit vierzehn in eine Buchhandlung eingebrochen ist, um die Prachtausgabe von „Zettel’s Traum“ vom Arno Schmidt zu klauen, bloß um dann beim intensiven Studium von „Wonder Woman“ in der Comicabteilung erwischt zu werden – der Comic-Andi hat das jedenfalls auch nicht ertragen, das Butterseiten-Leben, als er auf einmal der große Boss vom Fahrradbotendienst war, mit unendlich viel Geld, oder mit dem, was wir auch heute noch dafür halten würden, wie ich fürchte. Das hat ihn dann, das ist jetzt meine Theorie, psychisch enorm belastet, einfach weil er Erfolg nicht gewohnt war. So belastet, dass er hingegangen ist und die Scheibe vom Juwelier in der Herrengasse eingeschlagen hat – und dann stehen geblieben, bis die Polizei kam.

Also, das mit dem Basler Luxusleben als IT-Promi-Begleitung, dass das jetzt vorbei wäre, hat mir die Marta im Weidinger erklärt. Sie lebe jetzt wieder in Wien und zwar von der Sozialhilfe. Das hat sie so richtig mit Stolz gesagt und mir ihren neuen Krankenkassen-Kunststoff-Schneidezahn präsentiert. Den hätte ihr der Tim auch nicht bezahlen wollen, nachdem er sie rausgeschmissen habe. Aber sie hätte ohnehin genug gehabt von diesem Calvinisten-Bobo und der ganzen Spießer-Schweiz, dort würde ja die Caritas sogar den Obdachlosen nur Anzug und Schlips aushändigen. Auf meine Frage, wieso sie denn einen neuen Schneidezahn gebraucht hätte und wieso sie der Tim denn rausgeschmissen hätte, hat sie mir dann ungefähr Folgendes erzählt:

Vergangenen Oktober erhält der Tim den Auftrag, das Image seiner Firma wieder mal ordentlich aufzupimpen. Dem fällt aber nichts Gescheiteres ein, als ausgerechnet die Marta nach einer Idee zu fragen und die redet ihm eine mehrtägige LAN-Party ein. Aus Nostalgie wollte sie die, hat sie mir erklärt. Solche LAN-Partys sind ja jetzt wirklich nicht mehr der heißeste Scheiß. Seit es diese fetten Internetverbindungen gibt, braucht man ja kein lokales Netzwerk mehr und außerdem, hunderte Nerds auf Speed, die schweigend vor ihren Monitoren sitzen und sich gegenseitig in digitalen Blutbädern hinmetzeln: Party? Echt jetzt? Andererseits, an den Börsen geht’s schon lang so zu und richtig out sind die auch nicht. Also, warum nicht wieder mal eine LAN-Party?

Den Iro hochtoupiert und auf Hochglanz gewachst, ausgestattet mit ihrem Laptop – Uncle Sam (alt aber aufgerüstet) –, Schlafsack, Isomatte, diversen Kabeln etc. wird die Marta vom Tim, der gleich zu einem wichtigen Termin weiterfährt, vor einer aufgelassenen Lidl-Halle in der Basler Vorstadt abgesetzt. Am Eingang zeigt sie wichtig ihre Freikarte, und weil nicht halb so viele gekommen sind wie erwartet, hat sie es echt easy einen perfekten Tisch zu erobern, mit genügend Raum unter der Platte, zum zwischendurch Schlafen. Man sieht: Profi, die Marta.

Alles angesteckt und hochgefahren, merkt sie, dass es keine LAN-Verbindung gibt. Sie sieht sich um und tatsächlich, die wenigen Anwesenden spielen nur mit sich selbst – um jetzt nicht das von Marta verwendete Verb zu gebrauchen.

Blutjunge Wichtigtuer, die mit Orgateam-Schildchen verziert herumlaufen, geben nur die üblichen Antworten. Es tue ihnen leid, blabla, technische Panne, blabla usw.

Als das eine Weile so geht, spürt die Marta, sie kriegt wieder ihre Wut und um das zu vermeiden, geht sie sich ein Bier holen, obwohl sie Tim zuliebe eigentlich nichts mehr trinkt. Andererseits ist genau der mit seiner schlechten Vorbereitung schuld an ihrer aufsteigenden Wut und so ist das dann wieder voll okay.

Dabei stellt sich aber heraus, dass es in dieser elenden Lidl-Halle nicht nur kein LAN, sondern auch kein Bier in Halbliter-Bechern gibt. Nur in Viertelliter- zum Preis von Halbliter-Bechern. Dafür Rauchverbot. Ihre aufsteigende Wut schlägt um in ergreifende und das bedarf sofortiger Sedierung. Etwa acht Viertelliter-Becher später zieht sie durch die Spieltische und sucht Verbündete gegen diese „Oaschpartie“: „Geh Oida, wos soi des füra LAN-Party sein, ohne LAN? Und tschuldige, wos soi des füra Bier sein, in an Zahnputzbecha?“ und dergleichen wird von der nichtrauchenden Jeunesse dorée Basels und Umgebung natürlich nur als bedrohliche Lautwolke begriffen, vor der sie sich instinktiv wegduckt. Marta versucht es mit gesteigerter Ausdruckskraft und wird dabei immer rüder, aber diese „spielsüchtigen Zombies“, wie sie sich ausdrückt, gehen auf ihre durchaus berechtigte Kritik der „Oaschveranstaltung“ einfach nicht ein.

Aus einigen herablassenden Erkundigungen, ob sie denn nicht des Englischen mächtig sei, folgert Marta schließlich, dass hier wieder diese verdammte Sprachbarriere vorliegen müsse. Sie weiß: unüberwindbar. Immer wenn sie ein wenig getrunken hat, klebt sie an ihrem Wiener Idiom fest wie an einem Fliegenfänger, und das, obwohl sie in ihrem Kopf auschließlich reinstes Hochdeutsch denkt, sagt sie. Daraufhin, und weil sie nur noch grummelnden Groll in sich verspürt, beschließt sie, den Aufruhr aufzugeben und bloß zweckfrei pöbelnd durch die Tischreihen zu ziehen – l’art pour l’art sozusagen.

Dummerweise wird jetzt das Orga-Team auf Martas Treiben aufmerksam. Dieses Orga-Team ist zuständig für eh alles und besteht aus unbezahlten Informatik-Studenten, denen mit mehr oder weniger leeren Versprechungen ein ebenso unbezahlter Praktikantenjob in Tims Firma in Aussicht gestellt wurde. Ein Vorgehen, das auf Marta zurückgeht, welche weiß, dass derlei Vorschläge zur Kostensenkung ihren Kontostand erhöhen. Dieses zweifelhafte Personal also sendet einen Boten, der sie auffordert – Marta kann es gar nicht fassen – sowohl das Stänkern als auch das Saufen und Rauchen umgehend zu unterlassen. Ein Ultimatum! Sofort beginnt ihr Groll wieder zu grimmen. Sie sieht sich nach Bekannten aus der Firma um, die ihren Rang bestätigen könnten, nur, eben aufgrund ihres Vorschlags wurde von der Firma selbst niemand zur LAN-Party abgestellt und freiwillig ist offenbar nur sie hier, und sie gehört nicht zur Firma, jedenfalls nicht offiziell. Marta ist daher gezwungen, erneut auf ihre Doppelstrategie der Selbstberuhigung zurückzugreifen: Sie beschleicht in einem unbeobachteten Moment die Bar, bestellt vier dieser Zwergenbiere auf einmal und erledigt blitzartig davon zwei noch während des Zahlens. Nun, diese beiden kann ihr schon mal keiner mehr nehmen und versetzen sie außerdem in die Lage, ihre Tischgespräche fortzusetzen. Des Ultimatums wegen nimmt sie sich aber diesmal vor, nicht lauthals zu stänkern, sondern nur mäßig zu mosern.

Leider muss sie dabei irgendetwas falsch gemacht haben, denn noch während der allerersten Moserrunde wird sie von gleich vier Orga-Kräften bedrängt: einem Mädchen und drei, wie sie findet, nicht sehr attraktiven Burschen. Zwei davon packen sie unter den Armen und schleifen sie rücklings zur Tür. Der Rest läuft im Gleichschritt, wie Marta sich wohl einbildet, nebenher. Ihr Protest, gar nicht gestänkert, sondern eh nur gemosert zu haben, erzielt dabei keinerlei Wirkung. Das ist es eben wieder, dieses mangelnde Gespür der Basler für die Feinheiten des Wiener Idioms, denkt Marta während des geschliffenen Abgangs und beobachtet, wie ihre Doc-Martens immerwährende Streifen über den Estrich ziehen. Sie schafft es aber – in Sorge, sie könnten verschüttet werden – die zwei restlichen der teuer bezahlten Biere auszutrinken, von denen sie noch je eines in der Hand hat. Ein junger Typ sieht ihr nach. Es ist ausgerechnet der Laurin, zwar ebenfalls ein gekeilter Student, aber, wie Marta findet, einer der wenigen Hoffnungsschimmer hier. Der sieht ihr jetzt zu, wie sie sich, während sie rausgezogen wird, gleichmäßig mit Bier überschüttet, weil leicht ist das nicht, so zu trinken. Peinlich, den hat sie doch gerade noch angebraten, indem sie ihn auf ihre besonders hohe Position hier hinwies, denkt Marta und findet Laurin scharf. Sie weiß, dass das daran liegt, dass sie alle scharf findet, die jung, blond und vor allem schlank sind, und sie ist nicht gerade stolz darauf. Aber sexuelles Begehren ist eben keine Aquarell-Ausstellung, kein Hegelseminar und auch kein Töpferkurs. Während Marta so über die Attraktion der Gegensätze sinniert, wird sie plötzlich auf den rauen Asphalt des Parkplatzes vor der Halle fallengelassen und, wenn ihre Kenntnisse des Baslerischen sie nicht trügen, aufgefordert, das Weite zu suchen. Eher fettleibig, diese Burschen, denkt Marta. Es ist ihnen anzusehen, dass sie vorm Bildschirm aufgewachsen sind. Das ist schon die Generation, die nicht ständig, von Polizeihunden oder Nazis oder Fahrscheinkontrolleuren gejagt, sich im Messerkampf bewähren, kühn über Dachfirste balancieren und katzengleich über Mauern springen musste. Die holen sich den Kick längst nur noch vom Bildschirm, und das macht auf die Dauer natürlich unsexy. Sie könnte denen jetzt sagen, dass sie praktisch ihre Chefin ist, aber der bloße Gedanke daran macht sie müde, und was soll sie schon auf einer scheiß LAN-Party? Und der Laurin findet sie jetzt sicher unmöglich nach diesem Abgang. Sie fordert also nur ihre Sachen und die dreißig Franken für den Eintritt zurück, den sie nicht bezahlt hat. Marta kann erstaunlich vernünftig sein, aber nur dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Umgehend verschwinden alle fünf und kurz darauf werden tatsächlich ihre Sachen, exklusive der dreißig Franken, aus der Türe geworfen, und zwar so unsanft, dass dabei eine Ecke ihres Uncle Sam abbricht.

Das wäre besser nie geschehen, das mit Uncle Sam’s Ecke. Weil das ist ihr Bruder, ihr Freund, ihre Familie und eben ihr „Onkel aus Amerika“. Zwar hat er, wie sich später herausstellte, den Knacks locker weggesteckt, aber das konnte da noch niemand wissen. Ich denke, alles Kommende hätte vermieden werden können, wenn diese halbstarken Basler auf ihren hohlen Machtgestus verzichtet und der Marta den Uncle Sam nicht nachgeschleudert, sondern ihr beipielsweise sorgsam zu Füßen gelegt hätten.

Marta scheut Wischhandys aus ortungstechnischen Gründen, steht jetzt aber vor dem Problem, nicht zu wissen, wo im Umkreis Basels sie sich befindet. Sie könnte natürlich Uncle Sam fragen, aber sie hat Angst davor. Vielleicht stellt sich dabei heraus, Uncle Sam ist kaputt. Sie spürt wieder ihre Wut aufsteigen, nur heißer als vorher und vermischt mit dieser prickelnden Zerstörungslust – und kein Bier da! Sie überlegt, schnell ein Taxi zu rufen, bevor sie auf dumme Ideen kommt, aber sie hat alles Geld versoffen und der Trick mit dem Eintritt hat nicht funktioniert. Tim könnte sie holen, aber der lässt dann wieder seine lässig-genervte Art raushängen und schon gar nicht will sie ihm erklären, warum sie schon wieder wegen eines sprachlichen Missverständnisses wo rausgeworfen wurde. Ihr wird bewusst, wie sehr sie diesen aufgeblasenen Streber-Typen doch hasst. Marta kräht: Fick mir doch, fick mir doch, ein Schweizer Schweizerkäseloch! Und tritt dabei rhythmisch auf parkende Autos und einen alten Einkaufswagen ein. Ja, so ist das eben mit ihr. Zum Glück kommt in dem Moment ein junger Typ (schlank) aus der hell erleuchteten Halle, je zwei Bier in den Händen balancierend, die er nun Marta hinhält: Es ist Laurin und es ist Engelsmusik, als er schüchtern flüstert: „Das isch für di.“ Es folgen, laut Marta, ausdrückliches Lob für Martas Betragen und scharfe Kritik am Orga-Team etc. Marta zieht aus dem Gesagten, was auch immer es tatsächlich war, eh klar, den Schluss, von dem Kleinen umworben zu werden und schlägt ihm vor, die drolligen Bierchens zu sich zu nehmen, um anschließend in die Büsche zu gehen.

Der hingegen meint, er würde ja gerne mit ihr schlafen, aber er fürchte, dass das seine Aussichten auf die Praktikantenstelle mindern könnte. Dass er nicht blöd sein solle, erwidert die Marta, weil sich alle seine Aussichten erheblich verbesserten, wenn er sie umgehend beschliefe, flüstert ihm zärtliches Wienerisch ins Ohr und zwickt ihn da und dort ein wenig. Sie denkt immer noch, dass Männer auf Zwicken stehen. Daraufhin wirkt der Laurin auf einmal unkonzentriert und fahrig und muss plötzlich wieder hinein. Marta findet das sehr traurig, leert deshalb eines der vier ganz neuen Biere und beschließt, ihre Sachen einfach in den alten Einkaufswagen zu stecken und ganz relaxed in die Richtung zu schieben, in der sie die Stadt vermutet. Danach trinkt sie zur Belohnung noch eins, und weil der Tim ein Arschloch ist und der Laurin ein Schlumpf und um möglichst wenig von dem teuren Bier zu verschütten, trinkt sie auch gleich noch das dritte. Als sie eben beim vierten Bier vor der Entscheidung steht, dieses als Proviant zwischen Schlafsack und Isomatte zu verstauen oder einfach zur Sicherheit auch auszutrinken, sieht sie sich schon wieder mit den Fünfen konfrontiert. Sie solle jetzt „es bitzeli fürschi mache“, meinen diese, sie habe hier schon „sit Stunde nüt meh verloore!“ In Marta kocht die Wut jetzt endgültig über, gerinnt allerdings in einer eiskalten Woge der Bösartigkeit sofort zu einem niederträchtigen Plan. Wie Bleigießen ist das und selten wie Silvester, sagt sie. Sie trinkt erst ganz cool, steckt den halbleeren Becher nun doch in den Wagen und erwidert zur Überraschung der Fünfe mit einer ihnen nicht gerade verständlich aber dennoch zusammenhängend erscheinenden Rede, des Inhalts, dass sie alle mal so klein werden sollten wie ihre lächerlichen Biere, weil erstens hätten sie Uncle Sam schwer verletzt und zweitens ohne ihre Wenigkeit würde hier so ziemlich gar nichts stattfinden und sie alle, wie sie hier aufgeganselt herumliefen, sie alle könnten hier auch nicht den Kapo raushängen lassen, wenn Marta Montana nicht wäre und ihnen ihre unbezahlten LAN-Party-Jobs beschert hätte.

Marta Montana – das ist ihr Kampfname aus ihrer Zeit als Damen-Catcherin; praktisch eine déformation professionnelle, wenn die Marta anfängt, von sich als Marta Montana zu reden und immer ein ganz schlechtes Zeichen.
Außerdem, fährt sie fort, sei es traurig und erbärmlich, dass niemand hier gegen diesen läppischen Praktikantenstellen-Schmäh aufbegehre, sondern alle für ein bisschen Jobhoffnung bereit zu jeder Demütigung wären. Wie die Strebernaturen, die damals zu den Nazis überliefen und heute. Während ohne Marta Montana hier logischerweise gar nichts wäre, tote Hose, leere Halle, heulender Wind, nicht mal Hitler! Und wenn sie jetzt die Güte hätten, den Weg freizugeben, sie sei nämlich eben dabei, ein Wolkerl zu machen und hätte keine Lust auf Geschwätz mit niedrigem Personal!

Aus welchen Gründen auch immer, vermutlich aufgrund eines sprachlichen Missverständnisses, umringen die Fünfe mit erstaunlicher Geschwindigkeit die arme Marta, die so etwas ja noch nie mochte. Auch als ehemalige Damen-Catcherin empfindet sie Umringtwerden als unangenehm und bedrohlich, was sie auch immer gern zugibt – aber man muss sie halt schon direkt danach fragen, und die Fünfe haben ziemlich sicher nicht gefragt, ob sie jetzt was dagegen hätte, ein wenig umringt zu werden. Man kennt das ja. Einer von ihnen knurrt etwas von „Polizei, handkehrum abchlopfe“ und „zämenschloo die Nazibraut“, wenn sie nicht sofort das Gelände verlasse, dieses Gelände nämlich sei Privatgrund! Marta, die kein Wort verstanden hat, entgegnet, dass man sich ihr gegenüber bitteschön ein wenig zuvorkommender zu benehmen hätte, denn schließlich stünden sie alle immer noch bei ihr in Lohn und Brot, theoretisch zumindest! Aber nach der dilettantischen Performance sehe sie punkto Praktikantenstelle eher schwarz und sie könne ihnen auch sagen warum: Hätte Marta Montana denn bisher irgendetwas getan, wofür sich all der Aufwand auch lohne? Sie meine mit Aufwand: Verwarnungen ohne Anlass, unsinnige Verbote und Drohungen, unnötige Rauswürfe, kindische Indianerspielchen auf dem Parkplatz usw. Aufwand eben, unnützer, weil unverhältnismäßiger Aufwand. Man bedenke doch die andere Schale der Waage: eventuell etwas zu laut geäußerte Kritik, aufgehoben schon durch den selbstlosen Bierkonsum zu Wucherpreisen. Das aber ärgere sie wiederum als potenzielle Arbeitgeberin. Das sei durch und durch unökonomisch, weil gegen jede Marktgerechtigkeit! Mit so viel Aufwand vielleicht ein wenig übel gelaunte, dafür gut zahlende Gäste zu belästigen, sei sogar unökonomisch, dass einer Sau graust! Und man sähe ja, was aufgrund einer solchen Misswirtschaft alles geschehen kann: Man hat Uncle Sam ein Eck ausgeschlagen! Und da bestätige sich wieder mal ihr Hass auf alles Unökonomische, direkt ungezügelt könne sie da werden und da unterscheide sie sich in nichts von Hayeks freiem Spiel der Kräfte, Schumpeters schöpferischer Zerstörungskraft und überhaupt der ganzen Österreichischen Schule plus Milton Friedman!

Die Fünfe überlegen mittlerweile, ob sie nicht die Basler Nervenheilanstalt anrufen sollten.

Jedoch, Marta Montana sei vieles, aber nicht unbarmherzig und immerhin sei sie ja dafür, dass man überall und jederzeit Österreichische Schule unterrichten könne. Könne und solle! Daher zeige sie ihnen jetzt auch gerne nachträglich, wie sie’s alle richtig ökonomisch haben könnten. Und mit dem Ruf „Für ökonomische Verhältnisse!“ schnappt sie einen der Burschen so, dass es ihn rücklings quer auf den Einkaufswagen hebelt, gibt dem Wagen mit einem schmetternden „Überall!“ einen Tritt und befördert ihn derart quer über den Parkplatz.

Nur rollt dieser unsportliche Basler Student so kreuzblöd zwischen die parkenden Autos, dass er sich dabei mit dem Kopf in einem Rückspiegel verfängt, der ihm beinah den Hals abreißt. Zum Glück fällt der Einkaufswagen dabei um und gibt ihn frei. Trotzdem bleibt er liegen. „Joki!“, schreien die anderen und stürmen zu ihm. Das heißt, bis auf das Mädchen, das zu langsam reagiert und sich nun ganz allein einer sehr betrunkenen Bestie gegenüber sieht.

„Jetzt hani aber ändgültig gnueg!“, schreit das Mädchen zurückweichend, mit ungefähr so viel Überzeugungskraft, mit der man einer leinenlos rasenden Dogge gegenüber versucht, das Herrchen zu markieren. Das merkt sie auch selbst und darum zückt sie ihr Handy: „Ich lüt dr Polizei aa!“

„Aber aber!“, schmeichelt Marta dem Mädchen, sie solle doch bedenken, dass es durchaus hätte sein können, sie transportiere auf diese Weise nur ihre Sachen zum Auto, freilich mit dem jetzt leider etwas beschädigten Teddy dazu, aber den würde sie sich eh nur ausborgen, viel zu dick. Doch wenn bezüglich des Burschen schon andere Pläne existierten, hätte Marta Montana auch nichts gegen einen flotten Dreier. Damit wäre wohl allen am meisten geholfen …

„Hallo, Polizei?“

Moment, sie suche gerade ihren Autoschlüssel, noch ein Sekündchen, dann habe sie ihn. Sie solle das mit der dummen Polizei doch sein lassen, dann könnten sie alle drei gleich losdüsen. Dabei lässt die Marta ihre Hand sehr sexy in ihrer Hosentasche spielen und flötet zärtlich etwas über die Notwendigkeit der Überwindung der sozial konstruierten Geschlechter, wie sie meint: „Net leicht, so augsoffn wos Hoates zum findn inda Hosntoschn!“ Und verschwörerisch zwinkernd: „Oba es geht ah ohne, net woa, Mauserl?“ Ja, als Draufgabe wirft sie ihr einen ihrer saftigsten Kussmünder zu.

„Ich ha ihne mini Date doch scho gsait“, plärrt das Mädchen ins Handy. „Sie mien mir ändlig zueloose!“

Sie möge sich und der „Schwiezer Polizei“ die Mühe doch sparen, grölt die Marta. Andererseits wieder, solle sie die Kapplständer nur holen, sie sei ja direkt gespannt, wie die in der Schweiz so seien, ob die einen auch so super nehmen könnten wie die in Wien.

„Aber, so loose si mir doch ändlig zue, mir wärde do vonere gföhrlige Verruggde terrorisiert!“ Und mit einem Blick zu Joki und überschlagender Stimme: “Und mir bruuche au dr Notarzt!“

Aber das könne sie sich nicht vorstellen, meint Marta weiter, wenn sie sich so umschaue, nein, unwahrscheinlich. Besonders ihre vier Wappler, die sähen ja aus wie wandelnde Sitzsäcke! Ob die Schweizerinnen ihre Männer denn ganz verwahrlosen ließen?

Irgendwie scheint die Marta nun doch die Basler-Wiener Sprachbarriere durchbrochen zu haben, denn plötzlich wird sie von dem größeren der beiden zurückkehrenden Burschen am Kragen gepackt. Sie schultert ihn aber mit einem ihrer leichtesten und unsaubersten Wurfgriffe und lässt ihn vor sich aufklatschen, wo er bewusstlos liegen bleibt. Der andere weicht unsicher zurück. „Alex“, zischt das Mädchen, „du feigs Arschloch!“ Derweil steigt Marta etwas wankend über den Geworfenen. „Schod, dass dabei imma de Daumen brechn“, murmelt sie dabei selbstkritisch, steuert auf das schreckensstarre Mädchen zu, reißt ihm das T-Shirt vom Kragen bis zum Bund entzwei, nimmt die derart frei gewordenen Brüste und verpasst beiden je einen kräftigen Schmatz.

„Jetzt lohnt sich dea gonze Aufwand, jetzt herrscht hier endlich eine Marktgerechtigkeit!“, schreit Marta beinahe hochdeutsch in den Himmel. Stille. Fragende Töne aus dem Handy. Marta wendet sich dem Alex zu, der aber durch den Anblick der geküssten Brüste in eine Art Trance verfallen ist. Ob er das mit dem freien Spiel der Kräfte und der daraus resultierenden Marktgerechtigkeit jetzt auch verstanden hätte? Wenn dem so sei und wenn er sich dann mal langsam fertig begeilt hätte, dann könnten sie Marta Montana jetzt bitteschön und im vollen Einklang mit den Gesetzen der Ökonomie Österreichischer Schule vom Gelände entfernen. Abwartend bleibt sie stehen.

Der Wind weht über den Parkplatz, Joki beginnt leise zu jammern, Alex starrt. Langsam, ganz langsam holt das Mädchen aus, scheint noch kurz zu überlegen, da fährt ein Ruck durch sie und wie ein vorwärtsschnellendes Katapult kracht ihre Faust auf Martas Gebiss. Marta taumelt einige Schritte zurück und mit dem Blut spuckt sie auch ein Stück Schneidezahn aus.

Da explodiert ihr Kinn durch einen weiteren Schlag. Das flackernde Blaulicht kann sie aber gerade noch Einsatzfahrzeugen zuordnen. „Das müsste reichen“, denkt sie, bevor es endgültig schwarz um sie wird.

Wegen der ganzen LAN-Party-Sache wurde der Tim diskret nach Neuseeland versetzt. Um Anwaltskosten zu sparen und des Images wegen, gab die Firma den Fünfen eine unbezahlte Praktikantenstelle, worauf sie ihre Anzeigen zurückzogen. Dem Joki musste allerdings zusätzlich eine Privatklinik bezahlt werden. Der Marta gegenüber hat der Tim erklärt, dass er ihre offene Beziehung als abgeschlossen betrachtet.

Nur dass er ihr den Schneidezahn nicht ersetzen wollte, das ärgert sie, wie gesagt, noch immer.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15101