Kategorie-Archiv: Michaela Swoboda

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Bayerischer Barock oder La vita è bella.

Behutsam schlug Alessandro Pavese die schmale gotische Holzfigur wieder in das weiche Tuch ein und verwahrte sie sorgfältig im Tresor. Es war bereits gegen Mittag und wie jeden Tag versuchte er, das Knurren seines Magens vorerst zu ignorieren; eine halbe Stunde noch, bis er seinen kleinen, feinen Kunst- & Antiquitätenladen inmitten der Innsbrucker Altstadt für eine Mittagspause schließen konnte.
Viktoria hatte ihm noch am Morgen nahegelegt, nur Kohlehydratarmes zum Mittagessen zu sich zu nehmen. „Ein wenig gebratenes Geflügelfleisch mit Salat“, war ihre wohlmeinende Empfehlung. „Und du verkneifst dir vorher die Grissini!“ Wer, wenn nicht sie, die diszipliniert seit Jahrzehnten ihr Gewicht hielt, sich Alkohol und Süßes konsequent untersagte und überhaupt Kalorienreduktion zur Maxime erhoben hatte, war wohl legitimiert, solche Ratschläge zu erteilen.

Ein wohlklingendes, deutlich bayerisch gefärbtes kräftiges „Grüß Gott“ ließ ihn aus seinen Gedanken hochfahren. Diese Frau hatte sicherlich die falsche Tür erwischt - seine Clientèle trat deutlich dezenter in Erscheinung.
„Dieses Bild dort im Schaufenster, das kleine rechts oben, ja, ja, das dunkle kleine Ölbild, das interessiert mich.“
Der Blick der fülligen bayerischen Touristin war entwaffnend direkt, und obwohl Alessandro sich sonst zurückhaltend gegenüber seinen Kunden verhielt – „devot“ nannte Viktoria das immer spöttelnd – lächelte er die Kundin freundlich an und stellte sich ihr mit einer kleinen Verbeugung formvollendet vor.
„Gestatten, Alessandro Pavese, ich bin der Geschäftsinhaber. Dieses Bild hängt hier seit zwanzig Jahren, gnädige Frau.“
„Emerenzia Weidinger aus München, sehr erfreut. Ich war schon einmal in Innsbruck, vor etwa drei Jahren, da habe ich es hier aber nicht gesehen.“
Die dunkle Stimme harmonierte mit ihrem Klangkörper, ja sie konnte geradezu nur von einer Gestalt dieses Ausmaßes hervorgebracht werden. Ein Dirndl hätte ihr gut gepasst, der Frau Weidinger aus München, dachte Alessandro lächelnd. Viktorias schmaler Körper nahm sich in ihrem neuen Designerdirndl dagegen lächerlich verloren aus. Er senkte den Blick kurz, als er merkte, dass er die Kundin immer noch unverwandt betrachtete.

Das kleine Bild stammte noch aus dem Geschäftsbestand seines Vaters in Trient. Seit Alessandro dessen Laden übernommen hatte, war ein Vierteljahrhundert vergangen. Aber schon kurze Zeit danach hatte er Viktoria kennengelernt. Mit ihr war er damals nach Innsbruck in ihre Heimat übersiedelt und seither lebten sie hier mit ihrem Sohn.

„Ich mag die Farben“, begann die Kundin.
„Aber es ist dunkel, da sind nun wirklich keine Farben zu sehen!“, entgegnete Alessandro.
Emerenzia Weidinger glaubte, ein Haus am See darauf zu erkennen. „Es ist Nacht, da sind diese Spiegelungen des Mondlichts, erkennen Sie es nicht, Signore Alessandro, ich darf Sie doch so nennen? Sagen Sie ruhig Emerenzia zu mir, wenn Sie es denn aussprechen können mit ihrem italienischen Zungenschlag“, antwortete sie lachend.
Alessandro nickte und musste seinerseits über die bayerische Aussprache seines Namens schmunzeln.
„Ja gerne.“ Und in Gedanken fügte er vorsichtig „Emerenzia“ hinzu. Was für ein Name! Viktoria würde sich lustig darüber machen. Urbayerisch, bodenständig, bäuerlich, erdig, gediegen, wie aus einem Heimatfilm entsprungen. Und was für eine Frau! Alessandro wusste gar nicht, wohin mit seinen Blicken, er fühlte sich deutlich von ihrem opulenten Körper angezogen.
Jetzt musste er aber erst einmal seinen eigenen, drahtigen Körper arg verbiegen, um sich zwischen der kleinen Empire-Kommode und der Etagère mit der Zierkeramik aus der Zeit der Monarchie hindurchzwängen und das Bild vom Haken nehmen zu können.

„Es ist nicht renoviert, die Firnisschicht gehört aufgearbeitet.“
„Ich nehme es, wie es ist.“
„Es hat keinen Preis.“
„Es bekommt einen Platz in meinem Häuschen am Chiemsee.“
„Es erinnert mich aber an meinen Vater, daher ist es nicht zu haben.“
„Es wird neben einem kleinen Original von Antoni Tàpies hängen. Über meinem Biedermeier-Sekretär.“
„Ich kann Ihnen seine Provenienz nicht nennen, ja nicht einmal seinen Künstler.“
„Von wem auch immer es ist, das Bild ist mir wichtig und schon jetzt ans Herz gewachsen.“
Sie zog ihre Lesebrille aus ihren vollen, mittellangen braunen Locken und hielt sie, wie zur Verdeutlichung, an ihren Busen, den Alessandro nun, sozusagen durch ihre Handbewegung legitimiert, zumindest kurz und maßvoll, ja beinahe ungeniert betrachten konnte. Das blau-weiß-kleingewürfelte Hemdblusenkleid bot Einblick auf das Ausmaß ihres Dekolletés und ihm Freude.
„Aber sehen Sie doch, Emerenzia, der Rahmen muss erst noch neu geleimt werden. So können Sie seinen Anblick nicht genießen.“
„Ach, Alessandro, in Wahrheit wollten Sie mir damit nur sagen, dass der leere Fleck in Ihrer Auslage Sie deprimiert.“

Was war nur los mit ihm? Jedes Gramm, das Viktoria nach Marcos Geburt kurzzeitig zugelegt hatte, war von ihm mit kritischem Blick und manch verletzender Bemerkung quittiert worden. Und jetzt fing sein Blick sich so unbedingt in diesem voluminösen bayerischen Busen.
Emerenzia Weidingers kräftige warme Hände, denen man Gartenarbeit ansah, streckten sich vehement nach dem Bild und berührten mit großer Selbstverständlichkeit bei dessen Übergabe seine schmalen, manikürten Finger. Wie angenehm.
„Wie man diese dunkle Fläche nur so zum Leuchten bringen kann – meisterhaft – da sind wir doch beide einer Meinung, Alessandro?“

Über den Preis ließe sich das Interesse von Emerenzia sicher nicht zerstreuen, wo sie doch vorhin das Bild von Tàpies erwähnt hatte, aber einen Versuch war es wert.
„Diese Qualität macht es aber zu einem hochpreisigen Kleinod, werte Emerenzia.“
„Nette Eröffnung der Verhandlung, Alessandro, mein Lieber, aber ich setze finanzielle Präferenzen, wie ich auch sonst recht genau weiß, was ich will“, brachte sie mit betont bayerischem Tonfall hervor, ihr Blick wurde direkter und auch etwas strenger.
„Es steht nicht zum Verkauf.“
„So schnell gebe ich nicht klein bei. Ich bin gewöhnt, zu kriegen, was ich mir in den Kopf gesetzt habe.“
Alessandros Tonfall wurde nun deutlich charmanter und er meinte ironisch: „Wir werden nie handelseins werden, Emerenzia, auch wenn Sie noch so stark sind. Ein bayerischer Sturschädel bringt keinerlei Vorteile in Verhandlungen mit einem wahren Italiener.“
„Ha, ich habe viele Jahre lang einen Marktstand geführt, das war mein Beruf und meine Berufung. Ich werde Sie überzeugen, obwohl Sie Italiener sind. Weil Sie Italiener sind“, fügte sie mit einem Zwinkern hinzu.
Alessandro Pavese gab sich innerlich geschlagen, er mochte diese resolute Frau und stellte fest, dass er schon die längste Zeit breit vor sich hin grinste, und sein Blick immer wieder auf ihren weichen, fülligen Körper fiel, was ihr gar nichts auszumachen schien.
„Ich schließe jetzt mein Geschäft zur Mittagspause, würden Sie mir die Ehre erweisen, mich zum Essen zu begleiten, Madame Emerenzia?“ Ihr angenehmes glucksendes Lachen klang in seinen Ohren noch etwas nach.

Mit wie viel Freude und in welcher Gelöstheit sie ihr Lammfleisch mit Speckbohnen verzehrte! Alessandro konnte sich an diesem sinnlichen Vorgang gar nicht satt sehen und entwickelte seinerseits einen immensen Appetit, sodass er nach dem Antipasti-Teller noch eine Portion Ossobuco bestellte, die sich beide dann mehr oder weniger gemeinsam schmecken ließen.
„Oh, wie fantastisch das riecht, lassen Sie mich kosten, Alessandro.“ Und wieder ließ sie das „R“ bei seinem Namen vollmundig und bayerisch rollen.
Emerenzia langte ganz selbstverständlich mit dem Mund nach Alessandros gefüllter Gabel, die er ihr entgegenkommend hinhielt.
„Ich habe noch niemals zuvor jemanden mit solchem Vergnügen essen sehen“, parlierte er mit vollem Mund.
„Mit Ossobuco zwischen den Zähnen zu sprechen, ist ganz bestimmt ein erster Ansatz zum Genuss, glaub mir!“, wechselte Emerenzia mit perlendem Lachen zum vertrauten „du“.
Wie wohl es tat, mit dieser Frau zu lachen.

Das Leben seines quirligen Gegenübers war bunt und laut verlaufen, als Marktstandbetreiberin auf dem Münchner Viktualienmarkt. Und wenn sie von ihrem verstorbenen Mann und ihren erwachsenen Kindern erzählte, dann glänzten ihre Augen mit denen ihres aufmerksamen Zuhörers um die Wette. Alessandros Blick fiel immer wieder auf ihren herrlichen, vom Ossobucco fettglänzenden vollen Mund, und – ja – er glitt häufig auch abwärts, um auf ihrem wogenden Busen zu verweilen. Der gehaltvolle Rotwein erschwerte dabei die Kontrolle.
Geld war reichlich geflossen am Viktualienmarkt, ein Häuschen direkt am Chiemsee nach der Pensionierung rasch gekauft und ein Teil des Kapitals in wertbeständige Kunst investiert. Einsam war es halt, seit ihr Mann nicht mehr da war. „Ach weißt du, es ist nicht nur das Essen, ich bin einfach hungrig auf das Leben. Nachts gehe ich gerne schwimmen, ich spüre dann das Wasser auf der Haut, und es ist wie eine Berührung.“

Das Geschäft hätte er um 14 Uhr wieder öffnen sollen, doch zu diesem Zeitpunkt fütterten die beiden einander quer über den Tisch mit Panna cotta, wobei Alessandro mit seinem Zeigefinger etwas überschüssige Creme aus Emerenzias Mundwinkel barg und sich vom Finger leckte. Sein Blick sagte deutlich, dass er sie viel lieber direkt mit seiner Zunge von ihren Lippen geholt hätte.
„Du könntest es mir doch zustellen, das Gemälde. Es in meiner Handtasche zu transportieren, ist nicht zumutbar“, schlug Emerenzia anschließend beim Grappa vor.
„Du kannst mit mir rechnen, am Samstag bringe ich dir das gute Stück, dann sehe ich auch deine Kunst und dein Haus. Und meine Badehose nehme ich mit.“
„Und nach dem Schwimmen koche ich uns was Deftiges. Ich freue mich sehr.“

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 13005

undo!

neulich, weißt du
da war ich endlich so weit
dich von mir zu verabschieden
access denied // delete // enter
was sag ich - gigabytes an schrott!

dann merke ich plötzlich
da sind noch diese vielen kleinen tmp-dateien
hineininstalliert bis ins innerste
systemimmanent // delete

und dann sehe ich außerdem
die zudringlichen jpg-formate sind ungelöscht
also deine bilder quasi immer noch im kopf!
ein wirklich dummes, dummes versehen // error // delete
undo!

da ist auch noch dieser screenshot von dir
archiviert im backup-verzeichnis // return
recover database // undo // redo

ein umfassendes uninstall
werde ich durchführen, jetzt gleich, jetzt gleich
helpdesk // uninstall // enter // undo impossible

virenscanner aktivieren
sicherheitslücken und usb-port checken
malware, spam, trojaner außen vor
reboot im abgesicherten modus

shutdown // ESCAPE!

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 13038

 

Stams in Tirol, 12. August 1643

Georg Matthäus Vischer wurde vom frühen Läuten der Kirchenglocke aus dem Schlaf gerissen und richtete sich ächzend auf. Ein weiterer Tag in brütender Sonne und mit harter Feldarbeit lag vor ihm. Nicht zu vergessen das erste Morgengebet, zu dem er pünktlich zu erscheinen hatte. Er fühlte sich wie gerädert, ein Sonnenbrand auf dem Rücken hatte ihn zum Schlafen in ungewohnter Bauchlage gezwungen, was er jetzt schmerzhaft in seiner Nackenmuskulatur zu spüren bekam. Von den Muskelschmerzen in den Waden und im gesamten Rücken ganz zu schweigen. So hatte er sich das Leben im Kloster wahrlich nicht vorgestellt!

Seine Mutter hatte ihm dazu geraten, so lange wie möglich im Kloster zu bleiben. Der Abt war stets erpicht, Novizen anzuwerben. Bis er das richtige Alter dazu hatte, war er daher gern geduldet, obwohl seine Mutter schon längst kein Kostgeld mehr für ihn zahlte und seine Schuljahre bereits vorbei waren. Der Abt wusste ihn jedoch weiter ans Kloster zu binden, gab ihm eine eigene Kammer, kleine Gelegenheitsarbeiten, ja er ließ ihn im Winter sogar in der Bibliothek mithelfen. Georg nutzte diese Gunst meist aus, um zu lesen und sein Interesse für Geografie zu stillen. Er war mehr Leser als Bibliotheksgehilfe, was der stiftseigene Bibliothekar meist mit gönnerhaftem Kopfschütteln zur Kenntnis nahm. Zu Georgs Glück war dieser keiner von der Sorte, die andere beim Abt schlecht machten.

Heute war aber an Lesen nicht zu denken, denn Georg war den Mönchen als Erntehelfer zugeteilt. Die weitläufigen Kornfelder rund um das Klosterareal zogen sich an den goldgelben, leicht ansteigenden Hängen bis zum Fuß des niedrigen, dicht bewaldeten Vorgebirges hin.
Erst dahinter ragten die großen Berge auf, denen er mit gehörigem Respekt gegenüberstand, seit er einmal auf einem seiner Vermessungsgänge in ein Gewitter geraten war und unter einem Felsvorsprung übernachten hatte müssen. Nie würde er die schaurigen Blitze vergessen und wie der Donner in den Bergen widerhallte, immer und immer wieder.

Zu fünft nebeneinander stehend, mussten sie sich gegenseitig genügend Raum geben, um den Schwung der Sense ausreichend weit setzen zu können und so möglichst viel Korn zu erwischen. Am Anfang machte Georg den Fehler, zu tief ins Feld hinein zu mähen, mit dem Ergebnis, dass die Sense immer wieder stecken blieb und er neuerlich Schwung holen musste. Heute – am dritten Erntetag in Folge – hantierte er bereits mit großer Routine. Die abgeschnittenen Getreidehalme wurden sofort in einer möglichst geraden Linie aufgelegt und von anderen, meist älteren Mönchen zu Garben zusammengefasst. Mehrere davon wurden dann stehend zum Trocknen gegeneinander gelehnt und oben grob zusammengebunden.

Georg schwitzte und ächzte unter der einseitigen Bewegung des Mähens, und als nach zwei Stunden die beiden Mädchen mit den Körben und Krügen kamen, war endlich eine Pause in Sicht. Sie hatten sich die Röcke etwas nach oben gerafft, um die Hitze besser zu ertragen, obwohl das im Beisein von Männern als besonders unziemlich galt. Im Schatten der Bäume genossen die erschöpften Erntehelfer Most und Brot. Jeder erhielt ein ordentliches Stück geselchtes Fleisch. Georg saß an einen Baum gelehnt und gab sich noch einem anderen Genuss hin – er betrachtete ziemlich ungeniert die braungebrannten Waden der Mädchen, die plaudernd und lachend damit beschäftigt waren, Brot und Getränke zu verteilen. Als sich eine der beiden tief zu ihm herunterbeugte, konnte er genau in ihren offenen Ausschnitt sehen. Nach einem langen Moment sah er erschrocken zu Boden. Sich Frauen zu nähern, war ihm streng verboten. Sie bemerkte wohl sein Unbehagen, denn sie zwinkerte neckisch und flüsterte ihm zu: »Na, na, höchste Zeit, dass du einmal eine Frau aus der Nähe siehst. Sonst weißt du ja nicht, was dir entgeht.«

Gerade als Georg endlich etwas eingefallen war, was er hätte erwidern können, kam in einer riesigen Staubwolke eine kleine Gruppe Soldaten des Weges. Fünf waren es, und sie blieben stehen. Das Interesse der Mädchen verlagerte sich augenblicklich zu ihnen. Sie gaben ihnen zu trinken und schäkerten eine Zeit lang, bevor die Männer weiterritten. Einer rief noch laut in Georgs Richtung: »Das Militär sucht noch Männer, die reiten und kämpfen können.«

Georg ärgerte sich darüber, dass die Mädchen dann in Gegenwart der Mönche über die Soldaten redeten, als wären sie unter sich. Die schmucken Uniformen hatten es ihnen angetan, die Säbel und weiß Gott was noch, alles an diesen Soldaten schien spannend und aufregend. Und sie sprachen und kicherten noch eine ganze Weile darüber, während sie sich daran machten, Fallobst in einem Korb zu sammeln. Georg war richtig froh, wieder an die Arbeit gehen zu können und noch mehr über die rasch heranziehenden grauen Wolken, die Regen und folglich einen kurzen Arbeitstag verhießen.

Wenn das sein Vater wüsste, der bis zu seinem Tod die Verwaltung des klostereigenen Getreidespeichers übergehabt hatte. Wenn er wüsste, dass Georg jetzt dafür sorgte, dass das Korn in den Speicher kam. Was würde er wohl dazu sagen? Würde er verstehen, dass sein Sohn nicht zufrieden mit der jetzigen Situation war, dass er gern etwas von der Welt sehen und etwas Neues lernen wollte? So wie die Soldaten, ja, genau so. Das war es! Das Auftauchen der Berittenen war ein Fingerzeig des Schicksals, Soldat wollte er werden! Uniform und Waffen würden ihm gut zu Gesicht stehen. Und beim Militär gab es immer etwas zu messen und zu berechnen. Dass ihm das nicht schon viel früher eingefallen war?!

»Georg, so pass doch auf, deine Sense gerät ja schon fast an meine Knöchel! Wo bist du nur mit deinen Gedanken?« Der neben ihm arbeitende Klosterbruder wies ihn mit einem zornigen Aufschrei zurecht. Bei einem Unfall mit der Sense konnten immerhin schlimme Verletzungen entstehen. Doch es gelang Georg nur schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, so sehr kreisten seine Gedanken um diese Idee, die im Lauf des Nachmittags immer mehr zu einem festen Vorhaben heranreifte.

Später, nach der Schlussandacht, würde der fünfzehnjährige Georg Matthäus Vischer das Kloster Stams heimlich verlassen, um sich den Soldaten anzuschließen und in den Krieg zu ziehen.

Michaela Swoboda

 Auszug aus dem Roman: Vischers Vermessenheit, Salzburg, Pustet, 2013

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 13031

remote control

als erstes würde ich
deine ängste wegzoomen
deine bedenken zerstreuen
dein gewissen beschwichtigen
und dann
der sehnsucht die schwere nehmen

danach könnte ich getrost
die fernbedienung sein lassen

denn dann kämst du
endlich!
und würdest mich
mit deinem zärtlichen lächeln
ganz unbekümmert fragen
ob ich nicht auch riesengroße lust hätte
dann und wann ein paar stunden
zu unseren nächten zu machen

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13023

Spätsommer. Das Herz residiert halt nicht im Oberstübchen.

(für Fanny)

Jetzt war es ihm peinlich. Sie hatte versucht, zumindest visuell ihrer Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, doch schon ein Blick von ihm genügte, um sie eines anderen zu belehren. Obschon er ihr vor Tagen mehr als deutlich seine hormonellen Turbulenzen zu erkennen gegeben hatte. Heute war die biologische Sachlage eine offensichtlich andere. Seine blassblauen Augen blieben ohne diese irisierenden Lichtsprengsel, die sie so bezaubert und ihr so unvermutet den Boden unter den Füßen fortgezogen hatten. Und die jetzt nicht und nicht reproduzierbar waren. Der Schmerz über diesen Verlust war ein ungestümer und zugleich von einer Lächerlichkeit, die ihr nicht erträglich war. Wie konnte sie, die Selbständige, die Erfolgreiche, die nicht nur zufrieden, sondern geradezu glücklich Verheiratete, ja, wie konnte gerade sie sich einzig von einem nur flüchtig bekannten Augenpaar emotional so dermaßen nachhaltig derangieren lassen?

Vorerst hatte sie zu dieser Veranstaltung gar nicht mitkommen wollen, wusste sie doch, dass er dort sein und sie wieder liebevoll lächelnd taxieren würde. Und es war vorhersagbar, dass sie reflexartig zurückstrahlen würde, obwohl sie sich einen neutralen Ausdruck verordnet hatte. Er hatte sie nicht sofort begrüßt, sondern diesmal deutlich gezögert, ihren Erwartungen zu begegnen. Doch dann, sozusagen ansatzlos ausgeführt, hatte er sie mit seinem Blick quasi niedergestreckt. Nicht einfach nur keckes Interesse gezeigt. Nein, da war ein unfassbares Quantum an Zärtlichkeit in seinen Augen, die ihrem Körper eine Art seismische Erschütterung bescherte, das Epizentrum - wie albern und vorhersehbar! - das Herz. Denken ausgeschlossen. Immer tiefer in den Blicken des Gegenübers untergehend, umkreisten sie einander minutenlang, begleitet von sinnfreiem Smalltalk; die Tür zum Denken verstellt von einer alles erfüllenden körperlichen Präsenz. Ja, und es gab nicht einmal den Ansatz eines Versuchs, diese hormongesteuerte Entrücktheit vor den umstehenden, ihnen teils bekannten Menschen zu verbergen.

Unwiderstehlich, aber nicht einnehmbar. Also abhaken als einen beim unbedachten, üblicherweise harmlosen, Flirten entstandenen Kollateralverlust. Und alternativ Gedanken belangloser Art entwickeln, in ausreichender Menge, um den Kopf zuverlässig und langanhaltend zu beschäftigen. Und doch, diese Augen hatten sich festgebrannt.

Sie war sich ihrer Abgeklärtheit allzu gewiss, der Körper hormonell konsolidiert. Diese Art von Gefühlsaufruhr würde sie nicht mehr behelligen. In ihrem Alter. Ihr runder Geburstag hatte sie im dämmrig dahinplätschernden Zustand ihres Alltags nicht wirklich aufgewühlt. Sie würde einfach so weitermachen, sozusagen die Zukunft möglichst ohne größere Blessuren hinter sich bringen. Die eheliche Geborgenheit war im wohltuenden Überfluss vorhanden, hatte sie über die Jahrzehnte satt und behäbig gemacht.

Doch nun war sie hungrig. Diese Augen hatten sie aufgeweckt, so unerwartet und unverhofft, so vehement. Und ihr das Atmen schwer gemacht. Das Leben vollzog sich plötzlich in scheinbar unsinniger Eile. Wollte sie die Zeit zurückdrehen? Ja, sicher! Zum ersten Mal intensives Bedauern darüber, dass das Leben bereits so fortgeschritten war. Dabei hatte sie das Gefühl zuerst gar nicht einordnen können, selbstredend hatte es immer wieder kleine Flirts gegeben, das Prickeln hatte sich aber verlässlich immer wieder rasch verabschiedet. Nach diesem jetzigen Stattgeben der Sehnsucht blieb ein Schmerz, immerhin in vielzitierter bittersüßer Qualität. Ja, aber sie solle doch froh sein, sich in ihrem Alter noch einmal einer Verliebtheit stellen zu können. Und doch blieb sie taumelnd von den berauschenden Aufwinden in einer deutlichen Leere zurück.

Hätte ihr jemand noch vor kurzem gesagt, dass sie sich auf Kollisionskurs mit einer veritablen Lebenskrise befand, hätte sie das absurd gefunden. Jetzt lag sie nachts wach und war tagsüber unterwegs, mit aufgewühlten Sinnen und voller Sehnsucht, nein, geradezu in panischer Gier auf der Suche nach Momenten der Intensität, die sie womöglich nie mehr bekommen würde. Das schien nun herbe Gewissheit;  also hatte sie obendrein eine unerwünscht klare Antwort auf eine nie gestellte Frage zu verdauen. Und dann natürlich die des Eigentümers der blauen Augen: Der Mann will treu bleiben, sein Blick war zwar interessiert, aber unbedacht gewesen. Aha. Ja klar, sie wolle natürlich auch an der Treue festhalten - ein Klammern an die Restwürde. Schließlich hätten sie ja beide etwas zu verlieren, was sie keinesfalls wollten.

Wenn bloß dieser lächerliche Liebeskummer nicht wäre! Unentwegt. Das Herz residiert halt nicht im Oberstübchen. Möge letzteres bald wieder die Oberhand gewinnen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13018

Na klar!

Es war vorhersehbar gewesen. Ja, natürlich. Trotzdem verursachte es mir Herzklopfen. Und trotzdem war ich enttäuscht. Das Handy hielt ich immer noch in der Hand, unentschlossen, was nun zu tun sei. Ganz so, als ob mir gleich dämmern würde, welche Schritte als nächstes anstünden.

Kathi war während der letzten fünf Jahre perfekt gewesen für mich. So eine kleine, zarte Blonde war sie, hübsch. Und sie hatte sanfte Hände. Obwohl – die Annäherung damals war nicht eben leicht, sie war so jung, so unerfahren und so dermaßen empfindlich für Kritik. Sogar Tränen sind geflossen, einmal. Ich hätte einfühlsamer sein können, ja natürlich.
Gleich nach Abschluss ihrer Lehre hatte ich sie kennen gelernt. Schnell waren wir per Du. Anfänglich der übliche Smalltalk über Urlaube, dann Vertraulicheres über ihren Exfreund, der sie nicht gerade fair behandelt hatte. Ausgerechnet in so einen groben Klotz hatte sie sich verliebt. Neben ihrem schlechtbezahlten Fulltimejob wurde damals auch noch von ihr erwartet, dass sie im Stall und auf dem Feld mithalf.

Doch nun war alles anders, die Vorzeichen besser, der Kompass auf Zukunft gestellt, und damit das unausweichlich Folgende vorhersehbar. Ausweichend anfangs noch ihre Antworten auf meine vorsichtige Anspielung auf die plötzlich zu enge Bluse. Doch – obwohl sie vieles daransetzte, es zu verbergen – das Bäuchlein war eines Tages nicht mehr zu übersehen und mein voriger Besuch bei ihr somit der vorläufig letzte.

Das Telefonat endete dennoch irgendwie überraschend mit den folgenschweren Worten: „Die Kathi, die ist seit letzter Woche in Karenz, Sie werden sich für eine unserer anderen Friseurinnen entscheiden müssen, liebe Frau Gruber.“

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 13017

 

 

Fieberphantasien im Pullmann-Abteil

Meinem ein bisschen versnobten damaligen Begleiter, einem jungakademischen Psychologen, kam es gerade recht, einer reiseunerfahrenen jungen Frau wie mir zu zeigen, wie man Reiseabenteuern souverän begegnet. Handtellergroße Kakerlaken auf dem Klobrett, doppelt zur Unterschrift vorgelegte Kreditkartenbelege und der Mietwagen, dessen Pneu die Luft nur bis zum nächsten Stadtviertel halten konnte, fallen unter die Rubrik touristische Kümmernisse allgemeinüblicher Natur und damit bei nervenstarken westeuropäischen Touristen nicht weiter ins Gewicht.

Auf die kolportierte Überlegenheit des Mannes vertrauend, konkret auf die meines damaligen Freundes, ließ ich mich also vom Kauf dieses Zugtickets nach Mexiko City überzeugen.
Mein Psychologe, der übrigens verbal und nonverbal eine beginnende Magen-Darm-Verstimmung ankündigte, erklärte mir, dass wir ein so genanntes Pullman-Abteil gebucht hätten; er wusste oder erfand gut, welche bedeutenden Menschen in diesem komfortablen Abteil bereits gereist seien. Der Charme des 19. Jahrhunderts war nicht nur optisch präsent, nein, den ein Jahrhundert lang benützten Polsterbänken haftete auch ein ganz besonderer Geruch an. Drei Stunden sollte laut Fahrplan die Fahrt in die Hauptstadt dauern.
Auf halber Strecke – wir hatten gerade unseren Reiseproviant verzehrt – ging plötzlich gar nichts mehr; der Zug blieb ruckartig auf freier Strecke stehen. Meine Frage an den mexikanischen Schaffner nach der Ursache unseres abrupten Stopps wurde mystisch lächelnd mit Schulterzucken quittiert. Wir befanden uns mitten auf freiem Acker, links und rechts nur trockene braune Erde, keine Siedlungen, keine Menschen, keine Straßen.

Die zuvor noch leichten Anzeichen einer Magen-Darm-Verstimmung meines Begleiters wichen ausgeprägten Beschwerden. Natürlich waren wir vage darauf vorbereitet, dass auch uns Montezumas Rache ereilen würde, aber ausgerechnet jetzt und hier? Die Toiletten aus dem vorigen Jahrhundert verloren schnell ihren viel gepriesenen Charme. Zu den eruptiven Emissionen meines Freundes gesellte sich innerhalb der nächsten beiden Stunden sehr hohes Fieber – unser unfreiwilliger Aufenthalt zog sich hin.
Unsere Getränkevorräte waren erschöpft, es war extrem heiß und stickig in unserem Abteil, auch durch Öffnen der Fenster und Türen kam kein lindernder Luftzug zustande; mein Freund transpirierte und ich aus Angst um ihn nicht minder, denn er lag mittlerweile mit hochrotem Gesicht auf dem Bett und konnte ganz entgegen seine Natur keinen zusammenhängenden Satz mehr sprechen. Er hatte Durst, wir hatten Durst; das Wasser aus der Leitung war gerade gut genug für einen Umschlag auf seine fiebrige Stirn.

Der Schaffner spazierte mit dem Zugführer rauchend und wild gestikulierend außen am Zug entlang und nichts deutete auf eine baldige Weiterfahrt hin. Meine Frage nach Getränken verneinte er bedauernd; und nein, ein Arzt sei nicht im Zug. Immerhin war genug Klopapier vorrätig. Ein launiger Mitreisender im Nachbarabteil bot mir statt Wasser zur Beseitigung unserer "bad vibrations" Kokain, auf das ich dankend verzichtete.
Zwischen erotischen Fieberphantasien, zu deren Realisierung mein deaktivierter Geliebter – Montezuma sei's gedankt – zu schwach war und geräuschvollen Aufenthalten im Pullman-Klo verging die Zeit dann doch irgendwie kurzweilig bis zur Weiterfahrt.
Nach neunstündiger "Fahrt" erreichten wir die mitternächtliche Hauptstadt. Ich war in diesen Stunden von der unbedarften zur routinierten Reisenden gealtert, nahm meinen Rucksack auf den Rücken, seinen auf die rechte Schulter, mit der linken stützte ich meinen kranken Freund, brüllte mit Nachdruck erfolgreich nach einem Taxi, korrigierte spanisch stotternd dessen Fahrtroute, und wir erreichten mit halbtägiger Verspätung unser Hotel, wo mit Arzt, Salzkeksen und Bier mein Liebster nach einigen Tagen voll wiederhergestellt war.

Das Histörchen mit den erotischen Fieberphantasien diente übrigens noch eine Zeitlang der spektakulären Erbauung unseres Bekanntenkreises, bis mein Freund – ganz Psychologe – das einfach meiner Phantasie zuschrieb. Letzteres stand aber nicht wirklich in ursächlichem Zusammenhang zu unserer bald darauf erfolgten Trennung.

Michaela Swoboda

Text veröffentlicht in:  Der Spiegel

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 13012

 

 

Ende ohne Anfang.

Also weißt du, ganz weit oben auf der Wunschliste meiner linken Gehirnhälfte stand, Paul nie wieder zu begegnen; aber die rechte hat das aufs Heftigste konterkariert. Denn obwohl ich die Straße, in der er seine Galerie hat, für gewöhnlich meide, bin ich gestern am frühen Abend doch dort gelandet. Automatisch.
Also, ich mag das klare Licht des Septembers und die Nachsommerstimmung in der Stadt. So ein Gin Tonic im Kreis von Bekannten. Du weißt schon, über den Sommer reden, Herbstpläne skizzieren und so. Spätsommersonnig.
Dass mir der Paul eine Abfuhr erteilt hat, war da schon einige Wochen her. Nein, ich weiß auch nicht, was mich da geritten hat, diesen braven Familienvater für eine Affäre ins Auge zu fassen. Entbehrlich.

Da stand er also und winkte mich locker zu seinem Stehtisch. Jetzt hieß es, einfach so zu tun, als ob er mir nie interessant erschienen wäre. Peinlichkeiten haben keinen Platz, denn wir haben geschäftlich immer wieder miteinander zu tun, ja eigentlich sind wir beinahe freundschaftlich verbunden. Der Paul, der ist ja auch ein Kunstbesessener. Ja, genau, zumindest diese Leidenschaft teilen wir. Gemeinsam.
Ich sah, dass er schon beim zweiten Drink angelangt war. Eine Woche zuvor hatte ich meine Haare ganz kurz schneiden lassen und ich trug ein knielanges dunkles Kleid, so eines, das meine Arme freiließ. Dazu hatte ich einen gleichfarbigen Bolereo kombiniert, ein recht extravagantes Stück aus Venedig. Zwei lange Ärmel, am Rücken verbunden, aus hauchdünnem, halbtransparentem Strickstoff. Und da gab es diese Stelle, die weder vom Kleid, noch vom Bolero bedeckt wurde, du weißt schon, ein kleiner Teil der Schulter, meine Achselhöhle und der Bereich darunter im Übergang zur Brust blieben frei. Blickfang.
Man könnte meinen, die Männer hätten sich an leicht bekleideten Frauen über den Sommer satt gesehen. So die trockene Theorie. Als ich dann nämlich meinen Arm hob, um den Kellner heranzuwinken, wirkte diese kleine unbedeckte Stelle meines Körpers anscheinend höchst attraktiv auf Paul, der seinen Blick nicht abwenden konnte. Ich habe das natürlich bemerkt, hielt den Arm ein klein wenig länger, als eigentlich nötig, in die Luft und stützte mich anschließend so auf den Bartisch, dass auch jetzt noch Raum blieb für etwaige Körperbetrachtungen. Hautbegutachtungen.
Pauls Blick fiel immer wieder genau dort hin, sein Redefluss jedoch war ungebrochen. Ja, er referierte geradezu unaufhörlich über einen neuen Künstler. Unbeeindruckt.
Louisa, das musst du sehen. Ich habe ihn gleich unter Vertrag genommen, im November präsentiere ich ihn. Er ist jung und störrisch und so derart von sich eingenommen. Stell dir vor, anstatt dankbar zu sein, hat er um die Höhe der Provision gefeilscht. Aber er ist gut, so expressiv mit seinen Arbeiten im XXL-Format. Du wirst ihn mögen. Unverwechselbar.
Und als ich dann meinen Gin Tonic zum Mund führte und somit meine nackte Achselhöhle erneut ein Stück weit öffnete, stell dir vor, da schnellte Pauls Hand plötzlich vor und fuhr wie beiläufig kurz mit den Handrücken darüber, wobei er ungerührt weitersprach. Fast hätte ich meinen Drink verschüttet. Unerwartet.
Doch so schnell seine Hand gekommen war, so rasch war sie auch wieder verschwunden. Und wenn ich seine kurze, sehr sachte Berührung nicht noch immer deutlich nach-gespürt hätte, so wäre ich gar nicht mehr sicher gewesen, dass das eben tatsächlich passiert war. Eigentlich war es ja nur eine kleine Geste, so als ob er den aufdringlichen Gedanken an meine Haut wie eine lästige Fliege verjagt hätte. Kühn!

Paul zeigte mir Fotos der Werke des jungen Künstlers, und wir sahen einander über unsere Lesebrillen hinweg zum ersten Mal länger in die Augen. Konzentriert.
Und dann fragt er mich: Und jetzt, Louisa, erzähl du mal von eurem Urlaub, du warst ja bei der Biennale? Wie fandest du die Ausstellung im Palazzo Fortuny? Und – ehrlich gesagt interessiert mich das mindestens so wie die Kunst – war’s denn auch romantisch? Immerhin Venedig!  Keck.
Na warte, überlegte ich, diese Frage kann doch kein Zufall sein! Ich sah ihm forschend in die Augen, die sich aber unbewegt zeigten. Plötzlich war ich überzeugt davon, dass er sich doch für meine Avancen erwärmen würde und fuhr fort: Romantisch? Venedig? Tja, wenn man von den tausenden Menschen absieht, die auch die Romantik suchen. Paul blieb neugierig: Nein, du weißt schon, du und dein Sebastian in der Gondel, Sonnenuntergang, o sole mio, Aperol am Markusplatz und so weiter. Hartnäckig.
Ich dachte, da will es einer aber genau wissen. Nach meinem dritten Gin Tonic zweifelte ich nicht im Mindesten daran, dem Gespräch noch gewachsen zu sein und entgegnete unbekümmert. Paul, du weißt doch, Sebastian und ich sind seit mehr als zehn Jahren verheiratet. Aber du hast Recht, wir sind zärtlich zueinander, wir lieben uns, und ja, wir haben Sex. Dich krieg ich noch, hab ich gedacht und fuhr fort; nicht ohne seine unbewegte Miene aus den Augen zu lassen. So zwei Mal pro Woche durchschnittlich, im Winter seltener, im Sommer öfter, im Urlaub viel öfter. Pokerface.
Für einen kurzen Augenblick glaubte ich, ein Aufblitzen in seinen Augen zu bemerken. Spöttisch.
Mit ausladender, entblößender Armbewegung bestellte ich für uns beide neue Drinks, um gleich darauf unerschrocken fortzufahren. Im schlechtesten Fall denke ich dabei dann an die Erledigungen des nächsten Tages, aber das wird wohl bei deiner Frau nicht anders sein. Gnadenlos.
Jetzt, jetzt! Paul zog die Augenbrauen hoch. Ich beugte mich über den Tisch näher zu ihm und flüsterte unverdrossen: In besseren Momenten habe ich irgendeinen muskulösen Kerl vor Augen und manchmal, ja manchmal, da hat er sogar ein Gesicht. Ich erhob am Ende des Satzes meine Stimme, ein wenig schmeichelnd und theatralisch und sah ihm unverwandt in die Augen. Einladend.
Na dann, Prost, auf Venedig und die Romantik!, sagte der Paul daraufhin und leerte sein Glas in einem Zug. Und was bitte wolltest du dann eigentlich von mir? Mit einem imposanten Sixpack kann ich nun wirklich nicht dienen. Er konnte mir nur ganz kurz in die Augen sehen. Indigniert.
Mir wurde daraufhin sehr heiß und ich spürte den Alkohol, glaubte aber, noch weiter gehen zu müssen und so sage ich dann unverschämt: Ich wollte halt plötzlich wissen, wie du dich anfühlst und wie du küsst. Schlicht.

Jetzt blieb dem Paul der Mund offen und gerade als ich beharrlich weitersprechen wollte, stand sie plötzlich da. Ja, seine Frau, ich kenne sie nur flüchtig. Sie schob ihr Fahrrad an unseren Tisch, sah auf die leeren Gläser und sagte kurz angebunden Hallo. Weißt du, die Frau sah richtig abgekämpft aus, trug ihren kleinen Jungen auf dem Arm, ihr Zopf hatte sich halb aufgelöst, Schweißtropfen über der Oberlippe, eine schwere Einkaufstasche hing am Rad. Das Kind begann zu kreischen. Ich sah ihr an, dass sie wütend gegen die Tränen ankämpfte. Paul, du wolltest doch Melanie abholen vom Training, weil du doch heute das Auto hast. Jetzt glaub ich fast, du kannst gar nicht mehr fahren, wenn ich so auf die Anzahl der Gläser schaue und in deine Augen. Gibst du mir den Schlüssel, damit ich das erledigen kann, das Fahrrad lasse ich dir hier. Fatal.
Und der Paul, der bekam so einen leeren Blick. Glaub mir, ich hab mich plötzlich so geschämt, wie ich da stehe und diesen Mann mit meiner nackten Achselhöhle verwirre. Unerträglich!
Das war’s dann auch schon mit meiner kläglichen Anbahnungsgeschichte, so was von erbärmlich. Gescheitert.

Michaela Swoboda

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