Spätsommer. Das Herz residiert halt nicht im Oberstübchen.

(für Fanny)

Jetzt war es ihm peinlich. Sie hatte versucht, zumindest visuell ihrer Sehnsucht Ausdruck zu verleihen, doch schon ein Blick von ihm genügte, um sie eines anderen zu belehren. Obschon er ihr vor Tagen mehr als deutlich seine hormonellen Turbulenzen zu erkennen gegeben hatte. Heute war die biologische Sachlage eine offensichtlich andere. Seine blassblauen Augen blieben ohne diese irisierenden Lichtsprengsel, die sie so bezaubert und ihr so unvermutet den Boden unter den Füßen fortgezogen hatten. Und die jetzt nicht und nicht reproduzierbar waren. Der Schmerz über diesen Verlust war ein ungestümer und zugleich von einer Lächerlichkeit, die ihr nicht erträglich war. Wie konnte sie, die Selbständige, die Erfolgreiche, die nicht nur zufrieden, sondern geradezu glücklich Verheiratete, ja, wie konnte gerade sie sich einzig von einem nur flüchtig bekannten Augenpaar emotional so dermaßen nachhaltig derangieren lassen?

Vorerst hatte sie zu dieser Veranstaltung gar nicht mitkommen wollen, wusste sie doch, dass er dort sein und sie wieder liebevoll lächelnd taxieren würde. Und es war vorhersagbar, dass sie reflexartig zurückstrahlen würde, obwohl sie sich einen neutralen Ausdruck verordnet hatte. Er hatte sie nicht sofort begrüßt, sondern diesmal deutlich gezögert, ihren Erwartungen zu begegnen. Doch dann, sozusagen ansatzlos ausgeführt, hatte er sie mit seinem Blick quasi niedergestreckt. Nicht einfach nur keckes Interesse gezeigt. Nein, da war ein unfassbares Quantum an Zärtlichkeit in seinen Augen, die ihrem Körper eine Art seismische Erschütterung bescherte, das Epizentrum - wie albern und vorhersehbar! - das Herz. Denken ausgeschlossen. Immer tiefer in den Blicken des Gegenübers untergehend, umkreisten sie einander minutenlang, begleitet von sinnfreiem Smalltalk; die Tür zum Denken verstellt von einer alles erfüllenden körperlichen Präsenz. Ja, und es gab nicht einmal den Ansatz eines Versuchs, diese hormongesteuerte Entrücktheit vor den umstehenden, ihnen teils bekannten Menschen zu verbergen.

Unwiderstehlich, aber nicht einnehmbar. Also abhaken als einen beim unbedachten, üblicherweise harmlosen, Flirten entstandenen Kollateralverlust. Und alternativ Gedanken belangloser Art entwickeln, in ausreichender Menge, um den Kopf zuverlässig und langanhaltend zu beschäftigen. Und doch, diese Augen hatten sich festgebrannt.

Sie war sich ihrer Abgeklärtheit allzu gewiss, der Körper hormonell konsolidiert. Diese Art von Gefühlsaufruhr würde sie nicht mehr behelligen. In ihrem Alter. Ihr runder Geburstag hatte sie im dämmrig dahinplätschernden Zustand ihres Alltags nicht wirklich aufgewühlt. Sie würde einfach so weitermachen, sozusagen die Zukunft möglichst ohne größere Blessuren hinter sich bringen. Die eheliche Geborgenheit war im wohltuenden Überfluss vorhanden, hatte sie über die Jahrzehnte satt und behäbig gemacht.

Doch nun war sie hungrig. Diese Augen hatten sie aufgeweckt, so unerwartet und unverhofft, so vehement. Und ihr das Atmen schwer gemacht. Das Leben vollzog sich plötzlich in scheinbar unsinniger Eile. Wollte sie die Zeit zurückdrehen? Ja, sicher! Zum ersten Mal intensives Bedauern darüber, dass das Leben bereits so fortgeschritten war. Dabei hatte sie das Gefühl zuerst gar nicht einordnen können, selbstredend hatte es immer wieder kleine Flirts gegeben, das Prickeln hatte sich aber verlässlich immer wieder rasch verabschiedet. Nach diesem jetzigen Stattgeben der Sehnsucht blieb ein Schmerz, immerhin in vielzitierter bittersüßer Qualität. Ja, aber sie solle doch froh sein, sich in ihrem Alter noch einmal einer Verliebtheit stellen zu können. Und doch blieb sie taumelnd von den berauschenden Aufwinden in einer deutlichen Leere zurück.

Hätte ihr jemand noch vor kurzem gesagt, dass sie sich auf Kollisionskurs mit einer veritablen Lebenskrise befand, hätte sie das absurd gefunden. Jetzt lag sie nachts wach und war tagsüber unterwegs, mit aufgewühlten Sinnen und voller Sehnsucht, nein, geradezu in panischer Gier auf der Suche nach Momenten der Intensität, die sie womöglich nie mehr bekommen würde. Das schien nun herbe Gewissheit;  also hatte sie obendrein eine unerwünscht klare Antwort auf eine nie gestellte Frage zu verdauen. Und dann natürlich die des Eigentümers der blauen Augen: Der Mann will treu bleiben, sein Blick war zwar interessiert, aber unbedacht gewesen. Aha. Ja klar, sie wolle natürlich auch an der Treue festhalten - ein Klammern an die Restwürde. Schließlich hätten sie ja beide etwas zu verlieren, was sie keinesfalls wollten.

Wenn bloß dieser lächerliche Liebeskummer nicht wäre! Unentwegt. Das Herz residiert halt nicht im Oberstübchen. Möge letzteres bald wieder die Oberhand gewinnen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 13018

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