Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Richard Milhous Nixons Frisur

Nenas Sohn Sakias:
Mama, ich möchte zum Friseur gehen.

Nena:
Nein, Sakias, das geht nicht. Als Musiker musst du lange Haare haben.

Sakias:
Aber meine Haare sind viel länger als deine.

Nena:
Na und? Ist doch gut.

Sakias (denkt:)
Ich würde so gern ordentlich aussehen. Die Frisur von Richard Milhous Nixon würde mir doch super stehen.
(spricht:)
Nur die Spitzen schneiden, Mama?

Nena:
Kommt nicht infrage!

Nenas Sohn Sakias auf der Schlosswiese in Moosburg am 5. Juli 2018

Nenas Sohn Sakias auf der Schlosswiese in Moosburg am 5. Juli 2018

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 25010

aus der schwarzweißwelt

das leben nimmt an kürze zu.
geschichten/legenden werden gezeugt.
mit tiktak im munde tropft die zeit aus der taschenuhr
[mit silberkörper eingekleidet]. zeigerstimme spricht.
so hängt das leben auf dem schachbrett.
schritt um schritt [mehr ein zug] ist das holz voll charakter und
spielt einen schwarz-weiß-wechseltaucher.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 24178

Wind

Der Wind weht mir ins Gesicht. Er mag warm oder kalt sein, das variiert, aber was besonders ist, ist, dass er mich stets bremst und niemals antreibt. Natürlich könnte ich etwas ganz Einfaches dagegen tun: Ich könnte mich umdrehen. Dann würde der Gegenwind zum Rückenwind werden. Aber das ist keine praktikable Lösung, denn dann läge mein Ziel in der Gegenrichtung und wäre gegenteilig zu meinem jetzigen. Das ist es doch auch, was der Mann, der den Wind schickt, beabsichtigt: mich von meinem Weg abzubringen. „Nein“, rufe ich da, „so leicht mache ich es dir nicht!“ Ich höre den Wind links und rechts, und ich spüre ihn. Ich stemme mich ihm entgegen, gehen kann ich nicht mehr. Ich stehe da und warte, dass er abklingt. „Wir werden sehen, wer den längeren Atem hat“, sage ich zu dem Mann, der den Wind schickt, „du oder ich. Und was ist eigentlich, wenn ich bloß stehenbleibe, ist es dann ein Unentschieden?“ „Nein“, gibt der Mann, der den Wind schickt, zurück. Seine Stimme ist wie der Wind selbst, sie scheint zu fließen. „Dann habe ich gewonnen. Du gewinnst, wenn du das definierte Ende deines Weges erreichst. Aber sieh dich vor, junge Frau, ich bin ein äußerst starker Gegner.“

Es ist doch eine seltsame Gegend hier, überlege ich. Nur der Weg bedeckt mit weißen Kieselsteinen und links und rechts davon Gras und einige Bäume sind vorhanden. Es gibt keine Menschen, keine Menschen, keine Häuser, keine Autos, nur den Mann, der den Wind schickt, mich selbst und eben den Wind. Die Szenerie wirkt, als sei sie nur für mich gemacht, unwirklich, doch für mich ist sie die Realität. Rechts oben sehe ich eine Zeitanzeige, 14:49 Uhr. Eigenartigerweise sehe ich nur die Zeit, aber kein Medium, das sie angibt. Dennoch weiß ich daher, dass ich nicht träume, denn in meinen Träumen gibt es keine Zeit.

Vier Minuten später hat der Wind an Geschwindigkeit zugenommen. Der Mann, der den Wind schickt, hat also noch genug Kraft. Ich dachte, er müsse sich unter den vielen Menschen, die er behelligt, aufteilen, doch wahrscheinlich läuft es derart, dass jeder Mensch sich in seiner eigenen Landschaft befindet, und ebenso ist es nicht nur Wind, der ihn behindert oder antreibt, sondern wahlweise Regen, Schnee, Hagel, Sonnenschein oder Nebel. Der Mann, der den Wind schickt, kann sich daher jeder Person in ihrer Gegend mit voller Aufmerksamkeit und maximaler Kraft widmen, ebenso die Frauen des Regens und des Hagels, die Schneefrau, die Sonnenfrau und die Nebelfrau.

Mittlerweile bläst der Wind so stark, dass ich mich auf den Bauch lege. Nun ist die Angriffsfläche des Windes bei mir gering. So kann ich einige Zeit warten. Aber was ist, wenn ich etwas essen oder trinken muss, Wasser lassen oder meine Notdurft verrichten? Wann habe ich eigentlich das letzte Mal gegessen, getrunken oder war auf dem WC? Es fällt mir nicht ein, ich habe keine Ahnung. Kann es sein, dass in dieser meiner speziellen Landschaft alle meine Körperfunktionen ausgeschaltet sind? Durchaus, antworte ich mir im Geist.

Ich presse meinen Körper also gegen den Boden aus weißen Kieselsteinen und darunter Erde. Ich kann nichts anderes tun, als zu warten. Die Zeit kommt mir lang vor, was sie nicht ist, sie ist nur die Zeit. Mittlerweile ist es 18:32 Uhr. Der Wind hat nichts an seiner Stärke verloren. Bald wird die Nacht hereinbrechen. Ich habe das Gefühl, dass es auch morgen nicht besser sein wird, auch übermorgen nicht, dass ich dem Mann, der den Wind schickt, ausgeliefert bin.

Habe ich etwas zu verlieren? Nein. Deshalb spreche ich ihn an: „Mann, der du den Wind schickst, kannst du nicht in meinen Rücken wehen?“ Sehr bald höre ich seine Stimme, die in den Wind eingebettet ist, in wechselnder Lautstärke: „Liebe Marlene, diesmal bin ich es, der sagt: ,Nein, so leicht mache ich es dir nicht!´ Das Leben ist doch keine Rutsche, die einen ohne Anstrengung ans Ziel führt. Man muss sich sein Glück oder was auch immer verdienen. Das findest du doch sicherlich auch, liebe Marlene, nicht?“ Was soll ich antworten? Ich kann entweder gar nichts sagen oder Ja. Ich sage „Ja.“

„Gut, du bist ja ein verständiges Mädchen“, erwidert nun der Mann, der den Wind schickt. „deshalb will ich dir auch entgegenkommen. Eine Möglichkeit existiert, wie dein Vorankommen viel weniger mühsam sein kann. Kannst du dir vorstellen, welche das ist?“ „Nein, keine Ahnung“, gebe ich zurück. „Indem es mich nicht gibt“, sagt der Mann, der den Wind schickt. „Dabei ist allerdings zu beachten, dass sich auch die Szenerie ändert, in der du dich befindest. Woraus sich ergibt, dass dein Vorankommen nur theoretisch leichter sein kann. Verstehst du das, Marlene?“ Ich bin doch nicht blöd. „Natürlich verstehe ich das“, sage ich.

„Schön, liebe Marlene, willst du, dass ich mich zurückziehe? Soll ich verschwinden? Überlege deine Antwort gut“, sagt der Mann, der den Wind schickt. „Ja, auf jeden Fall“, entgegne ich schnell, „ich will, dass es dich nicht mehr gibt.“

„Dein Wunsch sei dir erfüllt“, sagt der Mann, der den Wind schickt, und danach nichts mehr.

Jetzt befinde ich mich auf einem Einhandsegelboot mitten im Pazifik. Ich bin auf einer Solotour. Es herrscht absolute Flaute.

Der Mann, der den Wind schickt, hat mich reingelegt.

Viele Heliumballons im Wind beim roten RENAULT dCi 150, von der Seite

Viele Heliumballons im Wind beim roten RENAULT dCi 150, von der Seite

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24187

Vikings

Das Neugeborene wird vor Haldur dem Wikinger auf den Boden gelegt. Wenn er es annimmt, hebt er es hoch, wenn nicht, wird es ausgesetzt.

Haldur:      Er sieht aus wie unser Briefträger.

Der Bub strampelt kräftig, um zu zeigen, dass er stark ist.

Dorf-Jarl:   Aber Haldur, bei uns gibt es keinen Briefträger.

Haldur:      Wieso haben wir denn keinen Briefträger?

Dorf-Jarl:   Weil es bei uns keine Post gibt, deshalb.

Haldur:      Und weshalb gibt es bei uns keine Post?

Dorf-Jarl:   Weil wir keine Briefe schreiben. Oder hast du schon einmal einen Brief geschrieben, Haldur?

Haldur:      Nein, habe ich nicht. Aber es wäre ja möglich, dass andere Briefe schreiben.

Dorf-Jarl:   Niemand von uns schreibt Briefe, weil wir nämlich keine Schrift haben.

Haldur:      Keine Schrift? Und was ist mit den Runen?

Dorf-Jarl:   Die brauchen wir nur für praktische Dinge.

Haldur:      Um aufzuschreiben, dass wir siebenunddreißig Helme erbeutet haben etwa?

Dorf-Jarl:   Nicht, ganz, wir drücken nur einstellige Zahlen aus. Alles über neun sind viele.

Der Bub weint jetzt bitterlich und sieht Haldur an. Er hebt ihn hoch.

Haldur:      Er soll Olaf heißen.

Baumarbeiten mit Wikinger

Baumarbeiten mit Wikinger

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 25013

 

Flasche

Bruce Springsteen spielt die längsten Konzerte seit Grateful Dead im Jahr 1969. Während seine Kollegen im Backstage-Bereich chillen, schreibt er Songs. Er ist sehr fokussiert und immer fleißig.

Wir schreiben das Jahr 1965. Bruce ist sechzehn. Sein Vater Doug ist zurzeit Taxifahrer und chronisch schlecht gelaunt. Er sitzt am Küchentisch, raucht eine Zigarette und trinkt ein Bier aus der Flasche. Wie jeden Werktag lässt er Bruce antreten.

 

Doug Springsteen:
Na, Bruce, was hast du heute getan?

Bruce Springsteen:
Gitarre gespielt und einen Song geschrieben.

Doug Springsteen:
Und was denkst du, habe ich getan?

Bruce Springsteen:
Taxi gefahren, Dad?

Doug Springsteen:
Genau, Bruce, ich habe gearbeitet und Geld verdient.

Bruce Springsteen: …

Doug Springsteen:
Weißt du, was du bist, Bruce?

 Er tippt mit dem Nagel des Zeigefingers mehrfach gegen die Flasche Bier. Es macht leise kling – kling – kling.

Bruce Springsteen:
Eine Flasche?

Doug Springsteen:
Genau, du bist eine Flasche. Und jetzt geh mir aus den Augen! Abmarsch, aber im Schweinsgalopp!

Gemähtes Gras und leere Bierflaschen

Gemähtes Gras und leere Bierflaschen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 25012

Colgate

Ich bin Lebensmittelchemiker beziehungsweise war ich es, denn seit heute bin ich in Pension. Meine Firma „Colgate-Palmolive“ veranstaltete gestern ein kleines Fest zu meinen Ehren. Ich bekam zwar keine Golduhr, diese Zeiten sind vorbei, aber einige andere nette Sachen, unter anderem eine Ehrennadel für besondere Verdienste um „Colgate-Palmolive“, was mich ganz besonders freute.

Meine Lebensleistung, das worauf ich stolz bin, ist, die Anhaftung der Zahnpasta an der Zahnbürste stark verringert zu haben. Ein großer Teil der Zahnpasta fiel dann von der Zahnbürste ins Waschbecken, und fast jeder spülte diesen Teil hinunter. Dadurch wurde der Absatz von Colgate-Zahnpasta um 17 % gesteigert. Ist das nicht wunderbar?

Colgate - ACHTEN-SIE-AUF-DIE-MARKE

Colgate – ACHTEN-SIE-AUF-DIE-MARKE

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 25011

Die Volkszählung

„So, jetzt habe ich sie endlich alle zusammen. Das macht 8 Milliarden 21 Millionen siebenhundertzweiundfünfzig Tausend …“, sagt Gott halblaut vor sich hin. „Werter Herr im Himmel“, sagt da ein junger Engel, „während Ihr die Zahl nennt, werden schon wieder Menschen geboren.“ „Da hast du Recht“, sagt Gott, „deshalb beziffere ich die Menschenpopulation nur auf tausend genau.“ Der Engel nickt eifrig. Die im mittleren Management sind die Schlimmsten, denkt Gott, oft jung und immer ehrgeizig.

Der gelbe Engel mit der Trompete beim Minigolfplatz in Krumpendorf im Schnee in der Nacht des 20. Januar 2024

Der gelbe Engel mit der Trompete beim Minigolfplatz in Krumpendorf im Schnee in der Nacht des 20. Januar 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24186

Für mein Kind: Zurück zu den Wurzeln gemeinsam mit dir

Zeit fliegt vorbei.
Manchmal brems ich sie ein,
sehe dich an
und erschreck,
weil ich mich bis ins Detail
an dir spiegeln kann.
Ich entdeck
Spuren meiner Vergangenheit
in deinem Gesicht,
rück in dein Licht,
und wir gehen ein Stück
auf der Zeitschnur zurück.
Dann färbt dein Lachen
vergilbte Bilder in Schwarz-Weiß
leuchtend bunt,
und wir staunen leis.
Lassen darauf Glücksraketen
starten, halten die Hand
und warten gebannt
im Moment der Magie,
wenn sie den Himmel
in ein Farbenmeer tunken
und Endorphinfunken
in unsere Zukunft sprühen.
Sehen sie verglühen und fächern uns,
zufrieden lächelnd, Luft zu,
liebesgefüllt.
Nichts fehlt.
Lassen dann beseelt
die Zeit weiterziehen.

Claudia Lüer
aus dem Gedichtband „Barfuß durch  dein Herz“

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24177

Pinguine

Pinguine sind ja putzige Tiere. Um sie besser zu erforschen, wurden in einer Kolonie von Kaiserpinguinen mit Kameras versehene Roboter-Pinguine eingeschmuggelt. Die echten Pinguine akzeptierten sie als Artgenossen. Die Roboter-Pinguine konnten weder schwimmen noch mit den echten Pinguinen kommunizieren. Die Pinguine dachten wohl, die Roboter-Pinguine seien beschränkt, aber Kollegen waren sie trotzdem.

Das kleine Pinguinplüschtier auf dem Asphalt

Das kleine Pinguinplüschtier auf dem Asphalt

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 25017