Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Der Wankelwütige

Wütend reckt sich auf der Bühnen,
physisch gleicht er einem Hünen.
Geistig stark zurückgeblieben,
Fäuste zeigend, er wird siegen.

Hat uns fast die Nacht gestohlen,
wiederum ganz unverhohlen,
aus mir nichts dir nichts auserkoren,
ein neues Monster uns geboren.

Ein grober Kerl, ungeschlacht,
hievt sich gierig an die Macht.
Erscheint in zweierlei Gestalt,
weltmännisch und durch Gewalt.

Macht kein Hehl aus seinen Fehlern,
heute so und morgen so.
Rechnet ab mit seinen Gegnern.
Die ganze Welt küsst ihm den Po.

Holt Migranten aus den Kellern
und von ungewasch’nen Tellern,
schimpft und schreit, man glaubt es kaum,
Menschen sind für ihn Abschaum.

Entmenschlicht laufend seine Gegner,
in seinen Topf gerät ein jeder,
wo Millionär nebst Anwalt schmurgelt.
Schon von Verhaftung wird gegurgelt.
Unbelehrbar, schroff und barsch
tritt er sie alle in den Arsch.

Was er anfasst, gegenwärtig,
geht in Scherben, nichts wird fertig.
Ist an ungeraden Tagen
auf Putin sauer, wenn Sie fragen.

Grönland, Gaza, Ukraine,
Öl und Erdgas, Pipeline.
Nichts geschieht in Panama,
ebenso bei Kanada.

Zölle steigen ziemlich sehr,
wie hoch, das weiß er selbst nicht mehr.
Der Kerl ist unberechenbar,
rechnen kann er nicht. Wie wahr!

So wie ein Irrlicht, ein globales!
Oh tempora und auch mor(al)es!
Droht mit dem Finger, hoch erhoben,
selbst weiß er nicht, wo unt’ und oben.

Noch scheint kein Mittel ihm entgegen,
kaum will Widerstand sich regen.
Vergeblich mahnen ihn die Leut’
zu politischer Verlässlichkeit.
Niemand weiß, was da noch kommt,
kein Licht zeigt sich am Horizont.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25129

 

Jugendgewalt

Du meinst, Jugendgewalt ist männlich?
Na klar, sieht ihnen wieder ähnlich.
Am häufigsten sind es oft Knaben,
die Probleme mit dem Ego haben.

Sie sind am stärksten, wie man meint,
gruppendynamisch, wenn vereint.

Es lernt ein Junge von der Pike
den Unsinn rasch von seiner Clique.
Doch Einzelgänger, ich sag’s ehrlich,
scheinen mir nicht ungefährlich.

Und eines ist wohl allen gleich,
im Öffentlichen liegt ihr Reich.
Im Häuslichen begeh’n die Alten
ganz unbemerkt ihre Gewalten.

Angst vor denen haben Frauen,
Ältere werd’n kaum verhauen.
Die Jugend sucht nach ihrem Opfer,
meist unter sich. Hab’n die ‘nen Klopfer?

Und wo des Vaters Ohrfeig’ knallt,
liegt oft der Ursprung der Gewalt.
Familienleben dissonant,
Jugend außer Rand und Band.

In der Schule nur als Gast,
bürgt im Leben leicht für Knast.
Aggressiv und abnormal,
erhöht die Delinquentenzahl.

Mehrfachtäter schaffen leicht,
was so für die Statistik reicht.
In Lebenswelten, schwach erhellten,
Gewalttaten, die dort oft gelten.

Nur allzu groß ist jene Kluft,
die Arm und Reich daneben schuf.
Was kann aus armen Schluckern werden,
bei dieser Konkurrenz auf Erden?
Die Schlinge zieht sich eng zusammen,
bleibt wohl nur eins, sie wegzurammen.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25128

 

Wirklichkeiten

Man sagt, dass man nichts wisse,
die Kunst wär’, bloß zu glauben.
Wie’s nach dem Tode weitergeht,
mag uns manchmal die Hoffnung rauben.

In Dunkelheit soll alles enden?
Und in unsern Gliedern stecken,
unaussprechlich, was wir fänden,
in der Apokalypsis Schrecken?

Wie eine and’re Wirklichkeit
scheint uns das Universum fremd.
Unfassbare Erhabenheit,
die Grenzen uns’res Denkens trennt.

Ob es vielleicht nicht doch was gibt,
woran der Mensch sich klammern kann?
Wo rationales Denken siegt,
im Zweifel, gegen des Dunkels Bann?

Im Hoffen auf Gerechtigkeit,
das Tun muss Konsequenzen haben!
Durch Ratio hin zu des Willens Fähigkeit,
sich an der Wahrheit zu laben.

Der heilig’ Geist, als göttliches Substrat,
scheint überflüssig, gibt es nicht schon einen Gott?
Und doch, grenzt nicht, so wie wir glauben,
etwa schon gar an Spott?

Göttlich’ Instrument, du Wissenschaft,
hilf uns, die Welt versteh’n!
Mach, dass wir durch deine Kraft
die zwölf Materienteilchen seh’n!

Und unbemerkt durchs Weltall geistern,
dunkle Stoffe, unverstanden.
Ob die alles zusammenkleistern?
Hier kommt Wissen stark abhanden.

Der leere Raum, zwischen den Sternen,
den Planeten, nah’ und fernen?
Was ist es, das die leere Stätte füllt?
Durch ungeahntes Treiben sich vor uns verhüllt?

Offenbart sich dieser Gott in der Natur?
Bewusstsein, subjektiv, verstehbar nach Gesetzen?
Scheinen schwer begreifbar, nur,
kann Religion diese ersetzen?

Da ist die Welt der Psyche und des Objektiven,
die der Zahlen, Kunst und Theorien.
Sowie auch jene, von Gesetzen, massiven,
durch sie bestimmten Energien.

So kann die Welt, gar durch Ideen,
sich physikalisch stark verformen.
Und durch Geschichten, wie wir seh’n,
Wissen bewahren und erklär’n, nach Normen.

Soziale Wirklichkeiten, denen Wahrheit fehlt,
ein Phänomen, dass viel zu viel dran glauben.
Fake News! Denn das Erfolgsgeheimnis zählt!
Die nützt der Autokrat. Der kann sich viel erlauben.

Im Messbaren zeigt Wissenschaft
in vielem noch Versäumnis,
vergleichbar mit, dem Glauben gleich,
unlösbaren Geheimnis.

Im Jetzt erwarten wir gebannt
die Lösung auf die Fragen,
auf Dinge, die wir nicht erkannt’.
Mag sein, dass man die Antwort erst
im Jenseits uns wird sagen.

Muss man denn alles wörtlich nehmen?
Die Denkweisen war’n mythisch.
Dazwischen liegen tausend Jahre,
von Schriften, und sie sind kryptisch.

Den Armen und den Schwachen helfen.
Gelebte Nächstenliebe.
Spuren des eig’nen Wirkens gelten,
im Leben anderer, wenn sonst nichts bliebe.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at |Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25127

Am Katzentischerl

Eigentlich ist es eine Herabsetzung, am entlegenen kleinen Tisch zu sitzen – man weiß ja schon aus der Bibel, dass an der Tafel strenge Rangordnungen bestehen und eisern eingehalten werden. Wie vieler Überlegungen bedarf es oft, bei großen Feiern alle Gäste zufriedenstellend und sozial verträglich zu platzieren. Und trotz aller Sorgfalt passiert es immer einmal, dass da noch zwei, drei Gäste dazukommen, für die man eben noch einen Tisch ganz hinten zum Ausgang stellt.

Das kann von den dorthin Gesetzten manchmal schon als ein bisserl kränkend empfunden werden. Noch dazu, wenn man die hier zusammengewürfelten Tischgenossen nicht kennt. Also macht man gute Miene zum bösen Spiel, fragt nach der Getränkebestellung, in Gottes Namen und weil man ja nicht unhöflich erscheinen will, den Sitznachbarn oder die Frau vis-à-vis, von wo er/sie her ist und welcher Bezug zum Gastgeber da ist und so.

Und wenn man Glück hat und der andere Gast auch froh ist, jemanden zum Reden zu haben, entwickelt sich oft ein interessantes Gespräch, man kommt einander näher, ein Dritter bringt eine passende Wortspende ein, und dann lacht man auch einmal über einen neuen Witz, während an der großen Tafel das Eis erst langsam zu tauen beginnt. Dann schiebt man noch eine lustige Episode aus dem Urlaub ein: „Jö, Sie kennen auch den Kirchenwirt auf der Tauplitz?“ Und wenn jetzt die Frau vis-à-vis hellauf lacht, blickt die reservierte große Tafelrunde erstaunt und ein bisserl neidisch zum Katzentischerl hinüber, wo keine steife Etikette herrscht und man das tut, wozu ein Fest da ist – nämlich sich bei gutem Futter gut zu unterhalten. Auch am Katzentisch. Miau!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: fest feiern | Inventarnummer: 25126

Der Mann, der seine Stadt rechnete

Aron Kurz lebte seit 30 Jahren in seiner Stadt, die wir hier Dönen nennen. Wir tun das, weil weder Aron noch Dönen gewollt hätten, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Aron hatte immer schon einen besonderen Kopf besessen, der Zahlen liebte und besonders viel Ordnung brauchte. Spontaneität wirkte auf Aron wie Hindernisse auf eine Schnecke; beide zogen sich in sich zusammen.

Er arbeitete in einem Computerzentrum, was er gerne mochte, weil dort alles seine Ordnung hatte. Das Computerzentrum, wo Aron arbeitete, gehörte zur Stadtverwaltung.

Seine Stadt unterschied sich nicht von anderen Städten, die 200.000 Einwohner hatten, halb in einer Hügellandschaft, halb in einer Ebene lagen, von zwei Flüssen durchschnitten wurden, etwas Industrie und etwas Kultur aufwiesen und langsam mit den Nachbarorten verschmolzen.

Das Stadtbild des IT-Spezialisten hatte für ihn keine sinnlichen Qualitäten, obwohl die Stadt sich in Regen, Sonne und Schnee veränderte. In der Sommersonne schien sie metallisch zu gleißen, unter Wolkenhimmel verschwammen ihre Konturen. Sie roch nach Gummi, Autos, Feuchtigkeit, manchmal auch dumpf und machte die üblichen Geräusche, welche von Sirenen und Baumaschinenlärm durchstoßen wurden. Doch das war für Aron unerheblich, seine Stadt bestand aus Zahlen, aus Bits und Bytes.

Manche Menschen definieren die Stadt durch ihre Bewohner, ihre Ereignisse, ihren Tageslauf. Der Dreißigjährige mit den kurzen karottenroten Haaren, die sich dank der Schermaschine in Reih und Glied befanden und kaum aufgrund eines Kammes ihre Wuchsrichtung veränderten, mit dem glühbirnenförmigen Kopf, dem schlaksigen mittelgroßen Körper und immer ein wenig abwesend wirkenden braunen Augen hatte nur einen Freund und eine Schwester und seine Eltern, die aber woanders lebten. Außerdem gab es eine etwas jüngere braunhaarige Frau, die sich für ihn interessierte. Auch er interessierte sich für sie, aber er dosierte die Begegnungen so, dass sie in seine Ordnung passten.

Die Brünette mit den grünen Augen und dem etwas fülligeren Körper durfte ihn etwa täglich zwischen 18.00 und 19.34 weder persönlich noch per Handy stören, denn da rechnete Aron seine Stadt auf seine Weise aus. Geburt und Tod, Kartoffel- und Fleischverbrauch, allgemeiner Wasserverbrauch, spezieller Wasserverbrauch, Diebstähle, Müllverbrauch, Christbaumverschleiß.

Seine Stadt hatte 174 Frisöre, die 130.000 Liter Wasser pro Tag brauchten, sofern sie einen Durchschnitt von 5 Kunden pro Tag hatten, was wenig war, denn 870 Kunden waren unverhältnismäßig für eine Stadt mit 200.000 Einwohnern. Das verbrauchte Wasser hätte den täglichen Trinkwasserbedarf eines Dorfes von 2.400 Einwohnern gedeckt.

Andererseits, mit Kochen, Waschen und Duschen brauchte eine Person alleine 60 bis 100 Liter, schon weil eine Dusche 16 Liter Wasser pro Minute raussprüht. Das waren für seine Stadt 20 Millionen Liter täglich. Damit würden 100 Menschen ihr ganzes Leben lang nie Durst haben.

Mit dem Wasser spülte seine Stadt etwa 80.000 Tabletten pro Tag runter, vorausgesetzt, jeder nahm durchschnittlich 2 Stück.

Außerdem wusste Aron, dass 30.000 Plastiksackerln oder 600 Kilo am Tag verwendet wurden. 600 Kilo, das produzierte eine Person jährlich an Gesamtmüll.

Arons Verehrerin erfuhr das auch, als sie ihn auf einen Kaffee einlud. Für die Kaffeepause hatte Aron exakt 100 Minuten eingeplant. Weil er nicht besonders gut in Konversation war, unterbreitete er seiner braunhaarigen Schönen seine Ergebnisse und erntete ein Seufzen.

„Das heißt, ich habe in einem Jahr 600 Kilo Mist zur Mülltonne geschleppt?“

„Statistisch gesehen ja.“

Sie sah ihn mit hochgezogenen Brauen an, während er anstatt ihrer fragenden Miene nur das dumpfe Geplapper im Hintergrund und das zeitweilige Klappern und Klirren von Geschirr registrierte.

„Angefühlt hat es sich wie 300 Kilo“, legte sie nach.

„Davon kann ich nichts sagen, wie es sich anfühlt.“

„Es wäre schön, wenn ich meinen Mist nicht alleine tragen müsste“, wagte sie ihrer Meinung nach eine Andeutung, sie wolle ihren Haushalt irgendwann mit einem Partner teilen.

Doch Andeutungen verstand Aron nicht. Außerdem war Mist das unromantischste Thema, das man sich vorstellen konnte, um die Kurve zu einem Partnerschaftsangebot zu kratzen.

„Aron, wie viele Menschen heiraten pro Jahr?“

„922. Aber wir haben schon hundert Minuten gesprochen. Ich muss jetzt gehen. Bis nächste Woche zur selben Zeit.“

Wir wissen an diesem Punkt der Ereignisse noch nicht, ob Aarons Treffen mit seiner Braunhaarigen irgendwann zu was anderem führte als zu zahlenmäßigen Erörterungen seiner Stadt. Wir wissen aber, dass die Zahlen für Aron etwas Besonderes waren und dass man sich ihm und seinem Leben am besten nähern konnte, wenn man das berücksichtigte.

Und mehr als seine persönlichen Beziehungen wuchs seine klar quantifizierbare Beziehung zur Stadt.

Sein Leben begriff er als einen geringfügigen prozentualen Anteil an ihr. Wie oft er seine Straßen zur Arbeit und zurück beging, wie viele Autos an ihm vorbeifuhren, wie hell sie in der Nacht leuchtete (etwa ein 12-Tausendstel der Leuchtkraft der Sonne, rechnete er aus).

Diese Berechnungen trug Aron fein säuberlich in ein Heftchen ein.

Doch irgendwann ging ihm auf, dass man die Menschen nicht berechnen konnte. Nicht die Braunhaarige, nicht mal seine eigene Verwandtschaft, und das irritierte ihn.

Und eines Tages kam das Unvermeidliche.

Die Frau, die mit ihm Kaffee trinken ging und sich übrigens Eva nannte, hatte, seiner Ausführungen müde, auf ihn, Aron, persönlich Bezug genommen.

„Aron, immer sprichst du von Zahlen. Von deiner Stadt in Zahlen. Wann sprichst du von dir? Können wir sogar nicht auch einmal von uns sprechen?“

Das verschreckte den Mann, der sich deshalb so an seine Zahlen klammerte, weil er allem, das nicht auf eine numerische Größe reduzierbar war, zutiefst misstraute. Damit konnte er nicht umgehen.

Eva hatte seine Grenzen überschritten. Sie merkte es erst, als sie Arons verkrampftes Gesicht sah. Dass dieser seltsam korrekte zahlenbesessene Mann nicht anders konnte, ahnte sie. Aber dass er so heftig reagierte, überraschte sie, die bisher keinem Menschen mit einem so speziell arbeitenden Gehirn begegnet war.

Alles in Zahlen zu fassen, zu quantifizieren, war ja grundsätzlich auch ein Männerding.

Doch ihr Kaffeepausenpartner tat etwas Unübliches. In der 87. Minute sprang er auf, schnappte seinen Mantel und verließ die Kantine der Stadtverwaltung, wo die beiden ihr Heißgetränk einzunehmen pflegten.

Eva blieb überrascht sitzen. Sie blieb sogar noch 20 Minuten vor ihrem erkalteten Kaffee sitzen, weil sie nun ihrerseits nicht einordnen konnte, was passierte.

Fassung zu gewinnen, dazu brauchte Aron mehr als seine Wegstrecke nach Hause. Er wusste nur, er wollte durchaus wieder die Gewohnheit, mit dieser Frau Kaffee trinken zu gehen, aufnehmen, wenn er sich eingekriegt und stabilisiert hatte. Dass er diese Gewohnheit des gemeinsamen Koffeinkonsums jetzt schon misste, war ein Ausdruck dessen, dass er Eva durchaus positiv zugetan war. Alleine, dass er ihr Zeit eingeräumt hatte, die sie miteinander verbrachten, war ein Indikator dafür. Auch, dass der Verlust dieser Gewohnheit ihn mit einem Bangen erfüllte, das über die Befürchtung hinauswuchs, seinen Tagesplan neu auffüllen zu müssen, er sorgte sich sogar, die Gegenwart dieser Frau nie wieder zu erfahren.

Es war also ein Weg zu finden, mit ihr zu sprechen, ohne dass sie auf dramatische Weise erneut plötzlich Verbindliches oder gar Persönliches einforderte. Er musste vielleicht unter Umständen die Möglichkeit zulassen, diesen Aspekt wohldosiert den Begegnungen hinzuzufügen.

Zu Hause setzte er sich an seinen Tisch, nahm eines der sorgfältig aufeinandergestapelten Heftchen, in denen er seine Stadt rechnerisch festgehalten hatte, und suchte in all den statistischen Zahlen etwas Zwischenmenschliches, etwas Persönliches. Denn all diese Zahlen mussten doch in ihrer Generalisierung auch etwas Individuelles geborgen haben. Tatsächlich war er gezwungen, mehrere Hefte auf einmal zu nehmen, zu öffnen, zu überfliegen, zu schließen und wieder fein säuberlich auf ihren fest bestimmten Platz im Stapel zu legen.

Etwas, worüber er Eva berichten konnte und das ihre Beziehung ins Lot brachte, war nicht so leicht zu finden, genauso wie etwas, das vielleicht auch so etwas wie eine Beziehung von zwei Menschen in einer Stadt ausdrückte.

Zwischen 18.00 und 19.34 Uhr war für solche Recherchen nicht viel Zeit. Tage vergingen ohne Ergebnis, ohne die Gewohnheit, mit Frau Eva Kaffee zu trinken oder gar einen neuen Schritt zu wagen. Er war sich schmerzlich bewusst, dass es eine Veränderung geben musste.

Nach drei Wochen war es so weit. Genau 15 Minuten vor Dienstschluss wählte er mit seinem Amtstelefon das Amtstelefon von Frau Eva an.

„Hallo, Frau Eva.“

„Hallo Aron.“

„Frau Eva, ich bedaure, dass ich überstürzt weggelaufen bin.“

„Du bist nicht nur das. Ich habe lange nichts von dir gehört. Ist das das Ende unserer Kaffeetreffen?“

„Das möchte ich nicht. Ich habe eine Lösung gesucht. Eine Lösung, auch anders mit Ihnen zu sprechen.“

„Oh, ist das so schwer für dich?“

„Ja. Ich sage es nicht gerne, aber ich bin als Autist klassifiziert. Ich kann nächstes Mal gerne erklären, was das ist. Aber Sie sollten wissen, dass meine neurologische Spezifikation eine wesentliche Rolle in meinen zwischenmenschlichen Beziehungen spielt. Sie verlangt Ordnung und Absehbarkeit.“

„Hat es was mit deiner Vernarrtheit in Zahlen zu tun?“

„Ja auch. Zahlen geben mir Sicherheit. Spontane Gefühle, abrupte Wendungen verunsichern mich zutiefst.“

Eine Pause von gut zwei Minuten trat ein. Sie wurde ihm nur um weniges leichter, weil er ihre Atemzüge zählen konnte, die sich nicht auf die Minute genau ausgingen.

„Gut, wir können ja uns einmal treffen. Dann erzähl mehr.“

Zum ersten Mal merkte Aron, dass er die Asymmetrie der persönlichen Anrede als störend empfand. Er musste sich also auch zurechtlegen, das Sie und das Du in ein Gleichgewicht zu bringen. Aber zuerst brauchte er eine Lösung, auch seine Beziehung zur Stadt, zur Arbeit zu den Zahlen und zu persönlichen Interaktionen in Einklang zu bringen.

Arons Lösung mag für Außenstehende verblüffend wirken. Sie würde möglicherweise auch sein Leben beeinflussen.

Wochenlang hatte er danach gesucht. Und dann subtrahierte er sich und Eva aus den Berechnungen. Zahlenmäßig würde das nicht ins Gewicht fallen. Etwa 20 Millionen Liter weniger 200 Liter Wasser. Oder die 0,34 Plastiksackerl, die er und Eva durchschnittlich pro Tag brauchten und welche die 30.000 dieser Stadt nicht erheblich dezimierten.

Aber, es war für Aron ein erster Schritt, das Unberechenbare des Menschlichen zuzulassen. In statistisch unerheblichen Dimensionen, versteht sich. Er konnte sich nun beruhigt mehr auf Eva einlassen.

An das Chaos, das dieses Verhalten auslösen würde, wenn jeder so handelte wie er, verschwendete er keinen einzigen Gedanken.

Antonia H.

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25125

Zensur

Pass auf, sie woll’n dich kontrollieren,
dich behindern, ausquartieren
aus deiner Gedanken Reich.
Hier, und jetzt, womöglich gleich.

Versuchen dich zu unterdrücken,
sehen ihren Plan missglücken
dich zu formen und zu kneten,
am liebsten möchten sie dich treten.

Hassen deine Äußerungen,
war’n sie allzu sehr gelungen,
über ihre Machenschaften,
was sie ordentlich erschreckt,
und sie fühl’n sich aufgedeckt.

Streichen deine Publizierung
restriktiv in ihrer Führung.
Nutzen staatliche Instanzen
mittels Druck, durch ihre Schranzen.

Massenmedien, frei zugänglich,
eingeschränkt und unverfänglich
in neuen Kontext gepresst,
wie’s beliebt, so steht es fest.

Den Diskurs zu kontrollieren,
Wettbewerb zu suspendieren,
jedes Mittel ist erlaubt,
wird an der Zensur geschraubt.

Ziel ist es, die bloßen, nackten
Inhalte und ihre Fakten
im Sinne ihres Geist’s vernichten
und hernach dich hinzurichten.

Dazu kommt, dass die Gerichte
die Zensuren und Berichte
über die Zensur verbieten,
weil sie ihr System verrieten.

Copyright: Norbert Johannes Prenner

Copyright: Norbert Johannes Prenner

 

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 25124

Brücken

Ein Medley

Nicht jede Brücke dient der Verständigung. Der Verbindung natürlich schon, das ist ihr geografischer Zweck. Die Brücke über den Fluss Ibar in der geteilten Stadt Mitrovica ist solch ein Fall. Mitrovica liegt zwischen Serbien und dem Kosovo. Sie ist nur für Fußgänger geöffnet. Die kosovarische Regierung will sie auch für Autos öffnen, doch die Serben in Mitrovica sind dagegen.

Die Brücke

Ich fahre über die Brücke.
Ich weiß nicht, über welche,
ich weiß nicht, wo ich bin.
Links und rechts ist das Meer.
Schon lange bewege ich mich über diese Brücke.
Ich fahre und fahre, die Brücke nimmt kein Ende.
Nie, wird mir jetzt klar, werde ich sie verlassen.

In der kommenden Miniatur sorgt die Brücke für das Ende.

Suicide

Zu viel ist passiert. Du willst das Leben hinter dir lassen. Es ist Frühling, aber du bist in Kanada, wo der Frühling noch ein Winter ist. Der Fluss ist von einer dicken geschlossenen Eisschicht bedeckt. Du gehst bis zum Scheitelpunkt der Brücke und springst. Es passiert, wie du es dir vorgestellt hast. Du durchschlägst das Eis. Der Fluss nimmt dich mit. Jetzt bist du unter dem Eis gefangen, keine Ohnmacht hat dich betäubt. Du ertrinkst, ob du es schlussendlich wolltest oder nicht, du ertrinkst.
Dies ist eine wahre Geschichte. Das Mädchen hieß Nadia Kajouji. Sie starb mit achtzehn.

In der folgenden Miniatur bildet die Brücke die Stadt.

Trier an der Mosel

Es war im Sommer 1992. Ich fuhr mit dem Auto nach England. Die erste Nacht verbrachte ich in Trier. Zu Fuß suchte ich nachts ein paar Lokale auf, in einem blieb ich länger, in dem mir eine Frau, die für RTL, damals noch in Luxemburg, dafür steht das L, arbeitete, erzählte, wie leid es ihr tue, dass Roy Black gestorben war. Zurück ging ich dann durch einen Teil der Altstadt und über eine Brücke, die sich über einen Fluss spannte, von dem ich gar nicht wusste, wie er heißt. Ein Fluss ist immer gut, besonders vor dem Schlafengehen. Er nimmt mich mit, er nimmt mich mit.

Ich hatte eine sehr nette und hübsche Kollegin, als ich in den 1990er-Jahren in Oberösterreich arbeitete. Sie wurde Ivi genannt, in Wirklichkeit war ihr Name länger. Sie stammte aus Mostar, der Brückenstadt, deren Wahrzeichen die stari most, die Alte Brücke über die Neretva war und ist. Sie wurde im innerjugoslawischen Krieg zerstört, wieder aufgebaut und 2004 eröffnet. Ivi hatte verschiedene Arbeitsplätze, an einem hatte sie einen Marienaltar errichtet. Ihr war es wichtig, der Messe folgen zu können. Einige ihrer Freunde sind im Krieg gestorben, erzählte sie mir.

Kurz bevor ich die Firma verließ, hörte ich, das Ivi heiraten müsse. Tatsächlich müsse. Dabei hatte sie mir stets erzählt, dass ihr Freund ihr auf die Nerven ginge. Was soll man dazu sagen? Ivi machte sich rar. Ich sah sie kein einziges Mal mehr.

Seltsam, seltsam, das geträumte Gedicht, in dem die Brücke vorkommt.

 

Nur geträumt und nicht erlebt

Ich warf eine Stoffpuppe von der Brücke.
Ich weiß nicht warum.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der Richter war ich über zwei Angeklagte.
Ich konnte kein Urteil fällen.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Der kleine König war ich,
den sie auf einer Stange trugen,
die in seinen Körper ragte.
Nur geträumt und nicht erlebt.
Die Logik gilt nur für die Wirklichkeit.
Im Traum rechnet man mit Bildern statt Zahlen.

Nun kommt eine Erinnerungsgeschichte.

Things to Come

Der junge Mann zog die braune Wildlederjacke über. Es war gegen 23 Uhr, Anfang Oktober, er hatte viel gearbeitet und wollte hinaus, noch ein bisschen Leben erfahren vor dem Schlaf. Es war das Jahr 1986. Die Menschen begegneten sich noch wirklich statt auf Bildschirmen, man ging physisch aufeinander zu, deshalb verließ er die Wohnung, die im Haus lag, und das Haus. Die Wildlederjacke hatte er von seinem Vater übernommen. Sie war ihm an den Ärmeln etwas zu lang, sein Vater war um vier Zentimeter größer als er. Sie sah irgendwie brav aus, wahrscheinlich hatte sie der Vater beim Freizeitprogramm von Symposien in Ostländern verwendet, wo getrunken wurde und man sich, vorsichtig noch – wegen des Kommunismus, annäherte. Viel mehr als ein paar Bierflecken wird die Jacke wohl nicht abbekommen haben. Sie war in einem sehr guten Zustand, und bevor seine Mutter sie zur Caritas gab, frage der junge Mann, ob er sie haben könne. Na, und heute trug er sie eben. Die Jacke war warm, und das brauchte er auch, denn der Herbst war schon fortgeschritten, kaum noch Blätter auf den Bäumen, wie man im Mondlicht sah, und von Laternen beleuchtet. Der junge Mann ging über den Gehsteig.

Der Gehsteig wurde von einer Leiste aus Stein straßenseitig begrenzt. Was würde der Gehsteig jetzt denken, wenn er das könnte? Vielleicht: Okay, jetzt geht dieser junge Mann auf mir. Es ist doch schon spät. Warum bleibt er nicht zuhause und geht bald ins Bett? Aber so ist das eben: Allein daran, dass der Gehsteig dies denken würde, merkt man, dass er kein lebendiges Leben ist, er sieht nicht, dass ein junger Mann Action braucht. Er ist Horden von Schülerinnen und Schüler gewohnt, die Schule ist nur 50 Meter geradeaus, ein Gymnasium, kleine Füße, große Füße, offene Schuhe im Sommer, Winterstiefel, alle gehen sie über den Gehsteig. Und dann auch Leute mittleren Alters und Omas und Opas, die brauchen länger zur Fortbewegung, und sie passen auf, wenn Eis auf dem Gehsteig ist, alte Knochen heilen schlecht, das ist bekannt. Was habe ich doch schon alles erlebt, würde der Gehsteig denken, falls er denken könnte, Ohrfeigen von eifersüchtigen jungen Frauen, ihren Freunden gegeben, Liebesschwüre von eben diesen Freunden. Manche nützten, manche nicht. Schneller Lauf von jemandem, der bedrängt wird, jemand, der ihm folgt. Als Gehsteig hat man viel Frequenz, viel Verkehr, auf jeden Fall.

Der junge Mann rauchte eine Zigarette, während er ging. Er passierte die Schule, ging beim Heim mit dem großen Garten, wo er früher öfters mit Freunden auf kleine Tore Fußball gespielt hatte, vorbei und kam zum Kanal, dem er bis zu seinem Ende folgte, was vielleicht 300 Meter waren, dann ging er die Brücke entlang und dann links, Richtung Innenstadt. Erst gestern war er in der Nacht mit P. unterwegs gewesen, eine junge Frau, auf die er schon viele Jahre scharf gewesen war, lange schwarze Haare, braune Augen, ein weicher Mund, und unheimlich frauliche Bewegungen, sie war schön, sie war interessant, sie redeten, tranken, und gingen, sie gingen weit, er ging mit ihr nach Hause, aber nicht hinauf, sondern sie verabredeten, dass er sie übermorgen, also von dieser Nacht morgen, von der Abendschule abholen würde. Es gab nur Berührungen, aber allein die waren supertoll. Naja, jetzt war die nächste Nacht, und der junge Mann steuerte eine Bar an. Er dachte im Moment nicht an P., für einen jungen Mann ist das normal, so ist das Leben eines jungen Mannes, jeder Tag ist ein anderer und einzigartig, und birgt immer wieder eine neue Chance.

Er überquerte eine tagsüber starkbefahrene Straße, jetzt war natürlich nicht so viel los, aber der junge Mann ging erst los, als die Fußgängerampel Grün zeigte. Rot heißt warten, grün heißt gehen. Noch ein paar Schritte, da war das Lokal. Zum Draußensitzen war es zu kühl. In der Nähe des Eingangs standen zwei Jugendliche und besprachen etwas. Das Lokal gab es seit etwa zehn Jahren. Es hatte also keine lange Vergangenheit. Aber natürlich hat ein Lokal, wenn es dazu fähig wäre, immer viel zu erzählen, Alkoholabstürze, Polizeirazzien, Freundschaften, die geschlossen werden, Streitereien, und Liebesbande, ganz besonders Liebesbande, die geknüpft werden. Das Lokal verfügte über einen ersten Stock, dort stand ein Billardtisch. Der Wirt hatte das Lokal gepachtet und auf eigene Kosten eingerichtet. Er hatte sich darauf eingelassen, dass viele seiner Kunden anschrieben.

Das Lokal konnte sich nur an diesen Wirten erinnern. Damit lag es richtig, es gab nämlich nur diesen. Es wurde gute Musik gespielt, Rock und New Wave, manchmal etwas Punk, gerne Nina Hagen. Die Abstimmung war gut, die Übergänge passten. Der Wirt legte selbst auf. Er wäre fast als professioneller DJ durchgegangen. Aber er war ein kontroversieller Typ, entweder er mochte einen, oder er konnte einen nicht leiden. Sympathie und Antipathie beruhen ja so gut wie immer auf Gegenseitigkeit – es war auch umgekehrt so, entweder man mochte ihn, oder man konnte ihn nicht ausstehen. Der junge Mann stand ihm nicht gut zu Gesicht, und umgekehrt war es genauso, trotzdem war dieses Lokal für den jungen Mann fast immer das erste, das er besuchte, wenn er ausging – weil: Erstens – es war das näheste, zweitens – die Musik war gut, drittens – der Bierpreis war niedrig. Also: Der junge Mann betrat das Lokal. Das Lokal sah, wie der junge Mann es betrat. Er bestellte ein Bier, ein großes natürlich, das muss man nicht dazusagen. Das Lokal sah, wie der junge Mann ein großes Bier bestellte. Der Wirt grunzte irgendetwas und stellte es auf das Stehtischchen. Genau: Das ist noch zu sagen – im Erdgeschoß gab es ausschließlich Stehtischchen. Im Lokal waren nicht allzu viele Leute.

Ungefähr etwas mehr als einen Meter entfernt bekam eine junge Frau gerade ihr bestelltes Baguette. Sie war nicht mehr ganz nüchtern. Der junge Mann kannte sie seit geraumer Zeit. Sie sah sehr gut aus und war gescheit, gefürchtet wegen ihres spitzen Mundwerks. Vor ungefähr zwei Monaten redeten sie hier, dann verabschiedete sie sich und ließ ihn einfach stehen. Das war dem jungen Mann noch nie passiert. Jetzt sah sie zu ihm hinüber und fragte: „Willst du auch etwas davon?“ Er verneinte, aber er stellte sich zu ihr. Und das Lokal sah, dass sie sich nahekamen, ziemlich nahe, dann zahlte der junge Mann, und sie zogen weiter. Aber dass sie ein Paar wurden, später einen Sohn bekamen und heirateten, das wusste das Lokal nicht mehr, dazu war es zu weit weg. Ob P. am nächsten Tag gewartet hat? Lange sicherlich nicht.

Liebe ist doch das schönste, das es gibt. Es macht den Menschen zum Menschen. Die vielen Sicherheitsschlösser an der Brücke machen sie schwer. Il ponte degli innamorati. Wie lange wird die Liebe zwischen A + D halten? Vielleicht nur ein paar Wochen, aber sie hat sich manifestiert, und es sind wunderschöne Wochen, unverwechselbare.

 

In Wasser und Luft                                                           

Ich reiche dir meine Hand.
Du lebst im Wasser,
mein Element ist die Luft.
Wie können wir gemeinsam leben?
Auch wenn wir einander noch so wollen,
Liebe baut Brücken,
aber nicht solche.
Du wirst mein Wassergedanken bleiben
und ich dein Wunsch vom Fliegen.

Jetzt kommt eine Pause, Zeit, um die Eindrücke sacken zu lassen. Waren es nicht vielfältige? Aber es geht weiter, es geht immer weiter. Demnächst.

Graffito Schädel mit OX und gekreuzten Knochen mit Aufschrift VAMPOMA

Graffito Schädel mit OX und gekreuzten Knochen mit Aufschrift VAMPOMA

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25123

Zwei belanglose Geschichten

Eins

Manchmal denke ich noch an damals, es muss ein Sommertag gewesen sein, zu Beginn der 2010er Jahre. Ich stieg in Heiligenstadt in die U4 und sah, dass eine junge Frau links von mir Platz nahm. Von ihr ist mir in Erinnerung geblieben, dass sie sich gleich auf die erste freie Bank hinter der Tür setzte und dass ihre Wangen rot waren. Ob ich sie damals angesprochen habe, weiß ich nicht, und wenn ja, dann sicher nur etwas Belangloses. Ich könnte auch nicht mit Sicherheit sagen, ob es eine Touristin oder eine Wienerin gewesen ist. Sie wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen, wenn nicht ihr Kleidungsstil dem einer guten Bekannten ähnlich gewesen wäre. Wohin sie fuhr, weiß ich leider nicht.

 

Zwei

An einem warmen Sommertag kam ich aus dem vierten Bezirk zurück. An einer Ampel sah ich eine junge Frau in Plateausandalen, die über die Straße ging. Dabei waren die Bässe aus einem vor der Ampel stehenden Auto zu hören. Die junge Frau schien im Rhythmus dieser Musik über die Straße zu gehen und stieg in die U4 in der Kettenbrückengasse ein. Ich weiß nicht, warum ich ein solches Glück hatte, aber sie stieg gemeinsam mit mir an der Haltestelle Friedensbrücke aus. Als sie die Station verließ, ging sie wieder bei einer Ampel über die Straße. Diesmal fehlte mir die Musik. Aber ich spürte ein kleines Glücksgefühl, sie in einem anderen Bezirk noch einmal sehen zu dürfen.

Ich bin mir bewusst, dass es so viele Menschen gibt, die nur an einem einzigen Tag die U4 benützen. Und ich weiß auch, wie flüchtig die Begegnungen der Menschen zueinander in der U-Bahn sind. Rückblickend hätte ich gerne den beiden Frauen etwas Nettes gesagt, aber ein ungeschriebenes Gesetz hält die Menschen in den öffentlichen Verkehrsmitteln auf Distanz.

Natürlich weiß ich auch nicht, ob es den beiden Frauen gefallen hätte, angesprochen zu werden.

Gerne hätte ich ihnen aber die Wertschätzung zuteilwerden lassen, die sie verdient haben.

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 25122

 

 

 

 

 

 

Dasein voller Lücken

Ein Leben voller Lücken,
mit Ecken und Kanten versehen,
ohne unsere Schwächen zu verstehen,
was kann uns damit glücken?

Mängel, Haken und Ösen,
ist das die Wurzel alles Bösen?
Können wir am Ende nur noch träumen
und dabei unser wahres Glück versäumen?

Wir Menschen sind alles andere als perfekt,
doch das macht unser Dasein bunt, nicht defekt,
darum gibt es keinen Grund für Trauer oder Groll,
leben wir optimistisch und hoffnungsvoll.

Dario Schrittweise
dario-schrittweise.org

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 25121