Kategorie-Archiv: Carmen Rosina

image_print

Die Rahmenhandlung

Ich fahre mittelschnell durch eine große Stadt, an vielen Gebäuden vorbei, an einem anstrengend heißen Tag. Ein noch etwas entferntes Haus bannt meinen Blick; es hat mehrere Stockwerke und zahlreiche Fenster, von denen ein einziges sperrangelweit offen steht. Alle anderen sind geschlossen; wohl um die Hitze auszusperren.

Beim Näherkommen werde ich Details gewahr: Dieses eine Fenster trägt einen Trauerrand.
Der Rahmen ist schwarz, das Mauerwerk um den Fensterstock von verwischtem Anthrazit, direkt über dem Fenster noch weit dunkler als an dessen Unterseite, die Fassade rundum in blassem Cremeweiß gehalten. Die optische Wirkung ist die eines weit geöffneten Zyklopenauges. Es bekommt Augapfel und Pupille:  Oberkörper und Kopf eines dunkelhaarigen Mannes werden innerhalb der schwarzen Einfassung sichtbar, für einen Augenblick, der Mann beugt sich vor, sieht nach unten auf die Straße, zündet sich eine Zigarette an und bläst den Rauch langsam nach draußen, in den Sommernachmittag.

Dann bin ich vorüber, das Haus liegt hinter mir. Es dauert nur drei Wimpernschläge lang, diese Szenerie zu erfassen, und doch lässt sie mich nicht los.

Einige Wochen später führt mich mein Weg wieder an diesem Haus vorbei. Mein Blick wandert hinauf zu dem bewussten Fenster. Abermals sticht es hervor: Es ist das einzige mit strahlend hellem Rahmen, spiegelglänzenden Glasscheiben und rund um seinen blütenweißen Fensterstock von einem makellosen Neuanstrich umgeben, bis zu einem Abstand von circa einem halben Meter.
Plötzlich sieht alles rundherum schmutzig aus, die vormals cremefarben erscheinende Fassade starrt vor Dreck. Das Fenster ist geschlossen. Es will mit dem alten Drumherum eindeutig nichts mehr zu tun haben.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 20001

Laubbläser im Schnee

Da ist er wieder
Vermisste schon
Seine dreiste Unverdrossenheit
Er sieht ganz anders aus

Rotwangig, erhitzt
Stapft er durch den Schnee
Mit festen Schuhen
Und klarem Blick

Blinzelt der Sonne
Der Ferne entgegen
Und irgendwas fehlt …
… ich komme gleich drauf

Er ist ganz bei der Sache
Bei sich
Ohne Anhängsel
Keine Pflicht

Er ist ein Laubbläser
Ohne Laubbläser
Er hat Winter
Er ist frei

Carmen Rosina

Sind Sie neugierig, was den Laubbläser im Sturm und den Laubbläser im Regen beschäftigt hat?

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 19146

 

 

 

 

Laubbläser im Regen

Klatschnasse Blätter
Noch nässerer Bläser
Der Mann trieft
Es tropft von Bäumen

Durchtränkte Fetzen
Von Laub
Von Papier
Von Hoffnung

Nichts hebt sich
Von selbst
Alles muss
Er muss

Volle Kraft nach unten
Lohn der Mühe ist gering
Beinahe alles bleibt
Am Boden haften

Sein Begleiter
Sieht ihm zu
Dessen Grinsen umspielt
Schadenfrohe Züge

Wann hat es sich
Ausgeregnet?
Wann ist er fertig
Ausgelacht?

Carmen Rosina

Möchten Sie wissen, wie es dem Laubbläser im Sturm und dem Laubbläser im Schnee ergangen ist?

www.verdichtet.at | Kategorie: an Tagen wie diesen ... | Inventarnummer: 19129

Geprüft

Mikes Sauftour war ein voller Erfolg gewesen. Nachdem er sich das Stiegengeländer hinaufgehantelt hatte, öffnete er die Haustür mühelos, vergaß diesmal auch nicht, sie wieder zu schließen, torkelte durch den Gang Richtung Wohnzimmer und fiel dort auf die Couch. Er drückte einen der bunten Knöpfe der Fernbedienung, schlummerfreundliche Lautstärke, so hatte er es gern, und bald legte sich trotz ansprechender Story über ein Mädchen, das mittels Ausspuckens eines Kaugummis große Dinge wie Lkws herbeizaubern konnte, Schlaf über ihn.

Das Wohnzimmersofa war sein üblicher Schlafplatz, seit Amanda ihn verlassen hatte, er mied das Riesenschlafzimmer nebenan seither wie die Brutstätte des Teufels oder wie eine Kathedrale: reine Ansichtssache je nach Stimmungslage, und die war mehr als schwankend.
Auch Mike als Gesamter übrigens, an diesem kalten Morgen. Am Weg ins Bad, wo er sich Erleichterung erhoffte, fiel sein Blick auf die Schlafzimmertür, die merkwürdigerweise angelehnt war.
Er wird doch nicht in der Nacht noch … etwa hineingegangen sein? Im betrunkenen Zustand traute er sich nach wie vor nicht ganz über den Weg.
Am Rückweg vom Bad obsiegte der Mut über die Selbstzweifel und Mike wagte es, der Türe einen sanften Schubs zu geben. Es könnte ja auch sein, immerhin, schoss es ihm durch den Kopf, dass Amanda zurückgekommen war! Leise, in der Nacht, mit schlechtem Gewissen, weil sie ihn im Stich und ihre gemeinsame Beziehung einfach hinter sich gelassen hatte, wegen dem bisschen Alkohol und den paar Geldproblemen. Und die Streiterei war für ihn schließlich auch nicht lustig gewesen, vor allem seit der Sache mit Alex, da war es ja kaum noch auszuhalten gewesen daheim.
Wie auch immer, wenn sie jetzt wiedergekommen war, sollte sie ihn so besser nicht sehen. Also zog Mike die Schlafzimmertür wieder ganz zu, griff sich halbwegs frische Klamotten und wankte zurück ins Bad, unter die Dusche.

Belebt war etwas anderes, aber immerhin ein bisschen munterer wurde er, vom Durchblick jedoch weit entfernt: Was hatte Amanda wohl dazu bewogen, mitten in der Nacht zu ihm zurückzukommen? Sie hätte ihn anrufen können, sich mit ihm treffen, doch sie verweigerte seit Wochen jeden Kontakt. Es sähe ihr so gar nicht ähnlich, jetzt plötzlich nächtens sein Schlafzimmer aufzusuchen. Schön langsam zog das Rätsel Kreise in seinem armen Kopf. Während er sich abtrocknete und anzog, kam er zu dem Schluss, dass er selbst der Verursacher des Mysteriums der geöffneten Tür gewesen sein musste. Bis er ein Husten aus dem Schlafzimmer hörte, und ein zweites. Selbst bei getrübter Wahrnehmung musste er sich eingestehen: Es klang so gar nicht nach Amanda.
Mike war kein mutiger Mensch. Aber jetzt war Zeit zu handeln, beispielsweise die Schlafzimmertür ganz zu öffnen. Er berührte die Türschnalle und erwartete, sie glühend heiß vorzufinden, oder so eisig kalt, dass er festfrieren würde, und wieder dachte er an Amanda: Wenn sie ihn jetzt sehen könnte, sie würde lachen. Ihm war eher nach Heulen zumute. Was, wenn da drin ein Einbrecher schlief, der während seines Raubzugs müde geworden war, weil er so lange gesucht und nichts Wertvolles gefunden hatte? Aber das intakte Haustürschloss sprach dagegen. Irgendwie war Mike das jetzt alles zu viel.
Die Türschnalle tat ihm nichts zuleide, weder verbrannte noch vereiste sie seine Hand. Mike war es jetzt schon egal: Komme was wolle, er musste wissen, was da los war.

Der Blick auf das große französische Bett raubte ihm den Atem, der ohnehin nur noch stockend vorhanden war unter all dem Herzklopfen.
Da lagen in friedlicher Eintracht fünf Burschen, und auf dem Brustkorb des zweiten von links war noch ein längerer Haarschopf zu sehen, vermutlich der einer Frau, oder auch nicht. Jedenfalls nicht der Amandas, denn der hier war grün, und diese Farbe konnte sie nicht leiden.
Zwei der Burschen öffneten die Augen und schienen genauso erstaunt wie er. Mike wich ein paar Schritte zurück auf den Gang, dann weiter ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Jetzt musste wirklich Schluss sein mit dem Alkohol. Er hatte schon gehört von solchen Phänomenen, aber dass es so plastisch war, haute ihn einfach um.

„He!“, rief eine Männerstimme aus dem Schlafzimmer. „Da ist besetzt, such dir was anderes!“ Und eine zweite, ungeduldiger: „Gecheckt? Schleich dich!“

Mike saß immer noch da. Amanda hatte recht gehabt: Das Saufen richtete ihn zugrunde. Die Erkenntnis traf ihn hart und fast so unvermittelt wie der Hieb gegen seine Schulter. Mike richtete sich auf und stand einem etwa gleichaltrigen Mann gegenüber, der ihn eher neugierig als feindselig musterte. „Du bist ja immer noch da?“, lachte der Mann. „Was ist mit dir?“
Mike musste anscheinend etwas sagen, er war ungeübt im Umgang mit Halluzinationen, und seit wann tat einem die Schulter weh von einer Wahnvorstellung? „Ich wohne hier“, stammelte er schließlich, und dann erhob sich ein großes Hallo im Schlafzimmer. Anscheinend hatten die anderen ihr Gespräch mitgehört, waren aber zu faul gewesen, aufzustehen und daran aktiv teilzunehmen.

„Der wohnt hier! Du bist ein solcher Trottel, das kann doch nicht wahr sein! Hallo, Paul, munter werden! Wo war dein Gehirn, als du die Wohnung ausgesucht hast? So was darf doch nicht passieren!“

„Keine Ahnung“, daraufhin eine andere Stimme, sehr müde, sehr defensiv.

Der Mann bei Mike schnappte ihn am Handgelenk und zog ihn ins Schlafzimmer. „Also ich bin der Sandro. Und du wohnst also hier. Also eigentlich ist das ein Missverständnis. Wir dachten, die Wohnung sei leer, also ohne Bewohner. Und du solltest gar nicht hier sein.“

Dasselbe könnte ich von euch behaupten, dachte Mike. Beziehungsweise meinte er, er hätte es gedacht, denn anscheinend hatte er es laut ausgesprochen.

„Da hat er recht. Da hat der Mann recht“, nickte Sandro neben ihm.

Dann passierte eine Weile nichts. Jeder schien nachzudenken, der grüne Haarschopf verwandelte sich bei näherer Betrachtung in ein freundliches Gesicht.

Mike beschloss, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er sammelte sich, um die Gestalten aus seinem Kopf zu verscheuchen, und begann mit seiner kleinen Rede: „Also ich bin Mike. Und ja, ich trinke zu viel. Aber das hier passiert mir zum allerersten Mal. Und es ist ganz schön gruselig. So kann es nicht weitergehen. Ich werde versuchen, weniger zu trinken. Oder gar nichts mehr zu trinken. Ab heute.“

„Das ist schön, Mike. Sehr erfreut“, erhob sich eine der Gestalten vom Bett und wandte sich zum Gehen. Es funktioniert, es funktioniert wirklich, jubelte Mike innerlich. Sie gehen jetzt alle, und dann passt es wieder, und ich werde doch nicht verrückt.

Schön langsam kam Bewegung in den Rest der Gruppe, man streckte sich, gähnte, beschuldigte den armen Paul des Schwachsinns und umringte schließlich Mike und Sandro.
„Bevor wir gehen“, meinte Paul, „bitte sag mir, warum du noch hier bist. Ich schaue immer, dass so etwas nicht passiert, also bitte, sag mir, was ich falsch gemacht habe. Damit so etwas nicht mehr vorkommt.“
Es klang so flehentlich, dass Mike nicht umhin konnte, aus Mitgefühl, und weil es ja eigentlich egal war, ehrlich zu antworten: „Also ich wohne ganz normal hier. Und wenn ich mich recht erinnere, ist die Miete noch bis Jahresende von meiner Ex bezahlt worden. So lange schau ich, dass ich über die Runden komme, und dann suche ich mir in Ruhe eine kleinere Wohnung. Ich bin grad etwas demotiviert, das schon.“

Paul seufzte: „Dann muss ich dir was sagen, Mike, das dir nicht gefallen wird: Diese Wohnung ist auf YourB’n‘B vorgemerkt und hat dort den Status ‚zur Prüfung‘.“

Mike verstand nur Bahnhof, man sah es ihm offensichtlich an, drum fuhr Paul etwas langsamer fort:
„Ich hab mal dort gearbeitet. Jede Wohnung, die auf YourB’n‘B zur Untervermietung angemeldet wird, wird von denen vorher abgecheckt. Und weil ich nach wie vor in die Datenbank rein kann, das ist echt kein Problem für mich …“  – er sah dabei in die Runde und kam etwas aus dem Konzept  – „… und sogar für die Schlüssel haben wir eine Lösung gefunden.“

Mike hatte nach wie vor keine Ahnung, worauf das hinauslief. Geduldig erklärten ihm Sandro und Paul, dass sie die leerstehenden, für YourB’n‘B vorgesehenen Wohnungen als Schlafplätze benutzten, bis deren Status in der Datenbank auf „geprüft“ umgestellt worden war. Ab dann nämlich stand der Wohnraum zur kurzfristigen Weitervermietung auf der Plattform „offiziell“ online zur Verfügung.

Nun hatten sie schon des Öfteren die Beobachtung gemacht, dass sich auch andere dieser leerstehenden Wohnungen bedienten (wiewohl eher unorganisiert und nach einem primitiveren Prinzip, wie sie vermuteten), und es war auch schon vorgekommen, dass sie dort bereits jemanden angetroffen hatten oder aber die anderen Zweite waren. Meist einigte man sich gütlich, und die später Hinzukommenden zogen zur nächsten Zwischenschlafstätte weiter. Schließlich wollte man keinen Ärger mit den Nachbarn, die ohnehin nicht die rechte Freude mit YourB’n’B-Plänen in ihrem Wohnhaus hatten, so sie davon wussten.
Und natürlich hatten sie Mike für einen ihrer Schlafplatz-Konkurrenten gehalten, einen von der uneinsichtigen, hartnäckigen Sorte.

Mitten in dieser Schilderung kam Mike eine dunkle, sehr dunkle Erinnerung: ein SMS vor ungefähr einem Monat, in dem Amanda ihn aufgefordert, ja ihm unmissverständlich befohlen hatte, die Wohnung zu verlassen, und zwar innerhalb der nächsten drei Wochen. Dann nämlich werde die Wohnung anderweitig verwendet.
Er hatte das für einen Akt des Schmerzes und der Verzweiflung gehalten und nicht ernst genommen. Doch die Frau machte jetzt anscheinend Nägel mit Köpfen.
Mike sank aufs Bett. „Ihr könnt hierbleiben“, murmelte er. „Bis der Status geprüft ist. Kann ich dann mit euch mitkommen?“

Der grüne Haarschopf hatte erstaunlich blaue Augen. Er setzte sich zu Mike und nahm ihn in den Arm.

Das Wie erklärten die nächtlichen Besucher Mike etwas später. Er hatte sich schon gefragt, ob es tatsächlich so einfach war, eine Wohnung unbemerkt, wenn auch nur vorübergehend, zu entern. Abwesenheit untertags, das war nicht das Problem. Denn natürlich war zu vermeiden, einem Wohnungsprüfer in die Arme zu laufen. Auch dabei halfen Pauls Datenbankspaziergänge gewaltig: Die Wohnungskontrollen fanden nur montags bis freitags statt, bevorzugt zwischen 10 und 16 Uhr. Es war eine Kleinigkeit, die Wahrscheinlichkeit aufzufliegen, auf ein Minimum zu reduzieren. Aber immerhin musste man ja auch rein in die Wohnung, ohne irgendwelche Auffälligkeiten währenddessen oder auch viel später danach: Manipulationen an den Schlössern kamen also nicht infrage. Das war aber auch gar nicht notwendig: Die allermeisten Wohnungen waren längst mit Codes gesichert: ein Geschenk für einen Datenfuzzi wie Paul. Die Codes wurden von den Wohnungseigentümern oder -mietern verschlüsselt an YourB’n’B übertragen, et voilà! Wie auf dem Präsentierteller.

Selten kam es vor, dass eine Wohnungssicherung wie bei Mikes Bleibe noch aus einem „guten alten“ Schloss samt Schlüssel bestand. Selbst das stellte kein Problem dar: Schließlich musste ja auch der Schlüssel irgendwo für die Wohnungsprüfung hinterlegt werden. Und wo, stand meist in einem Mail oder einer anderen elektronischen Übertragung. Jedenfalls landete auch diese Information schlussendlich in der Datenbank, woraufhin Paul mit einem gewissen Erfahrungshorizont entschied, wie schwierig und zeitaufwändig es war, den Schlüssel kurzfristig zu bergen, von allen Seiten abzulichten und den 3D-Drucker eines Bekannten seine Arbeit machen zu lassen. So war es auch in Mikes Fall gewesen: Der Schlüssel lag zur Abholung in einem Schließfach, dessen Code praktischerweise im digitalen Ordnersystem von YourB’n‘B zusammen mit der Adresse für die Wohnungskontrolle vermerkt war. Alles ein Kinderspiel.
Bis der Prüfer seinen Besuch abgestattet haben mochte, galt es nur, die Wohnung untertags zu meiden.

Aber Mike wohnte ja hier, ­­das musste auch seiner Ex bewusst sein, dass er nicht so schnell etwas anderes gesucht, geschweige denn gefunden hatte, und „offiziell“ hatte er ja nichts von seiner bevorstehenden Delogierung erfahren. Am wahrscheinlichsten war, dass Amanda den Zuständigen bei YourB’n’B gar nichts von Mikes möglicher Anwesenheit erzählt hatte. Das war aber nun wirklich nicht sein Problem.

Theoretisch konnte Mike also verweilen bis zum Tag X. Den Überraschten zu mimen, wollte er sich dann aber nicht antun. Dem Prüfer war sicherlich egal, was da zwischen ihm und seiner Ex kommuniziert worden war und was nicht, der wollte bestimmt die Wohnung sehen, bewerten, ob sie den angegebenen Standards entsprach, und danach seiner Wege gehen. Wenn er davor noch einen phlegmatischen Restposten entfernen musste oder zumindest dafür sorgen, dass der sich vertschüsste, so erfreute es den Prüfer gewiss nicht. Aber es war Teil seines Jobs, und der wurde gemacht.

Kein Wunder also, dass Mike der Prüfung mit bangen Gefühlen entgegensah.
Wie lange konnte man diese Situation des Wartens ertragen? So lange es notwendig war und auch Vorteile brachte. Es stand außer Frage, dass für alle diese Wohnung derzeit der beste Ort weit und breit war. Erstens war es Mike ganz recht, dass er Gesellschaft hatte, zumindest abends bis morgens und an den Wochenenden. Er fand die Truppe ganz sympathisch, bis auf jenen vorlauten Kerl, der gleich so auf Paul losgegangen war. Sandro war in Ordnung, Paul auf seine leicht verlegene Art war Mike sogar etwas ähnlich, und die beiden anderen waren so ruhig und unauffällig, dass Mike ihre Anwesenheit schlichtweg egal war. Der Grünschopf war entzückend unkompliziert und anschmiegsam. So viel gekuschelt hatte Mike schon lange nicht mehr. Es war ein Ausnahmezustand in jeder Hinsicht: An der Essensfrage beteiligten sich alle und man legte zusammen; wer einen Gelegenheitsjob hatte, teilte mit den anderen sein Einkommen. Jeder hielt sich daran, ganz im eigenen Interesse: Nie wusste man, wann man selbst etwas brauchte, einen die Grippe erwischte oder man sich den Fuß verstauchte. Alle für einen. Einer für alle. So versuchten sie es zumindest, und großteils funktionierte das System auch, ohne die Wohnungskosten.

Der Prüfer ließ sich Zeit; Paul checkte die Datenbank routinemäßig und entdeckte einen Rückstau, denn die Anzahl der Prüfer ging zurück, während diejenige der zu kontrollierenden Wohnungen stetig stieg. Für sie alle bedeutete es, einmal etwas länger ein gemütliches Nest zu haben, nicht ständig die Entdeckung zu fürchten, nicht sofort weiterziehen zu müssen.

Eines Abends schließlich, sie saßen gerade vor ihren Tellern und den Abendnachrichten, die wieder einmal Gruseliges vom Weltklima zu berichten hatten, geschah das, womit niemand gerechnet hatte.
Von ihnen unbemerkt musste sich ein Schlüssel in der Haustür gedreht haben, jemand in den Gang gekommen sein und die Klinke der Wohnzimmertür nach unten gedrückt haben, denn diese öffnete sich langsam nach innen. Im Türrahmen stand eine große brünette Frau mit erstauntem Blick. Sie fuhr sich durchs gut schulterlange Haar, warf schließlich mit beiden Händen gleichzeitig alle Strähnen nach hinten und sagte laut: „Mike, kann ich dich mal alleine sprechen?“

Der war längst erstarrt, fühlte sich zurückversetzt in die Zeit der ersten Begegnung mit seinen nunmehrigen Mitbewohnern und zweifelte neuerlich an seinem Verstand. Die seiner Ex gewidmeten Tag- und Nachtträume waren doch längst Vergangenheit? Es beunruhigte ihn zusätzlich, dass er kaum Alkohol getrunken hatte in letzter Zeit. Es musste also stimmen.
Sie war hier. Und sie wollte mit ihm reden, jetzt sofort.
Die anderen verharrten in ihren jeweiligen Couchposen, dachten wohl, wenn sie nichts sagten und sich nicht rührten, würden sie unsichtbar. Nur Sandro murmelte einen leisen Gruß in Amandas Richtung.

Amanda bewegte sich aufs Sofa zu, Mike erhob sich gleichzeitig aus der Mitte der anderen und fädelte seinen Körper hinterm Couchtisch hervor. Er nickte Amanda zu, sie blieb bei ihm stehen, nahm ihn bei der Hand und lenkte ihn mit ihren bestimmten Schritten gen Schlafzimmer.

Wie oft hatte er sich das erträumt, wenn er auf der Couch gelegen war, einsam, verzweifelt, betrunken oder (seltener) auch nicht. Sie sollte die Schlafzimmertür schließen und ihm sagen, dass alles gut war. Dass es ein Fehler gewesen war, zu gehen, ihn zu verlassen, ihre gemeinsame Zeit vergessen zu wollen. Und dann sollte sie ihn küssen, so wie früher, sie sollte ihn begehren, berühren wie einst, und dann wären sie wieder zusammen. Für immer oder so wie in den Filmen.
Sein Kopfkino hatte diverse Regisseure durchprobiert, für Drehbücher der eher anspruchsvolleren, tiefgründigen Sorte bis zur Billigschmonzette mit stark erotischer Komponente. Er hatte sie alle bis zum Erblöden wiederholt konsumiert und mal diesen, mal jenen bevorzugt, je nach Laune.

Amanda schloss tatsächlich die Schlafzimmertür, ließ dabei seine Hand los und setzte sich aufs Bett. Er stand mit hängenden Schultern vor ihr und wusste nicht, welche Filmszene als nächste bevorstand. Initiativ zu werden, traute er sich nicht.
Amanda übernahm den Anfang: „Wer sind die und was machen sie da? Und was machst du noch hier? Du solltest doch ausziehen, vor Wochen schon!“
Mike schoss so einiges durch den Kopf. Wenn er jemals noch irgendeine Chance bei dieser Frau haben wollte, musste er antworten, schnell und plausibel. Und seine Freunde verraten, das kam nicht infrage. Außerdem: Wie würde die Wahrheit klingen? Das sind ein paar Penner im wahrsten Sinn des Wortes. Sie haben alle kein geregeltes Einkommen, so wie ich. Ich lasse sie hier schlafen, bis ich rausgeworfen werde, dann sind wir alle miteinander obdachlos und versuchen, in fremde Wohnungen einzudringen. Nein, das klang gar nicht gut in seinem Kopf. Und in ihren Ohren sicher auch nicht.

Eine Amanda-Perspektiven-wahrende Antwort musste her, sofort. Sie wartete, er merkte es an der Handbewegung, mit der sie sich eine kleine Falte auf der Stirn rieb. Sie brachte alle Geduld auf, die sie noch hatte, aber das war nicht mehr viel. Seine Uhr tickte.

Im Geschichtenausdenken war er immer gut gewesen. Aber diese musste niet- und nagelfest sein, einer eingehenden Prüfung dieser schlauen Frau standhalten und ihr gleichzeitig imponieren, im besten Fall.

„Amanda, schön, dass du hier bist. Ich bin überrascht, aber positiv überrascht, also erfreut, dich zu sehen. Du weißt ja, ich wollte nie, dass du gehst. Bitte lass mich alles erklären. Ich sag dir alles, aber lass mich ausreden. Das dauert ein bisschen. Natürlich fragst du dich, wer die da draußen sind.“ Plötzlich war ihm bewusst, dass die anderen durch die dünne Wand, sofern sie sich noch auf der Couch befanden, jedes Wort hören konnten, das er sagte, wenn er laut und deutlich genug sprach. Sehr gut. Ausgezeichnet!

„Also ich war ganz schön verzweifelt, als du weg warst. Da wollte ich was Sinnvolles machen, wie du mir immer gesagt hast. Ich bin also zum Arbeitsamt, und die hatten was Passendes für mich. Weißt ja, dass Sozialarbeiter immer gesucht sind. Nur konnte ich in letzter Zeit einfach nicht mehr. So viel Gewalt, so schlimme …“ Amanda seufzte. Nun, er musste zum Punkt kommen, bevor sie richtig ungeduldig wurde. „Ja, du hast recht. Du kennst das alles ja. Aber ich hab mich nochmal aufgerafft. Ich hab gehofft, so bekomme ich dich wieder. Und da hab ich diese Jugendlichen, also jungen Erwachsenen, anvertraut bekommen. Das ist eine ganz neue Therapieform. Wir leben jetzt am Anfang sogar zusammen. Sie lernen, was Verantwortung ist.“ Amanda lachte: „Von dir???“ Mike erwiderte, ganz ernsthaft, freute sich insgeheim aber, sie zum Lachen gebracht zu haben: „Ja, von mir. Sie haben wohl nicht zufällig mich ausgewählt. Weil ich Ahnung davon habe, wie es ist, orientierungslos zu sein. Wir alle zusammen haben auch eine Mediation einmal pro Woche, und zur Psychologin gehen wir außerdem, jeder Einzelne von uns. Du glaubst nicht, was da weitergeht. Ich hab so viele Erkenntnisse gewonnen, und die jungen Leute da draußen, du hättest sie sehen sollen … Sie kochen jetzt sogar täglich. Das läuft bestens, das alles. Also ich bin am Weg. Sie sind es auch, alle sind am Weg nach oben. Und wie geht es dir? Warum bist du hier?“

Amanda schien verwirrt zu sein, kaute an einer Haarlocke. „Also ich bin wegen des SMS hier, das ich dir mal geschickt habe, und weil da rein gar nichts weitergeht, und weil ich da so eine Firma kontaktiert habe, wo sich auch rein gar nichts tut …“ Sie stockte. Mike wusste, woran sie dachte, er wusste auch den Spieß umzudrehen: „Ma, sorry, das hätte ich dir sagen sollen, ich hab eine neue Telefonnummer. Der Verein, für den ich arbeite, hat mir ein Arbeitshandy gegeben, und ich darf es auch privat nutzen. Da hab ich das alte abgemeldet, kostet ja nur zusätzlich. Aber ich wollte dich anrufen, bestimmt. Nur musste ich jetzt immer so viel arbeiten, das ist am Anfang so. Aber wir können ja jetzt reden. Was hast du mir geschrieben?“ Amanda zögerte. Sie schüttelte den Kopf, ganz leicht, und schwieg. Er kannte sie gut. Er setzte nach: „Gut, dass wir beide mal reden können. Du müsstest sie kennenlernen, wie sie sich freuen, endlich mal eine richtige Bleibe zu haben. Sie sind ganz okay, echt, ein bisschen ruppig vielleicht hie und da, aber sie haben so viel Pech gehabt im Leben. Und ich bin jetzt so froh über alles, was du mir geraten hast. Du hattest recht, mit allem. Dank dir bin ich wieder auf den Beinen. Danke, Amanda, danke.“

Amanda saß auf seiner Betthälfte und schwieg, während ihre Gehirnzellen Schwerstarbeit verrichteten. Er bemerkte, wie sie im Geiste seine Geschichte durchging, kurz bei dem einen oder anderen Gedanken verweilte; ihre Hände waren dabei in ständiger Bewegung. Auf ihrem Schoß nahmen sie einige Anläufe, endlich zur Ruhe zu kommen, strichen den Stoff dort glatt und glätter und wollten liegen bleiben, doch das Geknete der Finger ging stets von Neuem los. Er durchbrach die Stille wiederum.
„Amanda, ich weiß jetzt, wie schwer du es mit mir hattest zum Schluss. Ich konnte mich ja selber nicht ausstehen. Du hast alles versucht. Und dann hast du aufgegeben. Und ich auch, aber nur fast. So könnte es klappen. Und es wäre schön, wenn du dabei wärst, in irgendeiner Form.“
Es war nicht so, dass er die Ironie nicht erkannte. In Wahrheit hatte Amanda alles genau vorhergesehen, vor Monaten schon, bis auf  das Eintreffen der anderen. Das war das Unkalkulierbare, das nun ihr die Bestätigung ihrer Annahmen verwehrte und seine Geschichte stützte. Außerdem ihm die Chance eröffnete, dass sie ihm noch einmal Glauben schenkte.

„Wie stellst du dir das vor?“, brach sie schließlich ihr Schweigen. „Soll ich euch alle hier wohnen lassen, in meiner Wohnung? Weil die so arm sind und du pleite, aber am Weg nach oben? Weißt du, mir schenkt auch keiner was. Ich zahle jetzt zwar dort keine Miete, aber das bei meinen Eltern ist auch keine Dauerlösung. Und du? Kannst du dir das leisten, hier wohnen, mit deinem neuen eigenartigen Job?“

Das war der Schwachpunkt an seiner Geschichte. Er konnte es nicht. Selbst wenn sie alle zusammenlegten, ging sich das niemals aus. Sie brauchten Amanda, er brauchte ihr Vertrauen, und er brauchte Zeit. Geduld, sagte er sich, das musste er ihr vermitteln, dann käme alles ins Lot. Beinahe glaubte er selbst an die Macht seiner Worte. Er legte sich ins Zeug, er redete und gestikulierte um sein Leben. Um sein zukünftiges Leben mit Amanda.
Sie schien erschöpft, müde, zu müde, um sich noch weitere seiner Gründe und Ideen für eine gemeinsame Zukunft anzuhören. Er schlug ihr vor, sie könnte doch einfach hier schlafen, und am nächsten Tag sehe man weiter.
Als Antwort streifte sie sich langsam die Schuhe von den Füßen, nahm in einer beinahe resignativen, unglaublich trägen Geste ihren Halsschmuck ab, legte ihn aufs Kästchen neben dem Betthaupt und ließ sich dann einfach nach hinten aufs Bett fallen. Er war schlau genug, nichts zu versuchen. Er flüsterte „Gute Nacht und bis morgen“ und verließ das Schlafzimmer, indem er die Tür leise hinter sich schloss.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 19094

 

Geschichte einer Annäherung

Eine Liebesgeschichte sollte es werden. Ja, so war es geplant. Und dass alles etwas aus dem Ruder gelaufen ist, tja, dafür kann ich bestimmt nichts. Also das soll jetzt keine Rechtfertigung werden oder so, dass das gleich von Beginn an klar ist. Ich bin nicht der große Erzähler, eher ein Mann weniger Worte. Aber das muss jetzt sein, das muss aufgeschrieben werden, vor allem für mich selbst, weil ich immer noch nicht glauben kann, was alles geschehen ist, und warum das ausgerechnet mir so passieren musste.

Vielleicht hab ich zu Beginn unserer Beziehung ein bisschen zu viel von meiner Ex erzählt, das kann durchaus sein. Dass sie meine erste große Liebe war. Und wie gut sie mir gefallen hat. Was sie immer gesagt hat, wie sie mich zum Lachen und auch zum Nachdenken brachte. Ich hab vermutlich geschwärmt von ihr, weil ich noch nicht ganz drüber hinweg war, dass sie gegangen ist, einfach davon. Und mich sitzen gelassen hatte, wie man so unschön sagt.

Ich kann mir auch vorstellen, dass das für die „Neue“, also jene, mit der sich danach etwas anbahnte, nicht so angenehm war, diese Vergleiche, das Schwärmen von vergangenen Zeiten. Aber trotzdem. Das alles hätte nicht sein müssen. Und ich hatte mit Mona viel vor, echt. Ich konnte mir eine gemeinsame Zukunft vorstellen. Und sie auch, das sagte sie mir immer wieder. So weit schienen wir uns also einig zu sein. Aber was weiß ein Mann schon? Ich hab versucht zu ergründen, was  in ihr vorging, doch sie war und blieb mir ein Rätsel.

Die richtigen Merkwürdigkeiten begannen damit, dass Mona eines Tages (wir wohnten noch nicht zusammen und sahen uns alle paar Abende nach der Arbeit und gelegentlich für Spontanunternehmungen am Wochenende) mit einem neuen Tattoo auf ihrem rechten Schulterblatt erschien. Es war ein eher gängiges Motiv: ein Schmetterling mit ein paar Schmuckgirlanden oder Zweigen drumherum. Solche hübschen bunten Tierchen waren damals auf den Körpern vieler junger Frauen gelandet; auch meine Ex hatte eine ähnliche Tätowierung gehabt. Ich war wohl genau deshalb etwas irritiert, ließ mir aber nichts anmerken, denn woher sollte Mona davon wissen; und so heftig, wie sie inzwischen auf meine Geschichten über meine ehemalige Freundin reagierte, sagte ich lieber nichts über die mir nicht ganz unbekannte Zierde. Ich war mir auch sicher, dass ich ihr nie von dem Schmetterling erzählt hatte, und zwar aus einem einfachen Grund: Er hatte mir nie wirklich gefallen; er war ein bisschen kitschig für meine Begriffe und die Farben eher pastellig und nicht besonders naturgetreu gehalten. Darum hatte er auch in meinen Erzählungen keinen Platz gefunden.

Zum zweiten Mal also war ich nun mit einem solchen Körperschmuck konfrontiert, der mir wie sein Vorgänger nicht besonders gut getroffen erschien, und murmelte etwas eher nicht so begeistert Zustimmendes auf die Frage, ob er mir denn gefalle.
Um keine Missverständnisse zu erzeugen: Damit kann ich leben. Mir muss nicht alles gefallen. Es reicht, wenn es ihr gefällt und ich es nicht allzu hässlich finde, sodass ich mich nicht zu sehr verbiegen muss bei der Antwort. Nun, der Fall war also erledigt, meinte ich damals.

Der Schmetterling wurde allerdings mehr Thema, als mir lieb war. Am Anfang war er noch mit einer Art Folie abgedeckt gewesen, die am äußeren Rand mit Heftpflaster fixiert war, denn die Tätowierung war ja frisch gestochen und die Stelle sollte sich nicht entzünden. Später trug Mona noch zwei, drei Wochen lose Shirts darüber, denn die Haut sollte nicht gleich Sonnenbrand abbekommen. Und bei den Gelegenheiten, an denen ihre Haut unbedeckt war, wusste ich anderes zu fokussieren als ein noch so buntes Insekt. Belanglos, das war das Ding für mich.

Anscheinend war bei ihr das Gegenteil der Fall: Immer wieder kam er zur Sprache, ihr geflügelter Freund, irgendwie wirkte sie geradezu fixiert auf das Thema. So tat ich ihr den Gefallen und sah mir das Tattoo einmal genauer an, um es anschließend (ja, das hätte ich auf mich genommen, um wieder meine Ruhe zu haben …) ausführlich zu loben. Damit erhoffte ich, das Thema zu beenden.

Ich merke gerade, dass ich dabei sehr lange verweile, diese Episode zu erzählen, aber irgendwie war dieser Moment der Anfang von etwas Größerem, Eigenartigerem, das ich bis heute nicht ganz verstanden habe. Jedenfalls, der genaue, nachträgliche Blick zeigte: Der Schmetterling war nicht das gleiche Motiv wie bei meiner Exfreundin, sondern es war dasselbe. Das identisch selbe, um genau zu sein. Und da blieben mir meine geplanten Komplimente im Halse stecken. Ich überlegte: derselbe Tätowierer, der zufällig diese eine Vorlage zweimal fürs Stechen genommen hatte? Konnte das sein? Immerhin lagen Jahre dazwischen. Oder ich irrte mich, und Romanas Schmetterling hatte doch etwas anders ausgesehen? Es war lange her, dass ich diesen gesehen hatte, und ich war kaum jemals näher daran interessiert gewesen. Romana hatte ihn damals schon am Leib getragen, als wir uns kennengelernt hatten, keines ihrer herausragendsten Merkmale jedenfalls.

Schließlich brachte ich doch ein paar zusammenhängende Worte heraus, und Mona, schlau, wie sie war, merkte genau mein Zögern. Glücklicherweise konnte ich das Thema wechseln, und der Abend verlief dann doch noch ganz angenehm.
Mir ließ da aber etwas keine Ruhe: Am darauffolgenden Tag checkte ich das Facebook-Profil meiner Ex. Es war ewig her, dass ich das getan hatte (ich war seit dem Beziehungsende abgemeldet), und es gelang nur über einen Umweg: Mein Arbeitskollege war seit vielen Jahren mit ihr befreundet, und als ich ihn bat, mal kurz seinen Account benutzen zu dürfen, deutete ich an, ich wäre hinter einer anderen Frau in seinem Umfeld her und wollte ihren Beziehungsstatus checken, und er nannte mich einen „tollen Hecht“. Er argwöhnte also nichts und nahm seine Pause, und ich sah mir in Ruhe beziehungsweise ein paar Minuten lang das Facebook-Profil von Romana an. Auf einem der Urlaubs-Bikini-Fotos wurde ich fündig: Wenn auch aus leicht seitlicher Perspektive zu sehen, gab es keinen Zweifel: Romanas Tätowierung glich der von Mona wie ein Ei dem anderen.
Die Freundesliste von Romana förderte noch Erstaunlicheres zutage: Sie war mit Mona befreundet. Was im Falle von Romana nicht viel hieß: Besaß sie doch einige hundert „Friends“, von denen sie den allergrößten Teil nicht persönlich kannte, oft waren es Bekannte von Bekannten, denen die Frau einfach gefiel und die ihr Leben interessant fanden. Romana hatte auch früher schon beinahe alle Freundschaftsanfragen von Frauen und die der meisten Männer bestätigt. Mich haute diese Verbindung aber beinahe noch mehr aus den Socken als die Schmetterlingsentdeckung.

Mona damit zu konfrontieren, ließ ich lieber sein. Dann meinte sie womöglich, ich würde ihr nachspionieren, und eine Richtigstellung konnte auch nicht gelingen: Denn dass ich eigentlich nach Romana gesucht hatte, machte die Sache nicht besser.

Ich wurde argwöhnischer, beobachtete Mona genauer. Und plötzlich fiel mir auf, dass sie sich ähnlich wie Romana kleidete. Darauf wäre ich ansonsten niemals gekommen, aber der Profil-Check mit der Sichtung der vielen Fotos hatte meine Aufmerksamkeit anscheinend geschärft. Und damit nicht genug: Die Bücher, die Mona las, waren alle in Romanas Liste; die Filme, die sie schaute, waren Favoriten von Romana. Die Musik, die Mona hörte, hatte Romana in ihrem Profil bei den Lieblingsbands angegeben, … Es gab nichts, was Mona nicht von ihrer Vorgängerin kopiert hätte.

Fast hätte sie es zu einem perfekten Abschluss gebracht, doch ich kam ihr zuvor.
Ich sah Mona an und sah Romana in ihr – entdeckte plötzlich die große Ähnlichkeit, die gleiche Haarfarbe, die Art, sich zu schminken, den abgestimmten Schmuck, die Kleidung, Schuhe … Nur eines sah ich nicht: ihre Persönlichkeit.

Dass es Mona „nur beinahe perfekt“ gelungen wäre, Romana nachzufolgen, stimmt eigentlich doch nicht, fällt mir jetzt gerade, wo ich es niedergeschrieben habe, auf. Mona hat schlussendlich doch geschafft, was sie immer wollte: meine Exfreundin zu sein.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 19089

Prädikat mit Auszeichnung

Im europäischen Osten, Ende der 1960er.
Eine streng frisierte Frau sitzt an ihrem Schreibtisch, auf dem ein hoher Stapel mit Schriftstücken wartet. Sie trägt ein schlichtes, dennoch nicht elegantes Kostüm in einem grauen Beige oder einem beigen Grau und beugt sich ein wenig nach vor, um den klobigen Telefonhörer in die linke Hand zu nehmen, während die rechte sich noch schnell mit einem dunkelblauen Füller ein paar Notizen auf einem schneeweißen Blatt Papier macht. Danach wählt der rechte Zeigefinger mehrere Ziffern hintereinander. Die Wahlscheibe dreht sich jedes Mal mit einem mechanischen Geräusch wieder an den Ausgangspunkt zurück;  ein letztes „Klick“, bevor die Frau zu sprechen beginnt.

„Magda hier. Ich habe hier eine Menge Mitteilsames vor mir liegen, aber noch keine Starterlaubnis für meine Arbeit bekommen. Wenn ich in eurem Sinne bis Ende der Woche damit fertig sein soll, und das nehme ich stark an, dann sollte eure Abteilung in die Gänge kommen und mir einen Boten schicken mit den notwendigen Anweisungen.“

Gemurmel am anderen Ende der Leitung.

„Gut, dann fange ich ausnahmsweise ohne die schriftliche Genehmigung an. Ich verlasse mich auf dich, dass ich sie heute Vormittag noch bekomme. Bis dahin!“

Das andere Ende der Leitung spricht drei bis fünf Worte. Magda legt auf.

Sie nimmt sich den ersten Bogen Papier, beginnt eine wackelige Handschrift zu entziffern und seufzt. Jede Menge Arbeit. Je länger die Insassen hier verweilen, desto mehr haben sie zu erzählen. Und umso mehr ist sie gefordert.

Die Originaldokumente sind bereits kopiert, ein aufwändiger Vorgang, der Mitarbeitern der Sicherheitsstufe 5 vorbehalten ist. So findet sich das Blatt in Kopie direkt unter dem jeweiligen Brief, der für die Lieben daheim bestimmt ist. Sie arbeitet auf dem Original. Sie ist sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bewusst.

Das Übliche. Verhöre werden nicht beim Namen genannt, denn die Briefschreiber sind gewieft genug zu wissen, dass ihre Mitteilungen nicht einfach ungelesen nach außen wandern. Es wird umschrieben, was das Zeug hält. Auch die Unschuld wird stets betont, immer sei man treu den Interessen des Staates gefolgt, alles ein Missverständnis und werde sich ehebaldigst aufklären. Wie eine Beschwörungsformel, die Magda bereits zur Genüge kennt, in Kopie abgelegt zu Tausenden in ordentlichen, strotzenden Sammelmappen.

Magda tilgt sie nun alle, die Beschreibungen der Unterbringung und Personen, die mit der Inhaftiertenbetreuung beschäftigt sind. Sie stellt ohne große Verwunderung fest, dass ein bestimmter Mitarbeiter, Einheimischer hier aus der Stadt, neuerlich als menschlich sehr zugänglich beschrieben wird. Sie nimmt davon Notiz, sozusagen, bevor der schwarze Balken diesem Lob wie der angedeuteten Beschwerde ein Ende macht.

Die Zensorin blickt auf den vierseitigen Brief, ihr vollendetes Werk. Immer eine gerade Anzahl von dicht beschriebenen Seiten übrigens, denn Papier ist hier ein besonders wertvolles Gut.
Sie ist zufrieden. Nicht nur hat sie sämtliche offensichtlichen Übertretungen ausgemerzt, auch die verklausuliertesten Andeutungen sind ihr nicht entgangen. ‚Du weißt doch noch, Tante Anitas Katze? So fühle ich mich gerade.‘ Was immer Tante Anitas Katze zugestoßen sein mag, es wird nichts Gutes gewesen sein. Weg damit.

Doch dessen nicht genug. Sie kann auch die Passagen, in denen inhaltlich nichts Beanstandenswertes vorkommt, nicht einfach so lassen, wie sie sind. Rechtschreibung und Grammatik sind wichtig. Wenn jemand nicht weiß, wie man schreibt, soll er’s lassen. Ihre Meinung.

So landen auch Stellen, in denen es darum geht, wie groß die Vorfreude aufs Wiedersehen mit der Familie ist, unter Balken. Eigentlich schon egal, denn Briefe aus ihrem Büro ähneln eher einem schwarzen Meer mit einigen Einsprengseln. Was jemand mit so einem Schreiben anfangen soll, war ihr immer schon schleierhaft.

Es klopft. Der Bote mit der schriftlichen Genehmigung; das ist erfreulich rasch gegangen. Er überreicht ihr aber nicht nur das vereinbarte einzelne Dokument, sondern auch ein zweites amtliches Schriftstück in einem Kuvert.  Sie kommt seiner schüchternen Bitte um Gegenzeichnung des Erhalts für beides rasch nach, denn sie ist mehr als neugierig auf das Unangekündigte. Das Kuvert bedeutet: bedeutsam. Der Bote entfernt sich dezent.

Die Genehmigung wandert nach kurzem Kontrollblick sofort in die richtige Mappe.
Sie reißt das Kuvert auf.

 

„Sehr geehrte Frau Dr. T.,

in Anbetracht hervorragender Leistungen in der Zensurbehörde und außerordentlich gewissenhafter Durchführung der Ihnen zugeordneten Aufgaben teilen wir Ihnen mit, dass Sie ab 5. Juno  als neue Leiterin der Zensurbehörde als Nachfolge von Herrn M. vorgemerkt sind. Wir bitten Sie höflichst, sich mit allen notwendigen Unterlagen zur weiteren Vorgehensweise am  25.05. cr. um 9 Uhr 15 in der Abteilung 12, Zimmer 34 einzufinden.

Mit vorzüglichsten Grüßen

Hässliches Gekrakel

Dr. Z., Vorsitzender des Komitees für Datenbearbeitung“

 

Frau Dr. Magda T. lächelt zum ersten Mal an diesem Tag und streicht mit der Hand über das glatte Papier, bevor sie es vorübergehend links hinten neben dem Stapel ablegt. Sie greift nach dem nächsten Brief.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 18136

Woanders erwachen

Sie ist ein süßes Baby, jeder will sie halten und kosen. Sie lächelt beim Einschlafen. Als sie die Augen wieder aufmacht, liegt sie in ihrem Bettchen. Alles ist warm, weich, vertraut. Sie ist daheim.

Er ist ein Teenager, der gerne einen draufmacht. Er geht fort und weiß danach oft nicht, wie er heimgekommen ist. Aber er erwacht auch diesmal zu Hause in seinem Bett. Glück gehabt, oder gute Freunde.

Sie ist erwachsen und hat alle möglichen Verpflichtungen. Richtig munter ist sie kaum. Richtig müde dafür häufig. Eines Tages wacht sie auf und stellt fest: Ich bin im Urlaub. Alles davor wird gestrichen, der Entspannung wegen. Eigenartig nur, dass aus der Wasserleitung in der Küche Kaffee fließt, und zwar egal, ob sie den Kalt- oder den Warmwasserhahn aufdreht.

Er ist sehr alt. Schließlich geht er ins Heim, er sieht es ein, daran hat kein Weg vorbeigeführt. Er schläft gut, aber im Laufe der Zeit immer weniger. Wenn er aufwacht, dann meistens wegen einer Schwester, die viel zu früh an seinem Bett steht. Wo ist er nur? Seine Frau ist nicht da. Und seine Hunde auch nicht. Wo er da hingeraten ist, ist ihm ein Rätsel. Im Laufe des Tages dämmert es ihm, dass das jetzt sein Zuhause sein soll. Als er schließlich wieder zu Bett gebracht wird, ist er sich sicher, dass er das nicht so gewollt hat.
Am nächsten Morgen erwacht er zu Hause. Schlaftrunken tapst er in die Küche und setzt sich an seinen Platz am Tisch. Seine Frau kommt dazu, stellt ihnen beiden das Frühstück hin und lächelt ihn an. Seine Hunde springen an ihm hoch und er stupst sie freundlich. Heute wird er eine Wanderung machen, darauf freut er sich schon die ganze Woche.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 18015

 

 

 

 

Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte

Wie sehr du dich auf deinen eigenen Bahnen kopierst, wird dir klar, wenn du einmal eine durch Zufall verlässt. Beinahe verloren findest du dich in einem Universum wieder, das zwar dem deinigen ähnelt, aber durchdringend befremdlich wirkt. Ein nicht greifbares Unbehagen: Was ist denn da bloß los? Dabei fing wie meistens alles ganz harmlos (wenn auch ungustiös) an.

Zwei Kater, die sich mit Diarrhö abwechseln (ja, das ist das Grausliche, wofür man sehr gerne ein Fremdwort verwendet …), seit Tagen schon. Leichte Besserung, aber dann genau am Freitagmorgen, merde alors. Eigentlich sollte der Bus um 6 Uhr 40 fahren. Er tut es auch, unbeeinträchtigt vom merde alors irgendwelcher Katerbrüder. Es sind ja deine Katerbrüder, und du willst nicht, dass sich das merde alors im ganzen Haus verbreitet durch Katerpfoten, also ran an die Handschuhe und den Putzkübel, und das um kurz nach halb 7 in der Früh. Brrrrrrr.

Die Segnungen der Gleitzeit ermöglichen es dir, nach dem Brrrrrrr eine Dusche sowie einen späteren Bus zu nehmen. Du sitzt also vierzig Minuten später als sonst im Beförderungskübel Richtung Arbeit.

Entweder du bist anders als sonst. Oder das Drumherum. Das ist nämlich viel agiler als gewohnt. Während gegen sieben Uhr morgens die zu Befördernden in ihren Sitzen hängen wie angezählt und kaum ein Auge offenhalten können, was dir sehr entgegenkommt (du bist schließlich eine von ihnen), bietet sich nun ein gänzlich anderes Bild. Wo ist er hingekommen, der junge Mann, der so selig vornübergebeugt mit dem Kopf auf der Brust schläft, von der ersten Sekunde an, wo du seiner ansichtig wirst? Er ist um diese Zeit längst am Ziel seiner Träume.

Du hingegen sitzt nun inmitten einer Schar Halbwüchsiger, die es gar nicht erwarten können, sich via Snapchat auszutauschen. Wäre ja an sich die Stillbeschäftigung par excellence, sollte man meinen, doch weit gefehlt! Zur Benützung dieses Dienstes gehört anscheinend, einander über mehrere Sitzreihen zuzurufen, wenn ein Bild besonders sehenswert ist, und es in einfachen Worten aber lautstark zu beschreiben. Damit der andere das ja nicht verpasst. Du denkst an die zweite Bedeutung von „verpassen“, doch es reicht nicht einmal fürs Zuendeführen des Gedankens, geschweige denn zur Ausführung.

Nach ungefähr zwanzig Minuten merkst du, wie du gezwungenermaßen munterer wirst. Es mag auch an dem Volksmusiksender liegen, den sich jeder Busfahrer, der halbwegs bei Trost ist, um diese Zeit verkneifen würde. Nein, nicht dieser. Der ist aus einem anderen Holz geschnitzt, outet sich gerne als Fan und versucht wacker, die muntere Meute zu übertönen. Schließlich gehört Lautstärke zu wahrer Hingabe einfach dazu. Dein Aggressionspegel, üblicherweise um diese Zeit nicht einmal in mikroskopisch nachweisbaren Ansätzen vorhanden, steigt in sehr wahrnehmbare Dimensionen.

Wo du ansonsten schlummernd und höchstens bei Sitznachbarwechsel kurz freundlichst und höflich aufmerkend (Ist da noch frei? Selbstverständlich …) den Einstieg in die morgendliche Umgebungswelt meisterst, bist du nun ein völlig anderer Mensch, ein genervter, unfreundlicher, der sich am liebsten wieder Richtung heimatliche Gefilde bewegen würde, anstatt weiter in feindliches Terrain vordringen zu müssen.

Du räsonierst. Warum diese vermaledeiten vierzig Minuten dich so aus der Bahn geworfen haben. Für die Erforschung dieser Innenwelten gibt es ein probates Mittel: Du zückst dein stets mitgeführtes Notizbüchlein und beginnst zu schreiben:

Vierzig Minuten oder Einmal Parallelwelt und wieder zurück bitte.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 17183

Mutterskind

Wer hat wohl das letzte Stück Kuchen gegessen?
Wer ist auf deiner Bluse gesessen?
Wer hat vergessen,
dass Klodeckel zu schließen,
Blumen zu gießen sind,
wer war das, mein Kind?

Wer hat die Dinge beim Namen genannt
mit Worten, die nicht mal der Duden gekannt?
Wer hat nicht von allem gekostet,
was andere liebevoll vorgetoastet?
Wer war unaufmerksam und gedankenlos,
ja, mein Kind, wer war das bloß?

Wer hat schlecht zugehört,
kreative Prozesse durch Reden gestört?
Wer mag wohl dieses Wesen sein,
das lästig scheint und menschlich klein?
Wer, liebes Kind, was meinst du,
ließ Tag und Nacht dir keine Ruh?

Deine Mama war’s, das Muttertier.
Doch gibt es eine Erklärung dafür.
Sie liebt dich sehr, mein Kind, und das ist wahr.
Wenn auch etwas sonderbar.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17043

Katzennärrin

Heute hat meine Katze „danke“ gesagt. Laut und deutlich.
Sie hatte geniest, so einen hübschen, niedlichen Katzennieser von sich gegeben, bei dem einem immer ganz warm ums tierliebe Herz wird. Daraufhin ich natürlich: Gesundheit!

Und da sind wir nun. Da haben wir wohl beide nicht aufgepasst, sie noch weniger als ich. Wie weitertun?
Sollen wir uns so verhalten, als sei nichts geschehen? Ich hatte mich so erschrocken, dass ich beinahe mein Teehäferl fallen gelassen hätte (Alkohol war also auch nicht im Spiel, das hätte es irgendwie erklärbarer gemacht …). Daraufhin hat sie mir beschwichtigend die linke Hand abgeleckt. Gesagt hat sie nichts mehr. Und ich auch nicht.
Seitdem schweigen wir uns an. Wir mögen uns ja. Aber ganz geheuer ist sie mir seitdem nicht mehr. Und sie weiß genau, was ich gehört habe. Von wegen walnussgroßes Gehirn (sie, nicht ich)!
Schweigend fülle ich ihre Fressschüssel, erneuere ihr Wasser. Streichle gedankenverloren ihr weiches Fell am Rücken. Sie verhält sich unauffällig, wie sonst auch, stürzt sich auf das frische Futter, ignoriert das Wasserbehältnis, schlingt hinein und umstreift dann meine Hosenbeine.  Ganz klar: Sie macht auf Katze. Auf ganz normale Katze. Und ich mache auf Mensch, auf ganz normaler Katzenversorgungsmensch.

Ewig wird das so nicht weitergehen können, das ist uns klar, zumindest schließe ich Einvernehmen in dieser Angelegenheit aus ihrer demonstrativen Art, die unschuldige Katze raushängen zu lassen (lange hält sie das nicht durch, so viel steht fest). So viel Schmeichelkatze war nie. So viel Verwirrung bei mir auch nicht.

Ja, gelesen hatte ich schon von solchen Phänomenen, Tiere, ja, sogar Gegenstände sollen zu so manchem bereits gesprochen haben, und diejenigen, die nicht gerade als Pferde- oder Hundeflüsterer oder Gurus ihr Auskommen finden, bevölkern in beunruhigender Anzahl die psychiatrischen Abteilungen der Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen dieses Landes.

Da hat sie mir was Schönes eingebrockt, meine Katze.
Ich würde mich ja gerne mit ihr darüber unterhalten, aber ich fürchte mich vor den Antworten. So nehme ich das vorwurfsvolle Miauen (jaja, Tarnen und Täuschen!) zum Anlass, mich Richtung Katzenklo zu trollen, um dieses einer Reinigung zu unterziehen.
Anschließend mich, ab in die Dusche. An der Duschwand sitzt meine Katze und leckt die abgelenkten, quasi durch mein ausuferndes Duschverhalten über die Bande ausgetretenen Wassertropfen von der glatten Plastikfläche. Beim Abtrocknen sieht sie mich aufmerksam an. Ihre Augen verraten eine Schläue, die menschliche Wesen nur in Ausnahmefällen aufzubringen vermögen.
Anschließend legen wir uns auf die Couch.

In meinem Kopf rennt ein Rädchen, wohl mehrere, zu viel.
Denk dir nichts, sagt sie plötzlich, so im Übergang von Schnurren zur menschlichen Sprache: Ist vollkommen egal. Hauptsache, du schreibst keine Geschichte darüber.
Sie hat wie immer vollkommen recht.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 16144