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Stalins Lieblingsgeschichte von Tschechow. „Duschetschka“, Schätzchen

Alle Biografen erzählen dieselben Geschichten. Manchmal scheint es, als würden sie voneinander abschreiben. Die Geschichte über eine Geschichte, und zwar die Lieblingsgeschichte von Stalin, ist aber in keiner Biografie enthalten, sondern in den Memoiren von Trotzki.
Wer ihm „Schätzchen“ erzählt hat oder wann er es gelesen hat, darüber ist nichts zu erfahren, auch von ihm selbst nicht. Er hat nie darüber gesprochen, auch seine Mutter nie nach Moskau geholt und sie nie in Georgien besucht.

Über Josef Wissarionowitsch Dschugaschwilis Kindheit und Jugend ist kaum etwas bekannt. Stalin mochte sich nicht an diese Zeit im georgischen Gebirgsdorf Gori erinnern. Sie war düster und trostlos. Der ewig schlagende und trinkende Vater, ein Flickschuster, Armut, die hilflose, aber liebevolle Mutter, der die zwei älteren Kinder wegstarben. Nach der Trennung bringt sie den verwachsenen und von den Pocken schwer gezeichneten Siebenjährigen in einem kirchlichen Internat unter, auch kein fröhlicher Ort. Mit siebzehn wird er Straßenräuber zwischen Tiflis und Baku.

Die Biografie Stalins vor der Oktoberrevolution lässt sich zusammenfassen zu sieben Verhaftungen und fünf Fluchten aus den Gefängnissen und Verbannungsorten des Zaren.
Er traf Lenin zum ersten Mal auf der Parteikonferenz von Tammersfors (1905), nahm auch an den Parteitagen in Stockholm (1906) und London (1907) teil. Schon damals fühlte er sich unter den wendigen Intellektuellen vom Schlage Trotzkis, Plechanows, Axelrods, Lenins und Martows nicht wohl. Von dorther soll sein ewiger Hass auf die Intellektuellen und Künstler stammen.
Dazwischen war er für „bewaffnete Expropriationen“ zugunsten der Parteikasse zuständig. In Südrussland und im Kaukasus überfiel er zusammen mit gewöhnlichen Räuberbanden Banken und Geldtransporte. Die Beute war für die Finanzierung der Exilgenossen und ihrer Zeitungen bestimmt. Dschugaschwili galt als gerissen, berechnend, gefühllos und verschlossen. Über allem stand das Charakteristikum der Grobheit. Er hatte sich damals als Parteinamen „Koba“ (türkisch: Der Unbeugsame) zugelegt, eine Anspielung auf einen Helden in dem georgischen Epos „Der Vatermörder“.
Im Jahr 1913 schickte ihn die Partei nach Wien, damit er einen Bericht über die Nationalitätenpolitik der Donaumonarchie verfasste. Warum man den ideologisch unauffälligen, von jeglichen theoretischen Kenntnissen freien Genossen schickte? Gesichert ist es nicht, aber seine Zugehörigkeit zu einer Minderheit wird wohl den Ausschlag gegeben haben. Diese Schrift „Marxismus und nationale Frage“ unterschrieb er erstmals mit „Stalin“, der Stählerne. Der Revolutionär Lew Borissowitsch Rosenfeld begnügte sich mit „Kamenew“, der Steinerne. Maxim Peschkow nannte sich „Der Bittere“, Gorki, und Uljanow „Lenin“, harmlos nach dem sibirischen Fluss Lena. Lenin schätzt den Bericht positiv ein, aber das motivierte Stalin nicht, sich weiter mit dem Thema zu beschäftigen.

Er wohnte während der drei Monate in Wien in der Pension Schönbrunn, ging jeden Tag für seine Studien in die Nationalbibliothek, machte lange Spaziergänge durch die Stadt und selten auch Besuche bei in Wien lebenden Genossen. Einer davon war Lew Bronstein, der schon sechs Jahre mit Frau und Kindern in Wien wohnte.
Befreundet war Stalin mit niemandem. Es gibt keinen Menschen, dem er sich lebenslang nahe gefühlt hätte. Mit einer Ausnahme – seiner Tochter Swetlana, aber auch das nur, so lange sie klein war. Als sie gegen seinen Willen heiratete, verstieß er sie. Sein berechnender Charakter, seine Gefühllosigkeit und seine moralische Taubheit erlaubten es nicht, Freunde zu haben. Er ließ nicht einmal seinen ältesten Sohn, ein Gefangener der Nazis, austauschen, wie es die Deutschen vorschlugen. Wassili starb in den Fängen der Deutschen.

Eine köstliche Vorstellung, dass Josef Dschugaschwili, damals noch Koba, Adolf Schickelgruber-Hitler, Josip Bros-Tito und Lew Bronstein-Trotzki sich in diesem Jahr über den Weg laufen hätten können. Alle vier hielten sich zur selben Zeit in Wien auf und schrieben darüber, dass sie nach Schönbrunn kamen, um vom Straßenspalier aus einen Blick auf den greisen Kaiser bei seiner Ausfahrt zu werfen. Welche Sternenkonstellation.

Wenn wir nicht die direkte Erinnerung von Trotzki hätten, würde niemand diese Episode mit dem „Schätzchen“ kennen. Einmal waren in der ärmlichen Zwei-Zimmer-Wohnung in Hütteldorf-Hacking mehrere russische Emigrantenfamilien zusammengekommen. Stalin hielt sich von den Erwachsenen fern und beschäftigte sich mit den Kindern, schreibt Trotzki in seinen Memoiren.
Er machte allerhand Späße mit ihnen und erzählte wortwörtlich aus dem Gedächtnis die Geschichte vom „Schätzchen“, duschetschka, auch als Herzchen oder Seelchen übersetzt. Eine der grausamsten Kurzgeschichten von Cechow. Sie ist das Gegenteil von einer Geschichte für Kinder, sondern die über ein böses Mädchen, das später nur von ihrem noch böseren Stiefsohn übertroffen wird. Teufelin gebiert einen noch größeren Teufel. Das gefiel Stalin, und er nannte das „Schätzchen“ seine Lieblingsgeschichte. Diese Erzählung wird als besonders abgründig empfunden, weil Cechow sie in unschuldigem und süßlichem Ton erzählt und sie gerade dadurch Horror auslöst. Möglich, dass die feinen Kinder der russischen Intellektuellen ihn gar nicht verstanden. Stalin hatte eine raue, nuschelnde Stimme mit feuchter Zunge und schwerem georgischem Akzent. Grob, so wird seine Sprache später noch oft beschrieben werden.

Lenin nennt in seinem Testament als Hauptargument gegen Stalins Führerfähigkeit seine „Grobheit“. Er hatte offenbar Vergnügen daran, die Kinder zu erschrecken.
Irgendwann wurde jemand von den Erwachsenen aufmerksam, weil ein Kind zu weinen begann. Stalin unterstrich die Erzählung noch durch wilde Gesten und Grimassen. Er führte ein wahres Höllenspektakel auf. Dabei sah er schon ohne dies furchterregend aus mit den Pockennarben im Gesicht, grünen Augen, dichten, langgezogenen Augenbrauen, gerader, niedriger Stirn, dem Schnurrbart und dem überdimensionalen schwarzen Haarschopf. Das große Muttermal auf der linken Ohrmuschel war verdeckt, ebenso die am linken Fuß zusammengewachsenen zweite und dritte Zehe. So teuflisch sah der aus, der sich später die große Sonne nennen ließ, zu der alle kleinen aufsahen.

Trotzki betont bei allem Abscheu vor der Person Stalins sein phänomenales Gedächtnis. In den zehn Jahren, die er in geistlichen Schulen zugebracht hat, lernte er ganze Passagen des Alten und Neuen Testaments, dazu Messen, Litaneien, Choräle und Gebete auswendig. Man kann natürlich vermuten, dass Trotzkis Erinnerungen gefärbt sind von dem Schicksal, das ihm Stalin bereitet hat. Aber diese Episode wird bestätigt in den Memoiren des Ehepaares Sofronitzki, Menschewiken, die damals ebenfalls bei den Trotzkis zu Besuch waren. Sie blieben im Ausland und entgingen damit der Rache Lenins und Stalins.

8.7.17

Veronika Seyr
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Ersterscheinen in der Märzausgabe 2004 von „Literatur und Kritik“

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Klopapierrollen-Kapitalismus

Im September 1998 organisierte die Universität St. Petersburg ein Seminar zur Frage, ob es ein weibliches Schreiben gäbe. Dazu hatte ich acht Gäste aus Österreich eingeladen und nahm aus Eigeninteresse auch selbst daran teil.

Am letzten Tag lud die Uni zur Stadtbesichtigung ein; die österreichische Schriftstellerin E.S. wollte aber lieber die Sommerdatscha der russischen Dichterin Anna Achmatowa besuchen, ihres großen Vorbilds. Die Wohnorte und Gedenkstätten in der Stadt hatte sie schon selbständig abgeklappert, aber nach Komarowo brauchte sie Begleitung. So mietete ich ein Taxi und fuhr mit ihr nach Nordwesten an den Finnischen Meerbusen. Über Komarowo hatte E.S. in der Biografie gelesen, wie schön es dort sei, und auch dem Grabmal der russischen Poetessa wollte sie einen Besuch abstatten.

Wir saßen im Fond des Wolga und unterhielten uns über A.A., ihre Kunst und ihr tragisches Leben. Zwanzig Jahre lang hat Stalin sie terrorisiert, zwei Ehemänner ermordet, den Sohn in den Gulag geschickt, ihre alten Bücher verboten, ihr jede Publikationsmöglichkeit genommen, sie ständig mit dem Tod bedroht und sie öffentlich als „Nonne und Heilige“ diffamiert.
Lange schon war es E.S.s Traum gewesen, auf ihren Spuren zu wandeln und ihr die Ehre zu erweisen. Sie war eine wahre Pilgerin und gesteht offen ein, dass sie bei A.A. schwärmerisch werde wie ein Teenager. Auch Marina Zwetajewa schloss sie in ihren Olymp ein, aber die würde sie erst in Moskau mit einem Besuch beehren.

Der Fahrer, ein Mann etwa in unserem Alter, lenkte den alten Wolga umsichtig und langsam, die vielen Schlaglöcher auf der Landstraße umfuhr er geradezu liebevoll. E.S. wollte ein bisschen Volkes Stimme hören, also übersetzte ich ihre Fragen an ihn.
Ob er Komarowo, die Datscha und das Grab von A.A. kenne?
Ja, mit der Schule seien sie einmal rausgefahren, aber sein Star sei sie nicht.
Sie sei ein bisschen überkandidelt, überhaupt habe er es nicht so mit der Poesie.
Und gesprochen hat sie wie ein sterbendes Pferd, so wie Schaljapin gesungen hat, und er schüttelte sich dabei so, dass das Lenkrad ins Schwanken kam.
Es gibt eine alte Radioaufnahme, auf der sie so klingt, dass ich Ivan nicht widersprechen kann.

Das Letztere übersetze ich für E.S. nicht, diese Beschreibung der hässlich und dick gewordenen Göttin könnte die zartbesaitete Schwärmerin vielleicht aufregen. Wenn Gäste unzufrieden waren, fiel das immer auf mich persönlich zurück. Sie brachten alle ihre Koffer voll mit eigenen Russland-Bildern, Russland-Sehnsüchten und Russland-Abneigungen mit. Und die wollten sie bestätigt haben.

Da klappte der Fahrer das Sonnenschild herunter, zog ein abgegriffenes Ledermäppchen hervor und reichte es nach hinten. In den Fächern hatte er Bildchen gesammelt – es waren die Beatles. Wo andere die Fotos ihrer Kinder, Frauen oder Enkel mit sich tragen, hatte er die Pilzköpfe immer mit dabei. Er sei ein Fan der ersten Stunde. Er träume davon, einmal nach Liverpool zu fahren und alle Orte der Beatles aufzusuchen erzählt er. Seit seiner Jugend schwärmte er für die vier, zu Hause habe er mehrere große Ordner voll mit Artikeln über die Stars. Auch alte Kassetten habe er noch, die man in der Sowjetunion unzählige Male überspielt hatte, weil es ja keine Platten gab. Auch im Radio durften die westliche, imperialistische, dekadente Musik nicht gespielt werden. Es war das größte Glück, jemanden zu kennen, der ein Mitbringsel aus dem Ausland ergattern konnte oder gar einen Ausländer kannte. Aber sogar viele russische Stars wie Wladimir Wyssotzki und Bulat Okudschawa bekamen nur im Westen Platten, die wir Ausländer dann mit Glück ins Land schmuggelten. Gut in Erinnerung ist mir die Platte von Okudschawa „Gebet des Dichters Francois Villon“ die ich an meine russischen Freunde zum Kopieren verlieh: Ich erhielt sie zurück, aber mit flachen Rillen, so oft hatten sie sie abgespielt. Bei meiner ersten Reise in die SU im Jänner 1971 hatte ich ein paar Beatles-Platten dabei, die mir zusammen mit dem Leonard Cohen beim Zoll in Brest-Litowsk abgenommen wurden. Nur den Chopin mit Nocturnes und Impromptus hat man mir gnädig gelassen.

Ivan hielt am Rande des Föhrenwaldes, in dem sich die Datschen-Siedlung befand.
Stalin, der sich für den besten und obersten Kunstkenner hielt, als Herr über Ideologie und Geschmack, über Sozrealismus und Formalismus, über Leben und Tod, zeichnete überlebende Dichter, Musiker und Wissenschaftler mit einem Lenin- und Stalin-Orden aus, dazu bekamen manche noch eine Dienstdatscha.

E.S. und ich suchten zwischen den kleinen, locker verstreut im Wäldchen stehenden Holzhäuschen nach der Nummer 39, die angeblich von A.A. bewohnt worden sein soll. Zuerst fanden wir sie nicht, dafür aber die Nummer 27, die von Schostakowitsch. E.S. ließ natürlich nicht locker, so nah am Ziel wollte sie sie zumindest berühren oder durchs Fenster ins Innere lugen. Und dann doch – was für eine Freude und gleichzeitig der Schock, wie bescheiden, ja primitiv so eine Stalin‘sche Dienstdatscha für die besten Köpfe der Sowjetunion ausgefallen war. In unseren Gärten würden sie wahrscheinlich für Schuppen für Gartengeräte oder Holzlager gehalten werden. Aber E.S. war glücklich, fotografierte einen Film aus, ließ sich von mir in allerhand Posen ablichten – mit einem Gedichtband von A.A. in der Hand. Eine Zeitlang setzte sie sich auf das dreistufige Treppchen, das zur Eingangstüre führte und blätterte in den Gedichten. Das Haus war verschlossen und hatte außer der Nummerntafel keine Hinweise auf seine frühere Bewohnerin.

Ich machte solche Pilgerfahrten immer bereitwillig mit, nicht nur weil sie zu den einfachsten und angenehmsten Pflichten meiner Kulturaustauschtätigkeiten gehörten. Den Kulturgästen aus Österreich ihre Pläsierchen zu erfüllen, machte mir wirklich Spaß. Ob es das Grab des Boris Godunow war, der Ort des Duells zwischen Puschkin und seinem belgischen Widersacher, die Panzersperren gegen die Wehrmacht am westlichen Stadtrand von Moskau, die Datscha von Boris Pasternak in Peredelkino oder die Hauskirche Lew Tolstoj, in der ich immer gerne meine eigene Entdeckung präsentierte, die Ikone mit der Madonna mit den sechs Fingern. Die sechsfingrige Liebe zum Jesuskind.

Auch spürte ich nach so vielen Jahren einen gewissen Besitzerstolz, mit dem ich die Fremden führte und sie für „mein“ Russland begeistern konnte. Ein Gast meinte einmal, zutiefst beeindruckt nach dem Besuch von Sergijew Posad: Du solltest keinen österreichischen, sondern einen russischen Orden bekommen. Ja, den Stanislav. Das verstand er aber wiederum nicht. Der polnische Lumpenorden, nachdem sich Russland wieder einmal Polen unter den Nagel gerissen hatte, das Kongresspolen.

E.S. war im siebenten Himmel, als ich sie zum Grab der A.A. auf dem kleinen, parkähnlichen Friedhof führte: eine weiße Steinstele mit ihrem eingemeißelten Halbrelief, das schöne, schmale Tatarengesicht ihrer Jugend. Ansonsten nur ihre Lebensdaten in Goldbuchstaben.
Die Grabstelle war nicht eingezäunt wie sonst meistens bei den Orthodoxen, sondern nur eine Erdfläche mit Efeu und Farnen. E.S. legte ihren Nelkenstrauß darauf. Die rechte Seite der Stele wurde umrankt von einem üppigen Rosenstock, der in diesem frühen September noch volle, rote Blüten hatte. Die schon schräg stehende Sonne warf aus dem Westen noch einen rosa Hauch über das Ganze, sodass das zarte Marmorgesicht lebendig zu werden schien. E.S.‘s Entzücken kannte keine Grenzen, sie hatte ihren Sehnsuchtsort erreicht. Ich bemühte mich, sie von meinem inneren Schmunzeln nichts merken zu lassen, hatte ich mich doch einstmals genauso verhalten, nur halt schon in sehr viel jüngeren Jahren. Diesmal schoss ich zwei Filme mit ihr und dem Grab aus.

Da ertönte in der Ferne eine Autohupe. Unser Ivan wurde ungeduldig, er wollte zurückfahren.
Schwer trennte sich die Pilgerin von ihrer angebeteten Dichter-Gottheit. Wir kehrten zum Auto zurück und drehten noch eine Runde durch das unbedeutende Dorf Komarowo, wo allerdings die Datschen der Neureichen wie die Pilze nach dem Regen sprossen.
Nur der Blick vom Strand über den Finnischen Meerbusen hinaus aufs Meer konnte einem den Atem rauben, der Grund, warum die Menschen hierher kamen. Komarowo heißt nicht nur Gelsendorf; diese in dichten Wolken auftretenden Tiere konnten einem im Sommer das Leben zur Hölle machen. Ich schätze diese nördliche Landschaft mehr, wenn sie fest und sicher versiegelt ist von mehreren Metern Schnee. E.S. ließ sich auf dem querliegenden Stamm einer Föhre nieder und versenkte sich in den Blick, den auch A.A. von hier auf die Ostsee gehabt haben muss. Danach bat sie mich, aus ihrer zweisprachigen Ausgabe ein Gedicht auf Russisch vorzulesen, sie will hören, wie das hier klingt, zu diesem Meeresrauschen und in diesem Wind. Sentimentalität ist nicht eingrenzbar, die ist wie eine DNA. Aber mich freut‘s, wieder der Besitzerstolz, wenn ich meinen Gästen etwas von der Größe und Großartigkeit Russlands näherbringen kann.

Eine Freundin, die mich einmal im Juni in Moskau besuchte, in der allergrößten, windstillen, grässlichen, feuchten Hitze, konnte es drei Wochen lang nicht glauben, dass es in Russland etwas anderes gab als Eis und Schnee. Die Bilder, die Bilder im Kopf.
Ivan hat geduldig am Auto gewartet, jetzt freut er sich, dass wir die A.A.-Andacht beenden und bereit zur Rückfahrt sind.

Ob die Leningradskoje Chaussee schon auf der Hinfahrt das gleiche Bild geboten hat und ich es beim Plaudern und Übersetzen einfach nicht gesehen habe, ich weiß es nicht.
Russland war erst Mitte August einem Bankenkrach, einem schwarzen Freitag, nur knapp entgangen. Im freien Fall gebremst nur durch einen deutschen Riesenkredit. Aber die Folgen waren noch lange nicht vorbei – es herrschte extreme Bargeldknappheit in jedem Bereich, am schlimmsten traf es die Fabriken, die die Löhne nicht auszahlen konnten, weil sie von der Zentralbank kein Geld bekamen. So wurden die Arbeiter in Naturalien ausbezahlt, in diesem Falle musste es die Produktionsstätten von Klopapier und Plastik aus der Umgebung getroffen haben. So entfaltet sich entlang der Leningradskoje ein fantastisches Bild: Kilometer um Kilometer haben sich die mit Klopapier oder Plastikgegenständen ausgezahlten Werktätigen am Straßenrand aufgebaut, fein säuberlich zu Kegelbergen aufgeschichtete weißen Rollen die einen, Haufen von buntem Plastikgeschirr, Eimern und Schläuchen die anderen.

Solche weißen Pyramiden, die habe ich schon einmal gesehen, in den Salzseen der Camargue in Südfrankreich, die quietschbunten Plastikprodukte glichen eher einem überdimensionierten Kinderladen. Meterhoch aufgestapelte Eimer, Schüssel und Wannen, im Gras kringeln sich bunte Schlagen von Schläuchen, Kabeln und Planen. Ein Kunstwerk, diese Pyramiden, stoße ich hervor. Vielleicht der ursprüngliche Sinn von Papyrus. Daran kann ich mich begeistern, diese sicht- und greifbare Absurdität, mit der sich das System vorführt, die schreiende Lächerlichkeit, die unbeabsichtigte Bloßstellung, der Irrwitz auf die Spitze getrieben, wenn alle Marktteilnehmer nur ein oder zwei Produkte miteinander austauschen und Produzenten, Verkäufer und Käufer ein und dieselbe Person sind. Wie kann man da Profit machen, was überhaupt austauschen? Es gibt Straßenabschnitte, wo ausschließlich Klopapier angeboten wird. Es reicht sicher für viele Menschenleben. Diese wie in einer Versuchsanordnung aufgebaute Endvision des Kapitalismus. Mein Gast dagegen kann dem nicht das Schräge, Verquere, Fantastische abgewinnen, das ich sehe. Sie kann nicht mitlachen und hat auch keine Lust, als Kunde aufzutreten. Eine sentimentale Trutschn, ein Nockerl, sage ich zu mir innerlich.

Ich denke an meine neu erworbene Datscha und will zwei Eimer, eine große Wanne, ein Nudelsieb, zwei Kochlöffel und einen Gartenschlauch kaufen. Die Verkäufer prügeln sich fast um mich und untereinander, dass ich auch bei anderen etwas kaufen soll. Leider, geht nicht, an Klopapier habe ich selbst großen Vorrat. Aber okay, lasse ich mich von den streitenden Anbietern breitschlagen, als Souvenir, als Erinnerung und Zeugen, weil die Erzählung von diesem Bild wird mir niemand glauben. Meinen Plastikeinkauf teile ich also auf sieben und die vier Klopapierrollen auf zwei Verkäufer auf.

Als Russland-Neuling acht Jahre nach der Wende kann E.S. nicht wissen, welch knappes Luxusgut Klopapierrollen in der Sowjetunion waren. Die alten Russland-Reisenden waren über Jahrzehnte gebeten worden, solche aus dem Westen mitzubringen. So heiß begehrt wie Schallplatten, Bic-Kugelschreiber und -Feuerzeuge, Nylon-Strumpfhosen, Burda-Schnitthefte und BHs von Palmers. Oft wurden einem das begehrte Papier und die Bics an der Grenze in Brest-Litowsk abgenommen – aus Hygiene- und Sicherheitsgründen, wie es hieß, oft auch die Burda-Hefte, wenn am Zoll eine Frau Dienst tat oder ein Zöllner eine Frau hatte, die die Schnitte nachschneiderte.

Einmal bin ich dahintergekommen, dass ein Freund von der Uni mit meinen eingeschmuggelten Klopapierrollen und Bics einen Handel begonnen hat. Nach der Wende traf ich ihn wieder, schon ein bekannter Name, er war Banker und Millionär, groß geworden mit gefakten Elektrogeräten aus Polen. An öffentlichen Orten wie etwa den Toiletten im Bolshoi bekam man von der Klofrau zwei dünne Blättchen überreicht, die man mit ihrer Durchsichtigkeit nicht benutzen wollte. Auf ihrem Tischchen waren sie in Stapeln stückweise so fein gelagert wie Goldbarren. Wie oft habe ich als Gastgeschenk zu einer Privateinladung nicht nur ein Viertel Meinl-Kaffee, sondern auch ein paar Klopapierrollen mitgebracht. In keinem Haushalt gab es auf den Toiletten etwas anderes als in kleine Vierecke geschnittene Pravdas oder Izvestias, an der Wand auf einen Nagel gespießt. Die Finger waren oft schwarzgefärbt, wenn man dieses Papier benutzte, wie es hinten aussah, wollte man nicht wissen. Wer richtiges Toilettenpapier besaß, nahm in der Kommunalka die Rolle mit aufs WC und versteckte sie nach der Erledigung wieder in seinem Zimmer. Die Kriege um geklautes Klopapier sind sowjetische Legende und bei Radio Jerewan die Witze über das rare Kulturgut Legion. Sie flogen in den Kosmos, aber konnten den ersten Arbeiter- und Bauernstaat nicht mit genügend Toilettenpapier versorgen.

Und nun dieses Bild auf der Leningradskoje. Das war mein Highlight. Ich jubilierte. Ich war einfach nur happy. Das war mein Blick, mein Beweis für die vollzogene Wende, und welcher! Wahrscheinlich zweifelte die poetische E.S. an meinem Geisteszustand, dass ich mich an diesem Irrwitz derart berauschen konnte. Ich versuchte ihr das zu erklären, aber manches muss man einfach miterlebt haben, vor allem die abgrundtiefe Absurdität des Lebens im Kommunismus. Aber so kamen wir an diesem Nachmittag beide zu unserem Genuss und Ivan zu einem fetten Fuhrlohn – in den Sparstrumpf für die Reise nach Liverpool.

13.7. 17

Veronika Seyr
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Summer of deaths 2002

Bericht von Marina L.-L.

Ich kenne Viki schon lange und mag sie sehr. Sie ist sicher die verrückteste Diplomatin in ganz Moskau. Und ich kenne genügend frei herumlaufende verrückte Zeitgenossen, ich bin selber eine von ihnen.
Aber damit ging sie zu weit, fand sogar ich, die ihr bisher alles nachgesehen hatte. Schon als sie sich vor zwei Jahren in den schönsten, aber dümmsten Mann von Moskau verliebte, tuschelte die ganze Gesellschaft. Aber sie lässt sich nie von etwas abbringen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Oder in ihrem Herzen verankert. Bei Lew, dem Flieger, machten wir alle Ohren zu, um möglichst wenig von seiner Dummheit mitzukriegen. Eigentlich nicht dumm, sondern einfältig.

In unserem Kreis von blitzender Intellektualität und Kultiviertheit fiel er auf wie ein Nackter unter Angezogenen. Zugegeben, zum Ansehen angenehm, ein gestandener Mann mit dem Flair eines Hollywood-Schauspielers. Vielleicht war’s das Bett. Das soll ja vorkommen, überhaupt wenn einem nicht mehr allzu lang Zeit bleibt. Viki war verrückt nach ihm, da konnte man nichts machen. Um das Außenbild kümmerte sie sich nicht. So war sie verfasst, das machte sie in meinen Augen noch reizender. Viele zerrissen sich den Mund über sie, aber sie hatte irgendwie Narrenfreiheit, war niemandem als sich selbst verantwortlich. Man konnte ihr ja auch nichts vorwerfen. Im Job extrem erfolgreich, gesellschaftlich sowieso bei diesem Auftreten und Aussehen. Intellektuell fast allen überlegen, dabei tief emotional, sozial wach, unterhaltsam und optimistisch. Wie viele Menschen hat sie nicht moralisch aufgerichtet oder ihnen praktisch geholfen. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin eine von ihnen, vielleicht an erster Stelle.

Alles selbst erwirtschaftet, an keinem Gängelband, nicht hier und nicht bei sich zu Hause. Eine rundum perfekte Person, wenn sie nicht zu Narreteien geneigt hätte. Aber auch diese betrieb sie mit Konsequenz, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, eine selbstlose, natürliche, selbstverständliche Großzügigkeit konnte ihr niemand abstreiten. Einen großzügigeren Menschen hat die Stadt noch nicht gesehen. Manche nennen sie hinter vorgehaltener Hand „unsere Florence Nightingale“. Sie hatte einen angeborenen Helfertrieb. Innerlich vollkommen unabhängig mit standfesten Meinungen und klaren Einschätzungen. Mit einem immer gut gefüllten Konto.
Den einfältigen Lew konnten wir ihr noch verzeihen, eine sexuelle Narretei, den leistete sie sich eben, sie durfte das.

Aber in diesem Sommer übertrieb sie es. Da begann sie, wirklich verrückt zu werden. Aber wir alle wurden fast verrückt. Es war der Sommer des Todes, Sommer 2002, leto smerti. So schrien es die Medien heraus, und wir übernahmen das.

Die Todesserie begann im Mai. Islamistische Terroristen warfen in Dagestan einige Bomben in eine Militärparade, 70 Tote, viele davon Kinder. Dann stürzte im Juni ein mit Kindern, Eltern und Lehrern besetztes Flugzeug über Deutschland ab. 154 Tote, große Spannungen zwischen Moskau und Berlin, Attentat, die ewigen Feinde, aber wahrscheinlich ein technisches Gebrechen bei der alten sowjetischen Antonow.
Im August dann der Abschuss eines russischen Militärhubschraubers in Tschetschenien, 119 russische Soldaten sterben.
Das alles sind Nachrichten aus dem Fernsehen mit den entsprechend schrecklichen Bildern. Viele entschieden, den Apparat nicht mehr aufzudrehen. Es war zu viel an Unglück und Schrecken mit den entsprechenden Verschwörungstheorien und Verdächtigungen in alle Richtungen. Es war Krieg, auch wenn das Wort niemand aussprechen wollte. Wir konnten das einfach nicht mehr ertragen. Aber doch war alles ziemlich fern, niemand kannte jemand direkt Betroffenen, wir waren alle nur fern-betroffen. Es war auch ein ungewöhnlich langer und heißer Sommer. Die ansonsten immer sommerhungrigen Russen hatten die Nase schon voll und sehnten den Regen herbei.

Diese Brände, die Moorbrände, die um Moskau schwelten, den Himmel verdunkelten und das Atmen erschwerten, zehrten an den Nerven. Das war die Apokalypse. Dazu brauchten wir kein Fernsehen und keine Zeitungen. Die kannten wir alle und litten ganz direkt, jeden Tag und jede Nacht. Niemand schien in der Lage zu sein, diesem Grauen ein Ende zu setzen. Erst der erste lange Septemberregen machte dieser Hölle ein Ende, ein erstes Aufatmen.

Da kam aus dem Kaukasus die Nachricht von der Katastrophe. Der Regisseur und Schauspieler Sergej Bodrow wurde von einer Lawine verschüttet, zusammen mit 130 Menschen seiner Crew. Vorerst wusste man nichts von Überlebenden.

So, jetzt muss ich mit meiner Erzählung über Viki etwas in der Zeit zurückgehen. Sie hat mich eingeweiht, dass sie sich in Sergej Bodrow verliebt hat, aus der Ferne, am Bildschirm, in seiner Rolle als Brat I (Bruder) und Brat II, in den Jungen im französisch-russischen Film „Ost-West“ mit Sandrine Bonnaire. Viki hat sich in die Kinos gesetzt, die Videokassetten gekauft und glotzt seither zu Hause auf dem Sofa immer nur noch Sergej Bodrow. Sie hat sich in diesen Schauspieler verschaut. Vernarrt war sie in diesen jungen Mann mit den dunklen Haaren und den veilchenblauen Augen, leicht schräg gestellt von seiner burjatischen Mutter. 31 Jahre alt, großgewachsen mit einem wunderschönen Körper gesegnet, Sohn des berühmten Regisseurs Wladimir Bodrow, schon längst in die USA ausgewandert. Auch in ihn war sie schon verliebt, eine Generation früher.

Viki hatte es schwer erwischt. Sergej Bodrow war wirklich sehr schön, ein neuer russischer Superstar mit eigener TV-Sendung über die russische-sowjetische Filmkunst, sehr klug. „The hottest young russian moviestar today“, schrieb der englischsprachige „Ekran“.
Viki saß nächtelang gebannt vor der Glotze, ich war öfters dabei und wunderte mich über ihre extreme Begeisterung.
Bewunderte ihre Bewunderung. Sie war so begeisterungsfähig, aufnahme- und lernbereit, wie ich in Moskau keinen anderen Menschen kenne, ausländischen, westlichen.
Aber mit diesem jungen Sergej, da hatte sie einen Knall weg. Sie schrieb Briefe an ihn, sie ging auf seine Filmsets, drängte sich an ihn heran. Eine echte Närrin, mit ihren 51 Jahren, er ein junger Vater von zwei Kindern mit einer attraktiven Ehefrau im Alter ihrer eigenen Kinder. Welche Chancen rechnete sie sich aus? Sie rechnete nicht. Sie machte. So war sie, so kannte ich sie.

Dann kam die Katastrophe. Es war der 20. September. Sergej drehte gerade im Kaukasus seinen neuen Film „Zvjasnoj“, Verbindungsmann, Kontaktmann, Bote oder Messenger. Eine aktuelle Geschichte über den tschetschenischen Konflikt mit Wurzeln tief in der russischen Geschichte und Literatur, in Puschkins und Tolstojs Erzählungen vom kaukasischen Gefangenen. Andere übersetzen sie mit „Gefangener in den Bergen“.

Was war passiert?
Regisseur Bodrow hat gerade den letzten Drehtag hinter sich, im Dorf Karmadon auf 2000 Meter Höhe in einem engen Tal auf der nordossetischen Seite des Kasbek. Es war ein Freitag, das Wochenende wollte er schon wieder mit der Familie in Moskau verbringen.
Der Gipfel des Maili ragt über dem Drehplatz in einer engen Schlucht bis zur Höhe von 5300 Meter hoch.
Da löst sich ein Drittel des Gipfels, wahrscheinlich wegen des Klimawandels, und rast in das Tal, in dem sich gerade die 130 Filmleute zum Aufbruch bereit machen.
Eine 150 Meter dicke Eis- und Geröllschicht schiebt sich über das schmale Tal, dreißig Millionen Tonnen Eis und Fels, zehn bis dreißig Meter breit. Zwischen den Dörfern Tschartali und Waschloba war die Baidara-Schlucht auf sieben Kilometer verschüttet. Bis zur 300 Meter hohen, senkrechten Felswand, wo der Sage nach der Titan Prometheus angeschmiedet worden sein soll. Zeus hat ihn dafür bestraft, dass er den Menschen das Feuer brachte.
Die Rettungsmannschaften kamen nur schwer voran. Sie fanden erst nach drei Tagen acht Tote und 27 Überlebende. Sergej Bodrow war nicht darunter. 97 Menschen sind vermisst.

Da drehte Viki vollkommen durch. Sie hatte natürlich wie alle Menschen im Lande die Sendungen im Fernsehen verfolgt. Sie ließ alles liegen und stehen, nahm sich eine Woche Urlaub und wollte in den Kaukasus fahren.
Niemand konnte sie davon abbringen. Sie nahm eine Maschine nach Krasnodar, den nächst gelegenen Flughafen innerhalb Russlands.
Niemand konnte sie davon abhalten, obwohl sie als Diplomatin genau wusste, welch heißes Gebiet zwischen Russland, Georgien und Nordossetien das war.
Sie wollte ihren Sergej mit eigenen Händen selbst ausgraben. Sie wollte nicht an seinen Tod glauben, nicht anerkennen. Das kann nicht möglich sein. Wer hat das gemacht? Sie zürnte mit allen Schicksalen und Göttern, an die sie nicht glaubte, aber dafür verantwortlich machte. Sie war einfach verrückt geworden um diesen Sergej Bodrow, treffend im Russischen vom Verstand verlassen, ona ssuma ssoschla.

Trotz ihres österreichischen Diplomatenpasses wurde sie am Flughafen gestoppt, sie hatte keinen offiziellen Auftrag. Außerdem war das nordossetische Gebiet um den Kasbek gesperrt, man fürchtete neue Gletscherstürze vom Maili und anderen Gipfeln. Die Miliz setzte die Verwirrte in das nächste Flugzeug zurück nach Moskau. Alles lief zum Glück ohne weitere diplomatische Verwicklungen ab.
Die Botschaft schwieg über den Vorfall und schickte sie in unbefristeten Krankenstand.

Danach habe ich Viki nur noch selten getroffen. Keine großen Gesellschaften mehr, wofür sie früher bekannt und begehrt war. Ihren sagenhaften Atom-Piloten hat sie auch ins Ausgedinge geschickt, er diente ihr in stummer Treue als Chauffeur, hörte man. Er durfte sie und ihre Gäste in seinem alten Wolga herumkutschieren.
Sie zog ganz auf ihre Datscha in Abramcewo.
Immer mehr eine komische Alte. Die Dörfler akzeptierten sie. Sie hatten eigene Verrückte. Die russische Kultur achtete sie als Narren in Christo. Sie flüsterten darüber, dass sich die Diplomatin mit der Ziegenhirtin Fronja aus Bykowo angefreundet hat und mit ihr über die Weiden streunt. Viel hält sie sich bei heiligen Quelle von Radonesch auf und beim ehemaligen Gutshaus von Glebowo. Dort sitzt sie mit ihrer Mundharmonika auf einem Grabstein des aufgelassenen Friedhofs, wie immer begleitet von Laika und Tuman. Sie sah immer mehr aus wie die Frauenfigur in Wrubels Gemälde von der Undine, das im Museum von Abramcewo ausgestellt ist.

Einmal nahm ich all meinen Mut zusammen und fuhr spontan zu ihr nach Abramcewo hinaus. Ich dachte, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, durfte ich mir das leisten. Ich wusste, das war ihr Refugium, ihr Heiligtum, mein Paradies, wie sie selbst den Flecken Erde nannte. Ich drang ein, ich kannte das Türchen mit der Nummer 9. Es klappte hinter mir zurück zu wie früher immer bei meinen Besuchen mit einem schlappen Knall.
Über den schmalen Steig, durch das Wäldchen zur Wiese vor dem Haus. Da lag sie hingestreckt in einem Liegestuhl, vollkommen bedeckt von weißem Leinen und einem ausladenden Strohhut. Schlummernd, die Katzen und der Hund irgendwo zwischen Gras und Farnen. Auf sich und rundherum Zeitungsblätter ausgebreitet.
Ein Bild des Friedens in der milden Augustsonne.
Ich trete näher an sie heran, sie atmet, die Lippen bewegen sich und sie murmelt abgerissene Worte vor sich hin. Mit Mühe kann ich etwas verstehen.

Retten, ich hätte ihn retten … Rettung, wenn ich früher dort, sie haben ihn nicht gerettet, im Stich gelass … retten … aber er lebt, das kann nicht sein … ich, retten, er muss leben …
Sie war so verliebt, dass sie einen Ausweg für ihn suchte, der sein Überleben sicherte.

Viki war ernsthaft krank. Sie erholte sich nie wieder ganz. Die Nachbarn erzählten, dass sie manchmal in wallenden weißen Kleidern durch die Siedlung und die Wälder läuft und mit sich spricht. Immer an ihrer Seite Laika, ihre Schäferhündin, manchmal auch der Streuner Tuman, ein sibirischer Huskymischling. Laika und Tuman hatten sich schon im ersten Sommer ihres Lebens auf der Datscha angefreundet, Tuman hat sich in die Familie hineinadoptiert.
Sie wurde auf ihren eigenen Wunsch aus dem diplomatischen Dienst entlassen, kehrte aber nicht nach Hause zurück, sondern entschied sich dafür, in Abramcewo zu bleiben. Für immer. So verschwand sie von der Bildfläche der Stadt.

Aber einmal hörte ich doch noch von ihr, wenn auch nur indirekt. In meinem Friseursalon nahm ich während des Wartens das Moskauer Boulevard-Blatt Bliz zur Hand und fand einen reich bebilderten Bericht über das Unglück am Kazbek.
Es waren die alten Bilder, die damals durch die Medien gegangen waren. Aber der Text war neu und mit Viki F. S. gezeichnet, das waren Vikis Initialen.
Die Autorin bringt alle bekannten Fakten und Daten über die Katastrophe und folgert daraus, dass die 97 Vermissten mit hoher Wahrscheinlichkeit noch lebten. Sie hatten sich knapp bevor die Lawine ins Tal raste, in einer Höhle befunden, wo der letzte Dreh stattgefunden hatte. Das gaben die acht Überlebenden unisono an. In dieser Höhle entspringen heiße Mineralquellen, die die rostbraune Färbung des eisenhaltigen Gesteins kennzeichnen. Das alles ist nichts Neues, denn in dieser Höhle hat auch nach dem Drehbuch der Held des Filmes einige Zeit Zuflucht vor seinen Verfolgern gefunden.

Aber das Geschick dieser Höhle ist viel älter. Sie geht auf das finsterste Kapitel der georgischen Geschichte zurück.
Im Jahr 1739 überfielen muselmanische Horden aus Südossetien, die Lesgier unter dem Eristaw Schanse III., die christlichen Chewsuren. Die Überlebenden retteten sich in diese Höhle in 2000 Metern Höhe und gruben sich durch den Berg bis zur Tschabaruchi-Schlucht auf der Nordseite des Kasbek. Die für ihre Reitkunst und Architektur berühmten Chewsuren errichteten aus Dank für ihre Rettung ein Höhlenkloster mit den Kirchen Spas und Uspenie. Beide Basiliken in der landesüblichen Ziegelbauweise mit Kuppeln, zweischiffig die eine, dreischiffig die größere, mit Polygonpfeilern als Stützen für die nach Osten ausgerichteten Apsiswände.
Viele Details zur Baugeschichte, zu den Fresken und kulturhistorischen Bedeutungszusammenhängen. Das war die echte Viki mit ihrem alten, immer wallenden Journalistenblut.

Gleichzeitig bauten die Chewsuren den hinteren Ausgang der Höhle zu einer uneinnehmbaren Festungsanlage aus, dem Ananuri, die man noch heute besichtigen kann. Sie ist ein beliebter Ausflugspunkt von Tbilisi aus, das nur 50 Kilometer entfernt liegt im wildromantischen Tal des Aragwi. In der Festung hatten Sergej Bodrow und sein Team schon im August mehrere Drehtage zugebracht. Das ging ganz klar aus dem Filmtagebuch hervor. Allerdings hat das Rechercheteam nichts von einem Hinterausgang der Höhle erwähnt. Sie mussten die Flucht und Rettung des Helden vor der russischen Armee simulieren, für das Medium Film kein Problem, es lebt ja von der Simulation.

Wie aber konnte die angeblich verwirrte und kranke Viki das alles recherchiert und folgerichtig aufgezeichnet haben? Jede einzelne Angabe ist überprüfbar. Das hat die Redaktion von Bliz offenbar auch getan. Sie versieht den Bericht mit zahlreichen Zitaten, von den Überlebenden bis zu den Rettungsmannschaften und Anwohnern des Kasbek. Aus dem Artikel geht auch hervor, dass die Autorin vor Ort war und mit vielen Menschen gesprochen hat. Alles fein säuberlich garniert mit Ort- und Zeitangaben, georgischer und ossetischer Geschichte, Architektur und Kunstgeschichte.

Die Folgerungen, die sie zieht, sind aber wieder typisch Viki: ihre überbordende Fantasie, ihr profundes Wissen über historische Zusammenhänge und ihr leichter Hang zur Mystik. Die 97 Vermissten konnten sich nicht nur physisch in die Aragwi-Höhle retten, sie hatten auch genügend Wasser, Luft und Vorräte. Viki ist überzeugt, so schreibt sie, dass die Überlebenden auch Hilfe bekamen. Nicht von außen, denn die Suche wurde nach zwei Wochen als aussichtslos eingestellt und das ganze Tal gesperrt.
Sie nennt konkret drei Frauen: Medea, die Tochter des Königs von Kolchis Medea, Tamar, die legendäre Königin von Georgien und die griechische Dichterin Sappho haben Bezüge zu dieser Landschaft. Nicht vollständig nachweisen kann sie die Anwesenheit von Antigone, aber ihre Argumentation ist bestechend und die Vorstellung reizvoll. Antigone hat sich nach dem Todesurteil ihres Onkels Kreon, des Königs von Theben, laut Sophokles in einer Höhle einmauern lassen. Ist also eine ausgewiesene Höhlenspezialistin. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich auch noch die burjatische Großmutter um Sergej kümmert.

Aber warum hat es diese Ausländerin gebraucht, um diese Informationen ans Tageslicht zu bringen? Das verheimlicht der Artikel; die Autorin, ganz Journalistin, gibt ihre Quellen nicht preis.
Und wo sind die 97 Überlebenden geblieben? Auch das verrät der verwirrte Geist nicht, geht über Andeutungen nicht hinaus. Als Parallele zieht sie dabei die alte Erzählung von der versunkenen Stadt Kitesh heran. Beim Ansturm der Goldenen Horde hätten sich die Bewohner von Kitesh in einen See zurückgezogen. Nur wer eine reine Seele habe, könne die Glocken am Grunde des Sees hören. Diese mittelalterliche Sage aus dem Historienbuch des Nestor kennt in Russland jedes Kind, und jeder Russe hofft, diese unschuldige Seele zu sein.
Die Crewmitglieder hätten nicht mehr in ihre früheren Leben zurückkehren können, ohne sofort ins Irrenhaus gesperrt zu werden. Das versteht jeder Russe sofort. Also seien sie nach ihrer Rettung heimlich an einen unbekannten Ort geflohen.

Viki, die Kennerin der russischen Geschichte und der deutschen Literatur, gibt noch einen kleinen Hinweis.
Er ist so versteckt, dass er nur von einem Teilnehmer selbst kommen kann. Ich vermute, sie hat die 97 gefunden und mit ihnen gesprochen. Ihre angebliche Verwirrtheit ist nur vorgetäuscht, um ihre Schützlinge nicht zu gefährden.
Den Schauernimbus hatte sie sich zugelegt, damit sie sich nicht selbst verriet. Denn wenn sie sich verplappern sollte, wer würde so einer Figur schon Glauben schenken. Plemplem, eh klar.

Ihr Fingerzeig besteht in der Erwähnung des Schicksals von Zar Alexander I. Der offiziellen Geschichtsschreibung nach ist er am 1. Dezember 1825 in Taganrog am Asowschen Meer gestorben. In Wirklichkeit hat er sich aber in fremden Kleidern davongestohlen und ist zu den Altgläubigen in die sibirischen Wälder gegangen. Eine andere Volksweisheit will wissen, dass er sich in Rostow am Don unter einen Sträflingszug mischte und mit ihm in die Katorga marschierte. Warum er das gemacht haben soll, das weiß das weise Volk natürlich nicht, sondern nur der deutsche Schriftsteller Reinhold Schneider. In seiner Erzählung „Taganrog“ gibt er das Geheimnis preis.
Alexander I. wurde 1801 Ohrenzeuge der Ermordung seines Vaters, des Zars Paul I., welche ihm den Zarenthron einbrachte. Im Laufe der Jahre litt Alexander immer mehr unter dieser Schuld, bis er der Melancholie anheimfiel und sich nicht mehr für regierungsfähig hielt. Als seine Frau Elisabeth erkrankt und zur Genesung den Süden aufsucht, findet er die Gelegenheit zur Flucht.
Schneider hält beide Möglichkeiten offen und lässt den Leser wählen.

Es gibt zwischen Radonesch und Sergijew Posad tatsächlich noch undurchdringliche Urwälder, die seit dem Heiligen Sergej niemand betreten hat. Meine private Vorstellung ist, dass Viki ihren Sergej Bodrow an der Quelle getroffen und von ihm alle diese Informationen bekommen hat.
Da ich Viki wirklich gut kenne, weiß ich, dass sie seit vielen Jahren das Innere Russlands sucht, eigentlich ihr ganzes Leben schon. Sie glaubt ja, dass sie selbst eine Wiedergeburt der Bojarin Morozowa ist. Ihre innere Blindheit war unheilbar.
Sergej Bodrow hat den Film im Kloster fertiggestellt, er wurde bekehrt und ist dort geblieben. Frau und Kinder besuchen den Mönch einmal im Monat. Er heißt jetzt Bruder Sawwati und gilt als heiligmäßig, vielleicht wird er sogar einmal Starez des Klosters. Die Menschen pilgern jetzt schon zu diesem Sawwati, ohne zu wissen, wen sie vor sich haben. Die Mönche können schweigen.

Vielleicht wird man mehr erfahren, wenn der neue Film von Sergej Bodrow demnächst herauskommt.
„Messenger“ ist schon für das nächste Cannes-Festival angemeldet, heißt es im Bliz.

14.7.17

Veronika Seyr
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Ersterscheinen in der Märzausgabe 2004 von „Literatur und Kritik“

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Alfred Schnittke und die Ziehharmonika

Präludio in memoriam

Als der russisch-deutsche Komponist Alfred Schnittke Anfang August 1998 starb, hatte ich gerade erst meinen Posten in Moskau angetreten. Die österreichische Botschaft entsandte mich in meiner Funktion als Kulturrätin zur offiziellen Trauerzeremonie ins Konservatorium. Für mich sollte das mein erster derartiger Auftritt als Repräsentantin der Republik sein, und ich war leicht nervös, war doch meine Beziehung zu diesem Komponisten mehr als lose.

Am Vorabend nahm ich mir in aller Eile die wenigen CDs in meinem Besitz vor, die ich bis dahin nicht einmal geöffnet hatte, durchflog die Klappentexte mit Kurzbiografien und Werkverzeichnissen.

Eigentlich war ich zu keiner Rede eingeladen, aber man konnte bei den Russen nie sicher sein, ob sie einen offiziellen Vertreter nicht spontan auf die Bühne holen würden. Und ich wusste schon, dass die Russen die besten Rhetoriker waren, die immer die schönsten Worte des Lobes, des Dankes und der Verehrung fanden, sei es bei Geburtstagen mit den unendlichen Toasts, den tosti, bei Preisverleihungen, Hochzeiten, Taufen oder Begräbnissen. Sie verstehen es, die wie auch immer Ausgezeichneten mit edlen Kaskaden zu übergießen, mit gedrechselten, gefühlstriefenden Sätzen, scheinbar immer spontan, immer das Wesen des Menschen treffend, nie aufgesetzt, nie gestottert oder vom Zettel gelesen. Eine bewundernswürdige, aber gefährliche Eigenschaft, weil sie uns untalentierte Westler damit einschüchtern und beschämen, auch wenn die gleiche Lobesflut von uns gar nicht erwartet wird.

Schon auf der Alexander-Herzen-Straße vor dem Konservatorium herrscht an diesem August-Vormittag ein dichtes Gedränge, als sei eine Demonstration im Gange. Viele Menschen sprechen mich an, betteln und flehen, sie wollen eine Eintrittskarte ergattern, sie sind in Trauerkleidern und tragen Blumen mit sich. Im Großen Saal empfinde ich die Menschenansammlung als lebensbedrohlich, obwohl ich sofort zur ersten, für Promis reservierten Reihe geleitet werde.

Der offene Sarg ist vor der Orchesterbühne aufgebaut wie ein Altar, die Blumengebirge ragen jetzt schon zwei Meter hoch darüber auf, in der mit vielfach gerafftem Satin ausgeschlagenen Edelholzkiste ist der Tote bis zur Brust zu sehen, zu Kopf liegen die schuppigen Plastikkränze mit Schleifen, Bändern und Sprüchen der Staatsvertreter. Schnittkes langes Haar ist sorgfältig über Stirn und Wangen gelegt, das Gesicht ist bleich, aber scheint doch nur in tiefem Schlaf versunken.

Die Bühne füllen ein Chor und ein Orchester, von den Seitenwänden schauen Bach und Mozart, Beethoven und Tschaikowski mit strengen Augen aus ihren stuckumflorten Konterfeis auf das halblaute Gewurle herunter. Musikstücke aus Schnittkes reichem Werk werden von Reden abgewechselt: aus seinem „Peer Gynt“, aus der Filmmusik zu „Meister und Margarita“ und aus den „Liedern vom Krieg und Frieden“, dazwischen die Ansprachen von Freunden und Musikerkollegen würdig und persönlich, die von Kulturfunktionären lobhudelnd und endlos scheinend. Nur die engsten Freunde umringen den Sarg in einer Ehrenwache. Viele Besucher in den Sitzreihen werden vom Weinen geschüttelt, als wären sie es, die einen Freund und Verwandten verloren haben.

Der große Moment für die Trauernden kam aber erst, als die vorderen Seitentüren aufgingen und die Menschen in dicht gedrängten Schlagen von links nach rechts an dem Sarg vorbei defilieren durften. Man hatte das Konservatorium offenbar nun auch für die Menschen von der Straße geöffnet, in den seitlichen Wandelgängen, in den Nebensälen, in den Stiegenhäusern, Garderoben, Kassen- und Eingangshallen standen die Menschen in dichten Wolken bis auf den Platz hinaus mit dem Tschaikowski-Denkmal. Menschen jeden Alters, dabei auffällig viele Jugendliche und viele schlecht gekleidete und schlecht ernährte Pensionisten, bei denen es oft nur zu einer einzigen roten Nelke gereicht hatte.

Die öffentliche Trauer, das ungehemmte Weinen, das Ausrufen von Klagelauten, Seufzen, Stöhnen und ekstatische Schluchzen – der Große Saal des Tschaikowskij-Konservatoriums hallte davon wider. Jeder schien einen großen Verlust erlitten zu haben, jeder wollte sich persönlich verabschieden. Beim Sarg angekommen, streichelten sie die Wangen des Leichnams, küssten ihn ungehemmt auf den Mund, warfen sich über den offenen Sarg, verweilten kurz mit dem Gesicht auf seiner Brust, steckten ihm ihre Blumen zwischen die gefalteten Hände und beschmusten das schwarz drapierte Fotoporträt auf den Altarstufen wie eine Ikone, bis die Nachrückenden kräftig weiterdrängten. Aber jedem wurde doch seine kurze Trauerzeit gegönnt, auch wenn die Russen ansonsten, obwohl geübt, miserable Schlangensteher sind.

Vom Balkan und von griechischen Inseldörfern waren mir die Klageweiber nicht unbekannt, aber mitten in der modernen, aufgeklärten Mega-City Moskau gerann mir dabei das Blut in den Adern und die Gedärme rebellierten. Nach dem Glauben der orthodoxen Welt verlässt die Seele nicht sofort den Toten, sondern bleibt noch vierzig Tage zwischen Himmel und Erde, in der Aura zwischen dem Verblichenen und den Hinterbliebenen. Die Seele kann noch empfänglich sein für die über dem Grab ausgeschütteten Liebesbeweise, Tränen und Klagen. Der Tod ist noch nicht endgültig, und in dieser Hoffnung lassen sich die Trauernden zu Exaltationen hinreißen. Wenn zuerst Scheu und Entsetzen über diese für mich typisch sowjetische Eigenschaft der Idolisierung überwogen, war doch der Anblick des Rituals unsagbar bewegend und traurig. Vielleicht auch tröstlicher als die nüchterne, nach innen gewandte Trauerarbeit im Westen.

Rätselhaft blieb mir aber bis heute, warum gerade Alfred Schnittke, nach sowjetisch/russischem Standard in jeder Hinsicht ein Hybrid, zu dieser Ehre kam: als Abkömmling eines Deutschen und einer Wolga-Deutschen, ein (1993 in Lockenhaus) zum Katholizismus übergetretener Orthodoxer mit jüdischen Wurzeln, früh als Komponist einer „musica non grata“ abgestempelt und schließlich auch noch ein Republiksflüchtling, der es nie in den Kanon des sowjetischen Massengeschmacks gebracht hat. Die einfühlsamste und plausibelste Erklärung war, dass Russen nun mal gerne trauerten und dies so gut können. Und auch feiern: Sein Freund und Mentor über dreißig Jahre, Gidon Kremer, verabschiedete sich von ihm „mit einem sich in der totalen Einsamkeit auflösenden Solotango von Astor Piazzolla“ [1], bei dem auch ich meine Tränen im rot-weiß-roten Blumenstrauß verstecken musste.

Wie hätte dieses Klagekonzert rund um seinen Leichnam wohl in Schnittkes Ohren geklungen? Oder hat er dergleichen vielleicht schon gehört und dann sein Oratorium „Dies irae“ geschrieben? Oder in die „12 Bußpsalmen“, die „Agonie“ oder seinen „St. Florian“ für Anton Bruckner eingeflochten?
Wenn ich etwas beizutragen gehabt hätte, wäre es vielleicht eine kleine Wiener Melodie auf einer Ziehharmonika gewesen, das Instrument, das ihn am meisten mit Wien verbindet.

Der 1934 in der Wolga-Kleinstadt Engels geborene Schnittke kam 1946 mit seiner Familie nach Wien. Sein Vater Harry Schnittke, ein aus Frankfurt stammender Kommunist, war als Lokalreporter zur „Österreichischen Zeitung“ berufen worden, einem von der sowjetischen Besatzungsmacht herausgegebenen Organ. Die Familie – Mutter und zwei Geschwister – wohnte von 1946 bis 1948 im 4. Stock der Singerstraße 27, einer arisierten Großbürgerwohnung, die bis vor Kurzem Parteigenosse Puppini bewohnt hatte.

Alfred erinnert sich, dass aus einer Mansarde über ihnen immer Klavierspiel zu hören war und wie ihn die Vorstellung beglückte, dass das Mozart sei, der über seinem Kopf komponierte und übte. Einmal traf er auf der Treppe mit einer etwa 36jährigen Frau zusammen, schlank, dunkle Augen, schwarzes Haar, ein zartes, scheues Wesen, immer allein. Was für eine Enttäuschung, nicht WAM spielte Klavier, sondern das Fräulein Charlotte Ruber, bei der der musikalische Alfred später den ersten Unterricht bekam. 37 Jahre später wird sie noch erleben, wie ihr ehemaliger Schüler in Wien die ersten Triumphe feiert. Auf einem nostalgischen Streifzug durch die Singerstraße kommt er auch an jenem Gasthaus vorbei, in dem er immer für seinen Vater einen Krug Sturm kaufen muss. Er entdeckt mit Freuden vor der Tür ein Schild, das besagt, dass Franz Schubert hier zu den Stammkunden gezählt habe. Den grünen Fayence-Krug hatte Schnittke in seiner Moskauer Wohnung stehen und zeigte ihn gerne seinen Gästen: Daraus habe er seinen Wiener Schubert-Sturm getrunken und den ersten Rausch bekommen.

Wien war für den Zwölfjährigen aus dem Provinznest Engels von der mittleren Wolga mit seinen wenigen Straßenzügen aus primitiven Holzhütten eine neue Welt voller Musik, das Himmelreich auf Erden. Noch dazu war das Leben im Krieg von äußerster Armut geprägt. Die erste Orgel hörte er, als er an einem Sonntagvormittag mit seinem jüngeren Bruder Viktor aus der Singerstraße spazierte und über die Seilerstätte und die Weihburggasse streunte. Als er um die Ecke bog, hörte er die Orgel aus den offenen Türen der Franziskanerkirche, das Brausen einer nie gehörten Musik überwältigte seine Scheu und zog ihn hinein. Ein einsamer Priester vor dem Altar, im Halbdunkel der Kerzen einige Besucher und über dem Eingang vom Chor dieses Dröhnen und Wogen – das war also ein katholisches Gotteshaus. Fremd und berauschend, eine Initiation für den Sowjetjungen, der noch nie in einer Kirche gewesen war.

Um die Macht der Musik über die Menschen zu illustrieren, erzählte Alfred gerne die Geschichte von Stalin und Mozarts Klavierkonzert für b-Moll, K 466. [2]
Eines Tages wünschte Stalin, dieses Konzert zu hören. Er kannte weder den Namen noch die Nummer, aber Gott weiß wie fanden seine Untergebenen heraus, worum es sich handelte. Da stellte sich heraus, dass es in der Sowjetunion keine Einspielung dieses Konzertes gab. Die Antwort des Untergebenen lautete natürlich: „Wird gemacht, Genosse Vorsitzender!“

Die Befehlsempfänger vom NCHWD eilten davon, um den Wunsch des „Väterchens aller Völker“ zu erfüllen, aber es gab nirgends eine Platte. Sie erfuhren, dass die berühmte Pianistin Marija Judina dieses Konzert spielte. Sie trommelten ein Orchester zusammen, und die Judina durfte sich sogar einen Dirigenten aussuchen. Alle wurden in einem Studio zusammengebracht und eine nächtliche Plattenaufnahme organisiert. In den frühen Morgenstunden war die Platte in einem einzigen Exemplar produziert. Stalin konnte sich nun, sooft er wollte, der unsterblichen Musik Mozarts hingeben. Er ließ der Pianistin einige tausend Rubel auszahlen. Er bekam von ihr einen Brief, in dem Judina ihm für die erwiesene Ehre dankte, das Geld aber lehnte sie ab und bat darum, es für den Wiederaufbau von Kirchen auszugeben, die im Wahn der atheistischen Hysterie zerstört worden waren. Sie werde für Iossif Wissarionowitsch beten, damit ihm seine Sünden vergeben werden.

Marija Judina war nicht nur eine ausgezeichnete Pianistin und Professorin der klassischen Moskauer Schule, sondern auch eine sehr mutige Frau. Die vom Judaismus zur Orthodoxie übergetretene Judina war ein praktizierendes und bekennendes Mitglied der Russisch-orthodoxen Kirche. Sie wagte es, dem Diktator die Stirn zu bieten. Der Geheimdienstmann, der Stalin diesen Brief überbrachte, hatte schon den Befehl bei sich, Marija Judina zu liquidieren. Das war etwas voreilig, denn Stalin liebte es, auf das Zynischste mit seinen Opfern zu spielen. Nach der zweiten Verhaftung von Josif Mandelstamm – er starb kurz danach auf einem Transport in den Gulag – rief Stalin persönlich bei Boris Pasternak an und beschwerte sich darüber, dass dieser sich zu wenig für seinen Freund Mandelstamm eingesetzt habe. Aber er ließ Pasternak, Bulgakow und Schostakowitsch am Leben. Nur fanden sie zu seinen Lebzeiten nie wieder Ruhe und lebten in ständiger Panik. Ihn amüsierte der Brief von Judina, sie kam mit dem Leben davon, öffentliche Auftritte wurden ihr aber verboten. Ab da galt sie als Stalins Lieblingspianistin. Als Stalin am 5. März 1953 starb, fand man in seinem Arbeitszimmer ebenjene Schallplatte, die 1935 in der Nacht als Sonderbestellung aufgenommen worden war.

Eines Tages brachte der Vater Harry eine Ziehharmonika nach Hause, eine kleine, einfache Hohner mit nur 24 Bässen. Alfred brachte sich das Spiel selbst bei, es gab nichts, was er nicht nachspielte: russische Lieder, die Schnulzen der frühen Nachkriegszeit, Wiener Walzer und englische Hits. Er spielte alles, was er hörte und alles flog ihm zu:
„Mariandl, -andl, -andl, du hast mein Herz am Bandl, Bandl, und lasst es net los“, oder „Bella, bella Donna, Marie, bleib mir treu“, oder „What a beautiful girl“, die Straßenmusikanten vom Graben an der Pestsäule, gleich daneben im OP-Kino die ersten amerikanischen Filme und Wochenschauen und der Zirkus Rebernigg auf den unbebauten Scala-Gründen in Favoriten.

Und da waren noch viel mehr Lieder, die der junge Schnittke im sowjetischen Offiziersclub in der Hofburg oder in der sowjetischen Schule auf der Prinz-Eugen-Straße hörte: „Mein russisch Mutterland, so hold, so wunderschön, des Herzens Freud, mein trautes Heim“. Auch von blühenden Gärten und wogenden Feldern wurde gesungen, von der großen Freiheit Russlands und vom ewigen Sieg. Er liebte damals Josef Wissarion Stalin – Onkel Pepi, wie man ihn in den Wiener KP-Kreisen zu nennen pflegte – genau so wie den Wolferl, den er sich in die Mansarde über seinem Kopf hineinträumte.
So wurde Schnittke sehr früh mit zwei widersprüchlichen Welten konfrontiert und blieb beiden treu.
Als im Jahre 1948 die sowjetische Schule schloss, übersiedelten die Schnittkes wieder nach Moskau, wo Alfred seine klassische Musikausbildung aufnahm.

Der Vater Harry hat nie etwas mit Musik im Sinne gehabt, das Akkordeon hatte er als Prämie von der Redaktion der „ÖZ“ im Globus-Verlag geschenkt bekommen. Wem von seinen Vorgesetzten oder Kollegen war es wohl eingefallen, ihn auf diese Weise auszuzeichnen? Und wer wagt schon zu behaupten, dass ohne diese kleine Hohner Alfred Schnittke kein Komponist geworden wäre?

[1] Gidon Kremer: „Zwischen Welten“, Piper Verlag, S. 328
[2] Die Zitate basieren auf den Erinnerungen des Bruders Viktor Schnittke, mir mündlich erzählt.

4.4.2008

Veronika Seyr
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Big brother is watching you

Von Jerewan nach Tbilisi

Wann ich studiert haben soll, ist mir rätselhaft. Ich war ständig auf Reisen. Aber sicher erinnere ich mich: Ich hatte ein Zimmer in der MGU, im 17. Stock des Westturmes, vorbehalten den imperialistischen Ausländern. Die Dissertation konnte warten. Ich konnte ja nicht wissen, ob ich jemals noch ins Reich des Bösen gelassen werden würde.
Reisejahre sind Lehrjahre, sagt man, auch, Reisen bildet.
Auf der Reise von Jerewan nach Tbilisi habe ich jedenfalls etwas gelernt, was auf keiner Universität der Welt unterrichtet wird, sofern sie nicht eine Uni des KGB ist. Ich bekam die erste Lektion im Erkennen von KGB-Agenten. Eine sehr praktische Lektion, eine Anwendung in natura sozusagen.

Ich hatte meine erste Rundreise durch das schöne Armenien mit einigen Tagen in der Hauptstadt Jerewan abgeschlossen. Ein paar Kollegen von der MGU habe ich zu Hause besucht, die grenzenlose Gastfreundschaft dieses Volkes kennengelernt, natürlich auch unter dem Nimbus eines raren Exemplars von westlichem Ausländer. Manche Gastgeber riefen die ganze Familie und die Nachbarschaft zusammen, um das Mondschaf zu bestaunen. Zugegeben, es war nicht allzu schwer mit mir: Ich war nicht unansehnlich, dreiundzwanzig Jahre alt mit blonder Mähne und Minirock, konnte Russisch, war neugierig und nicht schüchtern. Alles war freundlich und angenehm, nie zudringlich oder unhöflich. Höchstens das endlose Essen und Trinken, zu dem ich genötigt wurde, konnte zur Qual werden. Man wollte vor mir die Reichtümer des Landes mit seiner ältesten christlichen Kultur ausbreiten. Irgendjemand hatte immer einen Moskwitsch oder Lada, der mich zu Kirchen, Klöstern, auf Berge und zu Seen führte.

Und noch ein Kreuz oder Grabstele auf einem hohen Kaukasus-Berg mit den fantastischsten Aussichten, noch eine Schlucht, noch ein Wasserfall, noch ein einsamer Schäfer mit seiner Herde und dem besten Käse und Kefir. Schau, so wird man in Gesundheit 120. Bei einem solchen Hirten kaufte ich meinen ersten Teppich und begann damit einer lebenslangen Leidenschaft zu frönen. Ich schleppte ihn viele Jahre von Wohnung zu Wohnung, von Land zu Land, bis er einmal als von Motten zerfressener Staublappen von der Wand fiel. Das Sammeln habe ich deswegen nicht aufgeben, hasse diese Tiere aber aus tiefstem Herzen und will noch immer 120 werden, auch wenn ich keinen Zugang zu armenischem Käse und Kefir habe. Man kann nie alles sehen, auch in dem kleinsten Land nicht. Aber nach einer Woche kaufte ich eine Bahnfahrkarte nach Tbilisi und nahm Abschied. Es war der Nachtzug, das weiß ich mit Sicherheit, um Zeit zu sparen.

Bei der Abfahrt war es noch hell genug, dass ich die Landschaft bewundern konnte. Zuerst durch die Fenster des Abteils, später vom Gang aus. Im Coupé nahm ich flüchtig zwei Männer wahr, denen ich keine Beachtung schenkte, mit zu kleinen Hüten auf dem Kopf. Ich grüßte kurz mit dobri vetscher und stellte meinen Rucksack ab. Sie saßen stumm in zwei Ecken und verbarrikadierten sich hinter der Pravda und Izvestja. Ich wollte vor allem den Ararat nicht verpassen, an dem die Strecke vorbeigehen sollte. Vorerst fuhren wir aber durch eine üppig grüne Ebene, auf der weiße Pferde grasten, dazwischen hineingestreut die Jurten aus weißem Leder, eine Symphonie in Weiß und Grün, rosig angestrahlt von der untergehenden Sonne. Ich stehe am Gangfenster und es geht klick-klick-klick. Ich fotografiere, was das Zeug hält. Es ist meine erste Kamera, eine begehrte Leica aus der GDR, erstanden in Moskau auf dem Arbat.

Dann Hirten mit ihren ausladenden schwarzen Filzumhängen, die sie wie Zelte aussehen ließen, gestützt auf ihre gekrümmten Stäbe. Wieder klick-klick-klick. Später tauchten auch noch Schaf- und Ziegenherden auf, wieder alles in Weiß vor den grünen Weiden in der niedrigstehenden Sonne goldüberflutet. Ich bekam mein ultimatives Kaukasus-Erlebnis, von dem ich seit meiner Kindheit geträumt hatte. Herrlich, da tauchte rechts in der Ecke des Fensters schon der hohe Gipfel des biblischen Berges auf, links daneben sein kleiner Bruder. Ich werde die Saga umschreiben, die Arche Noah ist nicht auf dem Ararat gestrandet, sondern genau im Sattel zwischen den beiden Gipfeln zum Sitzen gekommen. Idealer geht’s nicht für so ein unlenkbares Schinakl. Sie hätte nie und nimmer auf der Spitze landen können.

Gerade als die Westsonne den Großen Ararat beginnt mit Gold zu bewerfen, spüre oder sehe ich aus dem Augenwinkel links neben mir eine Bewegung und höre ein schnarrendes Geräusch wie rrrrtttsch oder krrrtsch. Die zwei Männer aus meinem Abteil begrenzen mich ganz eng. Der linke hat meinen Fotoapparat geschnappt, geöffnet und den Film herausgezogen. Mit einer solchen Affengeschwindigkeit, dass ich es erst beim Schnarren bemerkte. Belichtet, alles weg. Der rechte hielt mir das braune, sich einrollende Filmband vor die Nase, es baumelte wie eine große Spirallocke. Und die Bemerkung: Wir haben Sie gewarnt, Towarischtsch inostranka, Genossin Ausländerin, aber Sie wollten ja nicht hören und nicht sehen. In Tbilisi werden wir Sie überprüfen, ob Sie eine Spionin sind.

Danach weiß ich nur noch, dass ich geheult habe und den heiligen Ararat – groß und klein, hoch oder niedrig, mit Gipfel oder Sattel, mit oder ohne Abendsonne – nicht genau gesehen habe.
Die südliche Grenze der sowjetischen Republiken Armenien und Georgien stößt fast zur Gänze an die Türkei, ein NATO-Land. Außengrenze zum imperialistischen Westen.
Ich naive Trottelin hatte in meiner Begeisterung für grüne Wiesen, weiße Pferde, Schafe und Ziegen, knorrige Hirten und romantische Lagerfeuer nebenbei natürlich jede Menge Telegrafenmasten, Schienen, Brücken, Bahnhöfe, Schranken, Übergänge, Wärterhäuschen, Wartebänke, Brunnen, Futterkrippen, Misthaufen, Heuschober, Sauställe und was weiß ich noch alles fotografiert.

Aber woran ich in meiner Naivität gar nicht gedacht hatte, war das, was man nicht sah: Die Grenzanlagen an einer Grenze, die noch schwerer bewacht war als die zwischen Nord- und Südkorea. Die Grenze zum absoluten Feind, der NATO. Auf der anderen Seite lag die Türkei. Was war da nicht alles unsichtbar aufeinander gerichtet? Unterirdische Raketenabschussrampen, Raketensilos, Truppenbunker, Minenfelder, Selbstschussanlagen, Horch- und Spähposten. Davon sollte wirklich nicht der Schatten eines Bildes überleben und in den Westen geraten, wenn auch nur in ein privates Fotoalbum.

Spionka. Das klang nicht gut, das war kein Spaß. Außerdem war an meinem Pass abzulesen, dass ich mich länger in Amerika und England aufgehalten hatte. Andererseits hatte ich meterlange Ausweise des Ausländerreferats der MGU, des Ovir, das nichts anbrennen lässt, einen sechsmal überprüft, ob man die 40-Kilometer-Sperre um Moskau überschreiten darf. Idiotisch, dass ich mir vor meiner ersten Reise ins Land des Arbeiter- und Bauernparadieses keinen neuen Pass ausstellen habe lassen. Späte Reue, aber wer kannte sich damals schon gut aus? Noch größere Idioten in der Wiener Uni und den Ministerien, die einem dazu nicht geraten hatten. Zum Glück hatte ich damals noch keinen israelischen Stempel.

Vor allem grübelte ich über die angebliche Warnung der Agenten nach. Was konnte das gewesen sein? Wir hatten doch nichts miteinander als meinem dobri vetscher- Guten Abend-Gruß und ihrem stummen Halb-Nicken. Was hatte ich übersehen? Das waren in etwa meine Gedanken die restliche Nacht hindurch in meinem unbequemen Sitz-Coupé, allein und in großer Hitze mit versiegelten Fenstern. Feindesgrenze.

Wie unbemerkt sie an mich herangetreten waren, okay, das lässt sich erklären mit meiner Kaukasus- und Ararat- Versunkenheit in die Bilder vor den Zugfenstern.
Warum hatte mich niemand von meinen russischen und armenischen Freunden gewarnt? Weil sie hier aufwuchsen und diese Verhältnisse für selbstverständlich hielten. Außerdem würde nie jemand ein politisches oder militärisches Thema anschneiden. Vieles Private sogar wurde nur bei laufendem Radio oder auf einer leeren Straße besprochen.

Das brutale Herausreißen des Films hatten sie wahrscheinlich auf ihrer KGB-Uni bis zum Umfallen trainiert. Vieles andere auch noch. So wie Oliver Twist angeleitet von Uriah Heep, die Diebstähle von Geldbörsen, Scheckbüchern, Monokeln, Tintenfüllern, Seidentaschentüchern und sogar von ganzen Regenschirmen, geübt an Puppen mit Glöckchen zur Perfektion, bis gar nichts mehr klingelte. Zauberer, Illusionisten. Im Zirkus und im Varieté zahlen wir Eintritt und glotzen auf sie in endlosem Vergnügen und Schaudern.
Den vernichteten Film konnte ich am leichtesten verschmerzen, wusste ich doch damals schon, dass ich mit einem eidetischen, das heißt, Bildgedächtnis ausgestattet war. Meine Augen sind Kameras mit großer und genauer Speicherkapazität im Hirn.

Wenn ich das heute aufschreibe, so wie jetzt, sind seit damals genau 46 Jahre vergangen. Ich habe nie wieder an diese Reise gedacht, bin nie wieder auf dieser Bahnlinie gefahren, und sehe trotzdem noch immer jedes grüne Gräschen, jedes weiße Pferd, Schaf, Ziege, Jurte, Schäfer mit dem mehrfach gekrümmtem Hirtenstab – ah, jetzt hab ich’s, wie Widderhörner – und die einzeln über die Kanten des Ararat kriechenden Strahlen, scharf gegen die untergehende Sonne abgezeichnet, auf der Hinterplatte gespeichert, sodass ich diese Bilder mit Worten auffinde.

Ich kann alles ablesen wie von einer laufenden Filmleinwand. Sogar vorwärts und rückwärts, stoppen bei einem Pferd oder einem Sonnenstrahl. Nur das Geräusch tut mir noch weh, nein, es ist ordinär, es beschämt und lässt Übelkeit aufsteigen.  Ich war doch keine Feindin, keine Spionin, sondern nur eine, … ja was denn? Eine Russisch-Studentin, die nur das Land kennenlernen und genießen wollte. Schwer, dieses Land zu lieben. Ich hielt lange daran fest und bekam viele Gründe dafür.

Die KGB-ler mit ihren Zeitungen, karierten Hemden, zu kurzen Hosen, braunen Socken, schlechten Schuhen und zu kleinen Hüten verschwanden ins Nirgendwo des Nachtzuges. Sie tauchten auch am nächsten Morgen in Tbilisi nicht mehr auf. Ich wartete eine Zeitlang in der Ankunftshalle und machte mich dann auf den Weg zu meinem Studienkollegen Gigi in der Altstadt. Eine wunderbare Woche in Georgien. Der Kaukasus hat mich erobert.

Die sogenannten Warnungen blieben mir lange noch ein Rätsel, bis ich mich einem Moskauer Freund anvertraute. Er klärte mich auf. Die Zeitungen, karierten Hemden, die lächerlichen, zu kleinen Hüte, vorgeschoben in einem bestimmten Winkel auf die Halbglatzen und alle anderen Attribute waren Codes von KGB-Agenten.
Jeder Russe wusste das, sah es, roch es. Aber man sprach nicht darüber. So lernt man auch ohne Uni. Auf Reisen.
Seit Putin ein bekanntes Gesicht wurde, erinnere ich mich wieder an den Zwischenfall im Zug zwischen Jerewan und Tbilisi, als könnte er in seiner KGB-Jugend dort geübt haben.

15.7.17

Veronika Seyr
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Paschkas Aktentasche

Was ging mit mir vor an diesem 24. Dezember 1971, als ich beschloss, den Weihnachtsgottesdienst in der amerikanischen Botschaft zu besuchen. Ich kenne kein Heimweh, bildete ich mir ein. Es war keine Idee, nicht im Bereich eines klar gefassten Gedankens oder Beschlusses, sondern eine vage Sehnsucht, ein Ziehen in der Herzgegend. Nebulöses Erinnern an Nadelduft, die typische Mischung aus Adventkranz, Punsch, Keksen, Kerzen und Weihrauch. Dazu Weihnachtslieder, Flöten und Orgelspiel im Kreis der Familie.
Heiße Bilder schwappten über mich, gemildert von der Moskauer Dunkelheit, dem Frost und dem Schnee.

Dabei war ich damals schon lange nicht mehr Kirchenmitglied und hatte mich auch innerlich weit von der Familienreligion mit ihren Traditionen entfernt. Dachte ich. Der Zauber des 24. Dezembers, des Heiligen Abends, ist einem offenbar tiefer in die Seele eingesenkt worden, als man zugeben möchte. Nicht zum Loswerden. Überfälle hinterrücks. Ein Tiefenlot hängt noch immer ins Unermessliche. Sentimentalität nennt man das, unbezwingbar wie eine DNA.
Dazu kam noch: Wenn man in einem Land lebte, dem der 24. Dezember, der Heilige Abend, nichts bedeutet, den es gar nicht gibt und nirgendwo sichtbare Anzeichen dafür zu sehen sind, an dem das Leben wie gewöhnlich weiterfließt, grau, ordinär und banal. Als Kind hatte ich immer das Gefühl, dass am 24. Dezember die Welt stillsteht und den Atem anhält – eine Heilige Nacht eben.

Mit dem schwachen, lächerlichen Ersatz der sowjetischen Figuren von Väterchen Frost und Snegurotschka, dem Schneeflöckchen, zu Silvester habe ich mich nie anfreunden können, schon nicht zu Weihnacht 1954 im Stadtsaal von Tulln, als die sowjetischen Besatzungstruppen ihr Neujahrsfest für die befreite Bevölkerung abzogen. Was sich in der Stadtpfarrkirche St. Stephans abspielte, war so viel schöner.

Aber was, um Himmels Willen, hat mich dazu gebracht, mich von meinem Freund Paschka zur Botschaft begleiten zu lassen? Weil wir, so gut es ging, alles gemeinsam machten, uns nicht trennen konnten, wollten? Nach dem Kreml gab es wahrscheinlich in ganz Moskau keinen Ort, der schwerer bewacht war als die amerikanische Botschaft am Gartenring. Vielleicht sogar noch mehr, denn innen hatten die Amerikaner ihre Regimenter, draußen der KGB. Als Mitarbeiterin der österreichischen Botschaft mit Diplomatenpass wurde ich zwar doppelt kontrolliert, durfte aber passieren und an der Weihnachtsfeier teilnehmen. Katholiken aus aller Herren Länder des Westens sollten die Gelegenheit haben, sich ihre nostalgischen Weihnachtsehnsüchte zu erfüllen.

Ich erinnere mich sogar an meine Enttäuschung, weil die Amerikaner in ihrer kleinen Kapelle den Heiligen Abend natürlich nicht so feierten, wie ich es von zu Hause in Erinnerung hatte. Eine stattliche, aber kitschig geschmückte Fichte mit flackernden elektrischen Girlanden, jede Menge Santa Clauses, rot-weiße Strickstrümpfe und lächerliche Mützchen, anstatt Tannenzweigen die hässlichen Stechpalmen, anstatt einer feierlichen Orgel ein elektrisches Harmonium, verstimmt quietschend. Dazu ertönten natürlich auch nicht unsere schönen Weihnachtlieder – Vom Himmel hoch, In dulci jubiloo, Es wird scho glei dumpa, Leise rieselt der Schnee, Maria durch ein Dornwald ging, Ihr Kinderlein kommet – sondern die Ohrwürmer aus den amerikanischen Kaufhauslautsprechern: Jingle Bells, Merry Christmas, grüner Tannenbaum auf Englisch, Silent night. Bei Rudolph, the rednosed reindeer reichte es mir, und ich verließ die Veranstaltung, verzichtete auf Weihnachtsumarmungen, cookies und Punsch.

Draußen auf dem Gartenring war es vollkommen dunkel und menschenleer. Die vermummten Milizionäre in ihren dicken Mänteln waren die einzigen Gestalten weit und breit. Sie sahen nicht wie Menschen aus, sondern wie aufrecht taumelnde Bären. Keine Spur von Paschka. Ich wollte eigentlich beim Ausgang auf ihn warten, wurde aber von den Vertretern der Sowjetmacht grob weggescheucht. Also fuhr ich allein nach Hause und wartete auf meinen Freund. Natürlich hatte ich in meiner Wohnung ein echtes Weihnachtsfest vorbereitet, mit allen Ingredienzien, soweit sie in diesem Land, das Weihnachten nicht feiert, überhaupt zu bekommen waren.
Am letzten Adventsonntag waren Paschka und ich abends mit der Metro weit hinaus nach Kolomenkoje gefahren und hatten in einem Wäldchen eine kleine Fichte geklaut. Das Umsägen war ein Kinderspiel, der Transport gestaltete sich aber schwierig. Niemand konnte in diesen Tagen unbemerkt einen Christbaum in der Metro transportieren. Es gab ja keine zu kaufen, und die aus Plastik für den Neujahrs-Baum, die Jolka, gab es erst wenige Tage vor dem Fest. Also mussten wir zuerst weit durch die dunklen Vorstädte marschieren – Paschka die mickrige Fichte unter dem Mantel – bis wir weiter gegen das Zentrum zu einen Moskwitsch aufhielten, ein schwarzes Taxi, und mit Glück vorbei an dem Milizionär ins Haus schlüpfen konnten.

Paschkas Mantel ist eine eigene Erzählung wert. Damit wir überhaupt gemeinsam auftreten konnten, hatte ich ihn von Anfang an mit westlicher Kleidung ausgestattet. Mein Bruder Bernhard, der mit Paschka schon Jahre befreundet war, hatte im Kaufhaus Frank in Tulln einen Großeinkauf getätigt, Herrenbekleidung für alle Jahreszeiten und Lebenslagen. Das Riesenpaket konnte ich über die Diplomatenpost empfangen.
Ohne seine Verkleidung als Westler hätten wir gemeinsam keinen Schritt unbehelligt auf der Straße machen können.
Allerdings habe auch ich mich manchmal umgekehrt verkleidet. Auf einer heimlichen Reise in die für Ausländer gesperrte Westukraine, nach Lemberg und Tschernowitz, trug ich Kleider und Kopftuch seiner Mutter, um als russische Bäuerin durchzugehen, er blieb diesmal bei seinem original sowjetischen Stil.

Auch Kekse, Kerzen und Christbaumschmuck hatte ich mir von zu Hause schicken lassen und einige Köstlichkeiten im Devisenladen Berjoska eingekauft: finnischen Rentierschinken, französischen Käse, deutsche Würstchen und Hähnchen, Riesling aus Österreich, russischen Beluga-Kaviar, und suchoje krimskoje schampankoje.
Ich hatte gebackenen Karpfen mit Majonnaise-Erdäpfelsalat zubereitet. Alles zusammen mit Kerzen und Keksen duftete wirklich weihnachtlich. Nur die Fichte machte noch zuletzt Probleme. Ich hatte vergessen, zu Hause einen Ständer zu ordern, und im sandgefüllten Kübel wollte sie nicht aufrecht stehen. Auf einem schrägen Baum kann man keine Kerzen anzünden. Es war halt doch kein echter Christbaum, noch dazu geklaut. Ich machte ihn mit Mühe mit Spagatschnüren an den Möbeln fest und er sah damit  noch jämmerlicher aus.

Dabei sollte es nach Möglichkeit ein echter Heiliger Abend werden, fast wie zu Hause.
Wahrscheinlich sah ich dem Bäumchen nicht unähnlich aus. Ich saß fünf Stunden allein da und spielte unter Tränen die Weihnachtspassion, Dies irae und Deutsches Requiem am Plattenteller auf und ab. Heute Nacht wollte ich nichts Russisches hören. Eigentlich horchten meine Ohren aber mehr ins Stiegenhaus hinaus, ob der Lift bei mir im 7. Stock hielt. Er ratterte, quietschte und pfauchte wie immer, fuhr aber vorbei. Wie sehr ich sonst dieses Produkt der sowjetischen Ingenieurskunst hasste, heute sehnte ich jetzt den lauten Krach und das Erdbeben herbei, mit dem er sonst stoppte.

Im letzten, dem 9. Stock ratterte er wie ein Maschinengewehr von W.W. Kalaschnikow, und unten im Erdgeschoss konnte ich ihn noch hören, wie er zornig aufstampfte, dass er nicht in den Keller fahren durfte. Diese Geräusche musste auch Schostakowitsch in den Ohren gehabt haben, als er seine 7., die „Leningrader“, komponierte, also klangen auch in St. Petersburg, Petrograd und Leninburg, wie er seine Stadt nannte, die Lifte ähnlich, dazu noch einige Fis-Töne von den Fabriksirenen und das Stampfen der Lokomotiven am Finnländischen Bahnhof, wo er als Zehnjähriger Lenin gesehen haben will, als der aus dem gepanzerten Zug der Deutschen stieg, um auf einem Heuhaufen – wo kam der eigentlich her, Pferdefutter? – seine April-Thesen vorzutragen.

Paschka kam erst spät in der Nacht zurück, rollte gleich an der Tür wild mit den Augen und hielt den Finger vor den Mund. Nicht sprechen! Ich legte sofort einen Leonard Cohen auf. Wir brauchten noch eine Platte mit Chopins Nocturnes und Impromptues, die Vier Jahreszeiten und zweimal den Sergeant Pepper, bis Paschka die Geschichte seiner letzten fünf Stunden erzählt hatte.
Anfangs konnte er gar nicht sprechen und zitterte so sehr, dass er seine Kasbek nicht anzünden konnte und den Krimsekt verschüttete. Kognak war jetzt besser. Sein Magen war für meine vorbereiteten Köstlichkeiten nicht bereit, ganz im Gegenteil, immer wieder suchte er die Toilette auf. Angst geht immer zuerst in die Hose. Vor Stalins Kabinett standen neben den KGB-lern immer auch zwei kräftige Sanitäter, die die beim Diktator Vorgeladenen und wieder Entlassenen schnell in einen Nebenraum zogen, sie abspritzten und mit einer sauberen Hose neu einkleideten. Das ist Fakt, weil einige Überlebende dies nach dem Tod des Diktators freiwillig erzählten.

Was war passiert? Als ich in der Botschaft verschwunden war, wurde er sofort von den Milizionären festgehalten und auf eine Wache gebracht. Aber nicht auf die nächste der Miliz, sondern in einem Auto zu einer Stelle des KGB. Wo, konnte er nicht sagen, üblicherweise in die Ljublanka, weil der Niva verdunkelte und vergitterte Fenster hatte und er draußen nichts sehen konnte. Sie haben ihn so lange verhört, bis beide Seiten nicht mehr konnten. Die KGB-ler rauchten ihre Schachteln Belomor, Paschka hatte seine Kasbek. Sie fanden nichts Verdächtiges an ihm, außer dass es einem Sowjetbürger nicht erlaubt war, sich so nahe an der amerikanischen Botschaft aufzuhalten. Aber das war nur eine Übertretung. Dafür, dass er mit der Vertreterin des kapitalistischen, imperialistischen Westens befreundet war, bekam er eine Rüge. Alle sind Spione, und er sollte sich nicht in Versuchung bringen, ein Vaterlandsverräter zu werden. Als ehemaliger Rekrut war er aber immer noch in der Armeereserve und sollte solche Kontakte besser unterlassen.

Paschka hatten sie aber doch so sehr verängstigt, dass er mir erst lange später das eigentlich Dramatische dieses Abends gestand. Als wir zur Botschaft gingen, hatte er seine Aktentasche, die portfelj, bei sich. Er kam von der Uni, also nichts Ungewöhnliches, wahrscheinlich waren Bücher und Mappen, Hefte und Bleistifte drin. Im Auto der Miliz war es ihm gelungen, diese Aktentasche unter den Vordersitz zu schieben, sodass er beim Verhör ganz ohne Gepäck war. Es befanden sich auch in der Aktentasche keine Uni-Utensilien, sondern sie war vollgestopft mit der frisch gedruckten letzten Samizdat-Ausgabe. Wir hatten sie vor einiger Zeit in der Wohnung von Freunden abgezogen: Texte von Daniil Charms, Michail Bulgakow und Sergej Dowlatow, einige Filmkritiken von westlichen und verbotenen sowjetischen Filmen, Personennachrichten von in Psychiatrien inhaftierten Intellektuellen und Künstlern, Texte und Gedichte von ihnen, Informationen aus dem feindlichen Ausland und von Bürgerrechtlern aus den Bruderländern.

Sprengstoff, brennheiße Ware, wenn sie sie gefunden hätten. Unter Breshnew kam man 1971 dafür nicht mehr in den Gulag, aber Relegierung von der Uni und Verbannung aus der Hauptstadt mit Sicherheit, nie mehr einen akademischen Beruf, Folgen für die Familie bis ins letzte Glied, in die Psychiatrie oder ins Arbeitslager mit großer Wahrscheinlichkeit.
Vorerst war nichts Schlimmeres passiert, als dass ihm die KGB-ler Wintermantel und Sakko abgenommen hatten. Wenn die gewusst hätten, dass darin vor Kurzem etwas so Gefährliches wie eine jolotschka, ein Christbaum, transportiert worden war!

Was mir Paschka erst bei einem Wiedersehen Jahre später beichtete, war, dass er lange vom KGB verfolgt wurde, immer wieder vorgeladen und befragt, immer wieder konfrontiert mit einem Papier, das ihn zur Zusammenarbeit einlud. Er hatte ja gute Kontakte in die Uni und in die Diplomatie.
Aber sie hatten ihm nie nachweisen können, dass die Aktentasche ihm gehörte.

Vielleicht waren es die Engelschöre der Weihnachtspassion oder Rudolph, das Rentier, die es ihm zehn Jahre später möglich machten, eine andere Österreicherin in Moskau zu heiraten und mit ihr in ihre Heimat auszuwandern. Ich war ja nach dieser unheiligen Nacht ungeplant schnell nach Österreich zurückgegangen, das heißt geflüchtet. Weniger vor dem KGB, der tat mir ja nichts, mehr vor Paschkas Dringlichkeit.

Und wenn sie nicht gestorben sind, dann lebt er noch heute mit vier Kindern, zwei Enkelkindern und seiner Frau in der Idylle des oberösterreichischen Städtchens Freistadt.

12. Juli 17

Veronika Seyr
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Alla Gerber war in Abramcewo

Alla S. Gerber lernte ich in ihrem dritten Leben kennen, wie sie ihre Zeit mit Jelzin nannte. Sie saß als Abgeordnete in der ersten Duma, und Ende der 90-er Jahre machte er sie zur ersten Direktorin des eben gegründeten Moskowskij Zentr Golokost (MZG). An dieser Institution arbeiteten auch die österreichischen Gedenkdiener, die von der Botschaft, also von mir, betreut wurden.
Alla war eine schöne, elegante Dame von siebzig plus, geistig und körperlich agil, wortreich und voller Energie. Wir konnten von Anfang an gut miteinander und setzten viele Pläne um. Da schienen sich zwei Gleichgestimmte getroffen zu haben. Gesegnet mit einer großen Portion Humor, mit dem sie auf ihre drei Leben blickte.
Und hallo, jetzt kommt das vierte mit dir!

Als öffentliche Figur wahrgenommen habe ich Alla S. Gerber schon früher, als absolute Ausnahmeerscheinung im russischen TV, in den Endlosübertragungen aus der eben entstehenden Duma, die sich gerade damit mühte, sich vom Obersten Sowjet zu einem richtigen Parlament zu entwickeln. In dieser historischen Zeit hielt ich mich manchentags bis zu 16 Stunden im Kreml auf. Es gab noch keine Handys.

Aller S. Gerber war dabei eine wichtige Stimme. Sie war elegant und gestylt, redegewandt, emotional, doch ohne nationalistisches Pathos und immer mit einem Schalk im Auge. Ich mochte sie schon aus der Ferne. In diesen Jahren lernte ich nur noch zwei andere Frauen kennen, die mich so beeindruckten. Die eine war Galina Strarowoitowa, die mutige Petersburger Abgeordnete der neuen Demokraten, ermordet von der Mafia im zweiten Wahlkampf. Mit ihr hatte ich aber nur ein schnelles Gespräch während einer krawallischen Demonstration. Und in Tatarstan die islamische Präsidentin Ibragima Selimwowitschna Karaulowa der autonomen Republik Tatarstan Schön, aufrecht, in traditioneller Prachtkleidung, ohne Kopftuch mit einem dicken schwarzen Haarzopf über der linken Schulter. Absolut souverän und überzeugend, unterstrichen von ihren fast zwei Metern. Die Entwicklung eines aufgeklärten russischen Islam, das war ihr Projekt, heraus aus der Verbannung.
Ich traf sie nur einmal in ihrem Palast in der Hauptstadt Samara zu einem Interview. Im Duma-Fernsehen war sie oft beeindruckend anwesend. Aber Alla Gerber habe ich kennengelernt, wirklich und leibhaftig. Und mich mit ihr befreundet, wie ich meinte. Was für ein Irrtum!

In meinem persönlichen Ranking stand Alla Gerber an der Spitze.
In der ersten Amtszeit des russischen Präsidenten war sie Abgeordnete für den Wahlkreis Birobitschan, früher eine autonome Region, die Stalin für die Sammlung der sowjetischen Juden ausgedacht hatte. Eine sowjetische Phantasie wie Madagaskar oder Uganda auf der anderen Seite, alle Juden in einem Gebiet zu versammeln. Birobitschan ist ein Landstrich in Ostsibirien von der dreifachen Größe Deutschlands, ein Binnengebiet ohne jegliche Aussicht auf Prosperität, mit einer menschenfeindlicher Natur in der unfruchtbaren Tundra und fast menschenleer. Sie bekamen nie genügend Männer zusammen für einen einzigen Kaddish. Die Urvölker wie die nomadischen Ewenken, Nanken oder Tschuktschen hatte man schon im ersten Fünfjahresplan vertrieben, umgebracht oder in Kolchosen kollektiviert. Eine alte Regel, aber noch schlimmer als in der zaristischen Kolonisierung Sibiriens.
Zumindest das Nomadentum hatten ihnen die Zaren nicht austreiben wollen.
Die freiwilligen Ansiedlungskampagnen von Juden hatten nie Erfolg, zwangsmäßige gab es bis auf kleine Ausnahmen keine. Sie setzten Ende der 30-er Jahre ein, wurden aber mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion eingestellt. Aber darüber weiß man noch sehr wenig, gibt auch Alla zu. Sie würde das gerne erforschen, wenn man sie lässt und ihr Gelegenheit gibt. In die Thematik des deutschen Golokost Zentr passt es allerdings nicht. Denn der sowjetische „Golokost“ mit den vorgelagerten Fragen zum sowjetischen Antisemitismus ist noch immer kein Thema.

Das würde sie gerne noch erleben, sagt sie. Sie schildert ihre Erschütterung über den neuen Antisemitismus in Erinnerung an die jüngsten Ereignisse in Belarus. Sie hatte unlängst als Präsidentin des MZG bei Minsk und Mogiljew Gedenkstätten für die Opfer des Holocaust eröffnet, am nächsten Tag waren sie verwüstet, bis zur letzten kleinen Tafel zerschmettert und in den Boden getreten. Das gleiche Bild im westrussischen Smolensk und Kaluga. So wie Alla ist, erzählt sie ungeschützt, dass sie selbst das Wort Golokost nicht kannte, am Anfang nicht aussprechen konnte und üben musste, ein Zungenbrecher, im Russischen vollkommen ohne Bedeutung. Genauso wie Shoah, nur kürzer.
Eine Gedenkkultur über die Vernichtung der europäischen Juden durch das Nazi-Regime gibt es in Russland nicht. In der Sowjetunion war es verboten, ein Volk oder eine Nationalität auszuzeichnen für den jeweiligen Beitrag zum Sieg über den faschistischen Feind. Es gab nur das EINE siegreiche sowjetische Volk. Keine Zahlen, kein Gedenken, keine Denkmäler.

Jahrelang ging ich durch den pompösen Eingang des Schriftstellerklubs in Moskau, bis ich einmal innehielt und die Gedenktafel für die im Großen Vaterländischen Krieg geopferten Mitglieder, eingemeißelt in Goldbuchstaben in zwei langen Marmortafeln, las. Meiner Zählung nach war es etwa ein Drittel mit mir jüdisch erscheinenden Namen. Kein Garant, denn bei der Stalin‘schen Verfolgung der „jüdischen Verschwörung“ um 1948 ließen viele russische Juden ihren Namen in einen unverfängliche Iwan Simonow oder Sergej Iwanow umändern.

Jelzin meinte mit der bekannten Menschenrechtlerin Alla Gerber – ob er wusste, dass sie Jüdin, war, weiß sie selbst nicht – die ideale Kandidatin für diesen fernen Landstrich gefunden zu haben. Ein historischer Witz der besonderen Art, meinte sie, ohne Groll. Sie hatte weder etwas mit Birobidschan noch mit dem Judentum am Hut. Ihre Familie, kommunistisch assimilierte Intellektuelle, Universitätsprofessoren, Anwälte, Kaufleute und Journalisten, stammte aus Kiew und wurde von den Nazis vollständig ausgerottet.
Als kleines Mädchen von menschenfreundlichen Nachbarn zuerst versteckt und dann nach Moskau gebracht. Nur der Überfall auf die Sowjetunion und der Holocaust hatten sie indirekt zu einer Jüdin gemacht.
Als sich die Nachricht vom Heranrücken der Wehrmacht auf Kiew verbreitete, setzte sich ihr ältester Bruder in Kiew auf eine Parkbank, in seiner besten Kleidung, mit Gehstöckchen, Hut und einer Ausgabe der Times unter dem Arm. Er wartete auf die Befreiung von Kommunismus und der Unfreiheit durch das Kulturvolk der Deutschen. Er war Journalist mit Hang zum Dandytum und glühender ukrainischer Anti-Kommunist. Niemand konnte ihn überzeugen, dass er fliehen müsse, solange er noch konnte. Er wollte das nicht glauben.
Alles verdammte kommunistische Propaganda. Ein Volk, das einen Kant, Beethoven und Nietzsche hervorgebracht hat, unvorstellbar …, das sind unsere Befreier, die konnten doch nicht …, nein, unmöglich!

Jakov S. Gerber war wahrscheinlich einer der ersten von den 30 000 Kiewer Juden, der für den Todesmarsch nach Baby Jar eingesammelt wurde, von der Bank im Stadtpark aufgelesen.
In ihrem zweiten Leben war Alla Gerber Journalistin und wissenschaftliche Übersetzerin für Englisch und Französisch. Eine relativ ruhige Bucht ohne Ideologie. Sie war die geborene Dissidentin, meint sie, mit dieser Familiengeschichte nicht anders möglich. So gehörte sie zu den 14 Demonstranten, die 1968 in Moskau gegen den Einmarsch des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei demonstriert haben. Später, im Helsinki-Prozess, setzte sie sich für die zwangshalber in die Psychiatrie eingelieferten Intellektuellen und Künstler ein, eine professionelle Dissidentin. Mehrmals festgenommen, verhört, aber nie verurteilt, nie im Gefängnis oder Lager.

Seit Gorbatschows Glasnost und Perestroika war sie Dauerdemonstrantin in allen Teilen der Sowjetunion, sie unterstützte den Bergarbeiterstreik in der Ukraine, die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen und kaukasischen Republiken, reiste unermüdlich durchs Land und stellte Dokumentationen für Zeitungen und das Fernsehen zusammen. Dazu übersetzte sie unermüdlich bis dahin in der Sowjetunion verbotene Bücher und gab viele russische Autoren heraus. Eine wunderbare Zeit, die schönste, erinnert sie sich, weil die Menschen voller Hoffnung waren, Morgenluft von Freiheit witterten. Am Horizont dämmerten die ersten Strahlen einer russischen Demokratie. Alles schien möglich. Russland würde sich selbst befreien können und in den Strom der allgemeinen Menschheitsgeschichte zurückkehren. Ich pflichtete ihr bei, hatte ich doch diese Jahre als Journalistin genauso erlebt. Ich vermute, das gefiel ihr an mir und verband uns. Endlich eine Ausländerin, der man nicht alles vom kleinen Einmaleins an über Russland beibringen musste.
Ich arbeitete in vielen Projekten mit ihrem MGZ zusammen. Ich wage zu behaupten, dass ich es zusammen mit der engagierten Arbeit der Gedenkdiener zu einer gewissen Blüte und Bekanntheit bringen konnte. Von der Wiener Zentrale hatte ich volle Unterstützung, es waren die Jahre nach Vranitzkis Gedenk-Rede.

Langsam wurden wir so gut miteinander bekannt, dass ich es wagte, sie auf meine Datscha in Abramcewo einzuladen. Dieser Ort war mein privates Sanktissimum, das öffnete ich nicht jedem.
Ein wunderbarer August-Samstag, ich holte Alla an ihrer Wohnung beim Gagarin-Platz ab, und wir schaukelten in meinem Jeep Nissan Patrol über die Jaroslawskoje Schossee aus Moskau raus nach Nord-Westen in Richtung Sergijew Posad. Im Fond meine jugoslawische Hündin Laika und mehrere Katzen, alle vom Dorf.

Ein Bilderbuch-Sommertag, fast kitschig, fast schon zu oft beschrieben in der russischen Literatur. Ein spätes Mittagessen im Garten, ein kleiner Spaziergang zur heiligen Quelle des Sergius von Radonesch, Kaffee-Jause, Gespräche, Alla im Liegestuhl ruht und döst, die Brille sinkt auf die Zeitung. Der Hund und die Katzen tollen im Gras. Einige Vogelstimmen, ansonsten Stille. Eine wahre Idylle, kann man das nennen, Frieden pur. Als sie unter den niedrigen Strahlen der westlichen Sonne die Augen aufschlägt, fällt ihr der Kirschgarten ein, obwohl es außer einer verkrüppelten Weichsel bei mir keine Ähnlichkeit zu den Cechow‘schen Gärten gibt. Alles umstanden von hohen Nadelbäumen. Wissen Sie was, es ist noch schöner bei Ihnen, weil hier keine Menschen ständig allerhand unnützes Zeug reden. Sie hatte wieder die Cechow-Bilder vor sich oder auch zeitgenössisches Datschen-Leben.

Beim Abendessen wieder meine tausend Fragen zu Allas Leben. Sie leistet keinen Widerstand. Offenbar kann ich sie zum Erzählen anregen. Mein Journalisten-Blut ruht nicht, alles wissen und verstehen zu wollen, und Alla ist eine faszinierende Erzählerin. Sie kann in ihrer Lebensgeschichte auf- und abgehen wie in einem breiten Stiegenhaus. Es ist Weltgeschichte im Brennglas eines einzigen individuellen Lebens. Die berühmte Fliege eingeschmolzen in einen Tropfen Harz, 44 Millionen Jahre im Bernstein. Das alles garniert mit einer Fülle von Selbstironie und Souveränität. Als politische Aktivistin, Wahlwerberin und Deputierte zur Duma hat sie auch viel Dramatik angesammelt, viele Einblicke, viele Anekdoten. Wir lachen gemeinsam, und ich kann gar nicht genug davon kriegen.
So kommt auch die Geschichte ihres ältesten Bruders ans Tageslicht, ihre Kindheit im Kiew der Vorkriegszeit, das Wenige aber deutlich, ihre Eltern, die noch auf den Ansiedlungsrayon beschränkt waren, sich von der bolschewistischen Revolution befreit fühlten und die Chance bekamen, sich zur Elite hochzuarbeiten. Für mich Zeitgeschichte eins zu eins. Sie wundert sich selbst, sie erzählt das alles zum ersten Mal jemandem Fremden.
Obwohl, wenn sie es so bedenkt, hat sie ihr Leben immer auch für den Dandy-Bruder gelebt. Es geht ihr erstaunlich leicht von den Lippen. Wie es im Herzen aussieht, kann ich natürlich nicht sehen. Trotzdem kommt es zum ersten Du-Angebot. Einfach Alla-Veronika, sie will keinen Vaternamen, nicht wegen des Solomonowitsch an sich, sondern wegen der Länge. Wir waren ausgelassen und entspannt. Auch sie war an meinem Leben interessiert. Eine neue Freundin in Moskau, dachte ich.

Für Alla ist das Gästezimmer vorbereitet, sie möchte sich zurückziehen, vermisst aber zuletzt ihre Lesebrille. Wir suchen sie in ihrem Gepäck, mit Taschenlampen im Garten, im Haus, in Küche Badezimmer und Garderobe. Vergeblich. Macht nichts, sie ist ohnedies zu müde zum Lesen. Ein langer Tag. Alla legt sich schlafen.
Wenig später entdecke ich beim Aufräumen des Tisches die Brille unter einer Schüssel. Ganz sicher bin ich, dass ich im Bewusstsein meiner neuen Vertrautheit mir vorgenommen habe, sie auf ein neues Modell einzuladen. Dieses alte sowjetische Gestell passte einfach nicht zu ihr, sonst in allem so elegant. Schnell mache ich noch einen Tee, stelle Kanne und Tasse auf ein Tablett, lege dazu die Brille, stolz. Ich klopfe leise an ihrer Tür, lausche, höre keine Antwort und trete trotzdem ein.

Dieser kleine Schritt sollte einer meiner größten Fehler sein. Im Licht der kleinen Nachttischlampe sehe ich, wie sich ihr Oberkörper aufbäumt wie unter dem Schlag eines Defribrillators. Dazu schmeißt sie in heftigster Abwehr die Hände nach vorne und schreit in höchster Stimmlage: Won, won, won – weg, weg, weg, immer wieder, es steigert sich, ich geh nicht mit, weg, weg von hier. Dabei sind die Augen aufgerissen, größer, runder und hohler als im Schrei-Gemälde. Wahrscheinlich verstärkt durch das Fehlen der Zahnprothesen. Bin nicht sicher, wage nicht richtig hinzusehen und zittere immer noch vor diesem Anblick.
Ich war zu der geworden, die sie abholen sollte, wie ihren Bruder und die ganze Familie.
Mir gelang es gerade noch, mich mit dem schwankenden Tablett zurückzuziehen. Drei Zimmer weiter in meinem Bett sitze ich die ganze Nacht aufrecht und zitterte. Ich hatte in die Hölle geblickt.

Wir frühstückten am nächsten Morgen wenig und stumm. Welche Worte hätte es geben sollen? Draußen wieder ein traumhaft schöner Tag. Alla packte ihre Sachen und bedeutete mir, dass sie sofort nach Moskau zurückfahren wollte. Won-weg. Auch die Fahrt zurück wortlos, kein Blick, keine Verabschiedung. Nicht einmal ihr Gepäck darf ich hinauftragen. Nur weg von mir und diesem Erlebnis. Mehrmals habe ich angerufen, ohne Antwort, mehrmals an ihrer Wohnungstür am Gagarin-Platz gekratzt, habe gejault wie ein verstoßener Hund und die Türschwelle abgeleckt, die Taschen voll mit Geschenken und Leckerbissen, die sie mochte. Zum Beispiel, alle Sorten von Danone-Joghurts, damals neu in Moskau und bisher nur in meinem Supermarkt zu haben. Ich ließ sie da stehen. Die Berge von Joghurt vor ihrer Türe waren das Letzte. Eine banale Scheiße. Trauer, Hohn und viel Wut. Das ist alles, was du mir lässt?

Eine Entschuldigung vielleicht, Vergebung, aber wofür? Verbrechen und Strafe. Was hatte ich getan, ihr angetan? Ging es ihr besser so? Ich lebte einige Zeit in einer Zwischenwelt von Schuld und Sühne und hoffte nur noch, dass der Schock erst bei ihr, und dann bei mir nachlassen würde.
Alla mitsamt ihrem S zwischen dem Gerber wollte mich nicht sehen. Und tatsächlich habe ich sie auch nie wieder gesehen.

8.7.17

Veronika Seyr
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Auf der Suche nach dem Hotel Savoy

Kurz nachdem ich Paschka Lwowitsch, einen Freund meines älteren Bruders, kennengelernt hatte, überredete ich ihn, mit mir nach Lemberg zu fahren. Eine Unmöglichkeit, zumindest ein Husarenstück.
Die Westgrenze der Sowjetunion war zur Gänze militärisches Sperrgebiet, nicht nur die beiden größeren Städte Lemberg und Tschernowitz. Nicht einmal Russen konnten sich frei rein und raus bewegen, geschweige denn Ausländer, geschweige denn feindliche aus dem imperialistischen Westen. Man brauchte für jede Reise eine Genehmigung des Militärs. Und wer dort nicht lebte und arbeitete, bekam sie nie. Nie im Jahre 1971, unter Breschnew und mitten im Kalten Krieg. Welche und wie viele Waffen, welche und wie viele Truppen – man weiß es nicht, bis heute nicht.

Aber Paschka konnte mir nichts abschlagen, und ich war so naiv wie beharrlich. Es waren ja auch nicht in erster Linie touristische Interessen, die mich so heiß auf Lemberg und Tschernowitz machten, obwohl ich natürlich um ihre Schönheit und Geschichte wusste.
Ich schrieb an einer Hausarbeit über Joseph Roth, der gerade erst wieder aus dem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf geweckt wurde. Es existierte noch nicht einmal eine normative Biographie, und auch seine Werke lagen noch in keiner Gesamtausgabe vor. Vieles von ihm kannte ich nur aus alten Büchern in der Bibliothek meiner Eltern. So auch den Roman „Hotel Savoy“.
Woher ich die Idee hatte, das Vorbild stehe in Lemberg, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich, dass mir der immer in großen historischen Zusammenhängen denkende Dr. Wendelin Schmidt-Dengler, damals jüngster Assistent an der Wiener Germanistik, den Floh ins Ohr gesetzt hatte. Also wollte ich es mit dem Buch in der Hand selbst suchen, bei einer Reise nach Lwow, L‘viv.

Wir lachten darüber, dass sein Name „Sohn von Lwow“ bedeutet.
Wir schmiedeten noch in unseren Uni-Ferien entsprechende Pläne. Von Kiew aus mit Lokalzügen oder Autobussen möglichst unauffällig nach Lemberg fahren. Paschka war noch niemals dort gewesen. Lange ging alles glatt. Auf der letzten Strecke von Iwano-Frankiwsk zog ich mich um und legte die Kleider von Paschkas Mutter an, auf den Kopf ein geblümtes Tuch, das ich in Kiew gekauft hatte. Eine nette kleine Bäuerin. Paschka instruierte mich, möglichst nicht zu sprechen, damit mein Akzent mich nicht verriet. Eine stumme, kleine Bäuerin, nichts Ungewöhnliches. Vielleicht ist es der einzige Vorteil eines Frauendaseins, dass man sich immer dümmer stellen kann, als man ist.
Wir gelangten tatsächlich nach Lemberg, und ich nahm ein Zimmer im schönsten Hotel am Platz gleich neben der katholischen Kathedrale. Er hieß natürlich nicht mehr Marienplatz, sondern Großer Oktober. Wie es gelang, ein Zimmer ohne Reisegenehmigung zu bekommen, ist nicht in meinem Gedächtnis hängen geblieben, aber es gelang. Schließlich wohnte ich dort, kann mich an die heruntergekommen Halle erinnern, das bescheidene Zimmer, und an die alten Frauen, die deschurnije, die in jedem Stockwerk saßen und die Bewohner überwachten. Sie trugen in einem großen, linierten Buch jedes Kommen und Gehen ein. Besucher und Begleiter in die Stockwerke waren in sowjetischen Hotels grundsätzlich nicht erlaubt. Das „Savoy“ war ein großer, achtstöckiger Kasten mit mehr als 800 Zimmern, gebaut im Stil der Gründerzeit, wie sie in jeder Provinzstadt der K.-u.-k.-Monarchie standen. So viel stimmte schon überein. Ich durchstreifte das Hotel immer wieder von unten nach oben und wieder zurück, immer mit dem Roman in der Hand, um Ähnlichkeiten mit Roths Hotel zu finden.

Daniel kehrt nach vier Jahren Krieg für den Kaiser und vier Jahren in russischer Kriegsgefangenschaft nach Hause zurück, wo nichts mehr ist, wie es früher war. Im Hotel Savoy bekommt er durch seinen Onkel im vorletzten Stockwerk ein billiges Zimmer und sucht Arbeit. Die Gesellschaft teilt sich in die reich gewordenen Kriegsgewinnler – sie bewohnen die Restaurants, Bars und unteren Stockwerke – und die armen Kriegsheimkehrer und Vertriebenen im 7. und im 8. Stock. Sie leben von fast nichts und werden zwischen rechten und linken Strömungen hin- und hergerissen. Die Hierarchie des Hotels als Symbol für die Gesellschaft. Es ist nach dem „Spinnennetz“ der zweite Roman, in dem Roth sehr früh und hellsichtig die schreckliche Zukunft voraussieht.

Ich werde immer sicherer, dass ich das Hotel Savoy des Joseph Roth gefunden habe.
Roth nennt nirgendwo den Namen der Stadt, sondern gibt nur Andeutungen. Eine alte Stadt, Grenzstadt von zwei verfallenen Reichen, multinational, viele Juden, viele Kriegsgewinnler und verzweifelte Proletarier. Alles schien mir auf Lemberg zuzutreffen.
Paschka und ich verbringen schöne Spätsommertage, streunen durch die Stadt, sehen uns alle Sehenswürdigkeiten an, soweit sie geöffnet sind. Vieles wie die Kirchen ist zweckentfremdet wie etwa die armenische Kirche und die Synagoge, wo Kohlen beziehungsweise Baumaterialien gelagert werden. Paschka ist fasziniert, denn er hat noch nie eine vollständig erhaltene europäische Stadt gesehen.

Er darf als Russe kein Zimmer im Hotel nehmen, daher wohnt er in einem Studentenheim, und wir können uns nur untertags sehen. Das ist natürlich sehr störend, wenn man jung ist und frisch verliebt.
So entsteht der Plan, dass er sich einschleichen soll, wenn die deschurnaja einmal aufs Klo geht oder Wachwechsel ist. Es gelingt tatsächlich, und er kann in das Zimmer Nummer 703 schlüpfen. Aber unser Glück währt nicht lang. Wir wissen nicht, wie wir aufflogen, wer uns gesehen, wer uns verraten hat. Kann aber leicht sein, dass die Wände Augen und Ohren haben. Noch vor Mitternacht ein grobes Schlagen mit Fäusten an die Tür und Geschrei: Aufmachen Genossen, und alle raus!

Wunderbar, das nennt man sowjetische Gastfreundschaft und Hotelkultur. Wir ziehen uns schnell an. Vor der Tür steht die Deschurnaja, stemmt ihre Arme in die fetten Hüften und lächelt uns höhnisch triumphierend an. Na, mich kriegt ihr nicht dran, ihr dummes Junggemüse! Wir werden unter Begleitung von zwei Milizionären in die Direktion gebracht. Paschka wird des Hotels verwiesen, weil er Russe ist, ich, weil ich als Ausländerin gar nicht hier sein dürfte. Aber wir haben Glück. Wir werden nur angewiesen, am Morgen sofort nach Moskau zurückzufahren, personae non gratae. Die Strafe fällt auch milde aus; die vier weiteren Tage, die ich gebucht hatte, verfallen. Das ist zu verschmerzen. Im Gespräch mit dem Direktor gibt es dann noch eine große Überraschung. Es stellt sich heraus, dass ich mit dem angeblichen Hotel Savoy in Lemberg einem kapitalen Irrtum aufgesessen war. Das echte stand und steht im polnischen Lodz und heißt auch noch immer so. Diese westpolnische Stadt hatte sich gegen das Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrer Textilindustrie zu einem „polnischen Manchester“ entwickelt. Für die internationalen Gäste brauchte es ein großes und luxuriöses Hotel, eben dieses Savoy. Es hat den Ersten und Zweiten Weltkrieg, die Gestapo und den Sozialismus überlebt und strahlt frisch renoviert in alter Pracht.

Nach Czernowitz weiterzureisen, trauten wir uns aber doch nicht, das Glück sollte man nicht zu sehr reizen.
Im Jahr darauf erschien die bis heute klassische, noch immer nicht übertroffene Biografie Josefs Roths von David Bronnen mit einem großen Kapitel über Lodz und sein Hotel Savoy. Ich konnte gerade noch rechtzeitig meine Hausarbeit korrigieren. Aber mit einer Sensation hatte sie nicht mehr aufzuwarten.

14.7.17

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik, Heft September 2017, Nr. 517/518

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Meine Putzfrau heißt Ivan

Der Kübel stand mitten auf dem Gehsteig vor dem Restaurant. Fast wäre ich darüber gestolpert, weil ich gerade die Einkaufstasche auf der Schulter zurechtrückte und dabei in die Lindenallee schaute. Ein Mann balancierte hoch oben auf einer Leiter und putzte eine der Glasscheiben. Es sind sehr hohe Fenster vom zweiten Stock bis auf den Boden. Die Spitzenköchin wirtschaftet als „Die Herknerin“ seit einiger Zeit in dem ehemaligen Installationsgeschäft. Sie hielt die Beine der Leiter fest und gab dem Mann Anleitungen. Ob er die braucht, dachte ich, und machte einen schnellen Schritt zur Seite. Er soll auch die Großbuchstaben INSTALLATI-NEN an der Mauer über den Fenstern waschen, wenn er mit seiner Stange hinaufreicht. Das O war schon dem Installateur abhandengekommen. Günther Leutner war gar nicht mehr zu lesen. Den Namen wusste nur noch ich, weil er später einiges bei mir gerichtet hat. Der Kübel wackelte ein bisschen, und die rundliche Herknerin schüttelte den Kopf:

„Nanana, nicht so eilig.“
Sie hatte es nie eilig, stand immer unter ihren Gästen an den Tischen, drinnen oder draußen.
„Oh, Entschuldigung, hoppala, ist eh nix passiert.“
Da kletterte der Mann von der Leiter herunter und drückte den Schwamm aus. Im Kübel schäumte das Wasser dunkel.
„Muss weksel, ok, passt?“
„Gutgut, weißt eh, Ivan, im Gang hinter Budel, gell.“
Während der Mann sauberes Wasser holte, sprach ich die Meisterin der Wiener Küche an:
„Glauben Sie, ob ich ihn mir ausborgen kann?“
„Sicher, fragen Sie ihn, der Ivan sucht eh immer eine Arbeit.“
Da kam dieser Ivan aus dem Schankraum wieder auf die Straße.
„Würden Sie auch bei mir in der Wohnung die Fenster putzen?
Acht Stück hab ich, da vorne wohne ich, auf Nummer 39, gleich da drüben.“

Wir vereinbaren den nächsten Montag, 9. Jänner um neun Uhr Früh. Das kann man sich merken. Ich erkläre ihm noch die etwas eigenwillige Gegensprechanlage an unserem Haustor und wir verabschieden uns.

Mir fällt auf, dass er kein Handy bei sich hat. Da nehme ich eine alte Hofer-Rechnung aus meiner Geldbörse und schreibe ihm meine Adresse, Tag und Uhrzeit auf. Zur Sicherheit.

Es kommt der Montag, neun Uhr, und Ivan ist zehn Minuten zu spät. Da Pünktlichkeit, das heißt Verlässlichkeit, für mich eine Form von Respekt ist, gehört sie zu den von mir eingeforderten Kardinalstugenden. Ivan entschuldigt sich damit, dass das Tor nicht aufgegangen sei.
Sie hätten doch bei 34 läuten müssen oder bei meinem Namen, aber es hat hier nicht geläutet.

Okay, wenn er bei mir arbeiten will, werde ich ihn mir schon herrichten. Hab ich bei anderen auch schon gemacht. Zumindest versuchen werde ich es. Ich war nicht immer erfolgreich. Von dem Majstor Tschiko, einem Rom aus dem serbischen Poscharewatz, musste ich mich schnell trennen, weil der nicht nur Stunden vertauschte, sondern ganze Tage. Einmal kam er nicht zum verabredeten Termin, weil es angeblich geregnet hat. Und bei Regen kann man ja nicht Fenster putzen. Bei ihm hat‘s vielleicht geregnet, nicht bei mir. Ich weiß nicht, wo er wohnte. Außerdem hat er ziemlich bald zu betteln begonnen: Enkelin braucht Computer, Tochter Mantel, er selbst Handy, gut für Arbeit, Kundschaft.

Ivan will kein Frühstück, keine Jause, nur Tee und Zigaretten.
Er ist begeistert von meinem Orangentee und nimmt keinen Zucker. Etwa 35 Jahre alt, klein gewachsen, rotblond, leichter Buckel, frühe Glatze, nicht sehr gut genährt und ein Gebiss mit zahlreichen Lücken. Eine schnelle ethnologische Diagnose: Armut, Dauerarmut, Fundamentalarmut.
Ich setze mich mit meinem Kaffee zu ihm an den Esstisch, und das Frage-Antwort-Spiel beginnt.

Er ist Bulgare und lebt seit fünfzehn Jahren in Wien. Sein Deutsch ist ganz passabel, man kann sich fließend mit ihm unterhalten. Er hat es sich selbst beigebracht, und er schaut viel fern.
Gelernt hat er in Bulgarien Maler, sagt er, kriegt aber als solcher keine Arbeit, weil die keine Ungelernten nehmen oder nur fünf Euro in der Stunde zahlen. Länger hat er als Gärtner-Gehilfe in Himberg gearbeitet, aber sein Rücken ist kaputt, er konnte die schweren Scheibtruhen mit Erde und die Blumenkisten nicht mehr schleppen. Dann Autowäscher in einer türkischen Garage, ging auch nicht mehr.
Türken nix gutte Leute.
Wer sind denn gute Leute?
Die Österreicher.
Alle anderen sind schlecht?
Ja, Ausländer alle nix gutt.
Bulgaren auch nicht?
Das sind die Schlimmsten.
Er muss das wissen.

So, jetzt aber an die Fenster. Ivan hat seine eigene Ausrüstung mitgebracht, meine sei auch nix gutt. Er sei Profi mit einer Profi-Ausrüstung. Voll Stolz zeigt er mir die Teleskopstange mit drei verschiedenen, auswechselbaren Kopfstücken: für Bürsten, Schwämme und Trockentücher. Er arbeitet sehr genau, aber auch sehr langsam, trödelt, wie ich finde, dabei kriegt er pro Fenster bezahlt, nicht nach Stunden. Das habe ich mit ihm ausgemacht, und er war einverstanden. Vielleicht hat er das vergessen.
Wieder Tee- und Zigarettenpause, er will noch immer nichts essen. Er sagt, er habe zu viel Zucker und sei zu dick. Dabei klopft er sich auf den nicht vorhandenen Bauch. Ich habe ihm zwei dicke Schinken-Käse-Semmeln mit Ei und Salat, eine Banane, ein Fruchtjoghurt und eine Topfengolatsche vorbereitet und packe ihm alles ein.
Vielleicht später.
Da erzählt er, er werde das seiner Schwester mitbringen.
Ah, er hat eine Schwester.
Ja, die ist gerade aus Bulgarien angekommen und sucht Arbeit.
Leider, mehr hab ich nicht.

Er schaffte in fünf Stunden nur vier Fenster, da riss mir die Geduld, ich musste ihm ja beim Aus- und Einhängen der Oberlichten immer assistieren. Immer wieder rief er mich von meinem Schreibtisch weg:
Madame, bitte.
Wer hatte ihm das Madame beigebracht?
Also machte ich einen zweiten Termin mit ihm aus.
Wieder nächsten Montag um neun Uhr, aber pünktlich diesmal! Ich schreibe ihm noch einmal alles auf. Ich bemerke, dass er nicht auf den Zettel schaut, sondern meine Worte memoriert. Später sehe ich, dass er das Papier auf dem Tisch liegen gelassen hat.
Da schwant mir, dass Ivan Analphabet ist; deswegen hat er die Gegensprechanlage nicht bedienen können und musste warten, bis jemand anderer die Türe aufmachte.

Es war an diesem Jänner-Montag eisig kalt, und Ivan kam ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Nur eine kurze Blouson-Jacke aus gestepptem Ostblock-Jeansstoff. Seine Putz-Utensilien trug er in einem großen Billa-Plastiksackerl. Also kramte ich sofort eine Ikea-Tasche hervor, dazu eine Wollhaube, die ich vor Kurzem auf der Straße gefunden hatte, gefütterte Lederhandschuhe, die mir immer schon zu groß waren, und einen warmen Schal, kariert. Toll, fand ich und führte ihn vor den Spiegel im Vorzimmer. Er lächelte schief hinein, ein Foto von ihm zu machen lehnte er ab.
Nicht nur ungesund zu frieren, sondern sonst finden Sie keine Arbeit. Die Leute schauen auf die Kleidung. Je armseliger man aussieht, desto armseliger bleibt man. Kleider machen Leute, das verstand er nicht.
Aber meine Belehrungen hat er sicher nicht gebraucht, wie es läuft, das wird er in den fünfzehn Jahren in Wien schon mitgekriegt haben.
Ich stattete ihn noch mit drei Gläsern Marmelade und einigen Packungen aus dem Tiefkühlfach aus – meine selbst gemachten Vorräte, die ich hauptsächlich aus Entspannungsgründen produziere.

Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein Flanellhemd mit männlichem Karo und zwei Pullunder. Zusammen 13,50 Euro.
Dazu ist die Volkshilfe da.
Nach der Arbeit gehe ich mit Ivan zum kroatischen Reifenhändler an der Ecke Floragasse. Der jammert immer über zu viel Arbeit, und keiner will arbeiten. Alle wollen nur Geld, trinken und bembembemti, und er hält dabei den Kreuzschraubschlüssel hoch. Interessant, auf Kroatisch stottert er.
Mirko bedauert, gerade jetzt hat er zwei gute Helfer gefunden. Da schau an. Ich sehe keinen Arbeiter rund um sein Geschäft.
Die haben heute frei.

Ivan sieht sich bestätigt.
Sag ich doch, Ausländer nix gutte Menschen.
Mirko kommt aus Waraschdin (wie die Rosen), ist vierzig Jahre in Wien. Kein Flüchtling, ein echter Gastarbeiter, schon sechsunddreißig Jahre mit österreichischem Pass.
Ich gehe mit Ivan weiter zur Diskonttankstelle am Naschmarkt. Die drei Männer in der Halle winken schon von Weitem ab, keine Arbeit. Keine weitere Erklärung.

Es ist immer noch kalt, sehr kalt. Später habe ich bei der Volkshilfe nebenan einen dicken, langen Pullover gekauft, dazu ein großes Herrenhemd aus Flanell, großkariert in Blaugrün und zwei gestrickte Pullunder. Alles zusammen um 17,50 Euro. Genau dazu ist die Volkshilfe da.
Also, Ivan kommt am nächsten Montag tatsächlich pünktlich, hat aber wieder nicht unten angeläutet. Wieder ohne Mütze, Schal und Handschuhe. Auch zu dem Billa-Sackerl für seine Gerätschaft ist er zurückgekehrt.
Ivan, wo sind die Sachen?
Ach, brauch ich nicht, mir ist immer so warm, der Schwester gegeben. Frauensachen.
Ok, geht mich nichts an, ob er’s verkauft oder in ein Kanalloch steckt. Geschenkt ist geschenkt.
Aber es ist verdammt kalt heute, minus sieben.
Macht nix, fahr U-Bahn.
Wohin?
Bis Ottakring, dann noch ein Stück zu Fuß. Nix weit.
Diesmal schaffte er die vier Fenster in vier Stunden. Passt, genau wie der Stundenlohn. Dann wieder ein Gespräch bei Tee und Zigaretten. Stolz erzählt er mir, er hat sich jetzt auch so einen Orangentee gekauft. Wärmt.

Wie heizt er denn seine Wohnung?
Nix Wohnung, ein Zimmer.
Früher hat er einmal mit einem elektrischen Heizstrahler geheizt, bis die erste Rechnung kam, die konnte er sich nicht leisten.
Ich entscheiden, essen oder heizen.
Aber diese Woche kamen er und seine Schwester mit meinem Essen durch, und sie konnten ein bisschen einheizen.
Was macht er, wenn es kalt ist?
Er liegt im Bett und schaut TV.
Jetzt fällt der Groschen: Er brodelt mit der Arbeit herum, weil es bei mir warm ist. Arbeit als Broterwerb und Wärmestube. Er hat jede Menge Zeit.
Diesmal bekommt er ein paar Decken mit nach Haus, warme Socken und einen Bettvorleger. Natürlich auch wieder reichlich von meinen Essensvorräten und eine Tee-Packung mit Winterzauber. Oder waren es die Kaminträume?

Eigentlich habe ich keine Fensterputz-Arbeit mehr für ihn, aber ich lade ihn doch zu einem weiteren Termin ein. Es gibt in meiner Wohnung noch eine Glastüre, ein Innenfenster zwischen Küche und Badezimmer und zwei Türen mit Glasziegeln. Die putze ich in der Regel selbst. Aber ich nehme mir vor, Ivan über die kältesten Wochen zu bringen.

Er kommt wieder halb angezogen, aber um Punkt neun.
Gleich an der Tür strahlt er mich an: Er hat sich ein Handy gekauft, gebraucht, dreißig Euro. Sein erstes. Er hat erstmals dreißig Euro übrig gehabt. Profit. Sieht er sich auf dem Weg zum Millionär?
Wie geht das?
Eine zweite Putzstelle.
Alte Frau wie Sie, ehm, wirklich alte, nicht weit von hier, hat große Wohnung mit dreizeh Fensta.
Ich frage, ob die etwa in Schloss Schönbrunn wohnt.
Wie? Wo? Schönbrunn?
Er versteht meinen Witz nicht.
Fünfzehn Jahre in Wien, aber in Schönbrunn war er noch nicht.
Er kennt praktisch nichts, was nicht an der U3 liegt.
Wien zwischen Ottakring und Simmering. Eigentlich nicht wenig.

Diesmal frage ich ihn, ob er das nächste Mal die Böden feucht wischen und die Teppiche saugen könnte. Ich denke an seinen kaputten Rücken, aber immerhin muss er nicht schwer tragen oder heben.
Klar ist er einverstanden. Aber seine Schwester könnte auch putzen. Nein, nein, ich kenne sie nicht, das will ich nicht, sie spricht null Deutsch, und an den Ivan hab ich mich schon zu gewöhnen begonnen.
Schon beim ersten Zimmer wird mir klar, dass Ivan nicht das geringste Gefühl für eine Wohnung und ihr Mobiliar hat. Wenn er etwa einen Sessel, den Schirmständer oder einen Blumenstock wegrückt, kommt er nicht auf den Gedanken, ihn nach dem Wischen wieder auf seinen alten Platz zu schieben. Er hat wahrscheinlich noch nie in einer richtigen Wohnung gelebt. Er hat absolut kein Raumgefühl. Die Gemälde an den Wänden nennt er „Fottos, viele scheene Fottos haben Sie!“ Die Bücherwände dagegen beeindrucken ihn nicht. Was er sonst noch sieht und was ihm gefällt, weiß ich nicht.

Meine Freunde, denen ich von Ivan erzähle, sind entsetzt. Und so jemanden lässt du in deine Wohnung? Hast du keine Angst? Nein, hab ich nicht. Er wird mich doch nicht abkrageln, er will Geld verdienen, und dazu braucht er mich. Er hat noch nicht aufgegeben, er sitzt nicht auf der Straße und bettelt. Ich finde Ivan ganz toll.

Bevor er den ersten Teppich angeht, bitte ich ihn, die große Jukka-Palme zu verschieben und den Stab, mit dem sie gestützt wird, geradezustellen; ganz oben an der Spitze soll er sie mit einem Band anbinden. Ich sichere die große Leiter, Ivan steigt hinauf, und ich halte ihm einen dicken Spagat hoch. Ich sehe, wie Ivan die Schnur um die Spitze wirft, zwischen den Blättern herumnestelt, aber die Schnur gleitet immer wieder zu Boden oder bleibt irgendwo in den Blättern hängen.
So geht das mehrmals, bis ich frage:
Ivan, was ist los? Schlinge rum um den Stamm und den Stab und Masche machen.
Es geht nicht.
Kommen Sie runter!
Mir reißt der Geduldsfaden, und ich steige selbst hinauf.
Er soll die Leiter sichern.

Da sehe ich, dass er an seinen Sportschuhen keine Schnürsenkel hat, sondern Klettbänder wie kleine Kinder an ihren ersten Schuhen.
Ivan kann keine Maschen binden.
Er gibt es genant lachend zu.
Kommt man so durchs Leben? Ja, es geht.
Ich fange mit ihm zu üben an.
Hat er das nicht von seinen Eltern gelernt?
Eltern tot.
Im Kindergarten?
Nein, er war nicht im Kindergarten, sondern im Kinderheim. Waisenhaus?
Ja, aber nicht in Sofia, sondern in einer Stadt am Schwarzen Meer. Schöner Strand, ich war einmal in Varna, am Goldstrand.
Blöder geht‘s nimmer. Ich beiße mir auf die Zunge.
Ivan wird unruhig, er will die Maschen zu Hause üben, ich gebe ihm die ganze Spagatrolle mit.

Wahrscheinlich habe ich mit Ivan eines von diesen Waisenkindern in Ostblock-Heimen kennengelernt, für die wir nach den Schreckensbildern im Fernsehen eifrig gespendet haben. An Pater Sporschill, zum Beispiel.

Ich habe ihn nie wieder gesehen. Er kam einfach nicht mehr, spurlos verschwunden, vom Erdboden verschluckt oder von sonstwas. Ich kann ihn nicht einmal suchen, bemerke ich, seine Handy-Nummer habe ich nie aufgeschrieben. Ich mache mir Sorgen, wegen der anhaltenden Kälte. Eine Freundin, eine ehemalige Sozialarbeiterin, will mich beruhigen: Solche Leute wissen, wo sie sich wärmen können. Westbahnhof, Gruft, Praterstern. Hoffentlich hat er noch die alte Frau mit den dreizehn Fenstern. Aber wie oft kann man die Fenster putzen? Bei minus neun Grad? Vielleicht ist er an seine Goldküste zurückgekehrt? Dieser Winter war besonders lang und kalt, ein richtiger Winter wie früher.

9.7.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 17148

Karl Roßmann kam nicht bis Oklahoma

Was der Dichter schafft, das muss so hingenommen werden, wie er es geschaffen hat… So wie er die Welt gemacht hat, so ist sie.
J.W. Goethe

1.
Als der sechszehnjährige Karl Roßmann – ein andermal ist er siebzehn – am Morgen eines Apriltages im Jahre 1912 mit der „Sibylle“ der Hamburg-Amerika-Line in den Hafen von New York einfuhr, stand er mit seinem Koffer an der Reling. Wie alle anderen Auswanderer aus dem Zwischendeck erblickte er zum ersten Mal die Freiheitsstatue. Eine Göttin mit Schwert, schien sie ihm, so hoch, staunte er, um sie wehen die freien Lüfte, sagte er sich, so also riecht Freiheit. Seine Nase witterte eine Mischung aus Rauch, Diesel, Tang und Fischöl. Er wurde fast ohnmächtig und begann zu phantasieren. Die Menge schwoll immer mehr an und drückte ihn gegen das Bordgeländer. Die Männer lüpften Hüte und Mützen, die Frauen schwenkten Tücher und Regenschirme.
Wie ein einziger Schrei drang Jubel aus tausenden Kehlen, das Ausatmen eines lange ausgesetzten Einatmens, vereint in einer unartikulierten Sprache, der Sprache der Hoffnung. Jeder an Deck, auch Karl Roßmann, meinte richtig gesehen zu haben, dass die Liberty ein Schwert hielt, glühend wie flüssiges Metall. Aber diese Armen wussten es nicht besser, es war Aurora, die Morgenröte, die die Fackel in der ausgestreckten Hand färbte und zu einem Schwert umformte. Schwert oder Fackel – das macht den Unterschied in den Vorstellungen von der Freiheit aus. Kampf oder Licht? Die europäische Geschichte kann es durchdeklinieren. Seit einer gewissen Wahl am 8. November weint sie und lässt die rußende Fackel nach unten sinken.

Weil Karl sich im Augenblick stark fühlte, hob er im Übermut seinen Koffer auf die Achsel. Er hatte keinen Regenschirm verloren, weil er keinen bei sich hatte. Ein sechszehnjähriger Provinzler pflegt keinen Regenschirm mit sich zu tragen, wenn er nach Amerika verfrachtet wird. Vor der Abreise war ihm zumute gewesen wie einem, der ins Wasser geht Seine Familie hatte ihn verstoßen, wie eine räudige Katze vor die Tür geworfen, ihn dafür bestraft , die dreiunddreißigjährige Köchin Johanna Brummer verführt zu haben. Karl glaubt sich zu erinnern, dass es umgekehrt war. Ist die schwarze Köchin da? Ja, ja, ja! Er muss nicht unbedingt von der Reling in den Schiffsbauch zurückgekehrt sein, nicht seinen Regenschirm vergessen und daher auch weder den Heizer, noch Franz Butterbaum noch den ungerechten Kassierer Schubal, keine Köchinnen, Matrosen und Offiziere und auch keinen Kapitän getroffen haben.

Mit Mühe das Gleichgewicht haltend und mit dem Koffer auf der Schulter ausbalancierend, wurde er in der festen Menschenmasse die steile, schwankende Fallreep hinuntergeschoben, vorne und dahinter von tausenden tappenden Menschenfüßen begleitet. Alle diese Körper drängten in einer umgekehrten Sisyphus-Bewegung in die Tiefe. Glück für die Ordnungshüter, in dieser Enge konnte niemand umfallen und Unordnung verursachen. Gepäck und Kleinkinder konnten schon verloren gehen, aber niemand wurde danach gefragt und niemand beschwerte sich.

Zum letzten Mal verschmolzen die Auswanderer, die die Hölle des Zwischendecks überlebt hatten, zu einem einzigen Körper wie die Sandkörnchen in der brodelnden Glasblase. Das schiffbrüchige Europa meinte, endlich im Paradies angekommen zu sein.
Bevor sie von der „Sibylle“ den Fuß auf den Boden Amerikas setzten, baumelten die Passagiere am Fallreep über dem Nichts, eine Ameisenstraße auf einem Grashalm, auf Trittseilen die Bordwand entlang steil hinunter. Karl träumte vor sich hin, dass die Menschen Gummibänder an den Füßen hätten, die sie, wenn sie von der Fallreep herunterpurzelten, wieder hochschnellen ließen. Das könnte man unzählige Male wiederholen. So ginge niemand verloren, und manche hätten sogar noch Spaß dabei. Der erste Weg in die Freiheit führte zuerst einmal in den Abgrund. Seit dem Untergang der Titanic waren erst acht Wochen vergangen, und die Leichen der Ertrunkenen kamen gerade bei Neufundland angeschwemmt . Die von der Lusitania sollten erste drei Jahre später an den atlantischen Küsten anlanden. Klein wie ein Froschteich ist das Mittelmeer dagegen. Was hat Amerika zu Amerika und groß gemacht?

Amerikanische und jüdische Fundamentalisten glauben, dass die Arche Noah nicht am Berg Ararat gestrandet ist, sondern 7000 Meilen weiter westlich, und das wäre genau in New York, auf der Insel Mana-hata der Algonquin-Indianer, ihrem „hügeligen Land“, oder im Nieuw Amsterdam der Niederländer. Da aber bisher keinerlei prähistorische Überreste gefunden wurden, steht uns die große Flut vielleicht noch bevor.

2.
Die „Sibylle“ hatte Glück, sie musste keine gelbe Flagge aufziehen, wie zuvor die Schwesternschiffe „Normannia“, „Moravia“ und „Riga“. Diese wurden weit draußen, sieben Meilen vor der Südspitze Manhattens in der Lower Bay vor Anker gesetzt. Gelbe Flagge hieß Seuchengefahr, Cholera. Eindeutig lautete die Warnung des Polizeichefs: Wer von Bord geht, wird erschossen. Kriegsschiffe bewachten die Auswanderer. Je länger sie dort lagen, desto mehr Passagiere stürzten sich von Bord der arretierten Schiffe. Kaum einer der Emigranten aus Süd- und Osteuropa konnte schwimmen. In der Stadt wollten die Bewohner keinen Fisch mehr essen. Trotzdem starben in New York jeden Tag neun Menschen an der Cholera. Die Furcht vor Seuchen weitete sich zu einer allgemeinen Hysterie aus. Wie der Erreger in die Stadt gelangt war, blieb ein Rätsel.

Die „New York Times“ forderten, die „schmutzigen Italiener, besoffenen Iren und verlausten Juden“ nicht mehr ins Land zu lassen.
Doch wer daran die Schuld trug, glaubten die Amerikaner zu wissen: die Ausländer.
Sie waren arm, krank, lebten in Slums, hatten keine Arbeit und verpesteten die Stadt. Die alten Amerikaner hassten die Immigranten aus vollem Herzen, die Presse hetzte offen. Sie sahen in ihnen minderwertige, halb menschliche Wesen und hielten sie sich möglichst vom Leib. Schlimmer als räudige Hunde und Ratten, druckten die NYT und gaben damit die Anregung, wie mit ihnen umzugehen sei. Vielleicht bringen sie nicht nur Seuchen und Ungeziefer, sondern auch Unfrieden? Soziale und kulturelle Konflikte waren vorgeplant.
In den frühen Jahren der europäischen Migration brachten viele Männer auch noch ihre Pferde mit, was vor allem in den Städten zu Chaos führte, wenn sie nicht schnell genug nach Westen weiterziehen konnten. Es gehört zu den Kuriositäten der Geschichtsvergessenheit, dass der angeblich uramerikanische Mythos vom Cowboy auf die Pferde der Einwanderer zurückgeht.
Vor allem den Immigranten aus Süd-Osteuropa wurde attestiert, nicht assimilierungswillig zu sein und aus Mangel an Kultur grundsätzlich unfähig, die amerikanische Welt zu verstehen. Wertekurse wurden damals nicht angeboten. Von allen Immigranten wurden nur die Deutschen einigermaßen willkommen geheißen, wegen des ihnen nachgesagten höheren Bildungsniveaus, ihres Arbeitseifers und strengen Familienzusammenhalts.

In der NYT wird ihre ausgeprägte „Achtung vor dem Staat und dem Gesetz“ hervorgehoben. Vor allem im Mittelwesten und in den New Yorker Stadtteilen Bronx und Queens bildeten sie kompakte Ansiedlungen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts war die Hälfte der New Yorker Bürger nicht in dieser Stadt geboren. Donald Trumps Großvater Friedrich, ein Friseur aus der Pfalz, kam 1892 mit solch einem Transport an. Eine Schwester und ihr Mann lebten schon in New York, später noch eine Schwester mit Mann, Friedrich selbst brachte seine Frau aus Deutschland und eine dort geborene Tochter ins Land. Die Trumps hatten weitere familiäre Beziehungen zu den Heinzs und Krafts, die in der Lebensmittelindustrie Markennamen und Vermögen machen sollten. Seinem Sohn Fred konnte Friedrich schon ein Millionenvermögen hinterlassen, das er in der Immobilienbranche gemacht hatte. Am 8. November 2016 ist Trump, der III., Donald, zum 45. Präsidenten der USA gewählt worden. Der tuberkulöse Karl Roßmann hat von seinem Schicksal weniger Chancen zugemessen bekommen.

3.
Um die Massen nicht unkontrolliert ins Land strömen zu lassen, richtete man ab 1892 auf Ellis Island rund zwei Kilometer vor der Spitze von Manhattan auf einem elf Hektar großen Areal eine gigantische Selektions- und Kontrollfabrik ein. Der „Immigration Act“ verfügte, dass Verbrechern, Kranken und Schwachen die Einreise verweigert wird. Im Schnitt werden zwanzig Prozent dieser Prozedur unterworfen. Sie werden abgesondert, es folgt tagelanges Warten und die Verfrachtung auf ein Schiff zurück nach Europa. Die Kosten müssen die Reedereien tragen, die sie nach Amerika gebracht haben. Manche Familien werden zerrissen, wenn die Mutter wegen eines kranken Kindes zurückfahren muss und der Vater in den USA bleiben darf. Wegen dieser ständigen Tragödien wird Ellis Island auch die Träneninsel genannt. Galgen-Insel hieß dieser Flecken Land unter den Holländern, weil hier Piraten aufgehängt wurden. Wie schön noch der Name, den ihr die indianischen Ureinwohner gegeben hatten: Kiosqu – Möweninsel.

Die Neue Welt zeigt sich zunächst abweisend. Wer durch die erste Sortierung kommt, gerät in eine gigantische Maschinerie, in ein militarisiertes System von Schleusen, Käfigen und Fließbändern. Er muss in der 1800 m² großen und acht Meter hohen Registrierhalle auf langen Bänken Platz nehmen und auf den Aufruf seines Namens warten. Stundenlang, tagelang, immer in Angst, ihren Namen zu verpassen oder eine Anweisung nicht zu verstehen. Sie wissen nicht, wie lange sie in dieser Zwischenhölle bleiben müssen und was mit ihnen geschehen wird. Die Halle ist in Schlangenlinien durch Eisengitter getrennt und hat einen Galeriengang, von dem aus die Medizinstudenten das Geschehen beobachten können.

Das System ist brutal und effizient: Als Erstes werden die Geschlechter getrennt, dann Fragen nach Name, Herkunft, Beruf, Zielort, Unterschrift. Analphabeten werden sofort beiseite geschafft. Als Intelligenztest – ein neuer Zugriff der damals noch jungen Disziplin der Psychiatrie – muss der Immigrant ein einfaches Puzzle aus Klötzen legen können und allerhand obskure Fragen beantworten: „Wenn ein Junge seine Eltern aufisst, was ist er dann?“ Nicht Kannibale, sondern Waise, ist die richtige Antwort. Oder: „Wenn Sie zwei Pferde, drei Kühe und vier Schafe hätten, wie viele Tiere hätten Sie?“, wird ein osteuropäischer Bauer gefragt. Er kann zwar nicht zusammenzählen, gibt aber eine logische Antwort: Wenn ich so reich wäre, hätte ich nicht auswandern müssen. Der Bericht eines Psychologen bestätigt den Russen, Italienern und Ungarn zu achtzig Prozent „Schwachsinn“.

Wird eine ansteckende Krankheit festgestellt, kommt er in eine Spezialklinik.
Tuberkulose, Diphtherie, Keuchhusten und Masern sind am häufigsten. Manch einem Ankömmling hat die Quarantäne aber auch das Leben gerettet, vor allem Kindern und Jugendlichen.

Durch die Hände der uniformierten Ärzte und Sanitäter gehen täglich bis zu 12 000 Menschen. Brutal und effizient. In der Kinderstation hängen Schilder an den Wänden „Don‘t kiss the patients!“, eine Warnung, sollten die Krankenschwestern von Mitleid überwältigt werden. Zur Zeit, als Karl Roßmann von Bord gehen wollte, kamen jährlich ungefähr 500 000 Immigranten in New York an. In den dreißig Jahren der Nutzung von Ellis Island trafen zwölf Millionen Menschen ein. Bis zur großen Krise Ende der 20-er Jahre konnte die amerikanische Wirtschaft die fremden Arbeitskräfte leicht aufnehmen. Im 2. Weltkrieg diente Ellis Island als Internierungslager für enemy aliens, die Staatsbürger der Kriegsgegner.

1954 wurde Ellis Island geschlossen und ist seit 1965 ein Museum. Die Auslese der Einwanderer erfolgt seither an den US-Botschaften oder wird ihnen durch ein Präsidenten-Dekret untersagt. Es gibt wahrscheinlich keine andere Stadt der Welt, die so sehr von den Einwanderern geprägt ist wie New York. Der Besuch von Ellis Island mit Hafenrundfahrt zur Freiheitsstatue gehört zu den beliebtesten Touristenattraktionen am Big Apple.

4.
Von all dem ahnten die Passagiere der „Sibylle“ im April 1912 nichts. Karl Roßmann glaubte bei seiner Ankunft noch, dass er direkt vom Pier von seinem steinreichen Onkel Jakob abgeholt wird. Seine Eltern, die ihn als Strafe für eine verwerfliche Tat allein weggeschickt hatten, wussten nichts von dem unerbittlichen System auf Ellis Island. Vom Nadelöhr der Quarantänestation hat keiner der Emigranten etwas gehört und nichts von den undurchdringlichen Gesetzen ihres Sehnsuchtslandes. Die damaligen Schlepper – die Schifffahrtsgesellschaften – gaben aus Gründen der Gewinnmaximierung keine Informationen weiter. Sie füllten ihre Zwischendecks mit so vielen Passagieren, dass die Schiffe gerade nicht untergingen.

Karl Roßmann ist jung und übersteht die Todespassage ohne Schaden, wie er selbst dem Kapitän versichert. Aber er trifft keinen Heizer, keine Köchinnen, keine Kehrer, keinen verbrecherischen Kassier Schubal, keinen Franz Butterbaum, keine Kassierer, keine Schiffsoffiziere, keinen Kapitän und auch erst recht nicht seinen steinreichen Onkel Jakob, den selbsternannten Senator Edward Jakob, der vom Jakob Bendelmayer zum stolzen Amerikaner geworden war. Karl betritt keine von Kafkas Treppen, keine Gänge, Küchen, Heizräume und Kapitänskajüten. Er besteigt keinen Kahn mit Matrosen, die ihn im Auftrag des Kapitäns zusammen mit dem Onkel ans Ufer rudern sollen. Er wird nie in Jakobs Firma aufgenommen, nie im gigantischen Hotel Occidental als Liftboy dienen, auch nie die perverse Sängerin Brunelda kennenlernen und in ihre Dienste treten, nie das „Große Naturtheater von Oklahama“ sehen, nie ein berühmter Hundetrainer werden und auch kein Engel mit Posaune. „Die Idylle von Oklahama“, die Arthur Holitscher in seinem Buch von der Neuen Welt anführt und von der Kafka die falsche Schreibung von Oklahama übernimmt, ist in Wirklichkeit eine Fotografie einer Lynchjustizszene an einem Schwarzen, umringt von vergnügungssüchtigen Weißen.

Weil die Fahrt der „Sibylle“ am Pier von Ellis Island endet, wird er nie seinen Fuß auf Manhattan setzen. Im Labyrinth der Träneninsel verliert sich die Spur des Karl Roßmann. Den Verschollenen können die Verwandten nach einer bestimmten Frist für tot erklären lassen. Er hat von zu Hause ein Mitbringsel im Gepäck, die Tuberkulose. Sein unaufhaltsamer Abstieg von der Fallreep nach Ellis Island wird sein einziger bleiben, und von Amerika hat er nicht mehr gesehen als das falsche Schwert der Liberty.

1.6.17

Veronika Seyr
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