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Das Gehirn des Dmitrij Schostakowitsch

aus den „Russischen Kuriositäten“ von Veronika Seyr

In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht mit der „Operation Barbarossa“ die sowjetische Grenze – für die Menschen der Sowjetunion der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Den damals schon weltberühmten Komponisten Dmitri Schostakowitsch erreichte diese Nachricht als Vorsitzenden der Prüfungskommission in der Klavierklasse des Leningrader Konservatoriums. Ohne Unterbrechung wurde der Wettbewerb weitergeführt, obwohl die ganze Stadt sofort massive Verteidigungsmaßnahmen traf. Später nahmen auch die Professoren und Studenten am Barrikadenbau teil. Anfang August erschienen die ersten deutschen Flugzeuge über der Stadt, es begannen die Bombardierungen und der Artilleriebeschuss. Von da an wurde die Stadt 900 Tage und Nächte bis Februar 1944 eingeschlossen und bombardiert, in der Leningrader Blockade starb fast die Hälfte der Bevölkerung, eineinhalb Millionen Menschen, sie wurden von der Artillerie getötet, verbrannten, verhungerten, erfroren oder fielen Seuchen zum Opfer.

Die allgemeine Mobilmachung wurde angeordnet. Jungen von siebzehn bis zu Männern von sechzig wurden einberufen. Schostakowitsch hatte sich zweimal freiwillig gemeldet, aber er wurde nicht eingezogen. Als die deutsche Luftwaffe begann, Brandbomben auf die Stadt zu abzuwerfen, organisierte das Konservatorium eine Art von freiwilliger Feuerwehr, die während der Angriffe auf den Dächern ausharren musste. Ein Augenzeuge berichtet, wie man Schostakowitsch einen Feuerwehrhelm aufgesetzt und ihm gesagt hat, er soll auf das Dach steigen und sich fotografieren lassen. Die ganze Welt kennt dieses Foto. Es sollte aufrütteln, Leningrad zu Hilfe zu kommen. Der international bekannte Komponist wurde als Sympathieträger für die Sowjetunion eingesetzt. Schostakowitsch war keine zehn Minuten auf dem Dach, trotzdem stand er ab jetzt im Mittelpunkt der sowjetischen Propaganda, die Stalin persönlich orchestrierte und dirigierte.

Am 19. Juli 1941, einen Monat nach dem Angriff, begann er mit der Komposition einer neuen Symphonie. „Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, dem Heldentum unseres sowjetischen Volkes, unserem Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad“, schrieb er auf die Titelseite. Er beging gerade seinen 35. Geburtstag, indem er nicht feierte, sondern fast 24 Stunden ohne Pause an einer neuen Komposition schrieb.
Die Musiksprache dieses Werkes ist stark vereinfacht, was nicht verwunderlich ist, da die Symphonie breiten Zuhörerkreisen die Idee des Kampfes und des Sieges über den Feind vermitteln sollte.

Die Gestalt des Künstlers, der vom Kampf inspiriert, mitten in der Verteidigung eine Symphonie komponiert, war ein großartiges Werkzeug der Kriegsanstrengungen. Außerdem entsprach das nationale Genie ganz und gar der russischen Psyche. Bald schon rankten sich viele Legenden um die Entstehung der 7. Symphonie.
Die abenteuerlichste entstammt aber nicht der sowjetischen Propaganda oder dem russischen Volksmythos, sondern den Forschungen des chinesischen Neurologen Wang Dajue. Er will wissen, dass Schostakowitsch nicht als Feuerwehrmann auf dem Dach verletzt wurde. Als Trümmeraufräumer auf dem Newski-Prospekt soll ihn ein Schrapnell in die Stirn getroffen haben. Die kaum sichtbare Wunde wurde von ihm selbst, der Familie und Freunden als so unbedeutend eingeschätzt, dass sie nicht mehr behandelt wurde als durch einen Kopfverband. Der Splitter blieb aber in der linken Gehirnhälfte, im Cornu inferius des linken Gehirnventrikels, stecken.

Viel später, erst nach dem Krieg, begann er über Kopfschmerzen zu klagen und ließ sich von Ärzten untersuchen. Dr. Wang Dajue pflegte in den 50er-Jahren engen Kontakt mit sowjetischen Neurologen und konnte den Metallsplitter in Schostakowitschs Gehirn mit Röntgenaufnahmen lokalisieren. Wenn er den Kopf nach rechts drehte und leicht abwärts wandte, strömte ihm eine Fülle von Melodien in den Kopf, die er aufschrieb und in seine Kompositionen einwob. Der Fremdkörper habe sein Gehirn stimuliert und mit Gedankenblitzen überflutet, behauptet der Neurologe. Nichts davon ist gesichert außer seine späteren Kopfschmerzen.

Wenn etwas an dieser Legende stimmen sollte, wäre es die unerträglichste Grausamkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Bombensplitter verantwortlich sein soll für die besten Stücke der Weltmusikliteratur.

Es bedarf aber gar nicht der Legende des chinesischen Neurologen, um sich von Schostakowitschs ungewöhnlicher Komponierweise zu überzeugen. Es gibt viele Zeugnisse dafür, die meisten und besten vom Komponisten selbst. Es war 1927, also vierzehn Jahre vor der 7. Symphonie, als er beim Verfassen der Oper Die Nase ins Stocken geriet. Er hatte den ersten Akt unglaublich rasch geschrieben, in einem Monat im Sommer. Nach einer kleinen Pause machte er sich an den zweiten Akt, er schrieb ihn in drei Wochen nieder. Der dritte Akt machte ihm jedoch Schwierigkeiten. Gleichzeitig stieg der Druck, denn das Leningrader Maly-Theater hatte beschlossen, das Werk in das Programm der nächsten Spielzeit aufzunehmen.

In dieser Zeit hatte Mitja einen eigenartigen Traum.
„Ihm träumte, dass der Termin der Premiere seiner Oper Die Nase bereits festgelegt ist und er zur Generalprobe gehen muss. Aber es scheint sich alles gegen ihn verschworen haben. Mitja, der immer genau und pünktlich ist, verspätet sich aus unerklärlichen Gründen. Ob in der Straßenbahn oder im Bus, überall wird er aufgehalten. Endlich gelangt er ins Theater, von Weitem hört er schon die Vorwürfe des Dirigenten Samuil Samossud. Eiligst durchquert er das Vestibül und stürzt in den Saal. Das Orchester probt gerade den dritten Akt. Schostakowitsch setzt sich ganz nach hinten und hört zu, klar und deutlich hört er die Musik des dritten Akts, sieht und hört den Chor und die Sänger … Die Oper endet, der Vorhang fällt, Beifall. Das Publikum ruft nach dem Komponisten … Da wacht Schostakowitsch auf, ganz außer sich. Er läuft ins Nebenzimmer, erzählt den Hausgenossen aufgeregt von seinem Traum und der darin gehörten Musik. Er setzt sich hin und schreibt sie auf. Innerhalb von drei Wochen hat er den dritten Akt fertig komponiert und ihn zu Samossud gebracht.“ (M. Dolgopolow, In: Izvestija 13. 9. 1975, zit. nach Krysztof Meyer. Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, S 117f )

Zu den interessantesten Teilen der Oper gehört das Zwischenspiel zum zweiten Bild. Es ist das erste Musikstück, das ausschließlich für Perkussionsinstrumente geschrieben wurde. Das war damals eine absolute Neuheit. Edgar Vareses Ionisation wurde erst drei Jahres später geschrieben. Angeblich wussten die beiden Komponisten nichts voneinander. Ähnlich überraschend, dass einige Stellen im ersten und zweiten Akt verblüffend an Arnold Schönberg und Anton von Webern erinnern, obwohl Schostakowitsch sie nicht gekannt und nie deren Partituren gesehen hat.

Einen Monat nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion begann Schostakowitsch mit der Arbeit an der 7. Symphonie, der Leningrader. Beendet hat er sie am 27. Dezember 1941, nachdem er im Oktober mit der Familie nach Moskau, später nach Kuibyschew evakuiert worden war. Fünf Sätze in fünf Monaten, und zu welcher Zeit!
Am 17. September 1941 notiert Schostakowitschs Jungendfreund Walerian Bogdanow-Beresowski in seinem Tagebuch:
„Auf seine Einladung hin fuhren wir zu ihm hinaus in die Skorokodow-Straße.

Die enormen Partiturseiten, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, machten den Umfang der Besetzung deutlich. Schostakowitsch spielte uns die neue Symphonie nervös und angestrengt vor. Er bemühte sich ersichtlich, alle Farbnuancen des Orchesters wiederzugeben. Der Eindruck war kolossal. Es ist ein erstaunliches Spiegelbild der gegenwärtigen Zeit, ein Widerschein der äußeren Ereignisse, der in eine sehr komplizierte musikalische Form umgesetzt wurde, ohne in irgendeiner Weise die Gattung zu verflachen. Diese Symphonie ist sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form kühn und unerschrocken, vor allem im ersten Satz mit seiner langen Entwicklung nach der Exposition. (…)
Plötzlich drang von der Straße das gellende Heulen der Sirenen zu uns herein. Der Komponist kümmerte sich nach Beendigung des ersten Satzes darum, dass sich seine Frau und die beiden Kinder in den Schutzraum begaben, er selbst jedoch wollte das Spiel nicht unterbrechen. Begleitet von den dumpfen Explosionen der Flugabwehrkanonen, stellte er uns den zweiten Satz vor und zeigte Skizzen zum dritten Satz, schließlich spielte er alles noch einmal.
Als wir aus dem Petrograder Stadtteil zurückkehrten, sahen wir von der Straßenbahn aus den Feuerschein – eine Spur des zerstörerischen Werks dieser Barbaren der Lüfte. Unter dem Eindruck der Musik und des edlen Pathos der Symphonie verspürten wir die Sinnlosigkeit dessen, was um uns geschah, besonders eindringlich.“

Die Siebente wurde am 5. März 1942 in Kuibyschew vom ebenfalls dorthin evakuierten Orchester des Bolschoi Theaters unter Samuil Samossud uraufgeführt.
Am 22. März 1942 kam das Orchester in Moskau zusammen. Inzwischen hatten die deutschen Truppen die Ukraine, Weißrussland, die Moldawische Republik und das Baltikum in ihre Gewalt gebracht. Immer häufiger flogen sie Angriffe auf Moskau. Dennoch war das Konzert ein großes Ereignis, und nur mit Mühe fanden alle Besucher im Saal Platz. Ein Musikkritiker erinnert sich an die Moskauer Erstaufführung: „Vor Beginn des 3. Satzes trat der Leiter der Flugabwehr neben den Dirigenten. Er hob die Hand und meldete in ruhigem Ton, um keine Panik hervorzurufen, das Einsetzen des Fliegeralarms. Trotzdem verließ niemand seinen Platz, die Symphonie wurde zu Ende gespielt. Ihr mächtiges Finale, das den Sieg über den Feind ankündigt, schuf eine unvergessliche, mitreißende Atmosphäre. Die stürmischen Ovationen gingen über in eine leidenschaftliche Manifestation patriotischer Gefühle und in Begeisterung über das Talent unseres großen Zeitgenossen.“

Die Erstaufführung im belagerten Leningrad fand am 9. August 1942 unter der Leitung von Karl Eliasberg in der Philharmonie statt. Die Musiker wurden zum Teil von der Front geholt, andere aus ihren Kellerlöchern im belagerten Leningrad. Sie waren ausgehungert, ausgemergelt, in Uniformen oder Lumpen. Aber sie spielten die „Leningrader“. Auf Befehl des Kommandanten der Leningrader Front setzte man eine umfangreiche Militäroperation in Gang: Am Tag des Konzerts wurden die Deutschen mit einem wahren Sperrfeuer belegt; 3000 großkalibrige Granaten gingen auf sie nieder.

Danach zog die „Leningrader“ in einem unvergleichlichen Siegeszug um die ganze Welt, und ihr Erfolg hält bis heute an.

Dabei haben sowjetische Komponisten während der Leningrader Blockade insgesamt 192 Werke verfasst, darunter neun Symphonien, acht Opern, sechzehn Kantaten und fünf Ballette. Im Gespräch und im Gedächtnis blieb aber nur die Leningrader Symphonie, die Siebente von Schostakowitsch.

22.7.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 19009

abseits der wunder

Rezension
Conny Hannes Meyer: abseits der wunder. Ein Gedicht
Verlag Bibliothek der Provinz, ISBN: 978-3-902416-98-8

Es muss etwas passiert sein, etwas Schreckliches, eine Katastrophe. Die Welt ist zerstört und unbehaust, ein Schlachthof, die Menschen sind unmenschlich, ein Abschaum wie aus Rattenlöchern, die Sonne ist gefesselt, der Himmel vergittert und flirrend von Fleischfliegen. Ein Mensch wandert durch diesen Trümmerhaufen und schleudert seinen stummen Hass gegen die verschlossenen Türen. Das hohle Tock-Tock des Einbeinsoldaten mit Krückstock schallt durch die versifften Hinterhöfe. Da kehrt einer zurück aus der Apokalypse in eine unerträgliche Gegenwart. Das große Morden ist gerade erst vorüber. Er ist jung und voll Hass auf alles Althergebrachte. Dieses Ich ist aber keineswegs stumm, wie es von sich behauptet, sondern wortgewaltig, wortgewalttätig.

„friedlich hinter bunten butzenscheiben
niedlichen wachsfigurenkrippen
bauernkrügen steinmadonnen elfenbeinkönigen
eisernen streitkolben lederpeitschen reiterpistolen
krummschwertern brustpanzern kettenringhemden dolchen (…)
grünspanige totschlägerorden metzgermedaillen
mordauszeichnungen mit staatswappen
die deckt kein seidenfächer zu
keine gesangsvereinsfahne
zinnerne würfelbecher damenkämme aus japan und zigeunerketten (…)
auf grünem biedermeierstuhl steht steif
die abschiedsbriefkassette
im sanften holztruhmoder weihrauchruch verrostet
und das habt ihr uns hinterlassen
‚zinnsoldaten und massenmord
negerpuppen und rassenhass (.)“

So sieht die Welt des Heimkehrers aus. Aber anders als der Borchardt‘sche Beckmann hadert er nicht mit der Welt und mit Gott, sondern nennt die Schuldigen beim Namen, nennt die, die in die Katastrophe geführt haben und danach nichts davon wissen wollen, nichts einsehen und nicht bereuen, weitermachen und so tun, als wäre nichts geschehen.

Anders als Beckmann, den sogar das Wasser, in das er geht, wieder ausspuckt (Gott will seinen Selbstmord nicht annehmen), den seine frühere Geliebte vor die Tür setzt (ein Einbeiniger ist kein Mann), wehleidig und jammernd nicht in die Gesellschaft zurückfindet, will der Rückkehrer des Gedichts einen Neuanfang mit Kehraus, setzt seine Jugend, seine Kraft und seinen Erkenntniswillen gegen die ressentimentgeladene und weinselige Nachkriegsbarbarei. Er will sein Leben in die Hand nehmen; Lehrlingsausbildung und Studium sind dem elternlosen Nobody verschlossen, er versucht sich als Bauhilfsarbeiter, Textilvertreter, Konsumneuling, Politadept, Armeerekrut. Wegzugehen aus diesem Land, weit weg, irgendwohin auch nur eine Flucht, erkennt er trotz aller Versuchungen, feig wie die der Alten. Er durchschaut die Scheinwelten- und Alternativen und rettet sein kleines Leben in die Phantasie, ins Kino, ins Tanz- und Rausch- und Sportvergnügen. Es wird ihm klar, dass er da überall fehl am Platz ist.

„bleibe allein
alle lachen ich lache mit
aber ich bin nicht froh
alle singen ich singe mit
aber es klingt nicht richtig (…)
gummiwülste auf der zunge
so geh ich zurück
weiß
jetzt habe ich mich entschieden
entschieden
statt zu jammern zu handeln (…)
ab heute will ich misstrauisch sein
fragen und lernen wie nie (.)

Der Heimkehrer ist noch nicht angekommen, aber er hat ein Ziel gefunden.

„eine Zeit kommt
mit kammerkonzerten wilden fragen und gebeugtsein über bücher
voll wissenwollen bildgalerien
taumelnde farben formen ernste gespräche
und das irdische paradies findet noch nicht statt (…)
und keine fahne wird aufgezogen
keine jubelhymne angestimmt aber
die dummheit wird zum todfeind erklärt und
die unwissenheit zur schande (…)
dass die asche der ermordeten verbrannten nicht schreit
und die gekreuzigten nicht immer wieder
immer wieder an das kreuz geschlagen werden
der bombenangstflut wird ein damm gesetzt
und dem schicksal ein denkmal:
hier ruht es
denn wir
wir sind an seine stelle getreten (.)

Das 57-Seiten-Gedicht ist ein langer, großer, wilder Aufschrei, Trommelwirbel, Marschgedröhn mit der Tock-tock-Untermalung des Einbeinigen und der kratzenden Geige des ausgehungerten Hinterhofsängers, sich überstürzende Wort- und Bildexplosionen, eine Symphonie von Feuerwerksraketen, Kaskaden von verräterischen Kleinbürgeraccessoires in tollkühner Zusammenstellung – das Heimkehrer-Ich registriert und zertrümmert alles, voll Hass und Abscheu, aber ohne jemals des Wunsch nach einer anderen Welt aus den Augen zu verlieren mit einem angemessenen Platz darin für sich selbst, bis er ihn gefunden glaubt – im Lernen, Kennenlernen und Nichtvergessen. Dieser Platz wird für den Rest des Lebens das Theater sein. Das ist der Ort, „wo er mitlacht und singt und alles richtig klingen wird“.

Der Entwicklungsroman ist schon lange als Genre eingeführt, ein Entwicklungsgedicht, der Werdegang eines Ich in Gedichtform ein modernes Wagnis, das C.H. Meyer gelungen ist, mit schonungsloser Offenlegung der Nachkriegs- und Wiederaufbaugesellschaft. Übertragbar aber auf jede Epoche, in der die nachstürmende Jugend etwas Neues will, ihren Platz sucht und den alten Moder zerreißt.

Wien, März 2011

Veronika Seyr
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Wir haben Venedig gebaut oder Die Eichen von Orenburg

Erinnern und Nachdenken nach dem Film The Death of Stalin

Von Orenburg habe ich schon in der Schule gehört, als wir im Russisch-Unterricht Puschkins Novelle Die Hauptmannstochter lasen. Geblieben ist eine ferne Erinnerung an eine tragische Liebesgeschichte aus der wilden Zeit des Pugatschow-Aufstandes von 1744. Später habe ich selbst meine Schüler mit dieser Geschichte traktiert, weil es keine klarere russische Sprache gibt als die Puschkins.

Selbst in diese Stadt im Südural bin ich erst Anfang 2000 gekommen, genau genommen am 26. Jänner. Von Moskau aus geflogen mit einer zweifelhaften Maschine der ORENAIR, in Begleitung des Russland-Deutschen Grigorij, im Gepäck fast eine Tonne mit Bücherkisten für die künftige Österreich-Bibliothek. Die Grenzstadt im Südural zeigte sich im prächtigsten Winter mit strahlendem Frischschnee und minus 20 Grad, mit Wind gefühlte 30. Steife Lippen und gefrorene Rotzglöckerl, sofort als ich aus der Maschine aussteige. Der Hauch vor dem Mund gefriert und umflirrt das Gesicht in feinen Flocken wie ein kleiner Schneesturm. Die Kristalle sitzen um meine Fellmütze wie ein Strahlenkranz und verhöhnen mit ihrer Schönheit den letzten Rest von Menschlichkeit. Die Luft ist kalt, klar und schneidend, die Lungen sind im Schockmodus und wollen, wenn sie könnten, sofort wieder ins vergleichsweise warme Moskau zurückfliegen. An das Rot und Blau meiner Nase und Wangen mag ich gar nicht denken.

Das ist das typische kontinentale Klima, neun Monate strenger Winter, drei Monate superheißer Sommer, ohne Übergänge von Frühling und Herbst. Ich bin tief, tief in der Provinz, und da freut man sich noch ehrlich über einen Besuch aus der Hauptstadt, auch wenn es so ein kleines Licht wie eine österreischische Kulturrätin ist. Ich werde wie ein Staatsgast empfangen, zernepfte, gefrorene Blumensträuße in Plastikhüllen mit überschwänglichen Maschen, überreicht von Schulkindern. Nur noch Fähnchen in Rot-Weiß-Rot fehlen. Die Gastkultur der Sowjetunion ist hier noch lebendig. Staatslimousinen, Abordnungen von Regional- und Stadtverwaltung, der Universität, der Bibliothek, des Regionalmuseums und der Vereinigung der Russland-Deutschen „Wiedergeburt“. Der Reihe nach werde ich in diese Institutionen geführt, als Erstes zur Bücherübergabe an die Uni.

Wir hatten für die Österreich-Bibliothek noch keine eigenen Räumlichkeiten und bekamen im Goethe-Institut eine Ecke zugewiesen, wie eine arme Verwandte am Katzentisch. Aber das störte nur mich. Die Menschen drängten herein in die warmen und überfüllten Räume. Alle waren begeistert von den Büchergeschenken, Kunstbänden, Videos, CDs und Zeitschriften, vor allem aber vom reichlichen Buffet. Dort trat ein alter Mann an mich heran und stellte sich als Österreicher vor. Österreichisches Deutsch in Anklängen, aber wackelig und mit Russisch durchsprenkelt. Er sei hier in einem Lager Kriegsgefangener gewesen und nach der Freilassung geblieben, habe eine Russin geheiratet, nun sei er Russe, aber in der Seele Österreicher geblieben. Im Kriegsgefangenenlager 369 „Tschkalow“ mussten Tausende Deutsche und Österreicher unter schrecklichen Bedingungen im Tagbau Salz schürfen. Sie starben wie die Fliegen, schlecht ernährt, schlecht gekleidet, standen sie in den Solelacken bei minus 40 Grad und in glühender Hitze mit Myriaden von Stechmücken.

Das Grenzgebiet zu Kasachstan gehört zu den unwirtlichsten, menschenfeindlichsten Landstrichen der Erde. Ich hörte zum ersten Mal, dass jemand freiwillig in der Sowjetunion geblieben sein soll, dass das überhaupt möglich gewesen ist. Ich nahm mir vor, Grigorij von der „Wiedergeburt“ danach zu fragen. Das Gedränge um mich war so groß, dass ich keine Gelegenheit mehr bekam, mich mit dem angeblichen Österreicher länger zu unterhalten.

Am nächsten Tag wurde ich unter die Fittiche eines anderen Mitarbeiters der „Wiedergeburt“ gestellt. Rustam, ein junger Kasache aus Orenburg, der Germanistik studiert, führt mich durch die im Schnee versunkene Stadt zu dem Obelisken am Rande der Stadt, der die Grenze zwischen Europa und Asien symbolisiert. Eine schmale Holzbrücke über den Or am Zusammenfluss mit dem Ural heißt großspurig „Europabrücke“. Der Ural ist hier im Süden kein Gebirge, nicht höher als das hohe Ufer des Flusses, ansonsten eine Ebene ohne Grenzen und Konturen. Es gehört zu den Besonderheiten Russlands, dass in seinen Ebenen nur eine unermessliche Leere den Raum zu füllen scheint.
Der Schnee erscheint gletscherblau beim Augenstreifen an der Oberfläche, zerfällt aber weiter oben in alle Farben des Spektrums, dazwischen ein kleiner Streifen leichten Nebels.
Das ist der Raum der sibirischen Schamanen. Ein Glücksmoment und gleichzeitig grausam die Erkenntnis, dass ich nicht einmal eine Ahnung von diesem Reich bekommen könnte. Neben mir schnaubt Rustam wie ein Pferd, stößt Atemwolken aus und scharrt mit den Füßen. Er treibt mich weiter. Er startet eine Fotografier-Orgie, Posen mit mir am Obelisken wie ich gleichzeitig Europa und Asien umarme und auf der Europabrücke, einmal da und dorthin blicke. In der Kälte gibt es keinen freien Willen. Dann zurückstiefeln in die Innenstadt, zum Doppeldenkmal von Puschkin und Wladimir W. Dalj, ein dänischer Volkskundler Dahl, die sich hier 1833 getroffen haben. Zwei Granitgiganten auf einem massiven Sockel.

Puschkin hielt sich kurz in Orenburg auf, um den Schauplatz des Pugatschow-Aufstandes in Augenschein zu nehmen. Viel studiert haben kann er nicht in den gerade eineinhalb Tagen, die er in Orenburg verweilte. Orenburg war 1833 eine primitive Soldatensiedlung, hatte keine Universität, keine Bibliothek, kein Archiv. Er wird wohl eine Spelunke mit Soldaten und Zigeunern gefunden haben, in der er seiner Leidenschaft für das nächtliche Kartenspiel nachgehen konnte. Mit den Nachfahren der Aufständischen. Der Sprachwissenschafter und Volkskundler Dalj lebte hier schon seit dem Dekabristenaufstand in der gütigen Verbannung des Zaren. Es gibt schlimmere Orte, eine Gnade, zumindest noch nicht ganz Sibirien, mit einem Fuß in Europa.

Wieder Fotografieren ohne Ende. Ich frage mich, für welches Album? Ich werde auf den verschneiten Schoß des Granit-Puschkin gesetzt und umarme nicht einmal die halbe Schulter von Dalj, Rustam, das Abbild des jungen Dschingis Khans, mit Fell-Uschanka zwischen uns. Ich mit Greta-Garbo-Sonnenbrille unter einem Bojarinnen-Hut aus Karakul im geschenkten Nerzmantel meiner Mutter. Unbesorgt um Tierfelle, die Menschenkörper wärmen, das ist hier kein Thema, darum kümmert sich hier niemand. Alle Tierfellschützer möcht ich mal hierherschicken. Sie sollten einmal anstatt auf der Kärntnerstraße hier demonstrieren und schmieren. Die menschliche Pelzkultur stammt exakt genau von hier. Die Orenburgskije Novosti bringen am nächsten Tag ein Interview und einen reich bebilderten Bericht über meinen Besuch. Ich bin eine Provinzberühmtheit für einen Tag.

Mehr Eiszapfen als Mensch, flehe ich Rustam an, mir weitere Denkmäler von Orenburger Honoratioren zu erlassen. Ich merke, er ist leicht beleidigt, zeigt es aber in asiatischer Gelassenheit nicht. Vorgesehen war noch das Tschkalow-Museum für den legendären Piloten, einen Helden der Sowjetunion, Vorgänger von Gagarin. Tschkalow, da klingelte etwas. Lager 369, hat mir der alte Mann in der Bibliothek zugefüstert. 369-tri-schest-devjat.
Rustam hält die Story des angeblichen Österreichers für ein Märchen. Was soll ich glauben. Wer weiß mehr. Rustam ist 22 Jahre alt und nicht einmal in Lokalgeschichte sattelfest, wie sich noch herausstellen sollte.

Nun war es Zeit für den Museumsbesuch in der Sowetskaja Straße.
Sie verdient im zehnten Jahr nach der Wende noch immer diesen Namen. Einzelne schüchterne Neuanfänge, die aber zwischen den Schneebergen und unter der Kälte nicht großartig daherkommen. Rund einen Kilometer lang, sieht man ihr nur mit viel Phantasie an, dass sie einmal eine Prachtstraße, ein klassizistisches Juwel in einer russischen Provinzstadt gewesen ist, unter Stalins hasserfüllter Abrissbirne aber schwer gelitten hat. So ließ er von 31 Kirchen 30 zerstören, darunter auch alle Moscheen und Tempel. Das Stadtmuseum hat überlebt, es ist in einem imposanten historistischen Palais untergebracht. In der Säulenhalle erwartet mich die Direktorin Galina Sergejewna.
Aus leidvoller Erfahrung fürchtete ich mich vor solchen Führungen: Man kann nicht ansehen, was einen interessiert, und üblicherweise breiten die russischen Museumsführerinnen ihre Schätze in einer unerträglichen Endlosigkeit und Detailliertheit aus. Bis zum letzten Haar von Teufels Großmutter musste man hinschauen, worauf hingedeutet wurde und immerzu bewundern und sich wundern über die vielen Superlative. Die Russen haben ein selbstironisches Sprichwort dafür: Und Russland ist die Heimat der Elefanten.

Genauso war es mit Galina Sergejewna, einer kartoffelrunden, mittelalterlichen Frau in blauer Postleruniform, mit Goldzahnlachen und Karottenhaaren. Sie begann bei der Urzeit mit Mammutknochen, Ascheresten aus der Bronzezeit und petrifizierten Bäumen aus der Gegend um Orenburg. Das waren damals sicher noch nicht Russen, aber die Kontinuität und der Anspruch müssen gewahrt werden. Das Regionalmuseum war im besten Sinne der sowjetischen Museologie aufgebaut, die Entwicklung geht geradlinig zu immer Höherem bis sie deterministisch im ersten Arbeiter- und Bauernstaat ihre Apotheose findet. Dann bekomme ich einen globalen Überblick über die Eichen. Eichen werden ja in aller Welt und zu allen Zeiten geschätzt für die Festigkeit ihres Holzes. Die von Orenburg waren so berühmt, dass die Dogen Venedig auf Pylonen aus Orenburger Eichen stellten. Wumm, das war wirklich neu für mich, und ich versuchte mir vorzustellen, wie der Transport der Eichen aus Orenburg in die Lagune wohl ausgesehen haben mag.

Wir haben Venedig gebaut, zeigt Galina Sergejewna ihr Goldzahnlachen und zwinkert dabei, und es steht noch immer auf ihnen. Wenn welche ausgetauscht werden müssen, kommen die Eichen dafür seit ewigen Zeiten aus dem Orenburger Gebiet.
Die Erkenntnis: Russland klittert zu seinen Gunsten die Geschichte, im Hintergrund immer Großmachtdenken und Überlegenheitsgefühle gegenüber dem Westen, was man auch als ein auf den Kopf gestelltes Minderwertigkeitsgefühl ansehen kann. Ohne uns gäbe es Venedig nicht. So wie jetzt Erdöl und Erdgas.

Der Pugatschow-Aufstand 1774, eine grausame Bauernrebellion, die sich gegen Katharina die Große richtete, steht danach im Mittelpunkt der Ausführungen. Sie breitete sich von Orenburg aus und wütete fast bis vor die Tore Moskaus, die einzige bis zur Revolution, die den Zarenstaat in arge Schwierigkeiten brachte. Die Museumsdirektorin weist mich auf ein Dorf hin, das für die jüngste Verfilmung von Puschkins Hauptmannstochter künstlich aufgebaut wurde und das man gleich vor den Toren der Stadt besichtigen kann.
Rustam, bitte, da will ich hin, geht das? Gleich heute Nachmittag!
Ich bin begeistert.
Du weißt, ich habe eine lange, persönliche Geschichte mit der Hauptmannstochter.
Rustam windet sich.
Das ist nicht vorgesehen im Programm.
Dann ändern wir doch das Programm.

Nichts ist schlimmer, als wenn ein Gast das Programm umwirft. Das durfte bisher höchstens eine Bundespräsidentengattin, und da hat halb Moskau den Kopf geschüttelt.
Sie haben es mühsam zusammengebastelt, und da darf man nicht daran rütteln.
Russen sind nicht so flexibel, da könnte ja ein Missgeschick passieren, und sie, die Kleinen, die Unteren hätten dann den Scherben auf.

Ich kam drauf, dass noch ein anderes Hindernis gab. Vor den Toren der Stadt, das ist für uns eine Distanz in Gehweite oder schnell hin mit dem Auto, so etwas wie gleich um die Ecke, dort drüben, nicht weit. Das Raumverständnis in den Köpfen der Russen ist aber ganz anders gestaltet als bei uns kleinräumigen Europäern. Rustam rückte später damit heraus, dass dieses Filmdorf zwar im Gebiet Orenburg liege, aber circa 1000 Kiometer entfernt sei. Bei der unermesslichen Größe des Landes, die wiederum uns Eurpäern nicht in den Kopf geht, ist das eben gleich um die Ecke, nicht weit. Ein Lehrstück, aber das Filmdorf blieb für mich unerreichbar.

Der zweite Stock war ganz der Gründungsgeschichte der Stadt gewidmet. Als Grenzstadt von Peters Nachfolgern geplant, wurde sie später zum Bollwerk und Brückenkopf zur Eroberung Sibiriens, ursprünglich von Kosaken besiedelt. Den Zaren schwebte ein Sicherheitsgürtel gegen Tataren, Kasachen und Baschkiren – die Kleine Horde – vor. Ihre Weitsicht ging so weit, dass sie produktive Nationalitäten einluden: Wolga-Deutsche, Griechen, Armenier, Balten, Juden.
Nach der Anbindung an das Eisenbahnnetz konnten die reichen Bodenschätze ausgebeutet werden, und auch der Handel mit Vieh und Pelzen brachte der Stadt einigen Wohlstand. Nach dem Überfall der Deutschen wurden viele Industrieanlagen aus dem europäischen Russland hinter den Ural verlegt, auch nach Orenburg, und die Stadt verdoppelte ihre Einwohnerzahl. So kam auch der Cellist Mstislaw Rostropowitsch nach Orenburg und begann hier seine große Karriere. Noch mehr Verehrung wird aber dem ersten Kosmonauten Jurij Gagarin, dem größten Sohn dieser Stadt, entgegengebracht.
Ihm ist das ganze dritte Stockwerk gewidmet. Ich falle fast um vor Langeweile, aber der Shop bietet einige groteske Souvenirs, die ich in Massen einkaufe. So bin ich aufgestiegen von den Mammutzehen zu den Venedig-Eichen und über die Kosaken bis zum Kosmos.

Als Galina Sergejewna und Rustam ansetzten, mich ins nächste Museum zu schleppen – diesmal zu den berühmten Orenburger Spitzenschals aus Jungziegenwolle – begann ich um Gnade zu betteln. Wenn ich heute noch einmal etwas von der Jungziegenwollespitzenhäkelei höre, beginne ich zu schreien und greife anstatt zu puch (Hauch) zur puschka (Schießgewehr).
Nicht dass ich zu wenig aufnahmefähig wäre, aber die Art der russischen Präsentation erfordert mehr Geduld, als ich habe. Oder einen Saumagen.
Die Geschichte als Gemischtwarenladen oder Märchendorf, herauspicken, anmalen, lackieren, ausblenden, leugnen, retuschieren, bis alles ins Bild passt, wie es von oben gewünscht wird. Zum Beispiel die unter Putin in Mode gekommene Stalin-Renaissance. Die Geschichte des Landes dient ausschließlich dazu, sich an ihr zu erbauen, den Patriotismus zu stärken und den Platz in der Welt zu finden, ja sogar die eigene Identität des Individuums. Ein Russe fühlt sich gut, groß und stark, weil er sein Land als solches empfindet. Da haben Fragen und Kritik keinen Platz, die sind persönlichkeitsgefährdend und zersetzend. Das ist einer der größten Unterschiede zu uns, die wir gelernt haben, mit unserer Geschichte kritisch bis neutral umzugehen.

So ist es kein Wunder, dass die Filme Matilda über Zar Nikolaus II. und The Death of Stalin derzeit in Russland verboten sind. Wie ein Land seine Geschichte und Gegenwart reflektiert, ist sehr aussagekräftig. Humor und Satire waren in den kurzen Jahren des Tauwetters unter Chruschtschow weiter entwickelt als im heutigen Putin-Russland. Ja, sogar in dem Parabelroman Meister und Margerita von Michail Bulgakow schimmert die Kritik am stalinschen Totalitarismus durch.

Wieder einmal bekam ich einen Beweis dafür, dass ich keine gewachsene, gelernte Diplomatin war und nie werden würde, sondern die Journalistin in mir stärker war. Die Diplomatin ließ sich willig zur Schlachtbank führen, die Journalistin wollte mehr von dem, was sie interessierte – zwei vollkommen verschiedene Rollen. So fragte ich die Museumsdirektorin auch nicht nach dem 14. September 1954, denn das wäre hochgradig undiplomatisch gewesen. Wenn ich noch Journalistin gewesen wäre, hätte ich mir wahrscheinlich nicht verkneifen können anzumerken, dass so unbedeutende Altkulturen wie die ägyptische oder die keltische das Holz von Eichen, Eiben, Zypressen und Zedern zur Einäscherung der Toten verwendeten, als Zeichen ewiger Hoffnung auf die Auferstehung.
Und nicht zuletzt hätte ich schnippisch zugesetzt, dass der für Isaak ausersehene Scheiterhaufen aus Eichenstämmen bestand.

Mit Rustam dann in einem Café – neurussisch kofischop – auf der Sowjetskaja Straße neben einer neuerrichteten Baptisten-Kirche – die Amerikaner missionieren auf Teufel komm raus – traute ich mich, mit den brennenden Frage herauszurücken. Er hatte sich vorher schon als Umweltaktivist der noch zarten russischen Grünen geoutet. An diesem Morgen des 14. September 1954 um 9 Uhr 35 zündete die Armee am Truppenübungsplatz Totzkoje, 215 Kilometer (gleich um die Ecke, ganz nah!) von Orenburg entfernt, eine Atombombe, abgeworfen von einem Tu-4-Bomber mit der Stärke von 40 Kilotonnen. Hiroshima und Nagasaki mal zwei, ich weiß es nicht. In ihrem Wettlauf gingen die USA und die Sowjetunion in den Frühjahren der Atomkraft damit gleich unverantwortlich um.

Das ist die dritte Erkenntnis. Wie viele Menschen dabei umkamen oder verletzt wurden, ist bis jetzt streng gehütetes Staatsgeheimnis. Um Totzkoje leben aber noch immer Menschen. Aber Rustam, der neugetauft ist und sich in sozialen Fragen engagiert, weiß, dass die Zahl der Erkrankungen im Gebiet Orenburg zweimal höher ist als um Tschernobyl. 1954 – 1976 – 2000. Die zweite, noch akutere Gefahr, kommt daher, dass Orenburg nahe Kasachstan mit rund 2000 Kilometern unkontrollierbarer Grenze überschwemmt wird von Drogen aus Asien. Zusätzlich zum traditionellen Alkoholismus – entsetzliche soziale, gesundheitliche und kriminelle Probleme. Schmuggel, Bandenbildung, Waffen, alles was das drug trafficing so nach sich zieht. Die Miliz und der Grenzschutz sind korrupt und eben kein Schutz.

Ich möchte aber noch einmal in die Vergangenheit zurück und frage nach Sol-Iljezk.
Da strahlt Rustam:
Das ist wirklich nicht weit, nur 70 Kilometer, da könnten wir morgen hinfahren, das ginge sich aus, das lässt sich mit dem Auto machen.
Warum strahlt Rustam?
Er hat das Sanatorium Sol-Iljezk im Sinn, wo in Solebädern allerlei Leiden behandelt und auskuriert werden. Ähnlich wie am Toten Meer. Es ist eine der raren Touristenattraktionen in der ansonsten endlosen, öden, leeren Steppe.
Lieber Rustam, entschuldige, das Sanatorium mit den Salzlacken interessiert mich nicht.
Ich würde gerne wissen, ob etwas von dem GULAG Sol-Iljezk übriggeblieben ist.

Rustam blitzt mich aus seinen Tschingis-Khan-Augen an, zupft an seinem dünnen Schnurrbärtchen und schüttelt den Kopf.
Davon habe ich noch nie etwas gehört. Aber das waren primitive Holzbaracken, die sind längst versunken oder verrottet. Das meiste wird nach Stalins Tod einfach gestohlen worden sein. Warum fragst du? Was interessiert dich dort?

Aus Veröffentlichungen der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial weiß ich, dass der GULAG Sol-Iljezk eines der größten Durchgangslager war, wo die Opfer Stalins vor dem Weitertransport in die sibirischen Lager konzentriert wurden. Mehr als die Hälfte der Häftlinge überlebte Sol-Iljezk nicht, sie starben an Hunger, Kälte, Misshandlungen und vor allem an Typhus.
So auch Carola Neher 1942, die berühmte Berliner Schauspielerin, erste Frau von Klabund, Brecht-Freundin, als Polly Peachum der Dreigroschen-Oper im Pabst-Film ein gefeierter Star, spielt Shakespeare, Schnitzler, Brecht, in Wien einmal Klabund – die schönste Frau Deutschlands, ein neues Role Model in allen Illustrierten. Nach ihrer Flucht in die Sowjetunion 1934 gerät sie in die Fänge des NKWD. Denunziert aus KPD-Kreisen als trotzkistische Verschwörerin, versteht sie nicht einmal die Anklage. Ihr zweijähriger Sohn kommt in ein Kinderheim für Volksfeinde.
Sie wird sechs Jahre durch alle möglichen Gefängnisse und Lager geschleppt und stirbt 1942 in Sol-Iljezk an Typhus. Erst 30 Jahre später erfährt der Sohn über Memorial, wer seine Eltern waren; sie werden rehabilitiert, und mit Unterstützung von vielen deutschen Kulturschaffenden und Zeithistorikern gelingt ihm die Ausreise nach Deutschland. Willy Brandt hat sich persönlich bei Breschnew für Georg Becker eingesetzt.

Rustam kennt diese Geschichte nicht. In seiner Diplomarbeit beschäftigt er sich mit dem Wiener Vormärz. In Orenburg redet man lieber über Mammutknochen und Ziegenwolle, Rostropowitsch und Gagarin.
Es dauerte noch bis zum 5. Februar 2017, bis es dem Moskauer Memorial gelang, an der Krasnoprudnaja Straße 5 eine Tafel in russischer Sprache anzubringen:
Letzte Wohnadresse der Schauspielerin Carola Neher

Sechs Worte, nicht mehr und nicht weniger. Die von Information freie, fast zynische Lakonik lässt auf einen mühsamen Kompromiss zwischen Memorial und der wieder Stalin verherrlichenden Historiografie schließen. Nicht viel mehr als „schmecks“ in sechs mageren, leeren, nichtssagenden Worten. Eine Augenauswischerei, die wütend macht. Wer war Carola Neher? Warum letzte Adresse? Wer hat sie von dort weggebracht? Wann und wohin? Wem soll das etwas sagen? Den Moskauer Passanten?
Carola Neher ist in der Sowjetunion außer in einem deutschen Arbeiterclub nie aufgetreten, nur wenige Exilanten wussten überhaupt von ihrer Anwesenheit, sie gehörte nicht zum inneren Kreis der KPD, sie war naiv und kaum politisiert, hatte schwer zu kämpfen mit dem eigenen Überleben und ihren kleinen Sohn Georg durchzubringen. Ihr Mann Anatol Becker, ein rumänischer Kommunist, wird ganz zu Anfang des Großen Terrors erschossen.

Als Bert Becht 1937 auf seiner Flucht in die USA durch Moskau kam, wusste er von Carola Nehers Verhaftung, setzte sich aber nicht für sie ein. Es ist ein Briefentwurf an Lion Feuchtwanger, der in Stalins Gunst stand, erhalten, den er aber nie abschickte. Diese Menge an Verrat und menschlicher Niedertracht in einer einzigen Biografie! Man muss wahrscheinlich akzeptieren, dass das in jedem Menschen angelegt ist, wenn er Möglichkeit dazu bekommt. Diese Erkenntnis ist niederschmetternd. Nur erinnern hilft. Ein wenig.
Die Mitgefangenen Natalja Ginsburg und Margarete Buber-Neumann erwähnen Carola Neher in ihren Memoiren, setzen ihr ein Denkmal in der Sprache.
Berlin Hellersdorf hat seit 1992 eine Carola-Neher-Gedenktafel, München eine seit 2005 und seit 2017 eine Carola-Neher-Straße.
Es war der dritte Tag in Orenburg, der 28. Jänner, der an russischen Universitäten traditionell als der Tatjana-Tag begangen wird, ein Fest, bei dem sich die Universitäten selbst feiern.
Je nach Lehranstalt mit viel Musik, Literatur, Schauspiel, Tanz, Sport, Party – und Reden, vor allem Reden.

Ich war an der linguistischen Universität eingeladen, und kein Mensch hatte mich gewarnt, dass man mich als „ausländischen Gast aus unserer Hauptstadt“ auf die Bühne rufen würde.
Eine Ansprache halten. Oh Gott, die Russen können das so gut wie keine andere Nation.
Sie glauben ehrlich, einem die größte Ehre zu erweisen und bringen einen damit in schreckliche Verlegenheit. Also, was sollte ich sagen? Weil gerade zuvor ein Studentenchor ein Stück aus der Zauberflöte gesungen hatte, fiel mir Mozarts Geburtstag am 27. Jänner ein. Zu Tatjana fiel mir nichts ein, so gratulierte ich ihnen zum Festtag der Studentenpatronin. Ich bedauerte, dass es bei uns einen solchen Brauch nicht gibt. Und da hatte ich einen Blitzeinfall: Es geht natürlich nicht an, dass sich irgendein lebender Mensch mit Puschkin vergleicht, ich zu allerletzt. Aber einen Vorteil habe ich vor ihm. Er hielt sich nur eineinhalb Tage in Orenburg auf, ich dagegen bin schon den dritten Tag hier.
Tosender Applaus, die Studenten warfen Blumen auf die Bühne, hoben mich hoch und trugen mich auf ihren Schultern zu meinem Platz.

Wien, 10.3. – 2.4.18

Veronika Seyr
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Ein Sommer in Kirchstetten

(vor 45 Jahren, Juni – September 1972, Brodsky bei Auden)

Da steht er und blinzelt unsicher ins Licht am Ende des Ganges. Es ist sommerlich heiß an diesem 5. Juni 1972 in Schwechat. Der Mann trägt einen schweren Wintermantel und auf dem Kopf eine flache Lenin-Kappe. Er ist 1,80 groß, untersetzt, breiter Hals, hohe Stirn, rotblondes Haar, starkes Kinn, ein Gesicht voller Sommersprossen, ein Gesicht, das dominiert wird von großen, tief liegenden Augen. Ein Blick schwer mit der Last des Beobachters, der nicht wegschauen kann. Er hat vor Kurzem seinen 32. Geburtstag gefeiert, gleichzeitig war es ein Abschied für immer.

Ein Mann mit tief gefurchtem Gesicht erwartet ihn und holt den Koffer vom Fließband; es ist ein Köfferchen aus Pappe, nicht schwer, von einem groben Strick zusammengehalten. Gab es einen Handschlag? Eine Umarmung eher nicht. Ein Nicken. Sie kennen sich nicht, erkennen einander aber doch, weil jeder vom anderen ein Foto über dem Schreibtisch hängen hat, der eine in Leningrad, der andere in New York. Beide haben die Gedichte des anderen gelesen und bewundert. Der Schulabbrecher Brodsky hat sich selbst Englisch (und Polnisch wegen Mickiewicz, er hat den sowjetischen Übersetzungen nicht getraut) beigebracht und seine Gedichte ins Englische übertragen. Auden erzählt vom berückend archaischen Englisch seines Gastes, so als hätte er die Sprache der Neuen Welt mit dem Alten Testament erlernt. Auden, seit seinem achtzehnten Lebensjahr mit dem Dichter Christopher Isherwood liiert, ist ein geübter Menschenretter. 1935 hat er, der geborene Brite, Erika Mann geheiratet, damit sie mit einem britischen Pass aus Nazi-Deutschland fliehen konnte.

Wystan Hugh Auden holt Jossif Brodsky von der Aeroflot-Maschine aus Moskau ab. Im Koffer ist nichts als ein bisschen Kleidung, seine Manuskripte hat man ihm am Moskauer Flughafen abgenommen, in der Tasche fünfzig Dollar, die Freunde für ihn gesammelt haben. Mehr hat man dem Ausgestoßenen nicht gelassen. Der junge Dichter aus Leningrad ist eben der Staatsbürgerschaft beraubt und des Landes verwiesen worden, als Erster in einer langen Reihe von missliebigen Intellektuellen und Dissidenten. 1973 Sinjawski/Terz und Etkind, 1974 Solschenizyn und Nekrassow, 1976 Amalrik, 1977 Venzlova, 1978 Sinowjew, 1980 Wojnowitsch, 1981 Axjonow und so weiter und so fort noch bis zu Zeiten Gorbatschows.

Brodsky war 1964 in Leningrad der Prozess gemacht worden; er sei ein „dekadenter bourgeoiser Formalist“, stellte ihn, der erst ein einziges Gedicht von sich abgedruckt gesehen hatte, in eine Reihe mit den ebenso unnützen James Joyce, Marcel Proust und Franz Kafka. Die Schreiberlinge des KGB kannten sich offenbar sehr gut aus. Wie sie sei er eine „Literatur-Drohne“, ein „Sozialparasit, der kategorisch jede gesellschaftlich nützliche Arbeit verweigere, seinen Eltern und dem sowjetischen Staat auf der Tasche liege“, so hetzte die Zeitung „Vetschernij Leningrad“ am 29. November 1963 gegen den Dichter. „Für Brodsky hat Leningrad keinen Platz!“
Neu war gegenüber den Stalin‘schen Prozessen, dass er öffentlich geführt wurde und der Angeklagte sich selbst verteidigen konnte.

Richter: Was ist Ihre Beschäftigung?
Brodsky: Ich bin Dichter.
Richter: Wer hat Sie als Dichter anerkannt? Wer hat Ihnen das Recht gegeben, sich Dichter zu nennen?
Brodsky: Niemand. Wer hat mir das Recht gegeben, dem Menschengeschlecht anzugehören?
Richter: Haben Sie dafür ein Studium absolviert?
Brodsky: Wofür?
Richter: Um Dichter zu werden. Warum haben Sie keine höhere Bildung angestrebt, um etwas zu lernen, um sich vorzubereiten?
Brodsky: Ich glaube nicht, dass Dichten etwas mit Lernen zu tun hat.
Richter: Womit dann?

Brodsky: Ich denke, es ist … eine Gottesgabe.

Dreiundzwanzig Jahre später sollte der „asoziale Parasit“ den Nobelpreis für Literatur erhalten, gerade als Ronald Reagan Gorbatschow the imperia of the evil besuchte.
Er wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, obwohl sich Anna Achmatowa, Schostakowitsch, der Dichter Marschak und der Wissenschaftler Tschukowskij für ihn eingesetzt hatten. Noch nie hat es so etwas gegeben, außer Achmatowa sind dies drei Leninpreisträger. Nach dem Sturz von Chruschtschow und seinem kurzen „Tauwetter“ kehrte die Sowjetunion unter Breschnew und KGB-Chef Andropow zur harten Linie in der Kulturpolitik zurück.
Brodsky wurde zuerst in einem Gefängnis eingekerkert, dann musste er in einem Arbeitslager bei Archangelsk schuften, danach in Sibirien bei minus 50 Grad Bäume fällen und Steine schleppen. Aber der größte Unterschied zu Stalins Opfern war, dass die Außenwelt von ihnen wusste. Die Zeit des Samisdat, der Untergrundpresse, war angebrochen und ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Proteste im In- und Ausland hatten Erfolg, nach achtzehn Monaten wurde Brodsky freigelassen und durfte nach Leningrad zurückkehren. In der Verbannung hatte er eine neue Einsicht gewonnen:

„Wenn wir beispielsweise an all jene denken, die in Stalins Lagern und Gefängnissen umgekommen sind, wenn wir an diese Millionen toten Seelen denken – wo ließen sich da angemessene Gefühle finden?
Können der eigene Zorn, Kummer und Abscheu dieser schwindelerregenden Zahl angemessen sein?“

Was ist zu tun?
„Der Dichter hat nur eine Pflicht, gut zu schreiben, seiner Sprache so zu dienen, wie es seine Sprache verlangt. Poesie ist die sublimierte Form von Sprache. Und es stimmt nicht, wenn Adorno sagt, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich ist. Die Menschen, die in Hitlers Gaskammern gingen, hätten Adorno nicht zugestimmt. Adorno spricht über die Schuld der Überlebenden. Ich glaube, das Opfer votiert für die Existenz der Poesie.“

Auden stopft den russischen Emigranten in seinen VW-Käfer und fährt mit ihm über die Westautobahn in sein Sommerdomizil im niederösterreichischen Dorf Kirchstetten. Im Laufe des Sommers vermittelt er ihn als Professor für Poesie an die Universität Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan, später auch an der Columbia University in New York.
„Ich wollte nicht in Westeuropa bleiben“, sagt Brodsky.
„Wenn schon das Neue, dann wollte ich in das für mich absolut Unbekannte.“

Wer aber war der Regisseur, der den Zeitplan so einrichtete, dass in der Kirche von Kirchstetten gerade das Pfingstfest gefeiert wurde, das Fest, an dem einander die Völker in tausend Sprachen verstanden?

„Komm, Schöpfer Geist“, plärr‘ ich, während Herr Bayer
unsere kargen Spenden sammelt und Pfarrer Lustkandl
still mit dem Opfer fortschreitet. (…)
Im Zwiebelturm oben
läuten die Glocken zur Wandlung, rufen
Österreich, sich zu verwandeln: ob sich die Welt gebessert,
ist zweifelhaft, doch glauben wir, sie könnt‘ es;“

schreibt Auden in dem Pfingstsonntags- Gedicht (Whitsunday in Kirchstetten).

Auden geht mit seinem fremden Gast den schmalen Pfad aus dem Dorf hinaus zum Wald, wo sie durch den Zaun in einen Garten blicken, wo ein anderer Dichter, der Selbstmörder von 1945, begraben liegt,
„wie ein geliebter alter Familienhund.“ (Für Josef Weinheber)
„Jetzt, Nachbarn Tür an Tür, wären
Wir vielleicht Freunde geworden,
Die eine gemeinsame Umwelt
Und die Liebe zum Wort teilten.
Bei einem goldfarbenen Kremser
Hätten wir lange Gespräche
Über Syntax, Kommas und
Versemachen geführt. (…)
Doch hier fühle ich mich zuhause
Wie du einst: dieselben
Geschöpfe stimmen wieder
dieselben sorgenfreien Lieder an.
Schaue ich über unser Tal,
Wo, dem Blick entzogen,
Der Sichelbach westwärts eilt,
Um mit der Perschling sich zu vereinen –
Ein menschlich bescheidenes Bild
Und sanft in den Konturen -,
Bin ich mir bedeutender Nachbarn bewusst,
Die ich verehre: der Berge,
Die hinter mir aufragen, vor mir
des prächtigen Flusses.
Doch möchte auch dich ich ehren,
Kollege und Nachbar,
denn selbst mein englisches Ohr
Entdeckt in deinem Deutsch
Die Meisterschaft und den Tonfall
Eines, dem er vergönnt war,
Das Spiel der Bratschen
Auf umzäuntem Rasen zu hören,
Und dem es spät oblag, den

Abgrund zu nennen.
(im englischen Original auf Deutsch)

Es wird nicht schwer gewesen sein, dem Gast die tragische Verstrickung des nachbarlichen Dichters in die totalitäre Macht und die Zeiten voller Schrecken deutlich zu machen.
Sorgenfreie Lieder anstimmen konnte Brodsky sicher nicht.
Der Dichter war aus seiner Heimat und Sprachheimat verstoßen worden, staatenlos, eine ungewisse Zukunft vor sich, einzig auf einen Dichterfreund angewiesen, hatte seine alten Eltern, seine Frau Marina und ihren Sohn Andrej zurücklassen müssen. Er hatte keine Wahl gehabt, so wie Auden, der ein hintertupfinges Bauerndorf zu seiner zweiten Heimat auserkoren hat, ein geruhsames Pendeln zwischen New York, Oxford und Kirchstetten. Wie mag er das seinem Gast erklärt haben?

Doch hier fühle ich mich zuhause
Wie du einst: dieselben
Kurzlebigen Geschöpfe stimmen wieder
Die sorgenfreien Lieder an,
Obstgärten bleiben dem Regime treu,
das sie kennen, von des Aprils
Rasch aufblühenden Farben
Bis hin zum ungestümen Herbst,
Wenn bei jedem stammelnden Windstoß
Äpfel auf den Boden schlagen.

(Für Josef Weinheber)

Auden konnte es nicht wissen, aber nur ein Dichter kann es ahnen oder prophezeien; der Atheist aus Leningrad wird sich erst im Exil intensiv mit dem Alten Testament beschäftigen.
In der stillen Mortonstreet in Greenwich Village hängt an der Wand über dem Sofa ein Druck mit dem biblischen Motiv, wie Josef dem Pharao seine Träume erklärt. Josef wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft und weissagt dem Pharao die fetten und mageren Jahre, sodass sich das Land entsprechend vorbereiten kann. Josef sagt am Ende zu seinen Brüdern, denen er sich zu erkennen gibt:
‚Ihr gedachtet mir Böses zu tun, Gott aber hat es zum Guten gewendet.‘
Brodsky bekennt: „Ich votiere für die Bibel und insbesondere für den Propheten Jeremias.“
Auch Else Lasker-Schüler hat die Bibel als Spiegel gesehen. Sie nannte sich Prinz Jussuf, sah öfters im Traum König David und führte Zwiegespräche.

Über einen anderen Bezug erzählt seine Mutter: „Während der Bombenangriffe auf Leningrad suchten wir immer Zuflucht in einer Kirche. Jossif schlief dann immer in einer Kiste, in der sonst die Bittschriften der Gläubigen lagen. Mit vier Jahren hat er lesen gelernt, und mit fünf hat er mir Puschkin vorgelesen.“
Haben sie sich über Politik unterhalten? Hat Auden seinen jungen Kollegen nach dem Gulag gefragt, nach den Unterschieden zwischen Ost und West, nach Solschenizyn? Man kann es nur vermuten, aber eher verneinen. Es werden wie mit dem Nachbarn eher das Komma, die Syntax und die Verse beim goldfarbenen Kremser gewesen sein.
Hoffen heißt die Zukunft dementieren und sich als Einzelner in der Gegenwart zu bewähren.
„Ich weiß, dass ich vor dem Abgrund steh.
Und mein
Bewusstsein kreist gleich einem Schaufelrad
um seine Achse, die unbiegsam ist.
Keine Einsamkeit nämlich schmerzt mehr
als die Erinnerung an Wunder.
Grad so kehrt ins Gefängnis zurück, wer darin schon gewesen,
und die Tauben – zur Arche.“

Ja, so ist es. Amen.

Meinungen über den Westen und Vergleiche mit dem Osten hat Brodsky erst später geäußert, und immer vorsichtig. Der Kommunismus ist nach der Ansicht des Dichters im Exil mehr Menschen auf dem Gewissen als das aus dem Christentum erwachsene kapitalistische System.
„Sogar das, was die Nazis getan haben, ist im Vergleich mit dem, was Stalin und seine Erben praktiziert haben, ein Kindergarten.“
Was hätte sein Gegenüber wohl dazu gesagt?
Vielleicht hätte er ihm die Geschichte erzählt, als er mit sieben in der Bibliothek seiner Leningrader Schule ein Anmeldeformular ausfüllen musste. Eine Spalte fragte nach der Nationalität.
„Ich wusste ganz genau, dass ich Jude war, aber ich sagte der Bibliothekarin, ich wüsste meine Nationalität nicht. Mit einem süffisanten Spottgesicht schickte sie mich nach Hause zu meinen Eltern, die wüssten‘s schon.
Die wahre Geschichte des menschlichen Bewusstseins beginnt mit der ersten Lüge. Meine erste Lüge hatte unmittelbar mit meiner Identität zu tun, kein schlechter Anfang.“

Oder von seinem Vater. Brodskys Vater war Fotograf. Er diente im Großen Vaterländischen Krieg in der Marine. 1949 musste er sie verlassen, Stalin zettelte eine neue Judenverfolgung an, als er jüdische Ärzte als Verschwörer aburteilen ließ. Mit dem Antisemitismus konnte man auch nach Hitler noch etwas machen.

Vielleicht hat ihm der Gastgeber von seinem Faktotum, der resoluten wie verlässlichen Haushälterin Emma Eiermann erzählt oder die Elegie vorgelesen, die er ihr gewidmet hat.

Du warst inbegriffen in das Haus,
du und dein Bruder Josef,
Sudetendeutsche,
zu heimatlosen Bettlern geworden, als die Tschechen
an die Reihe kamen, brutal zu sein.

Und vom Landarzt Dr. Walter Birk, der nach 45 Jahren in den Ruhestand ging.
Wenn der Sommer hereinplumpst, werden die Spatzen
piepsen im breiten Kastaniengeäst
nah deinem Haus, doch keiner wird fragen
„Ist Dr. Birk da, dass er mich höre?“

Ganz sicher hat er es nicht versäumt, dem Gast den Friedhof neben der Kirche zu zeigen, mit einer Bank am oberen Ende unter einer Linde, wo er zu sitzen und über in die reiche Bauernlandschaft zu schauen pflegte. Diesen Platz liebte er besonders, nannte ihn seine „heimatliche Insel“, der Brite aus York. Nicht wissend, dass er ein Jahr später die Äpfel nicht mehr auf dem Boden aufschlagen hören, sondern hier unter einem schmalen Blumenbeet und einem schmiedeeisernen Kreuz seine ewige Ruhe finden würde.
Brodsky verbrachte seine Uni-Ferien in Rom und Venedig. Seit 21 Jahren liegt Brodsky auf dem Friedhof San Michele in der Lagune. So hat jeder seine Insel bekommen.

9.8.17

  • Gedichte und Übersetzungen entnommen aus „Gedichte – Poems“, Hrsg. Wolfgang Kraus, Europa-Verlag, Wien 1973
  • Brodsky-Zitate aus: Jürgen Serke. Die verbannten Dichter. Albrecht Kraus Verlag, Hamburg 1982

Veronika Seyr
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Lobio und Chatschapuri

Kaukasus in Wien

Auf meiner Straße machen in letzter Zeit immer mehr kleine Restaurants auf, die von Ausländern geführt werden, exotische Küche oder sonst eine Spezialität haben. Die Welt zieht ein unter die Lindenallee von Wieden. Eine brasilianische Tapioca, ein Allergikercafé, ein veganes Lokal, eine kroatische Mini-Eisdiele will es aufnehmen mit dem berühmten Il Giardino, ein junger Vietnamese mit den alteingesessenen Chinesen. Das Neueste ist ein georgisches Restaurant, das mich besonders anzieht. Geworkian, Sohn des Georg, nennt es sich. Im Vorbeigehen lese ich jedes Mal die Speisekarte auf den schwarzen Tafeln, aufgeschrieben mit Kreide in lateinischer Schrift, aber mit geschwungenen Buchstaben, die an die georgischen erinnern. Die Rundungen und Kringel nach oben und unten sind liebevoll ausgemalt, rot und grün, die Landesfarben. Ich finde das einladend und heimelig, weil ich mich ja viel in Georgien aufgehalten habe, in Moskau oft im Restaurant Tiflis zu Gast war und schon lange einige ausgewählte georgische Gerichte nachkoche.

Meine Gäste sind immer begeistert von meinem Lobio, einer frugalen Paste aus roten Bohnen, dem Chatschapuri, dem berühmten Käsebrot, oder dem Sazivi, einem Hühnchen in einer Sauce mit ungefähr dreißig Gewürzen, Butterbergen, Obersflüssen und Tonnen von Walnüssen. Die gefüllten Auberginen Gozinaki gelingen immer, und auch die süße Nachspeise Chinkali kommt gut an, bei denen, die dafür noch Platz haben. Viel Butter, viel Obers, Kräuter ohne Zahl und Namen und Nüsse, Nüsse und noch einmal Nüsse. Kein Gericht ohne Nüsse. Wer von Nüssen schlechte Haut oder Verdauungsprobleme bekommt, sollte vorsichtig sein. Wir hier kennen ja nur den einen oder anderen vereinzelten Nussbaum in einem Garten oder am Wegesrand. Aber wer die Nussbaumwälder auf den unteren Abhängen der Kaukasusberge gesehen hat, die Düfte, die von ihnen ausgehen, gerochen hat, die Wundermeldungen von der Wirkung ihres Schnapses oder Medizinen gehört hat, versteht die Nuss-Vorherrschaft in der georgischen Küche.
Sogar manche Weine schmecken leicht nussig. Nach ihrer Religion und ihrem Wein steht wahrscheinlich die Nuss an dritter Stelle ihrer Identität. Vielleicht gehört die Musik noch davor.

Ich höre mir die Lobeshymnen der Partygäste gerne an und denke mir: Naja, einigermaßen gut, den Rest behalte ich für mich. Nur ich weiß, dass die Gerichte ein ferner Abklatsch der georgischen sind, weil wir hier nicht die aberhundert Kräuter des Kaukasus haben. Einzig mit dem auch bei uns heimischen Koriander kann ich meinen Speisen einen fernen Anklang der georgischen Küche geben.

Wenn Geworkian auch noch die Weine aus Kachetien servierte, müsste das eine Dependance des Himmelreichs auf Erden sein. Obwohl die ausgehängte Speisetafel einladend wirkt, spüre ich eine eigenartige Scheu, das Lokal zu betreten. Ich fühle mich angezogen, trotzdem fürchte ich mich davor, die Schwelle zu übertreten. So luge ich nur durch die Fensterscheibe oder schaue dem Treiben im kleinen Schanigarten unter den Linden zu.
In der winzig kleinen, offenen Küche werkt ein älterer Mann mit graumeliertem Knebelbart und einer hohen, weißen Mütze. Ausgeprägtes Profil, ein Kaukasier, stellt mein schneller Blick fest. Aber warum eigentlich? Kann nicht ein Grieche, Türke, Italiener, Bulgare oder Mazedonier genauso aussehen? Ist mein Blick rassistisch? Hat man nicht in unseliger Zeit von einer „kaukasischen Rasse“ gesprochen?

Der Koch hebt den Blick vom Tisch auf und schaut mich direkt an, offen und klar, aber nicht einladend. Nicht das geringste Anzeichen von Lächeln, nicht in den Mundwinkeln, nicht in den Augen. Sie sind wimpernlos und starr, er scheint nichts zu sehen, irgendwie abwesend und entrückt. Serviert werden die Gerichte in vielen appetitlichen Schüsseln und Schälchen mit den typisch georgischen Blumengirlanden in Rot und Grün von einer jungen Kellnerin, die ihre natürliche Schönheit auf dem Laufsteg oder vor der Kamera zur Geltung bringen könnte. Vielleicht kommt sie von dort und verdient hier nur ihr Taschengeld. Warum gehe ich nicht hinein? Ich habe doch keine Illusion, dass mein Lobio, Chatschapuri und Sazivi auch nur annähernd so schmecken wie im Kaukasus.

Dann will es einmal der Zufall, dass ein Freund mich zum Essen einlädt, und er schlägt eben dieses Lokal vor, weil er in einer Programmzeitung davon gelesen hat. Ausgezeichnet, sensationell, überschwänglich schreibt der Restaurantkritiker, ein absolutes MUST, echt, typisch Kaukasisch. Blödmann, wie kann der denn wissen, was echt und typisch ist? Ich mache noch einen schwachen Versuch, meinen Freund auf den neuen Brasilianer gegenüber umzulenken. Hör auf, wenn etwas brasilianisch heißt, kann es nicht gut sein, denn dort gibt es hundert Küchen. Er hat Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern gelebt, also werde ich ihm glauben und mich zum Georgier schleppen lassen. Dazu muss ich noch erklären, dass mein Freund früher Koch war und sich für alle Küchen der Welt interessiert.

Ein prachtvoller Maitag, die Linden haben zu blühen begonnen und hüllen die Straße in eine süße Duftwolke. Wie durch ein Wunder kann sie sich gegen die Autoabgase durchsetzen, und die Luft weht in Honigwellen durch die Straße.

Wir lassen uns im Schanigarten unter einem zitronengelben Sonnenschirm mit der lieblichen georgischen Girlandenschrift nieder, und ich erkläre meinem Freund die ihm unbekannten Gerichte. Wir stellen einen Querschnitt durch die kaukasische Küche zusammen und bekommen von der Schönheit ein Dutzend Schälchen auf den Tisch gesetzt. Mein Freund will Bier, es gibt nur heimisches, ich bestelle einen Zinandali, den georgischen Weißwein, den ich dort gern getrunken habe. Angeblich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwilis Lieblingsweißer. Bei uns würde man ihn Gewürzwein nennen, aber er ist von der Natur angereichert durch die vielen Blumen und Kräuter der kaukasischen Erde. Die Georgier rühmen sich ja, dass sie die Erfinder des Weines sind, vor 7000 Jahren, lange vor den Griechen und Römern.

Wahrscheinlich ist es diese spontane Bestellung eines Zinandali, die den Koch auf mich aufmerksam macht. Er verlässt seinen Arbeitsplatz, stellt sich in den Türrahmen und lässt den Blick schweifen, als würde er die Straße rauf- und runterschauen. Ich bemerke aber, dass er mich im Visier hat. Hat er mich wiedererkannt als die seltsame Passantin, die schon oft bei ihm stehen geblieben ist und reingeglotzt hat? Er lässt sich nichts anmerken, sein Blick ist wie immer offen und leer, und so kann ich nur weiterrätseln.
Da mein Freund auch Fotograf ist und nie ohne seinen Rucksack voll mit Kameras auf die Straße geht, bleibt es nicht lange aus, bis er die Schönheit fragt, ob er sie fotografieren darf. Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln wie die aufgehende Sonne am Kazbek. Sie scheint nicht scheu zu sein und sich ihres blendenden Aussehens bewusst. Sie posiert nicht, sondern arbeitet weiter, geht aus und ein, serviert und räumt ab, bringt Gläser und Schälchen, kassiert, wischt die Tische ab und richtet die Sonnenschirme aus.

Mein Freund ist absolut glücklich, weil er am liebsten Menschen bei ihren natürlichen Tätigkeiten fotografiert, also keine Porträts oder Posen. Man müsste sie eigentlich filmen, denke ich laut, ob man denn die Anmut ihrer Bewegungen in Fotos wiedergeben kann. Na, wart nur, das ist eben die Kunst des Fotografierens, genau das in einem Bild einzufangen. Er hat recht, ich kenne viele Fotos von ihm, die tanzende, kämpfende oder religiösen Ritualen nachgehende Menschen darstellen. Habe einige gerahmt und bei mir aufgehängt.

Als der Koch wieder in die Tür tritt, fragt mein Freund mit Gesten auch ihn um die Fotografiererlaubnis. Der schüttelt leicht, aber bestimmt den Kopf und verschwindet wieder in der Küche.
Oje, fragt mein Freund erschrocken, hab ich was falsch gemacht?
Nein, er dürfte etwas eigen sein, und erzähle ihm von meinen früheren Beobachtungen.
Als wir fast schon aufbrechen wollen, kommt der Wirt mit einem Tablett heraus, auf dem drei Gläser und eine Flasche mit rotem Kindzmarauli stehen. Er hat Schürze und Kochmütze abgelegt und setzt sich ohne Einladung zu uns. Obwohl sein Gesicht in seiner Faltenlosigkeit jung wirkt, hat er schlohweißes Haar, gewellt und hinten zu einem Zopf gebunden. Ein Gespenst.

Darf ich Sie zu einem Glas einladen?
Aber gerne, ich bin überrascht, mein Freund begeistert. Er liebt es, Zufallsbekanntschaften zu machen.
Der Wirt öffnet die Flasche, gießt die drei Gläser voll mit rubinrotem Gefunkel und wendet sich unmittelbar an mich:
Entschuldigung, kann es sein, dass ich Sie schon einmal gesehen habe, früher?
Ja natürlich, ich wohne nebenan und komme oft bei Ihnen vorbei.
Nein, das meine ich nicht, früher, viel früher.
Sein Deutsch hat einen Akzent, ist aber ansonsten nahezu perfekt.
Wie denn, Sie haben doch erst vor einem Jahr hier aufgemacht.
Langes Schweigen mit gesenktem Kopf.
Waren Sie einmal im Kaukasus?
Ja, oft, hauptsächlich in Georgien, aber auch in Armenien, in Jerewan und Umgebung, am Sewansee und …
Ich merke, wie der Mann aufgeregt wird und schwer zu atmen beginnt.
Vielleicht auch in Leninakan? Er haucht es mehr, als dass er den Namen ausspricht.
Ja, auch in Leninakan, im Jänner 1989, kurz nach dem Erdbeben. Ich war beim ORF und …

Jetzt springt der Mann so heftig auf, dass der Stuhl umfällt, und er flüchtet in der Küche.
Oh Gott, was hat ihn so verärgert?
Die aufmerksame Kellnerin eilt herbei und legt den Finger auf die Lippen.
Bitte, nicht davon reden, bitte!
Aber, aber, stottere ich, er hat mich doch selbst danach gefragt …
Ja, aber Le-ni-na-kan nicht aussprechen, das verträgt er nicht.
Soll ich denn leugnen, dass ich als Jounalistin nach dem Erdbeben vom 7. Dezember 1988 mit einer Hilfslieferung mitgeflogen bin und davon berichtet habe.

Auch ich habe das nie vergessen, diese vollkommen zerstörte Stadt, alle Dörfer in einem weiten Umkreis komplett entvölkert und dem Erdboden gleichgemacht, unvorstellbare 25 000 Tote. Jeder fünfte Einwohner.
Die Österreicher hatten Geld gesammelt und mehrere Flugzeugladungen mit Fertigteilhäusern mitgebracht. Rasch wurde ein Modellhaus aufgebaut und eine Tafel darangehängt – Mozartstraße, so soll sie heißen, und in dem Österreich-Dorf werden noch eine Schubert-, Haydn-, Beethoven- und Mahlerstraße folgen. Was ich jemals gedreht habe, vergesse ich nie wieder.
Ein Kinderchor sang für die Gäste ein Lied aus der Zauberflöte, das der drei Knaben. Sie zitterten und hatten blaue Lippen. Es war Jänner, und die Stadt liegt auf 1600 Metern, rundherum verschneite Drei- und Viertausender.
Ein kleines Mädchen überreichte mir einen Blumenstrauß in Plastikfolie. Wo haben sie denn den her in dieser Wüstenei?

Reden wurden gehalten, auf einem schnell gesäuberten, vollkommen leeren Platz, früher einmal der Hauptplatz von Leninakan, flüchtig eingeebnet, an den Rändern die Berge von Ruinen, an einigen Stellen von Planen spärlich verdeckt, überragt von der zerstörten Erlöserkirche. In der strahlenden Wintersonne sieht alles besonders grausig und gespenstisch aus. Ich erinnere mich, wie es mich geschüttelt hat, nicht nur vor Kälte.
Als ich mich von den hiesigen und heimischen Honoratioren absetzen konnte, schlich ich mich hinter eine der Stoffbahnen.
Ich hatte den aberwitzigen Plan, eine Handvoll Erde aufzusammeln und sie für Arnak nach Wien mitzunehmen. Der Mann meiner Freundin J. war Armenier aus der ägyptischen Diaspora, hatte aber nie einen Fuß ins Land seiner Vorfahren gesetzt. Ich wollte eine Vase kaufen und sie anfüllen. Dabei wusste ich, dass das ein Sakrileg war. Kein Mensch durfte auch nur ein Krümel von armenischem Land entfernen, im Gegenteil, jeder Besucher sollte ein Säckchen Erde mitbringen, um es zu vermehren.

In armenischen Häusern werden die Schuhsohlen abgebürstet, der Staub und die Krumen aufgesammelt und ausgestreut.
Ich hatte mich niedergehockt, um schnell etwas Erde zusammenzukratzen, da stand plötzlich ein kleiner Junge vor mir und schaute mich mit großen Augen an. Er war vielleicht zehn Jahre alt, hatte aber schlohweisses Haar, das einen Greis aus ihm machte, ein Gespenst in Bubengestalt. Ich hatte meine Manteltasche schon mit Erde angefüllt und lief unter seinen stummen Blicken schnell wieder zu meinem Team zurück.
Die Bilder standen wieder vor mir, als sei es gestern gewesen. Ich kann nichts machen, mein Hirn ist so gebaut. Schnell stürze ich das Glas Kindzmarauli hinunter und will meinen Freund aus dem Lokal ziehen.

Da kommt der Wirt zurück und entschuldigt sich.
Ich brauchte ein Glas Wasser, heiß heute.
Ich sehe aber, dass er nicht nur Wasser getrunken, sondern sein Gesicht, Hals und Nacken bewässert hat.
Er setzt sich wieder zu uns, gießt noch eine Runde ein und beginnt stockend zu erzählen.
Er hat ins Russische gewechselt.
Ich war drei Tage und drei Nächte verschüttet, in unserem Haus in Leninakan.
Man hatte schon aufgehört zu suchen. Alles war so zerstört, dass man keine Überlebenden mehr unter den Trümmern vermutete. Aber ich wurde doch noch gerettet, unser Hund hat mich erschnüffelt. In dieser Zeit sind meine Haare weiß geworden und ich konnte nicht mehr sprechen.
Meine ganze Familie ist umgekommen, zwei Schwestern, die Eltern und Großeltern. Ich kam zu den anderen Großeltern nach Tbilisi, dort bin ich aufgewachsen und habe den Schulabschluss gemacht. Zuerst haben sie mich zu einem Schuster gesteckt, da muss man nicht sprechen.

Nach zwei Jahren bin ich ausgewandert, zuerst nach Deutschland, und dann hab ich mir ganz Europa angeschaut. Ich hab nicht Koch gelernt, aber mir alles von meiner Großmutter abgeschaut. Kochen kann man wie Schustern, auch ohne zu sprechen. Jetzt bin ich schon zehn Jahre in Österreich, in Wien, hab immer irgendwo gekocht, das ist mein erstes eigenes Lokal, im Freihausviertel, um die Ecke der Mozartbrunnen und das Papagenohaus. Das ist mir wichtig. Ja, und die Linden, die auch. Wie in Tbilisi.
Er senkt den Blick zu Boden und fährt sich über die Augen.
Und die deutsche Sprache, Sie sind ja perfekt!
Neinnein, wehrt er ab, wieder auf Deutsch.
Wissen Sie, ich habe viele Jahre immer nur zugehört. Wenn man selbst nicht spricht, kann man alles besser speichern.

Noch einmal geht er zurück ins Lokal und kommt mit einer Flasche Ararat Nr. 7 zurück.
Der beste Cognac der Welt, den müssen Sie probieren.
Die bauchige Flasche mit den sieben Medaillen der Pariser Weltausstellung von 1913.
Oh, Gott, und das am frühen Nachmittag!
Widerspruch ist zwecklos, der kaukasischen Gastfreundschaft kann man nicht entrinnen.
Mein Freund, ein Kenner und Genießer, ist im siebten Himmel.

Einmal hab ich im Theater an der Wien die Zauberflöte angehört, und bei der Arie mit den drei Knaben habe ich plötzlich mitzusingen angefangen. Die Leute rundherum haben mich angestarrt und pschschtt gezischt, aber das war mir wurscht, ich habe geweint. Da war der Bann gebrochen, eine Erlösung, seither kann ich wieder sprechen. Das Einzige, was mir von Leninakan geblieben ist, ich kann meine Augen nicht mehr schließen.

Wien, Pfingstsonntag, 20. Mai 2018

Veronika Seyr
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Wie das Blut in die Orange kam

Ein Marmeladenmärchen

Auf der Halbinsel Krim wachsen seit Menschengedenken Orangen und Granatäpfel friedlich nebeneinander. Wie auch Mandarinen, Oliven, Weintrauben, Kirschen, Äpfel, Birnen, Feigen, Pfirsiche, Marillen, Nüsse, Mandeln, Pistazien, Physalis, Quitten, Erdbeeren und all die anderen Früchte und Kräuter. Schon den alten Völkern galt die Krim als ein Garten Eden. Aber es gab einmal eine schlimme Zeit. Die Orange und der Granatapfel gerieten in Streit darüber, wer die schönste Frucht sei, die älteste, die köstlichste, die echteste, die nützlichste, also die Urfrucht, die Urmutter oder der Urvater der Krim. Alle Obstsorten schlossen sich entweder der einen oder der anderen Partei an, und so spaltete sich die vermischte Fruchtgemeinschaft in zwei verfeindete Lager. Gegenseitige Unabhängigkeitserklärungen da und dort. Sie rissen einander die Wurzeln aus und vertrieben die anderen. So begann der sagenhafte Obstkrieg, an dem die Krim fast zugrunde gegangen wäre.

Was hatte zu diesem Streit geführt? In den Tälern zwischen dem Karadag, Ai-Todor und Ai-Petri hatte sich herumgesprochen, dass sich die Tatarenprinzessin Liwadija-Oreanda zur Hochzeit das schönste Obst der Krim wünschte. Wer sich zur Wahl stellte, sollte in den goldenen Palast von Bachtschissarei kommen. Ihr Bräutigam, der junge Khan Tschufut-Kale, hat sich als Geschenk das schönste Tier gewünscht. Der weiße Hirsch machte das Rennen, die Tiere waren klüger gewesen und hatten den Wettstreit friedlich entschieden.
Unter den Früchten glaubte sich die selbstbewusste Orange persönlich angesprochen und machte sich mit ihrer Gefolgschaft auf den Weg zum Palast. Der Granatapfel fühlte sich immer schon als der König der Früchte und hatte die selbe Idee. Aber im Tal des Ai-Todor kam es zu einem Zwischenfall. Die Orange traf auf den Granatapfel, beide hatten viele Anhänger um sich geschart. An der engsten Stelle, beim Wasserfall Ajudag am Abhang des Ai-Petri trafen die beiden Heere aufeinander. Die Schlucht des Ajudag ist hier so schmal und wild, dass keiner an dem anderen vorbeikommt. Eine Schlacht scheint unausweichlich.

Die Orange baut sich am Rande des Felsbeckens auf, in das der Wasserfall stürzt und ruft kämpferisch:
– He, du hässliche Lederhaut! Du Fetzenschädl! Komm her, trau dich! Wie kommst du dazu, dich für die schönste Frucht zu halten? Du wächst auf einem struppigen Besenstrauch oder höchstens auf einem Krüppelbaum in schlechter Erde und blühst völlig unscheinbar. Du schaust nicht viel mehr gleich als eine Heckenrose. Nicht einmal die Esel mögen deine Blätter rupfen! Höchstens die Kojoten pinkeln an deinen Stamm. Was ist das gegen die Schönheit meines Wuchses und meiner Blätter, und erst der himmlische Duft meiner Blüten! Mit mir träumt sich die halbe Welt in den Süden. Ich bin das Symbol ihres Südens, ich bin ihr Süden! Deine Haut ist ungenießbar, und innen bestehst du nur aus bitteren Fasern und Körndlzeug. Die kann man nicht beißen und nicht schlucken. Zum Auszutzeln zu sauer, nur zum Ausspucken. Pfui Teufel, du bist zu nichts nutze. Wie kannst du dir nur einbilden, dass die Prinzessin gerade dich wählen wird?

Der Zickenkrieg ist voll entbrannt.

Darauf der Granatapfel, auch nicht mundfaul:
– Na, red nicht so einen Blödsinn! Deine Schale mag niemand essen, nicht einmal die Tiere. Die lassen dich liegen und auf der Erde verrotten. Schönheit, pah, zu deiner eingedellten, grieseligen Haut sagt ja die ganze Welt Orangenhaut oder so grauslich medizinisch Cellulite. Manche halten das gar für eine Krankheit und lassen sich operieren, absaugen und implantieren. Damit wirst du bei der jungen, schönen Prinzessin nicht ankommen. Dein Fleisch ist zu sauer, als dass es ein Genuss wäre, weder auf der Zunge noch am Gaumen.
Immer und überall nur von Säure verzogene Gesichter. Und erst die Mühen des Abschälens. Brrrr, wie schmutzig und klebrig man sich da die Finger macht. Deswegen nehmen dich die meisten mit einer Maschine aus und sind nur hinter deinem Juice her. Hahaha, und von Kernen musst gerade du nicht reden. Alle suckeln nur darum herum und spucken. Wie unappetitlich! Mit meinem Saft dagegen haben schon die ältesten Völker ihre Stoffe, Felle und Häute gefärbt. Und die Höhlen ausgemalt. Hach, du mit deinem armseligen Vitamin C, ich habe alle diese Vitamine von 1 bis 12 und einige noch von A bis D. Und noch viel mehr!
Mit meinem Saft im Magen kann man essen und trinken, so viel man will, ohne satt oder betrunken zu werden.

Jetzt sind sie sich gleich an Beschimpfungen und Beleidigungen.
Unter den Anhängern der beiden kommt es in der engen Schlucht zur Unruhe und zu einem argen Gedränge. Für wen sollten sie sein? Und warum? Sie fuchteln mit ihren Waffen, schreien so wild bravooo oder buuuhh, dass sie durcheinander kullern und die sensibelsten unter ihnen schlimme Dellen abkriegen. Die kleinen, weichen Erdbeeren und Kirschen gehen als Erste unter, dann die zarte Physalis, die Mandeln werden am Boden zertreten, Marillen, Feigen und Pfirsiche, alles kugelt übereinander und zerquetscht sich aneinander. Äpfel und Birnen werden zwischen den griechischen Walnüssen und Melonen zermalmt. Nur die holzharte Quitte übersteht das Gemetzel einigermaßen unbeschadet. Aber die will ohnedies niemand, so kollert sie ins Abseits und bleibt am Grund des Beckens liegen. Ein grässlicher Anblick, dieses Schlachtenbummlergetümmel! Zermatschkert alles. Schon liegt Fäulnis in der Luft. Die Lage wird so bedrohlich, dass abzusehen ist: Wenn alle zusammen zu einem ungenießbaren Mus werden, genießen das nur noch die Wespen und Schmeißfliegen.

Der Granatapfel rückt bedrohlich näher, aufgeblasen in seiner Lederhaut und die verblühte Krone spitz aufgerichtet wie der Kamm eines Kampfhahns. Er versucht, die Orange zum Wasserbecken zu drängen und stößt immer wieder mit seiner Kampfkrone auf die Orange ein.
Noch eine Runde.
– Ätsch, und schwimmen kannst du auch nicht. Du saufst dich voll und gehst unter. Dann kommt nur noch der Hai für dich in Frage. Und der schluckt dich auch nur, weil er dich für eine Plastikflasche von Frucade hält. Das war‘s dann mit Bachtschissarei.
Er lacht höhnisch.
– Ich mit meiner Lederhaut, ja genau deswegen, kann einen ganzen Ozean überqueren und noch immer trocken an Land gehen. Die Indianer und Maori haben mit mir Fußballweltmeisterschaften gespielt. Und gewonnen, schau, ich bin immer noch da.
Nun zieht er das letzte, das unterste Register:
Und erst dein lächerlicher Name – O-r-a-n-g-e! So was Dummes, Ausländisches, kann doch keiner aussprechen.

Die Orange hat im Moment keine passende Antwort und keine Beleidigung parat, kann aber wegen ihrer Kugelgestalt gerade noch den Angriffen des Granats ausweichen. Da passiert es – sie strauchelt und stößt sich so stark am Beckenrand, dass ihre Haut eine tiefe Delle bekommt. Unwillkürlich gibt sie einige Spritzer aus ihrer Schale ab und trifft damit den Granatapfel. Sie sind so scharf und sauer, dass seine Haut sofort hässliche schwarze Flecken bekommt und platzt. Da quillt alles Körndlzeugs aus ihm heraus wie aus einer Blunzen und breitet sich ungustiös am Beckenrand aus.
Das ist ein Schock, ein heilsamer, der die Wende herbeiführt. Für eine Sekunde schauen sie sich selbst an, dann einander und fallen in eine Starre.
Wie lange, das weiß keiner und wird auch nicht herauszufinden sein.
– Lädiert, hässlich, gaga, kaka, zum Wegschmeißen. Wenn wir so weitermachen, sind wir alle Verlierer und höchstens Futter für Fliegen, Wespen und Würmer – so etwas Ähnliches muss ihnen durch den Kopf geschossen sein. Freiwillig Loser sein, also das geht gar nicht.
Es fällt ihnen gleichzeitig auf, dass sie beide, so übel zugerichtet, wie sie sind, nicht in den Palast gelassen werden, schon gar nicht vor das Angesicht der Prinzessin Liwadija-Oreanda.

Von der schönsten Frucht als Hochzeitsgeschenk kann keine Rede mehr sein. Sie überlegen, besinnen sich und kühlen ihre Kampfeswut im eiskalten Wasser des Ajudag. Auf dem Ai-Todor und dem Ai-Petri liegt auch im Sommer Schnee. Das Wasser hat nur sechs Grad über Null und ist so mineralhaltig, dass sich alle Wunden sofort schließen. Das Naturbecken heißt deswegen im tatarischen Volksmund „Brunnen der ewigen Jugend“. Der ganze weibliche Hofstaat von Bachtschissarei nimmt hier seine täglichen Bäder. Die Soldaten der Khans haben auf der anderen Seite des Ai-Petri einen ähnlichen Jungbrunnen „Für den Ewigkrieger“. In den Quellbecken des Grishaf bei Alushta baden sie ihre weltberühmten Pferde, mit denen die mächtigen Eroberer Tschingis Khan und Kublai Khahn mit der Goldenen Horde zwei Drittel der damaligen Welt erobert haben.

Als sie wieder an Land steigen, beschließen die Orange und der Granatapfel, dass sie etwas vom Besten, das sie so reichlich haben, dem anderen abgeben könnten. So schenkt die Orange dem Granatapfel etwas von ihrem Zucker, der Granatapfel gibt der Orange einen Teil seines roten Saftes ab. So kam der Granatapfel zu seiner Süße und die Orange zu ihrer Blutfarbe. Beide waren zufrieden mit diesem Austausch. Hand in Hand wanderten sie weiter durch das Tal des Ajudag bis zum tausendminarettigen Palast von Bachtschissarei.
Die Palastwachen waren beeindruckt von ihrer Schönheit und ließen sie passieren. Diener in rotgoldenen Rüstungen geleiteten sie in die Kemenate der Prinzessin Liwadija-Oeranda. Diese klatschte vor Freude in die Hände, dass sie auf einem so weiten und schwierigen Weg zu ihr gekommen waren und nahm beide auf. Da wurde sie noch liebreizender als das Märchen von ihr schon erzählte. Warum soll nur eine die schönste Frucht sein? Die Krim ist doch so reich an vielen guten Dingen.

Sie kühlte die Früchte im klaren Wasser des weißmarmornen Tränenbrunnens, sodass sie immer frisch und köstlich blieben. Die Orange versüßte von nun an das Leben der Krimtschaner, der Granatapfel gab ihnen unüberwindliche Kraft. Von Liwadija-Oreanda heißt es seither, dass sie die klügste Tatarenprinzessin war, die je gelebt hat. Zusammen mit ihrem Mann, dem Khan Tschufut-Kale, herrschte sie viele Jahre über die Krim und machte sie noch schöner und reicher.
Im Park von Bachtschissarei ließ sie auf der einen Seite des Ajudag einen Garten mit blutroten Orangen anlegen, auf der anderen einen mit süßen Granatäpfeln. Bis zu ihrem Lebensende liebte es Liwadija-Oreanda, mit ihren Hofdamen im Schatten der Bäume spazieren zu gehen, sich dort abzukühlen und ihrem Säuseln der Blätter zuzuhören. Wenn man genau hinhörte, klang es wie das Plätschern eines Brunnens, wenn Wind aufkam, wie das Rauschen eines Wasserfalls.
Die schönsten Vögel und Schmetterlinge der Krim ließen sich hier nieder, Khan Tshufut-Kale begründete eine Herde von weißen Hirschen, die alle auf den Namen Diana hörten und ein Horn zwischen dem Geweih trugen.

So blieb die Krim nach dem Obstkrieg geeint, und alle Menschen, Früchte und Tiere lebten fortan glücklich und in Frieden miteinander.

Ich habe gerade Blutorangen und Granatäpfel zu einer Marmelade verarbeitet, mein Geheimrezept gegen Verkühlungen.
Ich widme dieses von mir erdachte Märchen meinem lieben Nachbarn Carlos Sanchez, der mich gerade mit seiner Wunder-Zauber-Hühnchen-Gemüsesuppe gesund zu machen versucht.

31.1.18, 15h18

Veronika Seyr
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Der Gefangene von Schloss Weyerburg

Nachdenken über Rache, die Fälle Skripal, Litwinenko, Beresowski u.v.a.

Es ist eine dunkle, stürmische Novembernacht des Jahres 1717. Vier Kutschen rasen aus der Reichshauptstadt hinaus durch die Ebene nach Norden. Die erste, ein Militärtransporter mit schwarzem Doppelgespann von kräftigen Rössern, ist voll besetzt mit Soldaten. Die zweite eine reichverzierte Staatskarosse, die dritte Kutsche ist mit schwarzen Tüchern verhangen, auf dem Kutschbock sitzen Soldaten, und auch auf den Trittbrettern sind ungarische Husaren postiert. Die vierte ist so wie die erste ein Armeetransporter. Eine geheime Staatsaktion. Wer versteckt sich in diesem seltsamen Begleitzug zu nachtschlafener Zeit? Warum diese Eile? Was ist das Ziel der Fahrt?

Dahinter verbirgt sich eines der monströsesten Kapitel der an Schrecknissen wahrlich nicht armen Geschichte Russlands. Die Verfolgung und die Ermordung des Zarewitsch durch seinen eigenen Vater, Peter den Großen. Der Familienkonflikt beginnt schon in der Kindheit. Peter erkennt früh, dass Alexej von Natur aus missraten ist und stellt ihm strenge Erzieher zur Seite, die ihm aber nichts beibringen außer Duckmäuserei, Verstellung, Heuchelei und Intrigenspinnen. Alexej will nichts lernen, interessiert sich nicht für Politik und Militär, was dem Zaren am meisten am Herzen liegt. Ausschließlich die Religion hat es ihm angetan, beeinflusst von seiner frommen Mutter. Er versenkt sich in katholische Mystiker wie Thomas von Kempten und liebäugelt einmal mit den geächteten Altgläubigen, einmal mit dem verhassten Katholizismus.

In seiner Umgebung treiben sich allerhand zwielichtige Popen herum, die ihn gegen die Reformen seines Vaters aufstacheln. Er gefällt sich darin, dass ihn das Volk als wiedergekehrten Demetrius feiert. Bald vermutet der Zar Verschwörungen gegen sich und schickt den Zarewitsch auf Reisen. Gegen seinen Willen wird er mit einer hässlichen, protestantisch-deutschen Prinzessin verheiratet, die er ignoriert, wenn er sie nicht misshandelt. Sie stirbt nach nur fünf Jahren Ehe, nachdem er die Schwangere getreten und eine Treppe hinuntergestoßen hat.
Er nimmt sich eine Mätresse ins Haus, huldigt Völlerei und Sauferei im Palast und in den Vorstädten. Dort sammelt er das Moskauer Volk um sich im Widerstand gegen die neue Hauptstadt und Peters Staatsumbau. Bald droht ihm der Vater an, ihn von der Thronfolge auszuschließen, ihm seine Mätresse zu nehmen und ihn ins Kloster zu schicken. Seine verstoßene Mutter hat Peter schon früh nach Susdal zu den Nonnen verbannt. Als Alexej sie einmal heimlich besucht und Peters Spione das herausfinden, bestraft er den Sohn derart mit Prügeln und Auspeitschen, dass der nur knapp überlebt.

In seiner Not flüchtet der Zarewitsch zu Kaiser Karl VI. nach Wien. Der kann den lästigen Gast nicht einfach abweisen, weil Alexej über seine verstorbene Frau Charlotte von Braunschweig-Wolffenbüttel mit den Habsburgern verwandt ist. Verkleidet als polnischer Offizier Kremenetzky steigt er zusammen mit seiner Mätresse Afronisia, einer leibeigenen Bauernmagd, ihrem liederlichen Bruder und einem idiotischen Diener im Gasthof zum Schwarzen Adler beim Freihaus ab. In Breslau, Frankfurt/Oder, Dresden und Prag hat er sich noch als Oberstleutnant Kochanowski mit Frau und Bediensteten ausgegeben. Es ist zehn Uhr abends, der Vizekanzler Schönborn ist schon im Schlafrock und will sich zu Bett begeben, als „Kremenitzky“ hereinstürmt, sich auf die Knie wirft, zittert und stottert, Speichel fließt aus dem Mund, und ihn anfleht, dass der Kaiser ihn vor dem schrecklichen Vater und Herrscher retten soll. Es ist der 10. November 1717.

Kaiser Karl VI. erteilt seinem Vizekanzler Schönborn den Befehl, den ungebetenen Gast schnellstens verschwinden zu lassen, möglichst ohne Spuren und Wissen anderer. Graf Friedrich Karl Schönborn hat zwei Jahre zuvor eine Burg im Weinviertel erstanden, die Weyerburg in der Nähe von Hollabrunn. Das ist nur eine kurze Strecke von der Hauptstadt entfernt, die Burg ist schwer befestigt, hat dicke Mauern und tiefe Keller, Verliese und Tunnelsysteme. Die Umgebung ist nur dünn besiedelt, und es konnte gut sein, dass niemand etwas von diesem Gast mitkriegen würde. Der Kaiser hat sich noch nicht endgültig entschieden, wie er sich gegenüber der Forderung des Zaren, den Flüchtling auszuliefern, verhalten soll.
Peters Botschaft ist eindeutig: Sollte der Kaiser seinem Wunsch nicht nachkommen, würde er seine Truppen in die österreichischen Länder Böhmen und Schlesien verlegen. Oder sich den ungehorsamen und verräterischen Sohn selbst holen. Also Krieg. Staatskrise. Blamage vor ganz Europa. Für Karl eine ganz besonders unangenehme Lage. Also, der Schönborn soll sie lösen. Ab nach Weyerburg, den Flüchtling dort lebendig begraben und Gras über die Sache wachsen lassen. Habsburgisch.

Der Zarewitsch soll sich in einer schönen, ruhigen Weinviertler Burg ausrasten, nicht zuletzt braucht auch die schwangere Afronisia Erholung. Alexej und seine bunte Entourage werden in die Weyerburg verfrachtet. Wie beschaulich die Ruhepause war, ist nicht bekannt, sie dauerte aber nicht länger als sechs Wochen.
Karl hat nicht mit dem unaufhaltbaren Zorn und Rachegelüsten des Zaren gerechnet. Der lässt nicht locker und schickt seine Agenten nach Wien. Sie sind reichlich mit Geld und Spitzeln ausgestattet und können einen Bediensteten in der Hofburg bestechen. Bald tauchen fremde Gestalten um die Weyerburg auf. Es ist klar, Alexej ist dort nicht mehr sicher. Der Zar bombardiert den Kaiser mit Briefen und mit immer dreisteren Forderungen und Drohungen.

Wieder ein geheimer Transport bei Nacht und Nebel, diesmal in die Festung Ehrenberg in Tirol. Eine uneinnehmbare Burg auf einer einzeln stehenden Felsnadel ohne Zugang in einer unwirtlichen Berglandschaft.
Die Bewohner werden über Körbe an Seilen versorgt. Sogar trainierte Falken und Seeadler werden eingesetzt, um notwendige Güter über Ehrenberg abzuwerfen. Alexej und seine Gesellschaft hausen in Felszellen mit Gittern vor den Fenstern. Es nützt alles nichts. Peters Jäger und Spürhunde nehmen die Fährte auf. Die Geheimdienstoffiziere Wjesselowski, Rjumanzew und Tolstoj sind unermüdlich und fintenreich. Wieder können sie einen Referendar der Hofkanzlei bestechen und erfahren, dass Alexej in Tirol verborgengehalten wird. Karl will keinen Krieg wegen einer Person, die für ihn nicht wichtig ist und die er verachtet, er will jeden Skandal vermeiden und nicht zum Gespött Europas werden.

Im Bezirk Reutte werden die Menschen schon unruhig, weil so viele fremde Gestalten auftauchen. Sie schleichen um die Burg herum und machen die ganze Gegend unsicher. Zwielichtige Personen treiben sich herum, mit falschen Pässen jüngstens Datums, fraglicher Nationalität und verteilen Geld. Russische Spione wollen den Zarewitsch entführen, berichtet der Staatssekretär Kühl, für einen Beamten ungewöhnlich aufgeregt, nach Wien.
Die Feste in Tirol ist nicht mehr sicher.
Große Achtung vor Peters Jagdaktionen hat der Kaiser nicht. Zorn steigt in Karl hoch, und er fühlt sich in seiner Ehre gerührt. So schreibt er an Prinz Eugen von Savoyen auf Französisch:
Keiner dieser barbarischen Moskowiter soll sich des Zarewitschs bemächtigen oder Hand an ihn legen. Diese Schurken – und das sind diese Moskowiter allesamt – sind zu allem fähig.
Bei Prinz Eugen denkt er natürlich an die Armee.

Am liebsten wäre ihm, wenn der Sohn die Verzeihung des Vaters erlangen könnte und schreibt in diesem Sinne an Peter.
Kaiser Karl denkt nach und wendet sich an den Vizekönig von Neapel, den Grafen Daun. Sie beraten sich miteinander.
Du Daun, ich hab da eine russische Wanze im Pelz. Der missratene Sohn vom moskowitischen Peter. Barbaren, Barbaren durch und durch. Hast du dort irgendetwas, wo ich diese Ratte verschwinden lassen kann. Nicht wirklich wichtig, aber sehr lästig. Wanze, Laus, Moskowiter eben.

Ja, Daun hat etwas. Das Schloss Sant’Elmo auf einer Felseninsel im Golf von Neapel.
Von Mantua an sind die Jäger ganz nahe an den Flüchtlingen, von Station zu Station. Bis nach Neapel, bis nach Sant‘Elmo. Daun tut, was er kann, aber die Agenten belagern die Burg und bestechen halb Neapel. Peter droht in endlosen Briefen an Kaiser Karl weiter und immer intensiver. Einmal kündigt er sogar an, von Petersburg aus durchzumarschieren bis nach Neapel, um sich seinen Sohn mit der Armee zurückzuholen. Sein heiliges Recht, als Vater und Alleinherrscher, wie er meint. Der Vater- und Staatsverräter muss gerichtet werden. Was kann mich aufhalten? Karl knickt ein. Für einen Trottel und Unhold wie Alexej, den missratenen Zarensohn, will er nicht mehr riskieren. Schließlich gelingt es Peters Agenten, die schwangere Afrosinia zu kaufen, die Alexej zur freiwilligen Rückkehr bewegen kann. Sie verrät ihren Liebhaber. Was man ihr bei Widerstand alles angedroht hat, kann man sich leicht vorstellen.

Das Ende ist so unendlich schrecklich, dass die russische Geschichtsschreibung darüber hinweggeht, die die Romanows in eine ungebrochene Geschichtstradition stellt. Unter Putin, der sich gern als moderner Peter sieht, ist das wieder besonders modisch geworden.

Peter holt schließlich seinen Sohn aus Sant‘Elmo heraus, mit Hilfe der Spione und von falschen Versprechungen auf Verzeihung und Milde. In Moskau wirft er ihn ins Gefängnis, lässt ihn foltern und unterzieht ihn einem grausamen Prozess. Dann darf ihn die Kirche öffentlich aburteilen. Eines Tages liegt Alexej tot in seiner Zelle. Herzversagen. Manche sagen, Peter, der Vater, hat ihn eigenhändig stranguliert. Auch die Rechtmäßigkeit dieser Art von Bestrafung lässt er von der Kirche absegnen. Er richtet ein pompöses Begräbnis aus und gleich danach ein Volksfest mit Feuerwerk, Zirkus, Flüssen von Freibier und Wodka. Die Moskowiter dürfen auf Alexejs Grab tanzen.

23.3.18

Veronika Seyr
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Lautsprecherdurchsagen – Impressionen aus dem Gänsehäufel

Ein Badesonntag Ende Juli 18, die Marke von 35 Grad ist fast erreicht. Hitzepol wie immer in Hohenau an der March. Ich in den Wochenend-Zeitungen lesend, lagernd im löchrigen Schatten von mageren Pappeln und Erlen. Wenn die Sonne durchs Laub kommt, muss ich mit meinem Tuch in einen anderen Schatten wandern. Herrliche Ruhe, die FKKler sind dezente Leute. Ein leichter Wind, die wirklich blaue Alte Donau in Blickweite, Schwäne und Nil-Gänse schaukeln leicht auf den Wellen, Möwen darüber, eine Entenmutter watschelt mit drei Jungen angstlos durch den Dschungel aus Decken, Taschen und Floaties. Ich muss immer öfter ins Wasser rein und danach lange unter die kalte Dusche. Das Wasser der Alten Donau ist badewannenwarm, 28 Grad. Vom kühlen Nass kann schon lange keine Rede mehr sein. Wann kippt sie? Eine Frage der nächsten Tage. Das Wasser ist schlierig, wirft verdächtige Bläschen, und das Wassergras schwappt einem durch Mund und Zehen.

Danach schreckt mich in der Zeitung eine Kleinmeldung auf:
Die Korallenriffe der Ozeane von Sonnencreme und Kinderlulu zerstört! Ich bin alarmiert. Ähnlich wie die Verdauungspuhs der Kühe. Endlich die größten Feinde erkannt! Kleine Erlösung, nicht das Erdöl und das böse PVC sind‘s. Ein Glück, die Alte Donau hat keine Korallenriffe, aber sicher viel vom anderen. Mehr Idylle als im Gänsehäufel-FKK geht nicht. Für alle Sinne. Wer im Sommer Wien verlässt, ist ein Idiot. Selber schuld.

Da bricht die Realität über uns herein. Gegen zwei Uhr kracht und rauscht es aus dem Lautsprecher:
Ach-tung- Ach-tung (Betonung auf U mit einem K am Ende) – hch- eine Durch-sakee (Betonung auf A- was für eine Sage wird das noch?) – die vierjährige Jolana – sucht- seinen- Papa. Hch. Papa – kommen – bitte – zur Info. Danke! Ihre Info!
Jeweils zweimal hintereinander. Wiederholung nach 10 Minuten. Beim Ausschalten wieder Krachen. Es ist kein Sprechen, sondern ein Zerhacken von Silben, als würde sie einen ihr unverständlichen Text herunterbuchstabieren, so wie wenn ich etwas auf Rumänisch oder sonstwas, das ich nicht kann, vorlesen müsste.

Diese Frauenstimme bömakelt in echt, perfekter, als es sich Fritz Muliar je für Braver Soldat Schwejk antrainiert hat. Dabei dachte ich immer, er ist genial. Er ist genial, aber von der Durchsagefrau hätte er noch etwas lernen können. Sie hat die Funktion einer Kartenabreißerin und Kasterlschlüsselausgeberin am Eingang (ich liebe Wien besonders für solche Posten. Die Badewaschel sind fast alle Ex-Jugos, die Masseurinnen Philippininnen). Ich habe die Info-Frau persönlich gesprochen, als ich einmal bei ihr eine verlorene Sonnenbrille abgegeben habe. Sie ist wirklich eine Tschechin, eine neue Österreicherin.

Im Abstand von 10 Minuten wird die Durchsage je zweimal wiederholt, mit Varianten. Da ist die Jolana einmal dreijährig und sucht ihre Mama. Dann wieder den Papa. Zum Glück irgendwann die ganzen Eltern. Gespickt mit Fehlern und Pausen, in denen man Seufzer und Räusperer hört, warum auch immer. Welche Tragödie sich bei der Info abspielt, mag ich gar nicht wissen. So geht das ungefähr eine Stunde lang. Zweimal dazwischen etwas Neues: Die fünfjährige Lena sucht seinen Papa, Ausgang bitte kommen.

Bei Info. Die sechsjährige Jolana sucht tringent ihren Papa. Bitte melden.
Was sind das für Energieüberschneidungen? Gerade als die Jolana (ein populärer tschechischer Name) lautsprechermäßig gesucht wird, lese ich in Pavel Kohouts genialer Echtzeit-Politsatire Wo der Hund begraben liegt von seiner wilden Nichte Jolana. Ich habe das 500 Seiten starke Buch aus dem Jahr 1988 am Tag davor in einer Wühlkiste am Hohen Markt um 2 Euro erstanden. Geniere mich, dass ich es nicht früher gelesen habe. 30 Jahre Genuss-Verlust. Das Buch ist gespickt mit Schwejk-Zitaten, die ich lese wie einen Kommentar zum Lautsprecher.

Dann sehe ich, dass der vor genau 50 Jahren, zehn Jahre nach der sowjetischen Invasion, von den Neostalinisten nach Österreich ausgebürgerte Tscheche in diesen Tagen 90 geworden ist. Ich habe, hoffe ich, alle seine Stücke in Theatern gesehen, in verschiedenen Ländern, in verschiedenen Sprachen. Dieses Buch kannte ich nicht. Das treibt mir einen Sonnenbrand vor Scham über den Körper.
Hoffentlich hat dem Bundespräsidenten AVDB ein geschichtsbewusster Mitarbeiter eingesagt, dass man Pavel Kohout gratulieren muss. Gelesen habe ich nur einen Artikel in den Salzburger Nachrichten.
Vom jetzigen Bundeskanzler erwarte ich das eher nicht. Der damalige hieß Bruno Kreisky. Er hat die tschechoslowakische Charta 77 offen unterstützt, hat Pavel Kohout und seine Mitstreiter nach Österreich eingeladen.

Bei jeder der Doppeldurchsagen wird die Stimme abgehackter, lauter und dringlicher, fast gehetzt, zuletzt kippt sie ins Hysterische mit einem Hustenanfall der Stimme und des Lautsprechers. Arme Frau, womit kämpft sie mehr, der deutschen Sprache oder leidet sie mit Jolanas Schicksal mit oder geht ihr in der Hitze, so wie uns allen, die Luft aus? Es ist ja heute wirklich sehr heiß. Dann klingt die Lautsprecherdurchsage nur noch wie ein verzweifelter Schluckauf. Bömakeln mit Schnackerl! Gott, wie hätte das den seligen Muliar inspiriert! Jemand hat mir erzählt, dass nicht das legendäre Prager-Deutsch, sondern das Bömaklerische die lingua franca in der k. u. k. Monarchie gewesen sein soll, zumindest in Wien.
Bei Josef Roth beschwert sich ein Feldmeister mit schwerem Pinzgauer Dialekt, dass die alle nit Deutsch kennen.

Ich gehöre nicht zu denen, die über Bucklige lachen und Blinden ein Bein stellen. Aber wer vom Bömakeln seinen Lachreiz gekitzelt fühlt, muss sich dafür nicht genieren (Neudeutsch: fremdschämen), er befindet sich in bester Gesellschaft. Bei Stefan Zweig böhmelt oder serbelt es häufig. Er rät der deutschen Sprache, sich zu rächen, indem sie zurückböhmelt, wobei ich im Moment der Lautsprecherdurchsage nicht weiß, wie das geht. Soll er ein Vorbild sein, wie er das in fast rassistischer Manier macht, zum Beispiel in der Schachnovelle, wo er das verhunzte Dötsch der Ungarn und das Deitsch der Slawen in der Monarchie auf die Schaufel nimmt.
Ich bin gespannt, wie lange es noch dauert, bis der Oberst Bubenic in aufrichtigster Political Correctness aus Ungeduld des Herzens rausgesäubert wird.

Besonders gespenstisch wird es, weil ich da, wo ich im durchlässigen Schatten einer Pappel sitze, den Lautsprecher mit Echo höre. Also ungefähr so: Achtachtuntung, einne Dudurchsaage, didie viervierjährigejährige Jolanana suchtsucht ihrihren Papapapa. Bittebitte meldmelden beibei Ininfo! Dandankeee! Wobei das Bömaklerische das letztendende e besonders in die Länge zieht.
Schwejk mit seinem Seufzer klingt im Ohr: Deitschee Sproch, schweree Sproch.

Apropos Verdoppelung. Vor kurzem im Zug von Wien-Hauptbahnhof nach Bratislava-Petržalka. Kurz nach Gramatneusiedl ertönte aus dem Lautsprecher die kryptische Ansage: Sehr geehrte Damen und Herren! Aufgrund des Verkehrsaufkommens wird in Bruckanderleitha der Zug verdoppelt. Knapp und präzise, diese Information. Ohne Bömakeln, echt Burgendländerisch. Trotzdem hatte ich Schwierigkeiten, mir eine Verdoppelung des Zuges vorzustellen. Und von wegen Verkehrsaufkommen? Was spielt sich da ab? Kommt uns der zweite Zug entgegen, schleicht er sich von hinten an, biegt er in Bruckanderleitha einfach so auf unser Gleis ein und verdoppelt unseren Zug? Und müssen wir den verdoppelten oben auf dem Dach als zweistöckigen Zug bis nach Bratislava-Petržalka mitschleppen? Und überhaupt, was sollen wir mit dieser Information machen? Sitzenbleiben, aussteigen, nachschauen, mithelfen bei der Verdoppelung?

Zurück ins Gänsehäufel. Rund um meinen Platz heben die Lagernden die Köpfe und schauen, so wie ich, fragend und belustigt umher. Vielleicht geht bei ihnen so etwas herum wie in meinem Kopf: Na, was für Eltern sind denn das, die nicht nach ihrer Jolana suchen? Wer mögen der Papa und die Mama sein, denen ihre Jolana so lange nicht abgeht? Die diese Durchsagen nicht hören? Schauen oder hören sie ihr Smartphone mit Stöpseln in den Ohren? Vielleicht verstehen sie die Tschechin am Mikro nicht?
Welche Sprache spricht die drei- oder vierjährige Jolana? Gemeinsame Sprache ist immer etwas Gutes. Oder, oh Gott, sollen sich diese Rabeneltern insgeheim gefreut haben, auf elegante und unauffällige Weise ihre abenteuerlustige Tochter loszuwerden? Eine Kindesentsorgung? Auf so elternlästerliche Gedanken kann man bei solchen Durchsagen kommen.
Und was muss sich erst bei der Info abgespielt haben?
Tränen, Verzweiflung. Vielleicht war die Polizei schon da und suchte mit einer WEGA-Hunde- oder Kickl-Pferdestaffel nach den Jolana-Eltern?

Gegen drei Uhr dürfte die Familie wieder zusammengefunden haben, denn die Tschechin von der Info macht eine neue Durchsage, wieder mit dem wunderbaren Bömakeln, diesmal aber ruhig, mit der Ankündigung des Kasperltheaters. Wie immer an Sonntagen, genau um 15 Uhr. Hoffentlich kann Jolana dieses genießen, und – wiedervereint mit ihren Eltern – den Trennungsschmerz vergessen. Beim Kasperl, seinem Prügel und dem Krokodil. Der Kinderchor der entzückten Angstlustschreie dringt herüber bis zum FKK-Strand. Seid ihr alle daaa? Jaaa! Alles in Ordnung. Kasperl funktioniert noch. Vielleicht war das mit Jolana und ihren Eltern nur ein dramatisches Vorspiel zum Kasperltheater?

Gegen fünf ziehen im Westen dunkle Wolken auf, es grollt immer bedrohlicher, und der Wind raschelt lebhafter mit den Pappel- und Eschenblättern. Meine Zeitungen flattern. Der Himmel in den anderen drei Richtungen ist noch strahlendblau, gesprenkelt mit herzigen Schäfchenwölkchen. Zieht vorbei. Ich bleibe, bin ja nicht aus Zucker. Da rauscht es wieder aus dem Lautsprecher, und eine weibliche Stimme erschallt verdoppelt heraus, diesmal eindeutig auf Donaustädterisch: Aufgrund einer Gewitterwarnung bitten wir um besondere Vorsicht! Ihre Info.
Geheimnisvoll. Vorsicht gut, aber wie? Raus aus dem Wasser, nicht unter die Bäume stellen? Schwierig, im Gänsehäufel sind überall Bäume. Deswegen geht man ja hin. Schnell einpacken und heim? Wenn das alle 25 000 Besucher machen, gibt‘s ein Massaker. Alle Köpfe wenden sich nach oben, dunkelschwarz im Westen. Bald ist genau abgegrenzt der Regenvorhang zu sehen, wie die Silhouetten der Brücken, Türme und Schlote verschwinden und wieder auftauchen – ein schnell ziehendes Gewitter. Der Wind gewinnt Sturmstärke. Ich stehe im Wasser, und eine Frau neben mir fragt, mit Blick in den geteilten Himmel: Kummt‘s oda kummt‘s ned? Das Gewitter.

Gemma oder bleima? Sehr philosophisch. Wie der Roseggerische Regenschirm. Mitnehma oda dolossn. Niminmit, lossindo. Mir wär‘s recht, dann muss ich heute nicht gießen. Ich denke eher praktisch.

Jetzt tragen die Wellen der Alten Donau weiße Kronen, laufen gegeneinander und brechen sich, und das Wasser ist so dunkel wie das Schwarze Meer. Ich frage mich, wo ich bin. Die Schwäne, Enten und Nil-Gänse lagern in der Bucht hinter der Mazzes-Insel. Die Badewaschel laufen gekonnt gelassen die Ufer entlang und pfeifen die Schwimmer immer heftiger aus dem Wasser. Nebenbei: Ich entdecke dabei die erste (1.!) Badewaschlerin, Badewaschelin, Badewaschleurin, ich weiß nicht, wie man sie richtig gendert, auf jeden Fall eine braungebrannte Frau in der weißen Uniform der Wiener Bäder mit der Trillerpfeife um den Hals. Sieg! Wieder eine Bastion erobert! Ah, auf Hochdeutsch Bademeisterin.

Noch einmal dieselbe Durchsage mit dem Aufruf zur Vorsicht aufgrund der Gewitterwarnung. Danke! Ihre Info! Weil ich noch immer nicht weiß, wie man aufgrund der Gewitterwarnung im Gänsehäufel Vorsicht walten lässt, die Blätter der Pappeln und Erlen trotzdem immer lauter rauschen – ich im Kopf: Pappeln – schlechtes Holz, sie biegen sich nicht, sondern splittern oder fallen gleich als Ganzes um. Decken, Handtücher, Pappteller und Nylonsackerl fliegen durch die Gegend, über dem Eskimo-Eis-Stand segelt ein Reklame-Plakat für das heurige Mode-Eis Grande durch die Luft, gleich danach wird der ganze Ständer von einer Böe ausgehoben. Wie die Nackerten jeden Alters und jeder Form ihren Sonnenschirmen und Handtüchern nachjagen, ist ein besonders köstlicher Anblick.

Da fallen die ersten Tropfen auf meine Wochenendbeilage EXTRA der Wiener Zeitung (schlechter, hingeschluderter Artikel über den monarchistischen Widerstand gegen Hitler von dem renommierten österreichischen Historiker M. R.). Wegen meiner Abneigung gegen Pappeln im Sturm entschließe ich mich, wie sehr viele andere auch, zum Aufbruch. Klar, danach Staus allüberall. Im Bäderbus wienerisches Motschgern und Gedrängel.
Die könnten a mea einstönn. Anstatt dankbar zu sein, dass es überhaupt so ein kostenloses Bäderservice gibt. Autos sperren den Bäderbus. Die Eiskäufer beim Italiener ebenfalls. Die U1 übervoll.
Als ich deswegen erst eineinhalb Stunden später daheim aus der U-Bahn steige, stehen die lieblichsten Schäfchenwolken am Himmel über der Favoritenstraße, rosa-goldumrahmt von der untergehenden Sonne, wie zum Hohn. Und der Boden ist staubtrocken. Für mich heißt das eindeutig: Gießen!

Wien, 30.7. 18

Veronika Seyr
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Killer-Kühe (wäre der Titel in der Kronenzeitung)

Eine idyllische Mai-Wanderung mit Hindernissen

Anfangs widerstrebend, folge ich schließlich ihrem Vorschlag, nicht den Wasserfallweg zu nehmen, sondern über die Schoberkapelle ins Tal zurückzukehren. Isabella ist immer offen für alles, aber doch standfest und durchsetzungsstark. Zwei Argumente überzeugen mich:
Schau dir die dicke, schwarze Wolkenmütze über dem Schneeberg an. Da steckt viel Regen drin. Am Wasserfallweg kriegen wir sicher etwas davon ab und keine Aussicht. Außerdem bist du den so oft gegangen wie ich, und die andere Richtung kennst du noch nicht.
Bitte, aber an der Kapelle will ich eine Zigarette rauchen, im Rucksack hab ich meinen Kaffee dazu.

Das ist für mich der Übergenuss nach dem Mittagessen auf der Maumau-Wiese: Blunzengröstl mit Sauerkraut in der Pfanne.
Mensch, was willst du mehr?

Wir wandern eine flache Frühlingswiese hinauf und setzen uns vor der Kapelle aufs Bankerl.
Neben uns steht ein hölzerner Trog, in den aus einem Baumstamm Wasser plätschert.
Wir füllen unsere Trinkflaschen, herrliches Wasser, schmeckt nach Kräutern. Boggie bekommt sein Schälchen. Dann lagert er sich zu unseren Füßen und steckt den Kopf zwischen die Pfoten. Lange lassen wir den Blick schweifen, stumm. Der Ausblick auf die sanften Wiesenwellen verschlägt uns jedes Wort. Atmen wir überhaupt noch? Die Sonne ist über den Grat zurückgekommen, und die dunklen Wolken bleiben drüben stehen.

Meine Manie, Dinge beim Namen zu nennen, setzt sich durch. Ein leichter Wind bewegt die kniehohen Gräser, dazwischen Margeriten, gelber Hahnenfuß und Bocksbart, vereinzelt eine Trollblume und roter Feldmohn, Glockenblumen und Schafgarben, große und kleine Spieren in Weiß und Rosa, Wollgräser mit ihren wehenden Wattebäuschchen, das Zittergras tut das Seine im Wetteifer mit dem Wildhafer, niedriger die Wiesenorchideen von weiß über lila bis kardinalrot, darunter noch der blitzblaue Ehrenpreis, vermischt mit Wegwarte und Klee in allen Farben und Formen. Fifty Shades of Green. Die Wiesenhänge scheinen in Wellen zu wogen wie ein sanftes Meer, lautlos anbrandend an die Waldränder mit den rundlichen Bergrücken darüber. In der Mulde und am Hang gegenüber lagern Kühe, semmelblonde Flecken im Dunkelgrün. Ab und zu huscht ein Schatten über die Hänge, wenn eine Wolke vorübersegelt.

Die einzeln oder in kleinen Gruppen stehenden Tannen, Fichten, Lärchen und Föhren bilden dunkle Monumente im grünen Farbenmeer. Einzelne vom Schneeberg herziehende Wolken schicken Schatten über die Landschaft. Ist Isabella ebenso seekrank wie ich?
Schwindelig, selig so wie ich zwischen den blinzelnden Augen?
Ich glaube, solche Augenblicke nennt man Glück.
Was für ein schönes Wort, Augenblick, das hat nur das Deutsche.
Meinst du? Egal. Glück, das gibt‘s eh nur einen Augenblick.
… ist ein Vogerl …
Schau, was sind das für große Vögel da oben? Könnten Falken sein.
Nein, nur Krähen.

Meine Stimme ist wie verschluckt und krächzt, aber ich versuche einen Kommentar:
Welcher Maler hat das gemalt? Ich erinnere mich an Matisse.
Isabella meint, es war Degas.
Nein, das war der mit den jungen Tänzerinnen.
Pissarro?
Das war doch der Tüpferlmaler, ein Pointillist.
Am ehesten Monet.
Wir einigen uns auf seine Wiesen an den Seine-Ufern.

Als wir aufbrechen, studieren wir die Wegweiser. Einer zeigt ins Tal und sagt Puchberg 1 1/2 Stunden. Das geht, dann sind wir um fünf in Puchberg. Wir haben beide vergessen, den Fahrplan für die Rückfahrt zu studieren.
In sanften Kurven schlängelt sich ein weißer Kiesweg mit einem Grasstreifen in der Mitte das flache Tälchen hinaus. Ich bin einverstanden, denn meine linke Hüfte macht sich langsam bemerkbar und will keine Steigung mehr, weder rauf noch runter. Die Orthopädin hat erst vor Kurzem festgestellt – altersgemäß abgenützt, aber noch keine Rede von Operation. Geht noch mit einer Spritzenkur. Am Boden dieser Senke sehen wir einen Bauernhof mit einem langgezogenen Stall. Kontemplativ bewundere ich die noch grasüberwachsenen Trittwege der Kühe, die sich die Hänge entlangziehen. Später im Sommer werden sie ausgetreten sein und aussehen wie erdige Narben in der Landschaft.

Ich erzähle von meiner Mutter, einer Salzburgerin, die beim Spiel immer gesagt hat, wenn es um das Lieblingstier ging, sie wollte eine Pinzgauerkuh auf der Alm sein. Dieser Frieden, diese Schönheit, dieses sanfte Gemüt und die seelenvollen Augen. Unter solchen launigen Gesprächen geht es abwärts.
Wir lachen, weil sich vor dem Stall schon drei Kühe angestellt haben, eine kleine Schlange zwischen den Gittern, die sie zur Melkstelle leiten.
Das sind die Streber, die immer die Ersten sein wollen. Ich hau mich ab, weil mich das an mich erinnert. Immer im Wettbewerb, immer die Erste.
Isabella lacht mit mir. Sie kennt das nicht, sie hat nur eine sehr viel jüngere Schwester.

Wir biegen auf das Sträßchen ein, auf dem jetzt immer mehr Kühe zum Hof zurückkehren. Es werden immer mehr, die von unten herauf aus dem Tal auftauchen. Es wird eng.
Ich weiß nicht, wer das Signal gegeben hat. Fluchtinstinkt. Irgendwann werde ich ihr von meinem Talent erzählen, Lebensgefahr in einem Frühstadium zu erspüren. Immer mehr Zeitungsberichte im Kopf von aggressiven Kühen. Sogar Todesfälle. Der kleine Boggie wurde vor einem Jahr auf einer Salzburger Alm von Kühen verfolgt, das hat sie mir erzählt. Aber jetzt trägt sie ihn schon seit geraumer Zeit, und dieser kleine Wiffzack hat keinen Mucks von sich gegeben. Also, was irritiert die Kühe? Zweibeiner ganz allgemein? Haben sie genug von den Menschen? Wollen sie sich rächen dafür, was wir ihnen seit Jahrtausenden angetan haben?

Konferenz der Tiere von Kästner, aber die waren trotz 1933 friedlich.
Ist schon lang Zeit, dass sich die Tiere rächen, aber warum diese Mordlust bei unserem Anblick? Das ist ungerecht. Natürlich meinen wir, dass wir die Ausnahme sind. Ich bin im Alltag Vegetarierin mit zwei Ausnahmen: Auf der Maumauwiese muss ich immer Blunzen essen und auf der Redlingerhütte Schweinsbraten. Isabella ist sogar glukosefreie Veganerin, Boggie kriegt Trockenfutter, keine Ahnung, ob und wie viel Fleisch darin ist. Isabellas Anorak ist feuerrot, mein Rucksack knallorange, überlege ich. Das sind doch keine Stiere, außerdem eh nur eine blöde Legende. Stiere sind farbenblind. Kühe auch.
Aber sie waren doch schon am Nachhauseweg, wenige Meter vom Stall entfernt, dort würden gemolken werden, fressen, liegen, wiederkäuen bis zum Morgen, wieder auf die grüne Wiese. Was hat sie umgestimmt, aus ihrem Kuhtritt gebracht? Isabella meint, es sei der Pickup gewesen, der sich durch sie ziemlich unsensibel durchgebohrt hat. Ich habe ihn vom Bauernhof losfahren gesehen und kurz die Hoffnung gehabt, er holt uns zur Rettung.
Alles Überlegungen für die Zeit nach der Rettung.

Auf jeden Fall fühle ich mich von den immer dichter anrückenden Kühen bedroht und weiche auf die Wiese nach links aus. Zuerst einmal unter einem Elektrozaun durchschlüpfen.
Rauf, rauf, nur rauf. Ich rase die Wiese hinauf, stolpernd, strauchelnd, zurück und vor. Hohes Gras, hier hat noch niemand gegrast. Schwer die Schritte, die Beine immer wieder hoch hinauf, und immer wieder Schlingen, Grasbüschel, die abreißen, Schnitte an den Handflächen und Fingern. Irgendwie bekomme ich mit, dass Isabella mit Boggie hinter mir ist. Sie schreit etwas, aber ich höre nur noch mein Blut in den Ohren pochen.

Wieder schreit sie etwas, ich verstehe sie nicht, bin nur orientiert auf eine dicke Fichte weiter oben am Hang. Dahinter will ich Schutz suchen. Endlich erreicht, verschnaufe ich etwas, das Herz will aus dem Hals herausspringen, tief gebeugt keuche ich, hunderttausend Zigaretten melden sich zurück, kchkchkch, ich kann nicht sprechen. Isabella kommt dazu, das Hündchen unterm Arm. Winzig klein, der Zwergpinscher, aber immerhin fünf Kilo. Ungefähr noch einmal ein Rucksack.
Kurz meinen wir, dass wir‘s geschafft haben, gerettet sind. Da sehen wir, dass die ganze Herde weiter den Wiesenhang heranzieht, angeführt von einer großen Pinzgauerin. Ich bücke mich, ein, zwei drei, atmen, ruhig, kann kaum durchatmen, richte mich auf und sehe den Führerkuhkopf gleich hinter dem Fichtenstamm. Sie beutelt den Kopf und brüllt. Was für ein Brüllen – ein Mordbrüllen. Weiter, rauf, es rasselt in meiner Brust. Gleich zerspringt sie.

Es wird immer steiler, ich schaue nicht mehr zurück, sondern nur nach oben. Da ist ein Zaun, ein einziger Draht, das heißt, ein Elektrozaun. Dort muss ich hin. Hasten, stolpern, hoch die Beine aus dem tiefen, schweren Gras, es hat ja gestern und die ganze Nacht geregnet, der Boden tief, Schlingen halten mich im hohen Gras, aber immer nach oben, weiter, weiter. Isabella schreit etwas von hinten, ich verstehe nichts und kümmere mich nicht darum. Da sehe ich am oberen Ende des Hanges eine Schneise in den Wald hineinführen und stürze auf einen Wiesenweg.
Ich hab keine Luft mehr und drehe mich um. Wir streiten aus der Ferne mit Gesten, sie zeigt runter, ich rauf, in den Wald. Kühe gehen nicht in den Wald, was wollen Kühe im Wald? Ich haste weiter, vorbei an einem Jägerstand – wäre das ein Schutz? Nein, die Hütte ist aus leichten Brettern und morsch, sie sitzt nur knapp über dem Boden, die Tür hängt schief, das wäre kein Schutz, ein leichtes Spiel für sie, wenn sie uns niedertrampeln wollen. Weiter, weiter nach oben, es ist steil, ich greife nach den Gräsern, es sind Brennnesseln, auch um die nackten Wadeln. Gut gegen Rheumatismus. Sogar jetzt noch funktionieren die Sprüche.

Ich bin am Ende, komme zum Stillstand und falle auf den Bauch. Ich spähe über eine Wiesenkuppe: darunter ein steiler, mit Felsen und Baumstümpfen durchspickter, fast senkrechter Abhang. Die Pumpe rast. Ich liege vornüber gebeugt im Gras. Da höre ich wieder Isabella.
Veronika, nicht weiter! Komm zurück.
Nein, weiter, durch den Wald, wir umgehen sie oben und kehren nach unten zurück.
Wir schreien und deuten, ich stampfe auf und sie gestikuliert.
Mit langsamen Schritten gehe ich hinunter auf sie zu. Auf den Wurzeln einer alten Lärche lasse ich mich nieder, wir schreien einander an, beide ohne Atem.

Da ich in meiner Flucht fast immer nach oben geschaut hatte, hatte ich nicht wahrgenommen, was sich unten abspielte. Isabella aber hat gesehen, dass unser Straßerl nach rechts eine Abbiegung hat, und die Kuhherde nach links abgebogen ist. Jetzt stand sie genau unter der Wand und strömte gemächlich in den Wald hinein. Ist es denn möglich, dass sie uns verfolgen und auflauern?
Siehst du nicht, dort bei dem Holzstoß. Da sind sie nach links gegangen und sperren die Umgehung ab. Schau, sie stehen alle dort unten. Wir müssen zurück, runter und nach rechts, sie auf unserer Straße umgehen.
Ich lege mich wieder flach auf den Bauch und starre hinunter.
Isabella hat richtig gesehen.

Wie kann das sein? Als wären sie alle uns unten gefolgt. Wir oben, sie unten, parallel.
Eine kompakte Herde, halb auf dem Weg, halb im Wald, die Köpfe nach oben gereckt.
Nein, sehen können sie uns nicht. Aber vielleicht riechen? Was wissen wir schon? Nichts. Aber warum überhaupt?
Eine Brücke, ein Holzstoß mit frisch geschlagenen Stämmen, ein Brunnen, eine Abzweigung, das Straßerl nach rechts, der Viehsteig nach links.
Ich folge meinem Napoleon den Hang hinunter. Wir biegen auf unseren rotmarkierten Weg ein, dort stehen noch immer die ersten drei Kühe, lassen den Holzstoß links liegen, biegen nach rechts und überqueren die kleine Bücke. Zügig gehen wir bergab, Isabella voran, Boggilein strampelt voraus. Wir haben‘s geschafft. Gehen-atmen-gehen-atmen. Da bleibt sie stehen.

Siehst du das?
Nein, was?
Ich stehe noch in der Sonne, das Tal wird enger und dunkler.
Da sind sie wieder.
Wie viele?
Zwei oder drei, wir gehen ruhig vorbei.
Nein, ich gehe nicht vorbei. Nie wieder gehe ich an Kühen ruhig vorbei, schreie ich, jetzt schon sehr hysterisch.
Da sehe ich eine andere und noch eine auf dem schmalen Weg stehen.
Und noch mehr und mehr quellen heraus aus dem Schatten.
Isabella sieht jetzt auch, dass wir nicht an ihnen vorbeikommen, weil sie es auf uns abgesehen haben. Sie sperren uns in breiter Front den Weg ab und verteilen sich schon im Wald. Eine Mörderbande.
Ich stürze mich das Tälchen rechts runter.
Isabella schreit, nein, rechts den Hang rauf!
Nein, runter, zum Bach, dort ist ein Zaun. Wir müssen hinter den Zaun.

Entlang der Kuhtritte in der aufgeweichten Erde taumele ich den Hang hinunter, manchmal am Hosenboden, um unter dem dreifachen Stacheldrahtzaun durchzurutschen, löse den Rucksack vom Rücken, er kollert den Abhang runter und bleibt am Bachrand liegen, die Wasserflasche fliegt noch weiter runter. Aber ich bin durch, den Rucksack wieder auf dem Rücken, fische die Wasserflasche heraus und wate durch den Bach.
Das ist nur ein Tälchen, der gegenüberliegende Hang aber doch nicht zu erklimmen, denn fast senkrecht und weiche Erde.

Erst laufe ich das Bacherl nach oben, die Wände noch steiler, dann runter, die Herde noch näher, und irgendwo macht der Zaun einen rechten Winkel und endet knapp vor dem Bacherl.
Klar, die Kühe haben Zugang zum Wasser. Wieder rauf, und da finde ich eine Stelle, an der einige Fichtenbäumchen wachsen. Links das erste, weiter hoch, ein steiler Schritt, meine lästige Hüfte streikt, auweh, ich bleibe in einer Schlinge hängen, mein Fußgelenk ist gefesselt, die Hüfte sperrt, ich kann nicht mehr, tut höllisch weh.

Aber dann erblicke ich oberhalb von mir ein Bäumchen, an dem ich mich hochziehen kann, wieder ein bissl höher, am Bauch, die Kuh muht hinter mir. Grad sehe ich Boggie noch neben mir, er jappelt und kämpft sich hinauf, sehe aus dem Augenwinkel, dass dieser Abschnitt zu hoch ist für seine kurzen Beinchen. Zwergpinscher. Ich sehe ihn zurückkollern, bin aber ohne Gnade für ihn, weil ich gerade mein linkes Fußgelenk aus der Fessel befreien muss. Ich strample, schaue um mich und grapsche nach oben zu einem festen Halt. Nichts da, nur dürres Reisig, ein morscher Ast bricht an einem Fichtenstamm ab.

Weiter rechts oben krieg ich ein festes Buchenstämmchen zu fassen und ziehe mich nach oben. Da erhasche ich einen Blick auf die Leitkuh hinter dem Zaun und höre sie ganz nahe hinter mir unkühisch brüllen, ein tiefes, raues Aufheulen, aber noch hinter dem Stacheldraht, wie sie sich kopfschüttelnd darüber empört, dass wir ihnen entwischt sind. Ich ziehe mich den letzten Meter nach oben und komme zwischen riesigen Huflattichblättern an einem Straßenrand zu liegen. Im Kies schürfe ich mir die Ellbogen auf.

Bäuchlings liegend sehe ich, wie knapp hinter mir Isabella heraufkriecht.
Nimm die Buche, Isi, kürze ich aus Atemmangel ab. Sie mag das gar nicht.
Ja, Veronika. Wenn sie mich auch noch abkürzt, krieg ich den nächsten Anfall.
Wieder auf den Beinen, rase ich, ohne mir eine Pause zu gönnen, die Straße hinunter und halte nicht an, bis ich einen Schranken sehe. Er ist an der Seite arretiert, ich schaukle ihn, bis ich ihn aus der Verankerung gebracht und quer über die Straße gezogen habe.
Währenddessen schreit Isabella immer noch nach Boggie, winkt mich zu sich herauf, ich schüttle den Kopf, habe nur den Schranken im Sinn, bin versessen auf die Idee, er soll uns retten, die Kühe abhalten.

Isi steht auf der Straße, wachelt mit den Armen und deutet mir herauf. Boggie ist nicht da, Boggie, Boggie komm! Hierher! Petziputziii!
Aber da ist er schon, krabbelt knapp unterhalb von Isabella den Straßenrand hoch und beutelt sich so heftig, dass es ihn umwirft. Er ist waschelnass, offenbar ist er den Bach hinunter gelaufen, hat eine Furt und einen erklimmbaren Abhang gefunden.
Dieses Geschöpf hat sich selbst gerettet! Boggie ist so unfassbar klug, die Gefahr erkannt zu haben! Oder einfach nur genügend instinktbegabt und lebenslustig.
Ohne Worte feiern wir ihn, ich stürme aber weiter den Weg das Tal hinunter, ohne innezuhalten. Wie schon oben auf der steilen Wiese ist mein Impuls, mich zu retten, um die anderen retten zu können. Meine Bergsteiger-DNA. Epigenetik, wird Isabella später sagen, zu mir und Boggie.
Aber warum haben die Kühe ihre verloren?

Isabella ruft irgendetwas hinter mir her, aber ich rase wie aufgezogen, weg, weg, weiter, weiter, den Weg runter, weg aus der Gefahr, bis ich keine Spuren von Kuhhufen sehe. Trotzdem kann ich nicht aufhören, die Blicke nach links und rechts schweifen zu lassen und nach Fluchtmöglichkeiten Ausschau zu halten:
Welchen Baumstamm könnte ich hochklettern, welcher Hang wäre zu steil für Kühe und für mich machbar, an welches Brückengeländer könnte ich mich außen klammern? Wäre das Trafohäuschen zwischen zwei Pfosten genügend Schutz? Oder unter dem unrechtmäßig im Wald geparkten Auto? Wie käme ich da wieder weg, wenn sie mich umringen würden?
Das Tälchen wird einmal weiter, dann wieder enger, aber immer lieblicher, schafft es an einer Stelle zu einer Schlucht mit kleinem Wasserfall, das Bächlein rauscht und gluckert, gesäumt von Sumpfdotterblumen, Vergissmeinnicht, Heckenrosen und Prachtspieren. Idylle pur. Wie heißt das Bacherl, das Tal?

Langsam kehre ich ins Leben zurück, werde ruhiger, gehe langsamer, ordne meinen Atem und meinen Blutkreislauf, beide Hände auf dem Sonnengeflecht. Aber erst an den ersten Häusern von Puchberg mit Metallzäunen, Gartentoren und festen Mauern halte ich an und warte auf Isabella. Sie, um einige Jahre jünger als ich, immer schon Nichtraucherin und spitzenmäßig durchtrainiert, stellt ohne Neid fest:
Bumsti, du kannst aber rennen!
Danke, ich weiß, viel davongerannt, aber noch nie im Leben vor Kühen!
Oh Gott, was ist mit den seelenvollen Kühen meiner Mutter passiert? Der Inbegriff von Schönheit und Frieden?

Wir haben auf der Flucht eineinhalb Stunden verloren, hetzen zum Bahnhof und stellen fest, dass unser Zug in sieben Minuten ankommen soll. Wir halten uns für Glückskinder, sinken in die Sitze der Zwergenbahn und atmen selig durch. Gerade sehen wir noch in der untergehenden Sonne, dass der Schneeberg seinen Wolkenhut gelüpft hat.

Erlebt am 26.5., aufgeschrieben am 27.5.18

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 18137

Flotte Lotte oder Ein Beitrag zur Kulturentwicklung Russlands

Seit Tamara zuletzt bei mir zu Besuch war, revolutioniert eine Flotte Lotte das Leben in Russland. Zumindest in Moskau, zumindest das Leben von Tamara.
Ich kenne die Flotte Lotte noch nicht lange und hatte von Anfang an eine Abneigung gegen sie entwickelt. Meine aus Berlin stammende Freundin Helga nannte mich mit Spitznamen Flotte Lotte, weil ich mich schnell bewege, schnell rede, schnell esse, schnell schlafe, schnell denke – alles schnell.
Aber es vergehen noch ungefähr 35 Jahre, bis ich eine Flotte Lotte kaufe.

Das ist ein Gerät, das es in unserem Haushalt nicht gab. Du bist eine Flotte Lotte – ich konnte ich mir nicht vorstellen, dass das als Kompliment gemeint gewesen war. Eher spöttisch, abwertend, irgendetwas nicht besonders Liebenswertes, etwas Albernes. Noch dazu dachte ich, es sei etwas sehr Deutsches, das nur die Deutschen in ihrem Perfektionswahn brauchen, sonst kein Mensch auf der Welt. Ein typisches Vorurteil. Aber einmal lief ich über den Hohen Markt und blieb an dem Haushaltswarengeschäft hängen, das einen ganzen Verkaufswagen mit verschiedenen Modellen von Flotten Lotten zu Ausverkaufspreisen anbot.

So machte ich mich mit der Flotten Lotte bekannt und entschied mich für ein mittelgroßes Exemplar mit drei Einlegescheiben um flotte 29,90 €, sehr stabiler Stahl, gute Statik, praktische Box.
Dann machte ich mich mit der Funktionsweise vertraut, und so wurde die Flotte Lotte ein wichtiger Bestandteil meines Geräteparks. Ja, ich betätigte sie so gerne, dass ich meine Essgewohnheiten immer mehr auf das umstellte, was die Flotte Lotte hervorbringen konnte, Breie, Pürees, Pasteten, Cremesuppen, Marmeladen, Gelees und Chutneys. Nicht einmal das umständliche Säubern, das ich bei anderen Küchengeräten so hasste, machte mir bei ihr etwas aus.
Ich kaufte mir sogar ein Kochbuch Das Beste mit der Flotten Lotte. Langsam wurde daraus eine Leidenschaft, und ich merkte, dass die Flotte Lotte mich zu beherrschen begann. Die Rache des Geräts dafür, dass ich es so lange missachtet hatte. Da ich sie trotz allem zu wenig einsetzen konnte, ging ich dazu über, die haltbaren Dinge in großen Mengen herzustellen, mit denen ich meine Umwelt beschenkte.

Da kam Tamara zu Besuch und sah mich mit der Flotten Lotte hantieren.
Sie war begeistert und hingerissen. Das entspricht vielem in der russischen Küche. Also machte ich einen kurzen Lehrgang mit ihr, bis sie sie leicht zusammensetzen und wieder auseinandernehmen konnte. Auf dieses Weise beglückt, fuhr sie nach Moskau zurück. Seither bekomme ich zufriedene E-Mails mit Berichten über ihre Erfolge, wie sie beneidet werde für ihr Wundergerät, das niemand sonst in ganz Moskau besitzt. Ich habe ihr vorgeschlagen, ein Importgeschäft aufzumachen, da könnte sie endlich reich werden. Aber die Sanktionen gegen Russland verhindern dies bis jetzt.

Und ich denke mir meinen Teil dazu: Diese Großmacht, Atommacht, Weltraummacht, dieses Riesenreich, das so gern zum Weltführer werden möchte, das sich so unendlich erhaben über dem Westen und seiner verfaulenden Moral stehen sieht, bringt es nicht zustande, den Alltag der Menschen – vor allem der Frauen, ein bisschen zu erleichtern und zu erfreuen.

Wie man Erdöl, Erdgas und Kohle, Diamanten, Gold und Uran fördert, ja, aber kein Gedanke an eine Flotte Lotte. So habe ich mit meiner ein bisschen Entwicklungshilfe geleistet.

April 18

Was davor geschah, können Sie hier nachlesen.

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 18138