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Irrenhaus in Hinterwald – Teil 2

Der Waldschrat

Und wieder hatte es sich begeben, und wie schon zuvor auch diesmal in irgendeinem Ort, in einem vielleicht nicht ganz so unbedeutenden wie bereits beschrieben, aber trotzdem letztlich irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, in einem altehrwürdigen, mit Ritterburg und so, jedoch aufstrebenden und ehrgeizigen Ort, wie eben alle Orte im Zeitalter des Wirtschaftswunders. Ein Gymnasium, wo nie zuvor eines gewesen war, spontan ins Leben gerufen, ohne genügend qualifizierte Lehrkräfte dafür zur Verfügung zu haben. Den wenigen, denen man es zutraute, das erforderliche Bildungsprogramm umzusetzen, fehlt zum Teil die entsprechende Ausbildung und manche darunter sind bloß Volks- oder Hauptschullehrer.
Sonst scheint alles wie überall. Und doch ist alles nicht wie überall. Nein, wohl einzigartig. Dreiundzwanzig Knaben, in irgendeinem Klassenzimmer. Man schreibt das Jahr 1969. Mathematikunterricht. Kreidestaub und der Geruch pubertierender Knaben liegen in der Luft. Ein hölzernes Dreieck und ein Tafelzirkel am Katheder.
Der Waldschrat steht hinter einem Schüler. Eine Textaufgabe, wie kann es anders sein? Der Schüler ist ratlos. Warum kannst du das nicht, du Idot?, empört sich der Waldschrat. Zu seinem eigenen Leidwesen und zum Gaudium der Schüler kann er kein „i“ in Kombination mit anderen Vokalen sprechen. Der Bursche zuckt mit den Schultern. Ja, ich weiß eh, weil du noch viel blöder und depperter bist wie (sic!) deine Schwester, schreit er. Waldschrat haben die Kriegsmatura schon und das Studium nicht beendet. Scho, nuschelt er, scho, das ist eine Art Verlegenheitswort, soll schlicht und einfach ja heißen, welches in jeden seiner Sätze einfließt: scho, jetzt haltet‘s einmal die Papp‘n und hört‘s zu.
Und er erzählt. Einen Film. Er erzählt den Film Rififi, denn es ist kurz vor Weihnachten. Da erzählt er in allen Klassen immer den Film Rififi, die Geschichte des eben entlassenen Strafgefangenen Tony, der zusammen mit der Bande eines alten Freundes einen gemeinsamen Geldschrankraub durchführt. Das Unternehmen gelingt, wobei alle Beteiligten in einer Auseinandersetzung mit einer konkurrierenden Bande ums Leben kommen. Man ist daran gewöhnt, wie er die Übeltaten der Verbrecher wie jene des saunftn Tony (der sanfte Anton) des rodn Edi (der rote Eduard) und von Schau (Jean) schildert. In der Klasse ist es totenstill. Die einen schlafen, die anderen amüsieren sich an seiner schrulligen Aussprache.
Die Schule ist in einem Zubau an einer anderen Schule untergebracht. An der Treppe zum ersten Stock fehlt noch das Treppengeländer. Die Gymnasiasten toben durch das Stiegenhaus. Waldschrat hat Gangaufsicht und ruft den Schülern nach, sie mögen doch langsamer gehen, sonst fällt noch einer hinunter und bricht sich das Genick, hinterher war’s dann wieder keiner, setzt er hinzu.
Nun, nicht bloß Mathematik, nein, auch Chemie ist sein Fach. Und wenn es die Zeit und seine Laune erlauben, zeigt er hin und wieder den einen oder anderen Versuch in der Klasse. Da es keinen eigenen Chemiesaal gibt, wird improvisiert. Immerhin verfügt der Klassenraum über ein funktionierendes Waschbecken. Der Waldschrat hantiert mit Kaliumpermanganat, oder wie er es nennt, Kalumpermaganat (sic!), Glycerin und Wasser. Die Klasse wartet gespannt auf die versprochene chemische Reaktion im Waschbecken.
Nichts tut sich. Da hält es einer der Schüler nicht mehr aus. Aus der letzten Reihe läuft er nach vorne, um, über das Becken gebeugt, Nachschau zu halten. Da geht es los. Zischend spritzt ihm die ätzende Flüssigkeit direkt ins Gesicht. Was für eine Aufregung! Der Waldschrat brüllt, du Idot, hab ich gesagt, du sollst dich da drüber beugen? Der Schüler schreit, ist im Gesicht verätzt und muss sofort zum Schularzt. Diese Geschichte gehört seit Jahren zum Standard seiner Erzählungen und sie klingt so: Scho, ich mach da neulich einen Versuch mit Kalumpermaganat (sic!) verstehst, und bevor das ganze Zeugs da in die Luft geht, lauft mir ein Idot aus der letzten Reihe nach vor und steckt seine Nasn da hinein, das Kaibl (dummes Kalb) das blede. Aus der letzten Reihe!

 

El Commandante

Turnstunde im nach Geschlechtern geteilten Turnsaal. Auf der einen Seite die Burschen, auf der anderen die Mädchen. Es ist immer noch neunzehnhundertneunundsechzig. Während die Mädchen ein kleines Volleyballfeld abgesteckt haben, marschieren die Burschen in Viererreihen im Gleichschritt, oh du schöööhener Westerwald anstimmend durch den Saal. Dicht gefolgt vom Commandante dahinter, mit einem Metallpfeifchen an einer Schnur. Tritt jemand nicht im Schritt, gibt’s eins auf den Hintern mit dem ständig im Kreis geschwungenen Trillerding. El Commandante kommandiert nach Herzenslust, das sieht man ihm an. Braungebrannter Endfünfziger mit starkem roten Einschlag im Gesicht und zahllosen kleinen rot-violetten Äderchen im Nasenbereich, Weltkriegsteilnehmer, Parteigenosse.
Da erscheint eine Kollegin. Weißt du nicht, dass das verboten ist, ruft sie für alle hörbar. Daraufhin lässt er Marsch und Lied abbrechen. Alle ans Reck. Man übt den Felgauf- und -abschwung. Schmerzende Kniekehlen gelten nicht als Ausrede. Stahlharte Burschen will er sehen, der Commandante, sogenannte Burschen aus Stahl, fügt er hinzu, und schlägt einem mit dem Handrücken hart auf die Brust. Die Mädchen schauen herüber, sehen die Knaben in ihren schwarzen schlotternden Turnhosen und lachen. Ruhe!
Irgendwann ist Schikurs. Die Jungs zünden sich am Schlepplift genüsslich eine Zigarette an und singen „Pulverschnee und Pistenwind“. Hier, in diesem Abschnitt des Waldes, kann sie unmöglich jemand dabei beobachten. Der Alte sollte oben bei seiner Gruppe sein oder mit ihr auf irgendeiner Piste abfahren. Doch El Commandante ist mittendrin ausgestiegen und wartet mit seinem Notizblock hinter einer mächtigen Fichte.
Es kommt, wie es kommen muss. Die Strafe lautet, zu Fuß, also ohne Lift, hochsteigen. Eineinhalb Stunden stapfen die Burschen die Lifttrasse entlang hinauf, bis sie, lange Zeit atemlos, von dort aus wieder mit den anderen abfahren dürfen. Ihr Pippen ihr, man sollte euch ungespitzt in die Erde schlagen, tobt El Commandante, einer seiner Leitsprüche, die man schon immer kennt.
In der Nacht wird auf den Zimmern Karten gespielt. Draußen, auf den Fensterbrettern, stehen Bierflaschen zwecks Kühlhaltung. Wer trinkt schon gerne warmes Bier? Gegen zweiundzwanzig Uhr ist Nachtruhe. El Commandante kommt persönlich gute Nacht sagen. Im Zimmer riecht es stark nach Zigarettenrauch. Alles auf den Gang. Liegestütz die ganze Bande. Ermattet steigt man ins Bett.
Am nächsten Tag, Halbzeit, also der dritte Tag. Man hat Ausgang am Nachmittag. Kein Schifahren, wegen der erhöhten Unfallgefahr. Die Jungs kommen in Damenbegleitung gegen achtzehn Uhr aus dem Gasthaus. Nachtmahlzeit. Durch den Hintereingang. Der ist sicherer. Doch autsch, da steht El Commandante. Atemkontrolle! Du, du und du, ihr meldet euch nachher bei mir. Einer hat längere Haare. Unser Mädchen, ätzt El Commandante. Der Junge verdreht die Augen. Langsam sollten sich die Alten dran gewöhnt haben. Schließlich ist das Flower-Power-Zeitalter angebrochen. Unter den Heimkehrern befinden sich auch einige Schülerinnen aus der Parallelklasse. El Commandante holt eine zu sich her, klopft ihr mit der rechten Hand auf die Brust und tätschelt daran herum. Dann sagt er, so so, da sieht man, dass sie langsam eine Frau wird.
El Commandante unterrichtet auch Geschichte. Wenn er die Klasse betritt, in Rollkragenpulli unter dem Sakko, lässt er die Klasse aufstehen und inspiziert sie ausgiebig. Setzen. Dann schlägt er das Klassenbuch auf und fragt einen, wo sind wir stehengeblieben? Keine Ahnung. Ein anderer meldet sich, bei den Römern. Der Commandante nimmt die Brille ab und sagt kryptisch, die Römer? Stille. Die Römer? Was war mit denen? Er sieht einen der Knaben an. Der zuckt die Achseln. Was soll schon mit den Römern gewesen sein?
In der Turnstunde wird schwimmen gegangen. Wer hat keine Schwimmsachen mit? Unser Mädchen, natürlich. Du zahlst fünf Schilling in die Kasse. In welche Kasse? In die Kasse für – El Commandante reißt sich die Brille von der Nase, frag nicht so blöd! schreit er, aber er weiß wohl selbst nicht genau, für welche.
In den Pausen steht man zu dritt in der engen Herrentoilette zusammen und raucht. Rauchschwaden steigen über die Köpfe der qualmenden Schüler. Man hat das leise Öffnen der WC-Türe nicht gehört, die Stimmung ist gut hier drinnen, trotz Androhung einer Schularbeit in der nächsten Stunde, das Lachen zu laut. Da erschallt El Commandantes Stimme: Ich gehe davon aus, dass hier niemand schwul ist, also nehme ich an, es wird geraucht. Alles heraus. Immer die Gleichen, sagt der Commandante.
Das bedeutet zwei Stunden Karzer. Danach kriegt man gerade noch den Abendbus nach Hause. Die Eltern werden sich schon Sorgen machen. Am kommenden Vormittag eilt die Sekretärin mit einem Schreiben durch die Gänge und verkündet in jedem Klassenzimmer lauthals die Botschaft: Die Raucher fühlen sich wieder sicher! Es wird darauf hingewiesen, dass jeder, der beim Rauchen erwischt wird, mit Karzer und einer Disziplinarstrafe zu rechnen hat.

 

Pater Quardian

Ein schmächtiger Mann in brauner Kutte. Schütteres helles, beinahe weißes Haar. Krankenkassenbrille. Sandalen ohne Socken, sogenannte Herrgottspatschen. Seine Taille umgürtet ein geflochtener heller Strick. Ein Meister seines Faches wie auch der lateinischen Spwache, pardon, Sprache. Der Glaube ist ein Geheimnis, sagt er immer. Twummer, zuw Pwüfung, sagt er salbungsvoll. Er kann aber kein „r“ sagen, der Knabe heißt Trummer. Was weißt du übew die Iswaeliten? Nichts. Der Bursche schweigt. Setzen, Nichtgenügend, haucht der Padre. Ein andewew. Er deutet auf einen Schüler in der letzten Reihe, einen mit langen Haaren und einem Milchbart. Ich lasse mich nicht prüfen.
Pater Quardian wird stutzig. Wieso nicht? Weil ich das nicht glaube. Wieso soll der Glaube ein Geheimnis sein? Wenn er nicht für alle da ist, ist es ein Unsinn, sagt er. Der Pater steht unmittelbar vorm Herzinfarkt. Er springt entsetzt auf und stottert, awawawa – dadada – ich – ich – ich hoffe, alle ham’s gehöwt?, und trägt ein Nichtgenügend in den Klassenkatalog ein. Jeder bekommt eine zweite Chance. Versuche, den aufmüpfigen Schüler erneut zu prüfen, beginnen meist bloß mit den Worten: Zahlt sich’s aus! Der Schüler schüttelt den Kopf. Fünf. Das gibt eine Mahnung am Semesterschluss.
Dann gibt es einmal eine Schülermesse in der Klosterkirche. Pater Quardian hat, wenn auch nicht sofort, seine Zusage zu diesem Spektakel gegeben, soll doch eine Rockband, bestehend aus Schülern des hiesigen Gymnasiums, zur Heiligen Messe aufspielen. Schon beim Soundcheck stürzt der Pater voll Entsetzen herbei.
Nein, unmöglich, unbedingt leiser drehen. Das Türchen des Tabernakels vibriert scheppernd vom E-Bass. Zur Kommunion spielt die Band Joshua fought the Battle of Jericho. Der Schlagzeuger landet einen besonders harten Schlag auf dem Becken, wobei es durch die Schwingungen aus der Verankerung gehoben wird. Laut scheppernd fällt es auf den Steinboden. Den Pater trifft beinah der Schlag. Er wird blass und blässer und scheint beinah in seiner goldenen Kutte versinken zu wollen.
Die Schüler lachen, und das in seiner Kirche!
Viele viele Jahre später schreibt der langhaarige Nichtsnutz ein Entschuldigungsschreiben an den bereits greisen Pater ins Altenheim, dass er alles, was er ihm je im Unterricht angetan hat, zutiefst bereut. Pater Quardian hat ihm gerührt verziehen, er könne sich aber leider gar nicht mehr daran erinnern. Auch schade.

 

Old McDonald

Englisch. Tatsächlich, ein Schotte. Gegen diesen Professor ist nichts zu sagen, nichts zu sagen! Gnadenlos gegenüber Ignoranten, ja, das ist er. Schularbeitshefte werden quer durch die Klasse fliegend zurückgegeben mit kurzen, aber prägnanten Worten, wie Nichtgenügend, oder: very short and primitive! Man ist in der siebten Klasse. Manche unter den Schülern sind starke Raucher. Einer hustet auffällig oft. Mac Donald fordert ihn mit einfühlsamen Worten auf wie: Hey, Mister Dingsda on the back seat, die at home and not in my lesson! Sein Weihnachtsprogramm läuft wie folgt ab: Er betritt die Klasse mit einer doppelläufigen, nein, doppelhalsigen Laute, Kontralaute oder so. Dann schwingt er sich auf den Katheder. Von dort oben weiß er gekonnt und mit äußerst eindrucksvoller Stimme schottisches Liedgut authentisch wiederzugeben. Ausnahmslos hören die Schüler dem Barden gebannt zu. So vergeht die Stunde, gottlob ohne unangenehme Fragereien nach der Hausübung, die man ohnehin nicht gemacht hat.

 

Der Dux

Latein. Eine zurechtgestutzte, schon leicht ergraute Fliege ziert das narbige Gesicht unter seiner Nase. Aufgrund widerborstigen Haarwuchses lässt sich kein Scheitel damit machen, schon gar keiner nach rechts. Es bleibt die Igelfrisur. Die Figur, eher zart, klein von Wuchs. Er ist schlank. Anzug stets in Grau. Und er riecht stark nach Tabak. Er zeigt ein Päckchen Smart her. Was steht da drauf? Einer liest umständlich. Semper et ubique. Was heißt das? Sie da vorne? Ratlosigkeit. Immer und überall, schreit der Dux und grinst selbstgefällig. Sein Bärtchen dehnt sich dabei etwas und zittert.
Amare, sagt er. Sie dort hinten. Konjugieren S‘, und stehn S‘ gefälligst auf, wenn S‘ mit mir reden, kommandiert er. Nehmen S‘ die Hände aus den Hosentaschen und lassen S‘ die Hände runterhängen, befiehlt er schroff. Der Schüler stammelt. Nehmen S‘ Haltung an. Hände an die Hosennaht. Wo kommt er her?, fragt er den Schüler in der dritten Person. Aus – der Schüler stammelt einen Ortsnamen. Das ist doch dort, wo sich Fuchs und Has’ gute Nacht sagen, richtig?
Der Schüler räuspert sich. Er will nicht widersprechen. Ja, sagt er kratzig, ohne sich geräuspert zu haben. Das Futurum will nicht so recht gelingen. Das Präsens erst recht nicht. A-a-amo, aaa-mas, stottert er, a-a-a- amariat! Ein gebräuchliches Schimpfwort im Süden dieses Bundeslandes. Möglicherweise ein Fluch, wer weiß. Was redet er denn für einen Schwachsinn?, fragt der Dux grantig und hilft ihm schließlich bei der Ableitung. So geht das. Hat er vielleicht schon einmal gehört von?, deutscht er. Bitte? Der Schüler ist verwirrt. Sollte das eine Frage gewesen sein? Setzen, befiehlt der Dux kopfschüttelnd.
Es ist Schularbeit. Darf ich mich schnäuzen, fragt einer vorsichtig. Nein, kommt nicht in Frage, reagiert der Dux unwirsch, lassen Sie’s runterrinnen. Womöglich haben Sie Ihr Taschentuch mit Vokabeln gespickt, fügt er an. Mit den Händen am Rücken zieht er seine Kreise durch die Bankreihen und lässt seine Blicke immer und immer wieder über jeden einzelnen Schüler gleiten. Im Übrigen, ich warne Sie, sehen Sie nicht zum Fenster hinaus, es könnte ein Hubschrauber draußen fliegen, der Ihnen die richtige Antwort sendet. Ihre Blicke sind ausschließlich auf Ihr Heft gerichtet, verstanden?
Man darf auch nicht auf die Toilette, dort könnte ein Freund versteckt sein, den man zuvor bestochen hat, der einem die richtige Übersetzung liefert. Also, geben Sie auf, niemand kann Ihnen helfen, erklärt er den Schülern ihre ausweglose Lage. Lediglich der Primus grinst selbstzufrieden vor sich hin und schreibt, als kriege er dafür bezahlt.

 

Der Net Woa

Ein alternder Volksschullehrer wird mit dem Biologieunterricht betraut. Hochgewachsen. Das schüttere Haar, auf der einen Seite lang gehalten und kunstvoll zum Scheitel formiert, will, über das gesamte Haupt gekämmt, auf den kahlen Stellen des weisen Hauptes partout nicht halten und fällt immer wieder zur Seite herab. Dort schreit es förmlich nach Bändigung. Und flugs wird ein Kamm gezogen, einem Pistolero gleich, und schon ist es wieder dort, wo es vorgesehen ist, um für kurze Zeit an Ort und Stelle zu verweilen.
Die lateinischen Namen haben es ihm angetan. Schließlich unterrichtet man jetzt im Gymnasium, und die Schüler sind nicht irgendwelche Lümmel, nein, sondern Studenten, zu denen man Sie sagen muss. Ganz anders, als in der Volksschule.
Da wären also einmal die Selachier, net woa, Selachii, sogn die Lateina, und er lacht hoch, hihihi. Die Queeermäuler. Dabei strapaziert er besonders das lange e. Einer der Schüler steckt seine Zeigefinger in den Mund und zieht ihn auseinander. Damit zeigt er sich den hinteren Bankreihen. Gelächter. Die sogenannten Plagiostomen, wiederum Plagiostomi, net woa? Die meisten gähnen. Einer hat ein Pornoheft. Im Nu sitzen acht Burschen um den herum. Was ist dort hinten los, net woa?, sondiert der Oberlehrer. Nur ein Biologiebuch, sagt einer. Ah so, aber seid‘s leise, net woa, bittet er sich aus. Die gehören in die Ordnung der Knorpelfische, net woa? Charakterisiert durch ein knorpeliges Skelett, net woa, den auf der Unterseite des Kopfes angebrachten Mund in Form einer weiten Querspalte – Lachen. Chinesinnen, schreit einer. Gebrüll. Vorne hat einer das Wort aufgefischt.
Die Klasse will sich nicht mehr beruhigen. Ich kann auch zum Direktor gehen, net woa, versucht der Net Woa Druck zu machen. Langsam wird es ruhiger. Die drübere Seite der Klasse blättert heftig im Pornoheft. Jetzt wart doch, du Trottel, blätter zurück, nicht so schnell. Bist du deppert, raunen zwei. Der Net Woa, neugierig geworden durch die Ansammlung in der letzten Reihe, ist aufgestanden und zieht mit beiden Ellenbogen seine Hose hoch, die der alte ausgeleierte Gürtel ohnehin nur recht und schlecht zu halten vermag.
Langsam geht er nach hinten. Weg weg, raunt einer. Das Heft verschwindet in der Bank. Alsdann, was hamma da, net woa? Wir sind schon fertig, Herr Professor, sagt einer. Wird auch gut sein, net woa, sagt der und geht wieder zum Katheder. Weiter. Durch sackförmige Kiemen, net woa, und noch viele minder hervortretende anatomische Merkmale, net woa – Mehr hat es nicht gebraucht. Die Klasse tobt. Jeder gibt sich seiner eigenen Fantasie über die sackförmigen Kiemen hin und versucht in schaustellerischer Manier das Objekt, so gut es geht, für die anderen in Mimik und Gestik darzustellen. Es muss auch a bissl ruhig sein, net woa, mahnt der Oberlehrer nun etwas lauter als vorhin, und will fortfahren. Ihre Haut, liest er aus dem Lehrbuch, net woa, ist mit kleinen Knochenkörnern – weiter kommt er nicht. Die Klasse ist außer Rand und Band. Der Oberlehrer steht auf. Holt die rutschende Hose wieder herauf in ihre vernünftige Position und kämmt die langen Strähne von der einen Seite auf die andere. Es hat den Anschein, als sei er auf einmal nicht mehr so ganz sicher, ob es nicht doch bloß Lümmel sind, und keine Studenten, net woa, und er droht erneut mit dem Direktor.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno |Inventarnummer: 15133

Der Wehrmann

Nun ist man endlich neunzehn geworden und hat die Schnauze von Schule und Elternhaus so ziemlich voll. Sich freiwillig zum Heer zu melden, scheint zu diesem Zeitpunkt die einzige, zwar nicht attraktivste, doch immerhin realistischste Methode, um sich der Umklammerung durch diese Instanzen zu entziehen, und weil man ja doch irgendwann einmal dorthin muss. Der Herr Vater ist erstaunt jedoch machtlos gegen diesen Entschluss, sollte man doch vorher das Gymnasium beenden. Schließlich aber wird man in den Zug gesetzt, der einen in Richtung Kaserne befördern soll.
Nun also ist der Tag gekommen, an dem man plötzlich Wehrmann ist. In gewissem Sinne war man eigentlich immer schon Wehrmann, denn man hatte sich stets gegen alles erfolgreich gewehrt, was mit Frühaufstehen, Disziplin und geregeltem Tagesablauf in Verbindung zu bringen war, doch diesmal liegt der Fall anders. Es scheint Kalkül dahinter.

Da stehen sie nun herum. Ein wilder Haufen junger Männer, aus allen Gegenden des Landes. Eine Kaserne weit außerhalb der Zivilisation. Auf Dächern langgezogener Gebäude sind große rote Kreuze in weißen runden Feldern auf Dachziegel gemalt. Ein Wachtmeister, komischer Vogel, mit schiefem Lächeln und wenig Grips unter der Mütze, kommandiert: ab zur Kleiderkammer. Die Ärmel sind zu lang. Hände abbiegen. Passt! Man kriegt vom Hemd bis zu den Schuhen alles, und alles ist zu groß. Strapazschuhe, Lauflernschuhe genannt, Schaftstiefel. Warten. Mittagessen. Warten.
Eines der Hauptvokabeln ist -mäßig. Es heißt gefechtsmäßig, vorschriftsmäßig.

Am Nachmittag geht´s hinaus in den Hof, zum Exerzieren. Das ist wichtig, denn bisher konnte man ja kaum richtig gehen, wird erklärt. Davor aber Grüßen lernen. Die Hand an die Schirmmütze, Füße zusammen. Einer fragt, bitte die Hand tangential an die Schirmkante anlegen? Der Vogel versteht nicht. Was soll das heißen, tangential? Ist wohl ein Mathematiker darunter? Dann: Habt Acht! Vergatterung! Was wird gewollt? Ach so, man bildet vier Reihen, jede Reihe ist ein Glied. Gelächter. Ruh im Glied, schreit der Vogel. Dann setzt sich der Zug, die vier Reihen sind also ein Zug, in Bewegung. Im Schriiiiiitt! Das Ganze links, a links a links zwo drei vier, kräht der Wachtmeister. Rechts. Richtung geradeaus. Dann halbrechts. Die vier an der vordersten Reihe biegen sofort ab, in die Rosensträucher am Grünstreifen. Idioten, brüllt der Vogel, erst dort vorne, an der Wegbiegung! Wer soll das wissen? Also rückwärts Marsch. Die Gruppe setzt zurück, schwerfällig wie ein Lkw. Wachtmeister Vogel ist schon über vierzig und hat drei silberne Plastiksterne und einen Balken am Revers und ist schon oft degradiert worden, weil er so schlampig ist. In der Kantine grüßen ihn die jungen Korporäle mit guten Morgen, Herr Hauptmann. Dann wird er grantig, der Vogel. Aber einer der Korporäle entschuldigt sich und sagt, Verzeihung, die Sonne, ich hab geglaubt, es sind drei goldene, und alle lachen. Vogel wird rot und brüllt, halten S‘ Ihr Maul.

Die Tage vergehen. Immer derselbe Trott. Man hat Glück und wird nicht Mannschafts-Vieh, sondern Kompanieschreiber. Das ist sehr praktisch, denn es erspart einem das Mitmachen bei Nachtübungen und sonstige Schikanen. Der Spieß, Offizier-Stellvertreter Bindl, ist ein rauer Bursche, aber in der Schreibstube relativ zahm. Immer in Uniform fällt man nicht besonders auf. Bis man eines Tages beim Ausgang gesehen wird, mit Wollmütze und Dufflecoat, Jeans in braunen Lederstiefeln. Sie seh‘n ja aus wie ein Kanak‘, ruft der Spieß hinterher. Beim Morgenappell stellt er sich breitbeinig vor die stramm stehende Kompanie und brüllt: Noch was, ich war gestern auf Ihrem Scheißhaus brunzen. Dort schaut es aus wie in einem Bauernscheißhaus. Da gibt es offenbar sogenannte Kunstscheißer. Die scheißen nicht in die Schüssel, sondern auf die Wand. Gelächter. Maulhalten! So also ist das bei der Armee.

Da ist noch der Kompaniekommandant, der Hauptmann Himmelhund, weil er die Truppe immer mit „Himmelhunde“ begrüßt. Sonderbarer Mensch. Immer in Schaftstiefeln, Hände auf dem Rücken, die Mannschaft musternd. Einer hinterm anderen. Decken Sie Ihren Vordermann, heißt es. Sonst ist er recht wortkarg. Er hat aber etwas Überhebliches in seinen Augen. Sieht auf seine Unteroffiziere von oben herab.
Seit Wochen ist Verbandslehre angesagt. Sanitäter müssen üben und nochmals üben, sagt er. In einem der Lehrsäle wird soeben ein Gerät zum Wasserfiltern zusammengebaut. Zwischendurch kontrolliert der Himmelhund immer wieder den Fortschritt der einzelnen Gruppen. Kaum ist der Wasserfilter betriebsbereit, inspiziert der Himmelhund auch schon die Wasserqualität. Herschaun!, sagt er. Den Mistkübel her, Aschenbecher auch! Er leert alles in den Trichter über dem Gerät. Einschalten, sagt er barsch zu einem Ausbildner. Sehen Sie, und hält das Glas gegen das Licht, ganz klar, obwohl es trüb zu sein scheint. Er trinkt und spuckt das Wasser sofort wieder aus. Verdammt! Himmelhunde! Man hat vergessen, die Filter einzubauen. Der Ausbildner kann sich was anhören.

Die Zimmerbelegschaft ist akzeptabel. Sogar ein Schulkollege aus dem eigenen Ort ist dabei. Franz. Franz hält es nicht so genau mit seinem Spind. Spindkontrolle. Jeder muss sich davor hinstellen und sagen: Das ist der Spind des Wehrmannes soundso. Ihr Nachthemd, sagt der Unteroffizier zu Franz, das müssen Sie nachteeren, da kommt das Weiße durch. In den Laden liegen geöffnete Konservendosen herum. Ein paar weiße Maden kriechen auf dem Blechrand. Das gibt ein Nachspiel. Wochenende gestrichen. Spind in Ordnung bringen. Aber Franz ist ein guter Mensch. Als man sturzbetrunken aus dem Bett fällt, trägt er einen auf Händen zur Toilette, zum Übergeben. Das macht ihn unvergesslich.

Ein anderer ist beinahe dreißig, Anthroposoph oder so ähnlich, hat ein Doktorat. Erwin. Er ist schon verheiratet und darf zu Hause schlafen. Man beneidet ihn. Erwin wird zum ständigen persönlichen Begleiter im Lehrsaal, wegen des Schreibstubendienstes jedoch selten auf dem Felde, oder zumindest nur bei wichtigen Übungen, bei denen jeder dabei sein muss, auch der Kompanieschreiber. Erwin erklärt einem die Welt neu. Schließlich ist man auf dem Lande groß geworden. Erwin ist bei einer schlagenden Studentenverbindung. Er hat eine Narbe über dem Auge. Das ist ein Schmiss, sagt er, und erzählt den staunenden Zimmergenossen, wie das so ist, bei einem Degenkampf.
In den Lehrsaal geht man in Lehrsaaladjustierung, lehrsaalmäßig, das heißt, ohne Krawatte.
Beim Gefechtsdienst trägt man Krawatte. So einfach ist das. Hin und wieder macht man Dienst mit der Waffe. Die Waffe hat stets eingeölt zu sein, wird einem eingeimpft. Neben dem Lehrsaal ist eine Kantine. In den Pausen trinkt man weißen Spritzer. Erwin hebt sein Glas und ruft, streng nach Vorschrift, leicht einölen. Gegen Mittag sind alle betrunken. Die Stimmung ist gut. Der Ausbildner wirft, um Zeit zu sparen, jedem Rekruten eine Rolle Verbandsmull zu, bis hinten in die letzte Reihe, für das Üben von Übungsverbänden. Man übt Kornähren. Am Bein, an der Hand, am Arm. Mit dem Dreieckstuch macht man sich Kopftücher.
Die Stimmung wird nach jeder Pause ausgelassener. Leicht einölen! Jawoll, gefechtsmäßig einölen!, grinst man sich an. Am Ende der Stunde werden die Faschen wieder eingesammelt. Alle werfen die Rollen nach vorne, die sich während des Fluges in der Luft von alleine entrollen und ineinander verheddern. Tobendes Gelächter. Der Lehrsaal sieht aus wie im Fasching. Der Ausbildner ist machtlos, brüllt etwas von ordentlich aufrollen, aber niemand kümmert sich darum. Übermütige werfen noch zusätzlich aufgehobenes Verbandszeug nach vorn, um das Spektakel noch zu steigern.

Manchmal bleibt einem der Gefechtsdienst trotz Schreibstubendienst nicht erspart. Das bedeutet, hinaus in die Kälte. Es ist der dreißigste November neunzehnhundertdreiundsiebzig. Raureif hat das Gras weiß eingesponnen. Es ist kalt. Als Kind kriegt man einen warmen Schal umgebunden.

Es gibt einen dicken Vizeleutnant, Hornig, der ist für das Leben im Felde zuständig. Die Uniformen haben allesamt goldene Knöpfe, fein ziseliert. Auch die der Rekruten. Und es gibt viele dran. Unsichtbar machen, kommandiert Hornig. Das heißt, die Knöpfe mit Erde beschmieren, damit sich nicht mehr glänzen und blinken und dem Feind verraten, wo man sich befindet. Hinterher kriegt man die nie mehr sauber, auch nicht mit einer Bürste. In den feinen Vertiefungen der Strukturen hält sich der Dreck besonders gut. Das kann den Urlaubsschein kosten, wenn die Uniform schmutzig ist.
Hornig befiehlt Liegestützen, wenn man etwas falsch gemacht hat oder seine Waffe nicht mehr richtig zusammenbauen kann. Dann schreit er, machen Sie zwanzig Liegestütze. Und während man Liegestütze macht, schreit er, und ficken Sie nicht das Mauseloch. Man darf aber nicht lachen, sonst muss man zehn mehr machen. Hornig erklärt auch den Schuhputz und belehrt einen, dass Schuhe ausschließlich dazu da sind, um geputzt zu werden.

Zwischen den einzelnen Tagesbefehlen liegen immer wieder Wartezeiten. Warten gehört dazu. Im Felde spielt man Ernstfall. Plastikwunden, sogenannte Mullagen werden umgebunden und die scheinbar Verletzten im Gelände liegend verteilt. Schockgesicht, offener Beinbruch, Darmaustritt. Die Verletzten müssen um Hilfe rufen. Alle lachen dabei. Man muss die Verwundeten aufspüren und erstversorgen. Dann kommt der Bergepanzer, rollt über Sanitäter und Verletzten drüber, wobei der Verletzte von der Sanitätsmannschaft durch ein enges Loch ins Innere des Panzers gezogen wird. Es ist ratsam, sich recht schlank zu machen, um nicht unter die Ketten des Fahrzeugs zu kommen.
Manche haben schon irgendwie Angst, wenn das Riesending so ratternd und fauchend und donnernd über einen drüberfährt. Man übt auch das Laufen und gebückte Laufen in Deckung mit Verwundeten durch Tragbahren. Einmal kriegt man einen besonders dicken draufgelegt. Sprung, vorwärts, decken, mit dem Fettwanst drauf! Aber der wird schon nach kurzer Zeit wieder abgeworfen, wenn es der Ausbildner nicht sieht, indem man die Bahre flugs umdreht. Da ist er auch schon unten. Und der Dicke tut gut daran, bis zum Sammelplatz gefälligst zu Fuß zu gehen, wenn er mit der Tragemannschaft nach Dienstschluss keine Probleme haben will.
Biwakieren ist eine eisige Angelegenheit mit einem Zeltblatt, aus dem die Beine ragen und einer einzigen Wolldecke, die obendrein noch unangenehm riecht. Die Bohnen in der Dose wollen über dem Spirituswürfel nicht so richtig warm werden, also isst man sie kalt. Das hat Folgen und man macht die ganze Nacht kein Auge zu wegen der Blähungen, auch der Schreiber der Kompanie nicht, denn einen Gefechtsdienst muss auch dieser mitgemacht haben.

Am Abend wird in den Zimmern Karten gespielt und getrunken. Unter dem Stockbett wachen jeden Morgen unterschiedliche Kameraden auf. Unter ihnen ist auch einer, der später ein bekannter Kabarettist werden sollte. Er ist Kroate und mächtig stolz drauf. Und der auch nach dem Heer sehr human wurde. Aber zu dieser Zeit ist er noch nicht besonders human, denn er stößt, betrunken, wie immer, einen Rekruten mit deutschem Akzent mit seinem Stiefel vor die Brust über die Treppen der Kleiderkammer, weil ihm nicht gefällt, wie er spricht und sagt dabei, Spatzi, wos wüst? Wenn er unter dem Bett hervorkriecht, nachdem Tagwache gerufen worden war, ist er zur Gänze voller Lurch. Das erspart das Aufkehren an dieser Stelle des Zimmers. Er zündet sich sofort eine Gauloise an und sagt dann: Spatzi, gibt mir einen Schluck von der Flasche dort. Auf dem Tisch steht ein Doppelliter Wein vom Vorabend, den die Zimmerkollegen nicht ganz ausgetrunken haben.
Überhaupt setzt sich das Wort Spatzi innerhalb der Truppe in dieser Zeit stark durch. Vom kleinen Tischchen des diensthabenden Korporals vom Tag, draußen am Flur, dringt laut „Satisfaction“ bis in die Zimmer, bis der Spieß kommt und fragt, ob man deppert ist oder derisch. Das Radio wird abgedreht. Unter denen, die öfters unter fremden Betten aufwachen, ist auch ein Kandidat der Medizin. Er ist jeden Tag stockbetrunken. Er sagt auch Spatzi zu jedem und ist ein Freund des Kabarettisten. Er steht mit allen Ausbildnern und Unteroffizieren auf gutem Fuß und trinkt mit ihnen. Er darf auch den Kurs für die Instrumentenkunde leiten, selbstverständlich betrunken, für das chirurgische Besteck und so. Nichts deutet darauf hin, dass er kein Antimilitarist ist. Als „Beinahe-Arzt“ haben sie ordentlich Respekt vor ihm, und nicht nur, weil er so viel Alkohol verträgt. Jahre später wird er Kompaniekommandant in derselben Kaserne und Primararzt.

Acht Wochen sind vergangen. Schließlich hat man auch die Prüfung zum Sanitätsgehilfen bestanden und damit die Ausbildung beendet. Alle anderen werden verschiedenen Kasernen als Sanitäter zugewiesen. Selbst ist man dem Ministerium zugeteilt worden und muss per Straßenbahn, mit Rucksack, Stahlhelm und Sturmgewehr den Standort wechseln. Mittlerweile ist es Winter und bitterkalt draußen. Der Mantel ist zu lange, die Schultern zu breit, der Rucksack zu schwer. Da reißt ein Riemen und der Stahlhelm kollert durch das Innere der Straßenbahn. Ein Bild, erbarmungswürdig. Die Leute in der Straßenbahn lächeln. Weihnachten ist man nur für drei Tage bei der Familie. Es ist besser so, damit die alten Wunden nicht wieder aufbrechen. Es gibt nicht viel zu erzählen. Wie es eben so ist, hält man sich bedeckt. Es kann einem ja doch niemand helfen. Da muss man durch. Man hätte es ja so gewollt, also was soll´s?

Nun wohnt man in einer Blechbaracke einer Kaserne in der Stadt. Keine Isolierung. Das Fenster ist außen ebenso vereist wie innen. Der Boden asphaltiert. Man hat ständig kalte Füße und Schnupfen. Luftschutztruppenschule heißt es dort. Der Rekrut am Telefon meldet sich mit Lustschutztruppenschule und lächelt dabei vielsagend. Versteht sowie keiner. Am Tage der Umsiedelung wird in der neuen Kaserne soeben der alte Kommandant verabschiedet. Es hat gefroren in der Nacht. Die beiden Offiziere stehen sich gegenüber, der alte und der neue. Sie gehen im Stechschritt aufeinander zu. Da gerät der Alte auf eine Eisplatte, als er jäh zu stehen kommt, rutscht er darauf aus und fällt in Slapstickmanier auf den Hintern. Das Gelächter von vier Kompanien erschallt über den Kasernenhof. Ruuuuhäääää!, brüllt ein Offizier. Allleeee Urlaubsscheine sind ab sofort gestricheeen! Scheiße! Das ist also der erste Tag hier.

In der Blechbaracke ist eine kleine Kompanie untergebracht, bestehend aus Akademikern im vorderen Teil und Kraftfahrern im rückwärtigen. Warum man hier sei, als Schüler noch dazu, man hat doch einen Onkel irgendwo, man könne es ruhig sagen? Also ausschließlich was für Privilegierte. Wieder Glück gehabt. Und man hat keinen Onkel. Man hat niemanden. Vielleicht Vater und Mutter, weit weg. Der Kompaniekommandant ist ein Oberstleutnant und er hasst Männer, weil sie hässlich seien, sagt er, im Gegensatz zu den Frauen, sagt er. Sein unmittelbarer Unteroffizier, Wedlhammer, ist ein selbstbewusster Mann, der seinem Vorgesetzten immer gerne widerspricht und die Jungmänner vor ihm in Schutz nimmt. Der Oberstleutnant wurde im Weltkrieg wegen besonderer Eignung zum Offizier ernannt. Das kennt man schon. Und seine Haut im Gesicht ist tiefrot und er hat einen Goldzahn vorne.

Der Dienst im Ministerium ist leicht. Es wird erwartet, dass man ein paar Formulare ausfüllt, Krankmeldungen erkrankter Rekruten ordnet, hin und wieder eine Kopfwehtablette in ein Zimmer bringt und manchmal in die Kopierstelle nach unten fährt, um etwas abzuholen oder kopieren zu lassen. Es gibt einen Lift, einen Paternoster, in den man auf allen Ebenen ein- und aussteigen kann, während sich das Ding ohne stehenzubleiben auf der einen Seite hinauf- und der anderen Seite hinunterbewegt. Das ist sehr unterhaltsam.
Man liebt diese Wege, bei denen man ihn benutzen kann. Einmal vergisst man, rechtzeitig im Obergeschoß auszusteigen und kriegt Angst, weil es unters Dach geht, wo die Seile und Rollen sind und alles knarrt und knattert. Aber es passiert nichts und man kommt nach der Umrundung wohlbehalten wieder unterhalb an. Im Zimmer sitzen ein Amtsrat, Herr Asteck und ein C–Beamter für die Schreibdienste, Herr Weber. Herr Asteck und Herr Weber mögen einander nicht. Asteck deckt Weber immer auf, weil er trinkt und viele Rechtschreibfehler in seinen Schreibarbeiten hat und so viel Unsinn redet. Weber mag Asteck nicht, weil der immer alles weiß und ihn immer wegen seiner Fehler überführt, auch wenn er sie geschickt zu überspielen versucht.
Weber geht viertelstündlich auf die Toilette. Asteck verrät, Weber hätte einen Doppler in der Klospüle, aus dem er immer trinkt. Und Weber hat eine blauviolette zerfurchte riesige Nase. Das kommt vom Saufen, sagt Asteck. Oft ist nichts zu tun. Asteck steckt sich eine Flirt an, legt die Ellenbogen auf seinen Schreibtisch und beginnt dann immer, Weber zu verhören. Na, Herr Weber, waren wir wieder beim Heurigen am Wochenende? Selbstverständlich, Herr Asteck, sagt Weber dann. Was haben Sie denn gegessen, fragt Asteck und Weber sagt, eine Stelze, wie immer, Herr Asteck. Und dazu haben Sie eine Flasche Wein getrunken, richtig?, bohrt Asteck. Selbstverständlich, sogar zwei, sagt Weber dann stolz. Seh´n Sie, wendet sich Asteck dann an den Rekruten, wie gut es dem geht, und lacht.
Nächstes Jahr fahren wir in die Cämpän, sagt Weber. Wohin?, lacht Weber und sagt, das heißt doch Campagne, nicht wahr, zum Rekruten. Man sagt besser nichts dazu. Dann entfacht sich ein Streit zwischen Asteck und Weber wegen der Aussprache der Cämpän. Kurze Zeit später fährt Weber mit dem Paternoster hinunter in den dritten Stock, wo die Kantine ist. Er geht an die Bar, hebt den Zeigefinger, kriegt automatisch ein Viertel Rot, und während er eine Zigarette raucht, trinkt er das Glas mit drei Schlucken aus. Hernach begibt er sich wieder in die Kanzlei nach oben. Ist dann wieder nichts zu tun, sieht Astecker Weber längere Zeit spöttisch an und fragt: Na, Weberin, was gibt´s Neues? Dann wird Herr Weber wild und sagt: Sagen Sie nicht Weberin zu mir, wenn ich bitten darf, nicht vor dem jungen Mann da.

Im übernächsten Zimmer sitzt ein Oberstarzt mit einem Glasauge. Er raucht ununterbrochen. Wenn man in sein Zimmer gerufen wird, sieht man ihn oft nicht wegen des Rauchs. Er bietet einem einen Platz an und erzählt von seiner Jugend und vom Krieg, und dass er in einem Straflager mit Sträflingen in einem Steinbruch war, in dem er vor Schwäche beinahe gestorben wäre. Nur einer der Sträflinge hat ihn über die Runden gebracht, sonst säße er heute nicht hier. Einmal wird man wieder in sein Zimmer gerufen, um ihm einen Krankenakt eines Rekruten zu bringen. Machen Sie sich nichts draus, sagt der Oberst und bläst den Rauch seiner Zigarette vor sich her, ich hab‘ einen fahren lassen.

Im anderen Nebenzimmer sitzt der General-Arzt, Astecks und Webers unmittelbarer Vorgesetzter. Er ist jüngst zum Heeressanitätschef ernannt worden. Asteck hat ihn sofort nach Bekanntwerden der neuen Beförderung mit dem neuen Titel angesprochen. Der aber hat abgewehrt und gesagt, er mache sich da nichts daraus. Sekunden später läutet das Telefon beim General. Er hebt ab und schreit in den Hörer, Heeressanitätschef Generalarzt Doktor Britt.

Gegen siebzehn Uhr ist der Dienst beendet und man fährt mit der Bim wieder in die Kaserne. Dort gibt es die abendliche Standeskontrolle, und danach hat man Ausgang. Die Kraftfahrer machen immer wieder allerlei Unsinn, zerschlagen betrunken Sessel und Tische oder bleiben die Nacht über weg. Der Oberstleutnant will dafür alle bestrafen, auch die Rekruten aus der Akademikertruppe und kündigt für Freitagabend eine Nachtübung für alle an. Aber wirklich nicht, widerspricht ihm Wedlhammer, da kennan S‘ allanich hingehn! Die Truppe lacht. Der Oberstleutnant wird rot, flucht und nimmt Wedlhammer beiseite. Aber wenn der nicht will, geht gar nichts. Also belässt man es bei einer Bestrafung der tatsächlichen Übeltäter, womit schlussendlich der Gerechtigkeit Genüge getan wird.

Und dann ist es endlich März geworden und mit diesem Monat ist man Abrüster. Aaaaabrüsten hört man schon am frühen Morgen durch die Gänge der Baracke hallen und auf dem Flur hört man Tina Turner aus dem Kasettenrecorder mit Natbush City Limits und I´m free von den Who, und man schmiedet Pläne, was denn nach dem Militärdienst jetzt nun eigentlich werden soll.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 15131

Irrenhaus in Hinterwald – Teil 1

Der Werwolf

Und es begab sich, in irgendeinem Ort, irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit, trockengelegt und „zuasphaltiert“, wie alle Orte im Zeitalter des Wirtschaftswunders. Eine Hauptschule, wie überall. Und doch nicht wie überall. Nein, wohl einzigartig. Fünfundzwanzig Knaben, in irgendeinem Klassenzimmer. Man schreibt das Jahr 1965. Mathematikunterricht. Kreidestaub liegt in der Luft. Ein hölzernes Dreieck am Katheder. Der Werwolf steht hinter einem Schüler. Eine Textaufgabe. Warum kannst du das nicht, du Trottel? Der Knabe zuckt mit den Schultern. Ja, ich weiß eh, weils d‘ blöd bist! Zack! Eine Ohrfeige. Der Knabe beginnt zu weinen. Was? Plärren auch noch? Doppelte Watschn. Eine sogenannte Hauswatschn, wie sie der Werwolf immer nennt.
Der Werwolf ist der Direktor. Der Knabe weint noch lauter als zuvor. Raus auf den Gang, dort störst niemanden, kommandiert der Werwolf. Der Knabe geht laut schluchzend vor die Tür. Der Werwolf beugt sich über einen anderen Schüler. Er kontrolliert die Rechnungen in seinem Heft. Der Lehrer stinkt aus dem Mund. Sein Sakko riecht stark nach Zigarettenrauch. Er hat gelbe Zähne. Die, die nicht gelb sind, glänzen silbern. Sie blinken, wenn er sein breites Maul öffnet. Beim Sprechen zieht sein Speichel vom Unter- zum Oberkiefer weiße Fäden. Ab und zu verzerrt er sein Gesicht zu einer Grimasse. Er verrenkt sich den Hals. Tut, als wäre ihm der Hemdkragen samt Krawatte zu eng. Dabei verschiebt er den Unterkiefer stark nach links. Mehrmals hintereinander. Immer dann, wenn er sich ärgert. Und er ärgert sich immer. Er ist sehr nervös.
Die Verrenkungen werden häufiger. Einer der Knaben schwitzt stark. Hör auf zu schwitzen, Schwitzerter!, befiehlt der Werwolf. Ein anderer will den Vorhang zuziehen, weil ihn die Sonne blendet. Lass den Vorhang in Ruh, Depperter, sei froh, dass dich die Sonn´ anscheint. Wenn s‘ dich nimmer anscheint, schaust du dir ohnehin die Erdäpfel von unten an. Er lacht als Einziger über seine eigenen Worte.
Dann sagt er, sich einem anderen Schüler zuwendend: Wenn du das nicht kapierst, du Trottel, dann wird´s nix mit´n Gymnasium. Sonderschul´ kannst gehn, wauns die nehman, Depperter. Dazu lacht er und erwartet, dass die Klasse mitlacht. Seine Silberzähne blinken im Sonnenlicht.

 

Das Frontschwein

Englischunterricht. Er war an der Afrikafront unter Rommel. Er hat einen fetten Hintern und einen feisten Wanst. Seine Zähne haben einen ausgeprägten Vorbiss. Die Augen quellen stark hervor. Sein kurzer Haarschnitt macht ihn einem Gorilla ähnlich. Sein Kopf zeigt entlang der Schläfen zwanzig Jahre nach dem Weltkrieg immer noch die Spuren des Stahlhelms, wo dieser aufgesessen ist. Er hält zwei Vierziger-Lineale in der Hand.
Einer der Knaben kann die Vokabeln nicht. Neunzig Grad, brüllt der Veteran. Der Knabe muss sich über eine Schulbank in der ersten Reihe bücken. Der Englischlehrer legt beide Lineale übereinander und schlägt damit zwanzig Mal auf des Knaben Gesäß. Der Knabe wird rot im Gesicht. Kurz darauf beginnt er zu brüllen. Die Klasse sieht versteinert zu. Die Schüler atmen nicht. Erst wieder, als alles vorbei ist. Keiner möchte der Nächste sein.
Der Englischlehrer erzählt zum x-ten Mal denselben Witz. Ein Mann wird beschuldigt, einem anderen ein blaues Auge geschlagen zu haben. Der Beschuldigte beteuert, jener sei ihm in die Faust gelaufen. Die Klasse lacht. Weil sie muss.

 

Der Hunne

Physikstunde. Man kann ihn nicht so recht verstehen, den Hunnen. Er ist nicht von hier. Jemand macht leise mimimimimi. Von den hinteren Bänken hört man Lachen. Der Hunne springt von seinem Sessel auf. Kommst ausse, Bärschl!, schreit er. Soll heißen, Bursche, komm heraus. Eöööh, macht der Hunne, Bärschl, kumm aussssi! Der Hunne schnellt seinen Kopf in den Nacken und fistelt etwas mit hoher Stimme. Er zieht die Luft durch seine spitz gemachten Lippen, so als wolle er heiße Suppe schlürfen. Aber es soll bloß sein Entsetzen signalisieren, dass einer der Knaben es wagt, seine Autorität zu untergraben. Er hat eine Glatze und das Sakko spannt über seinem Bauch. Mimimimimi?, macht er, wööör waaagt es, den Löhrer zu beleidigen? Sein Kopf fällt abermals in den Nacken, er verdreht die Augen. Er läuft auf einen Schüler zu und packt ihn am Kragen. Mit hoher Stimme, wie ein Dummerl, auf Kindergartenmanier: Hast du es gewagt, hörst, den Lehrer nachzumachen?, fragt er den Erschrockenen. Wieder im hohen Fistelton und diesmal ganz schnell: Ist es erlaubt, den Lehrer nachzumachen? Ist es erlaubt? Immer wieder: Ist es erlaubt, den Lehrer nachzumachen? Öööööööööiiiiiiiiiiii? Haucht: Den Leeehhhhrer naaachzumachen? Sein Kiefer klappt dabei auf und zu wie bei einem Krokodil. Ist es gestattet, fügt er nahezu beamtisch hinzu, ganz schnell, überdeutlich artikulierend.
Der Junge wird rot. Nein, stottert der, nein. Der Hunne zieht den Knaben am Ohr, so lange bis der schreit. Eine Ohrfeige folgt. Dann noch eine. Eine dritte. Mimimimi, der Hunne diminuiert in den höchsten Tönen. Wagst du es, hörst, den Leeeehhhrer nachzumachen? Ganz schnell und stolpernd: Wagst du es, den Lehrer nachzumachen? Nein, stottert der Junge. Dann leise, ganz sanft im Ton, belehrend: genau. Niemandem ist es gestattet, den Leeeehrer nachzumachen. Lippen spitz, Kopf nach hinten geworfen. Ihn zu verspotten! Flüstert: ihn lächerlich zu machen. Noch leiser, singend: ihn vor allen zum Gespött zu machen. Eöööööh!, verhallt es.
Dann, ganz plötzlich, brüllt er: Geh Platz! Platz! Sitz!
Es ist mucksmäuschenstill in der Klasse. Er selbst aber setzt sich bedächtig auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch. Dort blättert er in seinen Lehrbüchern und beginnt nach einer kleinen Pause andachtsvoll, Kusslippen: Füüüüsiiiiik – meine Herren, ist eine ernsthafte Wissenschaft. Er hat den Kopf wieder ganz nach hinten gelegt. Dann, wie der Priester in der Kirche, salbungsvoll, oder als wolle er die Klasse vorm Dummsein erlösen: Ich zeige euch heute einen Versuch, nach dem Hitze einen Körper auuuuuuuusdeeeehhhnt. Haucht: Uuuund, ihr werdet seh´n, was für ein Wuuuuunder der Natuuuuur geschieht. Er verzieht seinen Mund, beinahe abschätzig.
Die Klasse ist gelangweilt, sieht den Versuch schon zum zwanzigsten Mal. Es ist er einzige, den der Hunne zu bieten hat. Einer zeichnet Micky-Mouse-Figuren in sein Heft. Andere dösen vor sich hin.
Der Hunne nimmt einen Bunsenbrenner, hält eine Eisenkugel, die an einer Kette hängt, kurz über die Flamme. In der anderen Hand hat er eine Stange mit einem eisernen Ring daran. Ehe er die Kugel noch mehr erwärmt, demonstriert er, wie die Kugel durch den Ring glatt hinein und wieder heraus geht. Er hält nun die Eisenkugel eine halbe Minute über die Flamme des Bunsenbrenners. Dann versucht er, sie durch das Loch des Eisenringes gleiten zu lassen. Erwartungsgemäß geht das nicht, das Metall hat sich durch die Hitze ausgedehnt. Die Kugel bleibt im Loch stecken.
Der Hunne tut, als wäre es das achte Weltwunder. Ääuuuu, ruft er, und verdreht seinen Mund, tut so, als wäre er selbst überrascht von seinem sogenannten Wunder der Natur und gebärdet sich, als hätte er den Versuch selbst entdeckt, beinahe so, als wolle er sich zu dieser Meisterleistung selber beglückwünschen.
Die Klasse lacht. Er runzelt die Stirn, wird hochrot und zornig. Du lochst?, schreit er den Erstbesten an. Du lochst, Bärschl? Locht den Lehrer aus? Eööööö, hörst! Lochst den Lehrer aus, der Bärschl? Der Kerl locht den Lehrer aus, flüstert er für sich, aber hörbar für alle. Wieder eine Ohrfeige, die knallt. Lautes Weinen. Der Knabe darf sich setzen.
Langsam beruhigt sich alles wieder. Der Hunne sieht siegessicher in die Runde. Er geht, die Hände hinterm Rücken verschränkt, in der Klasse auf und ab. Er bewegt seine Lippen, als ob er leise mit sich spräche. Keiner wagt sich zu bewegen. Da bleibt er stehen. Sieht jeden der Schüler ganz genau an. Dann fragt er plötzlich, was denn jeder einzelne zu werden gedenke. Maler. Maurer. Gärtner. Einer sagt, Arzt. Der Hunne flötet eööööh, Herr Doktor! Herr Doktooooor! Eöööööh! Sechchchchzehn Wissenschaften, zischt er mit breitem Mund, und er reißt beide Hände hoch in die Luft. Dann beginnt er, diese aufzuzählen, mit hoher Stimme, den Kopf im Nacken, gespitzten Lippen: Physiiiiiik! Chemiiiiee! Und jedes Mal wirft er seinen Kopf wieder und wieder in den Nacken und quiekt wie ein Schwein, Anatomiiiiiie! Dann macht er einen Katzenbuckel. Bärschl, sechchchzehn Wissenschaften! Dann ganz schnell, hoch und mit spitzen Lippen: Physiiiik, Chemiiiiiie, Füüüüsiologiiiiie, Anatomiiiii….

 

Der Boxer

Wenn er spricht, ist es, als grunze ein Seelöwe. Er kann kein r ohne das ch dabei zu bemühen sprechen und begnügt sich ganz hinten im Rachen mit einem kehligen ch, welches dem r ähnlich sein möchte. Stenografie soll es sein, was er unterrichtet. Eine Zusatzprüfung berechtigt ihn dazu. Er ruft einen Namen auf: Duuuu daaaa, kchommmmm herchchchcchaus, und fixiert den Schüler mit stechenden Augen, der gemeint ist. Na, kchomm, lauf, rasch, geh geh geh geh! Er lacht dabei, steht auf, geht in die Knie, lässt die Schultern tief hängen und wippt dabei mit den Beinen wie ein Affe, der nach einer Banane giert. So, als wolle er ihn anfeuern, rascher nach vorn zu kommen.
Dann beginnt er, mit übertriebener Lautstärke, einen seiner zahllosen Sätze, die nie vollendet werden.
Der Knabe stellt sich neben die Tafel. Der Boxer grunzt, es klingt, als müsste er sich übergeben: Heute wollen wia – a – heute wollen – a- wia – wia wollen heute – a- heute wollen – a- wia, (das r entfällt ohnehin) – über – die- a- heute sprchchechen wia über – Er mustert den Schüler von oben bis unten. Hm!, grunzt er. Setzen! Der Schüler geht wieder zu seiner Bank. Dann plötzlich: Duuuuu da! Da hinten! Kchommmm herchchchaus! Dann wieder sanft im Ton. Geh na her da! Kchomm kchomm! Lauf! Rchenn! Gehgehgehgheghe! Sagggge mir, was du gelerchnt hast. Er legt den Kopf schief. Der Schüler ist verschüchtert. Schreib! Schreib auf! Lacht, chachacha.
Der Boxer liest einen Satz aus dem Lehrbuch. Der Junge nimmt ein Stück Kreide und versucht, das Diktierte stenografisch auf die Tafel zu bringen. Die Narchchchen sind jene, die anderche nicht aussprchchechen lassen. Da ist ein Kürchzel! Der Knabe zögert. Weiß ea nicht! Setzen! Pintsch! Pintsch heißt Nichtgenügend.
Der Schüler begibt sich wieder in seine Bank. Der Boxer steht vor einem Schüler. Er schnellt seine geballte Faust bis kurz vor dessen Brust und macht mit der Hand dabei eine Drehbewegung. Wenn dich dea getrchoffen hätt´, hmhmhm, lacht er. Was ist ein Hendiadyoin, fragt er einmal, wobei das oin ungefähr so klingt: oooooiiiiiiihn. Ein Schüler antwortet, ohne zu zögern: eine Legehenne. Die Klasse lacht. Es ist ein Hilfsausdrchuck, du blödes Rchhinozerchos, grunzt der Boxer. Hättest du geschwiegen, brummt er, wäarchst du Philosoph geblieben, so aber bist du nur (das r gurgelt irgendwo hinten in der Kehle) ein archmer Narrchch! Die Klasse bleibt stumm.

 

Der Blumendoktor

Naturgeschichte. Heute sagt man Biologie dazu. Einer der Knaben steht an der Türe und hält Wache. Er kommt, ruft er. Ein anderer stellt den Papierkorb auf die andere Seite des Waschbeckens. Der Blumendoktor kommt rauchend den Gang entlang. Alle glauben, er wäre neunzig, so alt und vergilbt sieht er aus. Er ist aber erst fünfundfünfzig. Wenn er die Klasse betritt, macht er eine Drehbewegung in Zeitlupe und wirft er die Kippe in den Papierkorb. Immer dasselbe Ritual. Diesmal wirft er daneben, der Papierkorb steht auf der anderen Seite. Er verzieht seinen ausgetrockneten Mund hühnerpopoartig zu einem runzelig runden Ding und sagt trocken: Heb das auf! Ein Knabe springt hinzu und hebt den Zigarettenstummel auf, wirft ihn in den Papierkorb.
Der eigentliche Unterricht beginnt immer erst dann, nachdem der Blumendoktor die stinkenden Pelargonien an den vier Fenstern entlaust, gegossen und die dürren Blätter entfernt hat. Meist dauert die Prozedur eine halbe Stunde. Dann wird gedüngt. Wenn einer der Knaben etwas nicht weiß, wenn ihn der Blumendoktor etwas fragt, verzieht dieser seinen Mund zu einem Grinsen und trägt, mit verzerrter Miene, eine Fünf in sein kleines grünes Notizbuch ein. Erwischt er einen beim Schwätzen, setzt es eine ordentliche Ohrfeige. Auch zieht er die Knaben an den kurzen Haaren an der Schläfe hoch, so lange, bis sie laut zu schreien beginnen. Dann macht er wie immer seinen Hühnerarschmund und lächelt zufrieden. Die Erziehung scheint wieder einmal gelungen.

 

Der Lord Major

Geschichte. Er ist ein großer, schwerer, dicker Mann in einem Salz- und Pfeffer-Anzug. Das ist sehr modern. Er trägt immer Anzug und läuft manchmal aus der Klasse, wenn ihn der Schulwart zum Telefon holt. Er ist der Lord Major und ungemein wichtig. Oft fällt die Stunde wegen dringender Erledigungen ganz aus. Geschichte ist ein sehr wichtiges Fach.
Der Lord Major duftet immer nach Parfüm. Er erklärt den staunenden Schülern, warum man in diesem Land das Heer brauche. Nämlich tann, (und er sagt immer hartes t, dort, wo ein weiches steht, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat). Tann näähmmlich, (sic!) (auch die Ems werden verdoppelt) sagt er, wenn ein Fluckzeuck über Össterreich (sic!) flickt, (seine Ges sind immer Kas) (eben dann, wenn er etwas Wichtiges zu sagen hat) und eine Pompe fallen lässt, tann müssen wirr (sic!) uns verteiticken. Tazu prauchen wir tass Puntesheer, meine Herren, fügt er hinzu.
Alle denken, er ist ein sanfter, friedlicher Mensch. Er hat so etwas Väterliches. Schließlich ist er der Lord Major und für alle da. Als der Schwitzer einmal nicht bloß schwitzt, sondern einmal schwätzt, beobachtet ihn der Lord Major schon die längste Zeit. Er hält den Schülern einen Vortrag darüber, wie gütlich er alles im Leben zu lösen pflegt, wenn es irgendwelche Probleme gibt. Schlagen, sagt er, und streckt seinen riesigen Bauch nach vor, Schlagen, nein, tass tu ich nicht! Dazu macht er mit der rechten Hand so hin und her eine ablehnende Bewegung. Kurz darauf fängt der Schwitzer zwei saftige Ohrfeigen von ihm, weil dieser noch immer nicht zu schwätzen aufgehört hat.
Der Schwitzer ist ganz rot an den Ohren und weint. Kürzlich ist man mit der ganzen Schule ins Kino des kleinen Ortes gewandert. Der Lord Major hat der Klasse zuvor den Film erklärt, den man sich ansehen will. Es ist ein Film mit Scharly Schoplään, (sic!) wie der Lord Major sagt, Goldrausch, und er spielt in Alaska. Da ja auch Geografie sein Fach ist, erklärt er lang und breit, wo Alaska liegt und tass tort tass ewige Eiss sei. Einmal konnte einer der Schüler in der Nacht nicht schlafen und er hat zum Fenster auf den Hauptplatz hinausgesehen, mitten in der Nacht. Da ist ein großer Hund in der Parkanlage herumgegangen. Aber es war kein Hund, es war der Lord Major, betrunken, auf allen Vieren.

 

Der Richthofen

Seine Fächer sind Deutsch und Turnen. Er spricht nur mit den Mädchen nett. Die Burschen, manche schon in der Vierten und einen Kopf größer, kriegen auf dem Gang eine Watsche von ihm. Es gibt immer einen Grund für eine Watsche. Man braucht bloß einen Hausschuh vor sich her zu schießen, wenn einer herumliegt. Der Kamikaze ist sehr schlank und bewegt sich elegant. In den letzten Kriegsmonaten war er ME 109 – Flieger. Damals war er siebzehn Jahre alt. Und er hat einen Flugplatz gegründet in der Gegend. Einen Flugplatz für Sportflugzeuge. Er ist stets gut gekleidet, mit maßgeschneiderten Sakkos und so. Er hätte in einem Fliegerfilm eine gute Figur gemacht, sicherlich. Diese Klasse hatte ihn nicht als Lehrer. Aber man kennt ihn vom Gang her, und wie er so ist.

 

Churchwarden

Er hat beim letzten Ball einen Rekord im Harte-Eier-Essen gebrochen. Man sagt, es wären zwanzig gewesen. Auf dem Ball betritt er die Tanzfläche, sieht sich um und sagt dann zum Kellner: Gib dem dort was zum Fressen, und dem auch. Er meint den Baumeister und den Bürgermeister. Hochwürden hat eine imposante Figur. Einer der Schüler hat eine goldene Uhr zur Firmung bekommen. In der Klasse sitzt er in der letzten Reihe mit drei anderen. Sie haben ziemlich Spaß, denn Religion ist fad. Da kommt ein Stück Kreide geflogen und trifft das Uhrglas der neuen Uhr, die Datumsanzeige hat. Das Glas zerspringt vom Aufprall. Hochwürden schickt den Schüler gleich in der Stunde noch zum Uhrmacher. Der Vater des Schülers ist Schuldirektor. Vor dem hat Churchwarden ziemlich Respekt, weil er auch an dieser Schule unterrichtet. Und der Schüler hat Glück gehabt. Normalerweise wirft Churchwarden mit dem Schlüsselbund. Auf seine Rechnung, wie er sagt, beim Uhrmacher, nicht vergessen! Wenn Churchwarden am Nachmittag seine Runden dreht, kehrt er manchmal im Geschäft eines der Eltern eines Schülers ein. Der Schüler weiß sofort, was er will. Er betritt den Verkaufsraum von hinten her und sagt zu seiner Mutter: Kommt er schon wieder betteln, der blade Pfaff? Churchwarden hat das wohl gehört. Das reizt den Pfarrer und in einer der nächsten Stunden schreit er dann den Knaben an: Lausbube, ich zeig dich an! Niemand traut sich zu lachen, denn Churchwarden ist hochrot. Und immer, wenn er hochrot wird, ist mit ihm nicht gut Kirschenessen. Sein Vorgänger hat während der Messe immer betont, dass er heute im Klingenbeutel ausschließlich Scheine sehen will, und nicht bloß Münzen. Der ist auch immer hochrot geworden, wenn er in der Predigt über die Sünder hergezogen ist. Der Vorgänger hat auch das Eislaufen vor dem Schulgebäude am Nachmittag, wenn Kindermesse war, verboten. Das hat dem Schuldirektor nicht gepasst und er hat sich beim bischöflichen Ordinariat beschwert. Wutschnaubend, hat er geschrieben, hätte der die Kinder vom Platz vertrieben. Es kam zu einer Klage. Der Schuldirektor musste tausend Schilling zahlen, weil er wutschnaubend geschrieben hatte.

 

Homo Politicus

Er ist groß, und stark, und hat eine gewaltige Stimme. Und er ist scheint´s immer schlecht gelaunt. Er schimpft mit den Buben. Die kriegen auch ihre Watschen. Die Mädchen verschont er. Schlechte Schüler haben einen schweren Stand bei ihm. Für alle anderen gilt, ihn bei Laune zu halten. Das heißt, so tun, als verstünde man alles, was er sagt.
Gleichungen kann er besonders gut, mit einer oder zwei Unbekannten. Darum darf er auch im Gymnasium unterrichten, weil es zu wenig Akademiker gibt. Er gibt nur Gleichungen auf, aber er ist zu Höherem geboren. Irgendwann geht er in die Politik. Ich habe es nicht nötig, mit meiner guten Bildung bei euch Idioten zu sitzen, sagt er. Die Klasse döst vor sich hin. Der Politiker droht immer. Täuscht euch nicht, meine Herren, sagt er dann. Täuscht euch nicht. Er meint, die Klasse nehme seinen Stoff auf die leichte Schulter.
Einmal fragt ihn der Direktor, und wie ist das da, im Parlament? Musst du nicht hin und wieder eine Rede halten? Nein, sagt der Politiker. Er muss nur an der richtigen Stelle die Hand aufheben. Und er ist für die nächsten Jahre vom Unterricht karenziert und bekommt sein volles Gehalt als Lehrer. Auch mit Fortschreitungen.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: anno |Inventarnummer: 15127

Kein Typ fürs Grobe – Teil 3

Einer meiner langen Spaziergänge lässt mich vor der Akademie Halt machen. Mein Gott, die Akademie der schönen Künste! Dreimal habe ich versucht, die Aufnahmeprüfung dorthin zu schaffen. Dreimal hat man mir gesagt, es wäre ganz nett, was ich so machte, aber das könnte ich auch ohne ihr Zutun. Die doppelte, hohe Flügeltür strahlt durch ihr undurchdringliches Dahinter eine gewisse Unruhe aus, die sich auf die wartenden Prüflinge davor auszuwirken scheint. Manche rauchen. Einige kauen an ihren Nägeln. Andere üben sich in Gelassenheit. Mappendurchsicht! Jeder musste, schon Monate davor, eine Mappe mit eigenen Arbeiten abliefern, von deren positiver Beurteilung die Zulassung zur dreitägigen Probearbeit abhing.

Sind die Professoren noch nicht da? Vielleicht kann man hintenherum in den Saal gelangen, fragt jemand. Das große Warten findet ein jähes Ende, als sich die Flügeltür öffnet und die Nummer eins aufgerufen wird. Jetzt kommt Bewegung in die Menge. Alles geht relativ rasch. Die ersten sind bereits im Saal und verteilen sich auf verschiedene Gruppen von Assistenten und Professoren im Raum. Rüde Kritiken sind zu hören. Na, wo haben Sie denn das abgekitscht, hört man einen sagen. Is‘ ja fast ’n Breughel! Was? Gelächter. Wieso machen Sie das so? Weil es mir gefällt, haucht eine schmale Blondine. Weiter. Der Nächste.
Ein Professor zieht einen kantigen Farbkübel hinter sich her. In der einen Hand hält er einen Besen. Er taucht ihn in den Behälter mit blauer Farbe und schreitet die aufgestellten bereits grundierten Leinwände ab. Wie ein Stierkämpfer mit seinem Degen nimmt er Aufstellung vor einer der Tafeln, und flüstert: „Wenn das jetzt nicht gelingt, ist alles hin!“ Dann eilt er, den Besen, von dem die Farbe tropft, hochhaltend, auf die Tafel zu und fährt von oben nach unten in einem Zug durch. Die Studenten staunen. Auf diese Weise könnte man ein Zimmer in weit weniger Zeit ausmalen als es sonst dauert …

Sie müssen wissen, meine Philosophie ist, dass Sie unter meinen Anweisungen Sie selber werden, in Ihren Entscheidungen für Ihre Arbeiten. Haben Sie mich verstanden? Die Studenten sehen sich verunsichert an. Keiner spricht auch nur das leiseste Wort. So ist das also mit der Kunst.

Warum sind Sie hier? Weil ich gerne – zögert – Aktionskünstlerin werden möchte. Warum gehen Sie nicht zu meinem Kollegen? Er nennt den Namen. Kennen Sie den nicht? Nein. Haben gar nicht gewusst, dass er einen Lehrstuhl hier hat? Achselzucken. Der Nächste.

Der Assistent begutachtet die Arbeit eines Prüflings. Hier, und er deutet mit seinem Zeigefinger auf die bemalte Fläche, hier müssen Sie noch etwas hineinmachen. Der Student tut es. Er macht einen grellen runden Tupfer hinein. Eine Viertelstunde später kommt der Assistent wieder bei ihm vorbei. Hervorragend! Sie sind aufgenommen. Ich nicht. Sie sind nicht formbar, hat der Professor zu meinen Arbeiten gemeint. Ich nehme meine Mappe mit der Nummer zweihundertelf und verlasse den Saal. Ich gehe den Korridor entlang und trete hinaus auf den Platz. Später werde ich dem Herrn Vater berichtet haben, dass ich nicht genommen worden bin.

Ich habe beschlossen, dieses Ereignis nicht in die Familienchronik aufzunehmen, weil es unrühmlich ist, irgendwo durchzufallen, denke ich, und die Nachfahren stolz auf ihre Vorfahren sein möchten.

Man muss Erfolg haben in dieser Welt, sonst gilt man nichts.

Ich schreibe mich in einen Kurs an der Volkshochschule für Malerei ein. Akt, Porträt, Landschaft. Bereits in der zweiten Woche fahren wir hinaus auf den Kahlenberg, ins private Atelier der Professorin. Wir Kunstbeflissene suchen uns jeder ein Plätzchen am sonnigen Abhang des riesigen Gartens mit Blick auf die Donau und Wien. Ein Häusermeer. Daraus ragen zahllose Türme, darunter der Donauturm hervor. Ich fühle mich von dem Anblick völlig überfordert, beginne aber doch zu skizzieren. Häuschen an Häuschen reiht sich in mühevoller Kleinarbeit aneinander. Der davor alles überragende Donauturm wird mir zum Verhängnis.

Die übergewichtige Kunstprofessorin quält sich mühsam über den kleinen Abhang von Student zu Student. Sie blickt über meine Schulter, sieht meinen feinen Haarpinsel, mit dem ich die Häuschen und Türmchen male, und greift mit folgenden Worten zum größten Borstenpinsel, den ich besitze, indem sie ihn zunächst in Himmelblau taucht: „Was soll denn das sein? Schauen Sie“, und sie streicht in riesigen Streifen über die ganze obere Blatthälfte. „Das – ist der Himmel!“ Mir bleibt das Herz stehen. Mein Bild! Dann fährt sie mit dem unausgewaschenen Pinsel ins Braun, Grün und Ocker. „Und das“, zack zack zack, „das ist die Donau!“ Dabei verspritzt sie mit dem borstigen Werkzeug das Malwasser über mich.
Ich bin entsetzt. Mein Werk – in seinen Grundzügen realistisch, manieristisch detailliert angelegt, einer mittelalterlichen Panoramakarte gleich, mit allen Details, liegt völlig entstellt, ja, quasi devastiert vor mir. Das ist das Ende. „So!“, sagt sie, „und jetzt machen Sie weiter! Und verschonen Sie mich bloß mit Ihren Miniaturen, ja!“

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15123

Kein Typ fürs Grobe – Teil 2

Der Versuch, wenigstens einen Bruchteil von Vaters Welt verstehen zu wollen, bringt mich durch seine Erzählung der letzten Kriegstage etwas näher an ihn heran, und ich versetze mich in seine Lage, bin er, für Augenblicke.
6. Mai 1945. Amerikanische Truppen besetzen Linz und Steyr. In St. Pölten ist mir die Gestapo auf der Spur. Ich habe den Stempel „politisch unzuverlässig“ im Soldbuch stehen. Die Engländer und Amerikaner sind bereits in Kärnten. In Vorarlberg überschreiten französische Truppen die Grenzen. Ausgerechnet heute, an diesem gottverfluchten Tag, wo beinahe alles ausgestanden ist, heute finden und verhaften sie mich! Es sind ihrer drei. Der Fahrer bleibt sitzen. Deutsche. Die zwei anderen, ein Unteroffizier und ein Hauptmann, nehmen mich in ihre Mitte. Sie schieben mich in den feldgrauen Kübelwagen. Der Offizier sitzt links von mir. Er deutet dem Fahrer – Abfahrt. Auf der Reichsstraße Richtung Enns.
Sie sprechen nicht mit mir. Ich denke an meine Eltern. Ich werde sie nie mehr sehen, kann ihnen nicht schreiben, sie nicht anrufen. Ich bin doch Lehrer von Beruf! Nie wieder werde ich mit Kindern lachen. Die Fahrt verläuft ruhig und gleichmäßig. Ich kann keine Eile erkennen. Obwohl vom Feind längst umzingelt. Es ist dunkel geworden draußen. Der Chauffeur biegt links in ein Waldstück ein. Einen Feldweg entlang geht es noch ein paar hundert Meter. Der Offizier tippt dem Fahrer auf die Schulter.
Das Fahrzeug hält an. Meine beiden Wächter steigen aus. Lassen die Türen offen. Der Chauffeur steigt gleichfalls aus. Ich wage nicht, den Kopf zu drehen. Sie werden von draußen schießen, denke ich. Es macht mir nichts aus, weil meine Situation ausweglos ist. Irgendwann findet man sich mit allem ab, in diesem Scheißkrieg. Hoffentlich treffen sie beim ersten Mal. Es geschieht nichts. Banges Warten. Zehn Minuten. Eine Viertelstunde. Nach fünfundvierzig Minuten wage ich, auf meine Uhr zu sehen. Ich wende den Kopf erst nach rechts, erwarte den Schuss. Nichts rührt sich. Dann sehe ich nach links. Niemand ist zu sehen. Ich rücke unruhig auf meinem Sitz hin und her.
Schließlich nehme ich meinen letzten Mut zusammen, quäle mich durch die enge Türöffnung nach draußen. Sie werden mich niederschießen – im Stehen, durchfährt es mich. Immerhin bin ich Offiziersanwärter. Ich spüre schon den stechenden Schmerz in der Brust. Jetzt. Jetzt ist es aus! Gleich! Aber – es geschieht nichts. Niemand ist hier. Sie haben sich abgesetzt, die Schweine, über die Enns, vermutlich. Ich atme durch, seit – ich weiß nicht, wie lange zum ersten Mal. Ich knöpfe meinen Militärmantel zu und setzte mich in Richtung Westen in Bewegung. Es beginnt leicht zu regnen.

Mitternacht, Mai 1992, als Papa mit seiner Erzählung endet. Ich sitze mit ihm auf der Terrasse unseres Hauses. Ein Schüttelfrost hat ihn befallen, schon während des Erzählens. Ich hole eine Decke. Er winkt ab. Geht schlafen, sagt er leise und erhebt sich. Seine Erinnerungen haben ihn zu sehr aufgewühlt.
Was bin ich bloß für ein Mensch? Ich mache den Vaterschaftsentzug wieder rückgängig. Jetzt bin ich wieder sein Sohn. Die Ohrfeigen versuche ich ganz einfach zu vergessen. Für heute jedenfalls.

Von der neuen Welt noch immer keine Spur. Dafür bestehe ich mit Bravour einen Test in der Tageszeitung, der mir sowohl Interesselosigkeit als auch die totale Freudlosigkeit am täglichen Leben bestätigt. Nichts kann mir noch Genuss bereiten, heißt es da, während ich den Tränen nahe bin, die Stunden fristend, die endlos mich dünken. Matt und kraftlos, verliere mehr und mehr an Gewicht und kann mich auch auf nichts so recht konzentrieren. Mein Selbstwertgefühl ist am Boden. Die Nächte, in denen ich mich unruhig und beinahe schlaflos im Bett wälze, werden zusehends zur Qual.

Trotz meines Elends aber beschäftigt mich mein Vorhaben um die Familienchronik. Welchen Stellenwert würde der Herr Papa in dieser einnehmen, denke ich? Im Grunde waren wir alle heilfroh, wenn er nicht allzu oft präsent war. Andererseits repräsentierte er doch eine gewisse Sicherheit, was das Existenzielle anbelangte. Aber das Wesen einer Chronik – ist nicht zuletzt doch das Neue? Etwas, was bisher noch niemand wusste oder gar vermutete? Sie lebt von der Zusammenfassung des Neuentdeckten. Dies allein ist ausschlaggebend für das Wesen einer Chronik. Persönlichkeitsmerkmale der beteiligten Akteure! Über gewisse Regeln und Riten berichten. Sie nachvollziehbar machen für andere. Schilderungen der persönlichen und allgemeinen Entwicklung! Ereignisse und Veränderungen aufzeigen. Meinetwegen auch Anekdoten hinzufügen. Und Korrespondenzen nicht vergessen!

Das Fräulein Schwester hatte es irgendwie leichter gehabt als ich. Nicht, dass sie der gesunden Watschen entgangen wäre, nein, durchaus nicht, aber – sie hatte, im Gegensatz zu mir immerhin die Stirn, der hauseigenen pädagogischen Übermacht mit ihrer Schlagfertigkeit zu begegnen, wenn nicht sogar mit ein wenig Frechheit. Denn, als eines Tages auch sie vorm versammelten Lehrkörper eine abgefangen hatte, knallte das gedemütigte Geschöpf dem allmächtigen Herrn Vater die Worte: „Denkst du jetzt, du imponierst mir?“ entgegen. Da war sie grade mal zwölf. Das saß, und der stets so gestrenge Herr Papa verzog seine unerbittlich strengen Lippen zu einem Lächeln, aus dem sogar, wohl angeregt durch die Heiterkeit der Anwesenden, so etwas wie ein Lachen wurde. Das hätte unsereins sich erlauben dürfen! Ich war sprachlos.

Die Kriegsgeneration hat uns Zeit ihres Lebens stets darum beneidet, dass wir es angeblich leichter hätten auf dieser Welt und – hat es uns spüren lassen. Denn dies führe zu nichts. Hart sein, wie Kruppstahl, hat es geheißen. Sei hart zu dir! Stahlharte Männer, hat der Direktor zu uns gesagt, sogenannte Männer aus Stahl! Dabei hat er mich gemustert, von oben bis unten, mir mit der flachen Hand auf die Brust geschlagen und mich gefragt, ob ich mich nicht einer Geschlechtsumwandlung unterziehen wolle, weil ich längere Haare hätte. Das war 1969. „Idiot!“, hab ich mir gedacht! Er muss es gefühlt haben. Dann hat er mich zum Friseur geschickt. Aber ich bin nicht hingegangen. Wir Jungen waren wie in Trance von „Satisfaction“ von den Stones und trugen Jeans und bedruckte T-Shirts.

Was würde der Herr Papa jetzt sagen, wenn ihm diese Gegenüberstellung meiner Lebensgeschichte zu Ohren kommen würde? Der Aufschrei eines, der die Bürde seiner unglücklichen Kindheit mit sich herumträgt, vielleicht bewahrt von jeder Schuld zwar, doch trotzdem beladen mit dem ganzen Elend einer Generation, deren Väter die Helden waren? Und wenn sie keine waren, so wie der meine, dann waren sie eben Verräter. Wie Papa, weil er eben kein Nazi war. Das war genauso schlimm! Sich gegen das Vaterland zu wenden und damit auch gegen das Volk! Die Zeit, wo einer wie er als Mahnender und nicht als Lump gewertet wird, scheint noch immer nicht reif zu sein. Noch ehrt man bloß die Helden! Lumpen baut man keine Denkmäler.

Ich erinnere mich des bleiernen Schweigens. Es wurde nicht darüber gesprochen, was geschehen war. In der Schule nicht, und zu Hause schon gar nicht. In den Schulbüchern hatten die alten Nazis ihre Finger im Spiel. Und die alten Nazis haben uns noch unterrichtet, und uns ihre scheinheiligen Ordnungsprinzipien aufgezwungen. 1972 sind wir noch im Turnsaal marschiert und haben „Oh du schöner Westerwald“ singen müssen.
Aber irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass sie alle ganz froh darüber waren, diese Zeit selbst heil überstanden zu haben und dass alles wieder seinen normalen Verlauf genommen hat. Und irgendwann wären sie ja sowieso verrückt geworden, vor lauter Hand hoch zum Gruß erheben und all dem ganzen ideologischen Unsinn. Und irgendwann wäre aufgekommen, was man den Menschen alles angetan hat. Oder sie hätten sich gegenseitig bis zum letzten Mann denunziert, wegen Hochverrats oder weiß der Teufel weswegen. Heute wohnen sie alle in friedlicher Eintracht nebeneinander, als ob nichts geschehen wäre. Der eine Nachbar, der ein paar Juden an die Gestapo verraten hat. Andere, welche deren Sparbücher, Häuser und Geschäfte beschlagnahmen ließen. Und wieder andere, die die Ministranten in unserem Dorf auf ihrem Weg in die Kirche mit dem Luftdruckgewehr beschossen haben.
Und es ist alles vergessen. Scheint wie ausgelöscht. Heute sind sie Nachbarn und grüßen einander, als ob nichts passiert wäre. Meine Zweifel, dass diese Welt auch nur einen Funken Logik eines, wenn auch noch so geringen, Ordnungsprinzips aufweist, verhärten sich mit jedem Tag. Und ich muss mit Entsetzen feststellen, dass ich selber auch nur ein Teil dieser Scheißwelt bin, in der alles drunter und drüber geht.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15122

Kein Typ fürs Grobe – Teil 1

Ich bin bislang wahrlich selten ein Liebling der Götter gewesen. Zumindest ist mir nicht bewusst, je einer gewesen zu sein. Ebenso wenig kann ich mich nicht daran erinnern, jemals vor Glück gesungen zu haben: Heut‘ bin ich so vergnügt! Das Leben ist so schön! Drum bin ich ja so froh! Und wo es was zu trinken gibt, zu küssen gibt, da geht’s nicht ohne mich. Ein Vogerl fliegt! Ich bin ja so vergnügt! Holadrio! Habe ich etwas versäumt? Mag sein. Das liegt bei mir am Tempo. Ich bin ganz einfach zu schnell, zu schnodderig. Also beschließe ich, von heute an alles langsamer, ruhiger, besonnener, bewusster zu machen. Aufmerksamer durch den Tag zu streunen. Auf diejenigen, die mit mir sind, besser einzugehen. Nicht mehr so fahrig zu sein. Nicht alles, was ich anfasse, sofort wieder aus der Hand fallen zu lassen.

Vielleicht sollte ich mehr dabei sein. Aber wo dabei? Ich erschrecke immer, wenn ich daran denke, nirgendwo dabei zu sein. So – so, sportlos beispielsweise. Ja, sportlos, wie ich bin, kann ich den Alltagsstress nicht aus meinem Kopf verbannen. Untrainiert wie mein Körper ist, bleibt alles, was mir durch den Kopf geht, am Gehirn hängen. Dabei ist das Land hier sportlich, sagt man, wegen der zahlreichen Siege unserer Athletinnen und Athleten. Ja, die Heimat ist sehr sportlich, und es tut nichts zur Sache, wenn auch manchmal ein wenig Koks oder sonst was dabei war. Dem Sportlichen verzeiht man beinahe alles, nur nicht, dass er verliert!

Gut, und ich gebe zu, nicht zu wissen wo’s langgeht. Das kann einem schon hin und wieder passieren. Aber auf Dauer? Ist auch kein Wunder, betrachtet man diese Welt und den tieferen Sinn des Lebens etwas genauer. Aus diesem Grunde kommt es vor, dass meine verletzte Seele eben nur ab und zu wie an einem Bungee-Seil, und das auch bloß für Sekundenbruchteile, nach oben fliegt, was meistens dazu führt, dass ich im Glückstaumel, ungeübt darin, wie ich nun einmal bin, total die Orientierung verliere, weil ich ganz einfach mit dem Phänomen unerwarteter Freude nicht umzugehen vermag. Wie sollte ich denn auch? Also lasse ich sie unten, die Freude. Da bleibe ich vor unliebsamen Überraschungen verschont. Vor allem ist die Fallhöhe nicht so groß. Ich sehe eben schwarz. Denn – mir fehlt sie ganz einfach, die rosarote Brille. Ich wurde ohne sie geboren.

Ebenso wie ohne die schneesicheren Moonboots, den bruchsicheren Kopfschutz und die eherne Beinschiene, und es ist mir vollkommen egal, ob die Pistazie plötzlich ihren Weg in die Schokolade gefunden hat oder nicht. Ich spiele nicht mit! Und wenn ich es müsste, hätte ich zumindest nicht den Wunsch zu gewinnen. Die erfüllendsten Momente des Lebens sehe ich augenblicklich darin, mich von mir selber zu erholen und ich fühle, als hätte ich nach den gewaltigen Anstrengungen der letzten Jahre, einem Lauf nach Sparta gleich, unerwartete Hilfe im Kampf gegen die eigene Bestimmung erlangt, und möchte hinausschreien: Das Ziel! Das Ziel ist – erreicht!
Aber was denn für ein Ziel, frage ich mich? Alles, was ich bisher angefangen und beendet habe, erscheint mir bloß nur noch wie ein Mythos in meinem Bestreben nach der größten Eigenleistung. Und trotz allem bin ich nicht dabei. Bin nicht beim Yoga oder Pilates. Beim Tennis nicht und nicht am Laufband. Das Schnurspringen habe ich längst aufgegeben. Einziges Outdoor-Erlebnis bleibt der tägliche Abendspaziergang durch den Rathauspark, über den Ring, hinüber zum Burgtheater, am Café Landmann und an der Universität vorbei. Nur noch vorbei. Durch die Schottengasse die Herrengasse entlang. Manchmal auch über den Kohlmarkt zum Michaelertor hin, dann durch den Volksgarten. Vorbei am Theseustempel. Und wieder zurück sein. Das ist augenblicklich am tröstlichsten. Auf diese Weise verzichte ich immer öfter auf den Katalysator, emotionale Reaktionen unter Leistungsdruck zu erfahren und abzubauen. Immerhin, noch ist es nicht so weit, mich auf die Beobachtung dieser Welt von den schmalen Erkerfenstern aus zu beschränken.
Der Gedanke ist jedoch durchaus vorstellbar. Alles wird kommen. Die Gasse, mit ihrem beinahe dörflichen Charakter ungewöhnlich niedriger Häuser in dieser Gegend, beendet im Nordwesten ihren Horizont mit der düsteren Glasfassade des Allgemeinen Krankenhauses. Keine besondere Aussicht! Im Osten mit der unteren Häuserfront der Lerchenfelder Straße. Die Trafik ist jetzt ägyptisch geworden. Drinnen duftet es nach Räucherstäbchen und aus dem Hinterzimmer dringt arabische Musik. Die Billa-Damen stammen allesamt aus Bosnien oder Serbien. Sie unterhalten sich über Tampongrößen – an der Kasse. Ausnahmsweise auf Deutsch. Ich kann nur die kleinen nehmen, sagt die Dunkelhaarige zur blond Gefärbten. Die anderen gehen bei mir einfach nicht rein. Die Leute an der Kasse schauen unschuldig, wollen nichts gehört haben. Niemand spricht ein Wort. In ihren Gehirnen arbeitet es fieberhaft. Jeder hat wohl jetzt seine eigene Vorstellung zu dieser Information. Nur einer verzieht seinen Mund zu einem Grinsen.

Vorne, an der Ecke beim Spar, belagert immer derselbe rumänische Obdachlosenzeitungsverkäufer den Eingang. Da musst du vorbei. An dem kommt keiner ungefragt vorüber. „Geben kleine Spende, biiitte!“ Man sieht sein prächtiges Gebiss. Wie von einem Raubtier! Ich hingegen leide an Karies. Heute kaufe ich grünen Tee und Bitterorangenmarmelade bei Demmer, hinter der Mölker Bastei. Lung Ching, zehn Deka. Ich kaufe seit Jahren immer nur Lung-Ching. Die polnische Verkäuferin bei Demmer ist sehr zuvorkommend. Sie passt gut zum Duft, den die Tees verströmen. Der Maronistand an der Ecke zur CA-Bank ist schon seit Wochen in Betrieb. Das bedeutet, es geht stark auf Weihnachten zu.

In der Stadt riecht man kaum noch Erde. Vielleicht noch eher im Volksgarten, da scheint ihr Geruch erfahrbar, wenn sie nach einem Regen feucht ist. Ende November aber, da spürst du diesen blassen Teint von Tod, von sehnsuchtsvoller Ruhe, diesen Drang nach Ausrasten, Schlafen, nach Aufhören, wenn die Rosen nach und nach eingepackt werden, um sie vor dem Frost zu schützen. So süß! Direkt verführerisch, dieses Aroma, alles für immer zurücklassen zu wollen. Die Natur macht eine Auszeit. Nur wir hetzen hinter allem her wie die Verrückten. Die fetten Raben durchbrechen die scheinbare Ruhe mit ihrem heiseren Gekrächze. Diese Stille, die keine ist, der permanente Motorenlärm, der in der Luft liegt – daran habe ich mich so gewöhnt, dass mir so ist, als wäre alles ruhig. Nun belügt sich der Geist in einem fort, ganz unbemerkt. Die alten Heimkehrer aber tragen ihre Fahnen vor sich her, bis sie umfallen, ehe sie sie loslassen.

Vorm Rathaus sind die Christkindl-Buden geöffnet. Die alljährliche Tanne ist heuer etwas mager und stammt aus – Salzburg, ach ja. Es regnet ein wenig. Ich rieche an den Zweigen eines überdimensionalen Adventkranzes. Sauge den Harzgeruch ein, der sich sanft in Wellen ausbreitet. Begleitet von diesem Duft hängen an ihm tausende Erinnerungen an meine eigenen kindlichen Vorstellungen von Weihnacht. An die vergeblichen Mühen der Eltern, uns den Zauber ums Christkind so lange wie möglich vorzuspielen. Da war das rote Plastik-Rennauto. Mercedes oder so. Das DKT-Spiel. Ich habe stets verloren, wenn ich mit den älteren Schwestern spielte. Gnadenlose Geschäftswelt. Schon als Kind war sie mir verhasst. Patiencebäckerei vom Meinl. Mit dem Mohren darauf, der heute ein Farbiger sein muss. Johannisbrot und Lakritzestangerl. Ekelhaftes Zeug für denjenigen, der Schokoladenlebkuchen gekannt hat oder Windbäckerei. Alles wäre gut gegangen, wäre vergraben geblieben, verschüttet, verdrängt, bis zum Tag der plötzlichen Ernüchterung.
Die Geschichte vom Christkind – von vorn bis hinten erlogen! Mama blickte wehmütig drein, als ob es ihr leid tat um ihr gehütetes Geheimnis, und dieses nun gelüftet sah. Die ältere Schwester hatte mich jäh meiner Illusion beraubt. Und damit du´s weißt, das ist alles von Mama und Papa! Christkind gibt´s nicht! Damit trete ich in die Welt der Erwachsenen und deren Nüchternheit ein und Fantasien werden zur banalen Wirklichkeit und verlieren ihren zauberhaften Glanz. Den des Wunders, des Geheimnisvollen, der Geheimnistuerei. Von da an raschelt es nicht mehr im Karton. Und wenn doch, dann weiß ich, es ist bloß die Mutter. Also flüchte ich wieder zurück in die Welt des Scheins und der Einbildung und versuche sie mir, bis heute, so zu bewahren. Ich bin ein Träumer geworden, aus Opposition gegen die Realität.

Advent in Wien ist die Zeit, in der man die Spannungen zwischen den Menschen am deutlichsten in der U-Bahn zu spüren bekommt. Die Jungen telefonieren wie besessen, aus Angst, nicht zu vereinsamen wie die Alten. Die Leute sitzen regungslos auf ihren Sitzen, ohne ein Lächeln auf den Lippen. Sie besetzen die dem Mittelgang nahen Sitze, nicht die Fensterplätze und wenn du dich hinsetzen willst, musst du dich an ihren Knien vorbeizwängen. Sie lassen sich Fluchtwege offen.
Auch ich selbst bewege meine Lippen kaum. Mache sie schmal und presse die Kiefer zusammen. Warte, was kommt. Und wenn ich den Mund schon einmal öffne, dann bloß, um die Lippen mit der Zunge zu befeuchten, um sie vorm Austrocknen zu bewahren, vorm Wind, der ständig durch die Gassen weht. Manchmal bekomme ich den Mund nicht auf, weil ich vergesse, die Kiefer loszulassen, hängen zu lassen, entspannt sein zu lassen. Und es kracht furchtbar, wenn ich sie öffnen will.
Ich sehe mir die Menschen genau an. In Sao Paulo mag natürlich alles anders sein. Aber in London und New York sind sie genauso stumm wie hier – am Morgen, wenn sie zur Arbeit fahren, das weiß ich mit Sicherheit.

In den wenigen ruhigen Momenten meiner Rastlosigkeit rüttelt der verhinderte Ehrgeiz hinter hölzernen Palisaden, eingemauert, der mir verwehrt, mein Leben in ruhigeren Bahnen laufen zu lassen.

Gedanken an die Kindheit drängen sich auf. Da sind sie wieder – die Geister! So plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Da ist nicht nur der Wasserkessel, der genau dann überzugehen drohte, wenn Mama kurz einkaufen gegangen und ich vor Angst beinahe gestorben war. Da ist auch die Erinnerung an all die dunklen Ecken und Winkel, wenn der Abend hereingebrochen war. Das ostinate Ticken der Küchenuhr, das nicht aufhören wollte. Ein Knistern hinter dem Kasten. Das Quietschen einer Tür? Die Mutter musste doch jeden Augenblick kommen? Bange Kinderminuten voll Zweifel. Gänsehaut! Dunkle Ecken, beseelt. Geister? Gab es welche? Ganz sicher war man sich nie. Das Herz klopfte wild.
Sie hätte ja auch schön sein können, die Ruhe. Aber sie war es nicht. In dem verdammten, dunklen Küchenschlauch der väterlichen Dienstwohnung, mit jener ekelhaften Speisekammer und den scharfgemachten Mausefallen, der unerreichbaren Riesentafel Kochschokolade! Wäre es bloß nicht so finster gewesen dort drinnen! Das Licht von der Küche reichte nicht aus, um dieses Loch ausreichend zu beleuchten.
Ich denke an Washington. Wie komme ich jetzt da drauf? Weiße Prachtbauten mit Freitreppe. Und mein Schicksal! Ich verfluche es. Stattdessen geistert der Herr Papa stets in mir herum. Winzige, schier unbedeutende Szenen spielen ihr verrücktes Spiel, selbsttätig und unaufgefordert, unbeeindruckt von meinem Willen, davor verschont sein zu wollen, spulen sie sich vor meinem geistigen Auge ab, wie ein Film. Ich habe nicht darum gebeten!

Es finden sich unbedeutende Szenen erhaltener Ohrfeigen darunter. Unbedeutend, denke ich. Doch nein! Die Geschehnisse drum herum werden umso deutlicher, je mehr sie sich meiner Erinnerung aufzwängen. Und schicksalsschwerer werden ihre Ursachen und Auswirkungen. Lediglich ein paar Ohrfeigen, als Zeichen der Macht verabreicht, zur Disziplinierung, vor versammelter Kollegenschaft. Nichts Besonderes damals. Die Tränen waren ebenso rasch vergessen wie sie vergossen waren. Die Wirkung allerdings war nachhaltig. In kühnen Träumen würde ich zurückgeschlagen haben. Mich gegen die feige Tat eines Erwachsenen zur Wehr gesetzt haben. Es war um nichts gegangen. Um absolut nichts von Bedeutung. Und selbst wenn. Ich war erst acht und wog siebzehn Kilo. Er war fünfzig, achtzig Kilo schwer. Ich habe diese Welt immer schon gehasst, mit samt ihren Ungerechtigkeiten! Der Schmerz war es, nicht geliebt zu werden. Und er bedeutete nichts gegen die Wucht des Aufpralls, der das Ohr für Momente taub werden ließ.
Aus diesem einzigen Grund entzieht der allzu zarte, kränkliche Knabe, seit frühesten Kindestagen oftmals schwer erkrankt, für Wochen in weit entfernten Kliniken abgeben, ohne Liebe auf sich allein gestellt, ohne Zuwendung, er, der Trennungen bis heute nicht verkraften konnte – vor einer übermächtigen Vaterfigur als Hohlkopf und Nichtskönner bezeichnet – jener bedauernswerte Mensch also, mit dem heutigen Tage diesem, dem leiblichen Vater, die offizielle Vaterschaft! Na also! Endlich! Sie haben es geschafft! Befreien Sie sich! Befreien Sie sich endlich von ihrer Vergangenheit, mein Herr!

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15121

Eine jagdliche Szene

Eine neoklassizistische Villa im Salzkammergut. Das Haus, umgebaut zur Privatpension, beherbergt eine Reihe illustrer Gäste. Unter ihnen eine attraktive junge Dame mit Namen Sybilla Trinks, in die sich Norman Moll, Kurgast, Individualist und Einzelgänger, spontan verliebt hat. Man nimmt einen Drink zusammen auf der Terrasse des Hauses. Thema eines angeregten Gesprächs ist Bodo Rabitsch, gleichfalls Kurgast, genannt der Lodenbaron, und ein Ekel, das in der Lage ist, Norman Moll mit seiner widerlichen Art in der Öffentlichkeit stets aufs Höchste zu verunsichern.

„Was sagen Sie dazu?“ Moll zuckte mit den Schultern. „Also gut. Ich kann Ihnen versichern, Ihre Paranoia diesem Menschen gegenüber scheint mir völlig unbegründet. Dieser Mann, vor dem Sie so unheimlich Schiss haben, ist im Grunde genommen ein Emporkömmling, ein Parvenü.“ Moll hob die Augenbrauen. „Dieser Mensch hat im Grunde in seinem ganzen Leben noch nichts anderes getan, als auf die Butterseite zu fallen, und das aus Kalkül.“ „Und woher wollen Sie das wissen?“, fragte Moll zweifelnd. „Ich weiß es eben, das muss genügen und tut nichts zur Sache. Dieser Rabitsch hat einfach in eine vermögende Familie eingeheiratet. Loden! Sie verstehen. Das war’s auch schon. Zufällig hat sich die Tochter seines Lehrherren, eines Schneiders, in ihn, den Lehrbuben, verliebt. Romantisch, nicht wahr? Ihre Eltern waren allerdings von Anfang an dagegen, dass sich hier was anbahnt.
Aber da war eben nichts zu machen. Der Herr Schwiegersohn in spe hat daraufhin seine handwerkliche Lehre abgebrochen, hat das Mädel geheiratet und ist sofort zum Prokuristen im schwiegerelterlichen Betrieb aufgestiegen.“ „Ah!“ Hodenlose Lodenhose, erinnerte sich Moll an eine Silbenverdrehung und schmunzelte. „Ein paar Jahre waren dem Betrieb noch Umsatzhochs beschieden, bis man eines Tages Konkurs anmelden musste, weil die Konkurrenz auch nicht geschlafen hat, und aus war‘s.

Tatsache ist, dass eine Menge Geld da war, trotzdem, und dass man in dem Häuschen, das man als Jungvermählte bekommen hatte, weiterhin hervorragend domizilierte, und von der Mitgift, beziehungsweise aus Veräußerungen der betrieblichen Reste unbekümmert leben konnte, auch ohne zu arbeiten.“ „Beneidenswert“, seufzte Moll lächelnd, „und ich hab‘ geglaubt, er ist zumindest Wirtschaftsprofessor oder so etwas Ähnliches. so, wie er stets doziert!“ Beide lachten. „Immerhin haben   S i e   ihn neulich ja selbst geadelt, wenn man bedenkt, wie Sie ihn immer nennen, den Lodenbaron eben“, lachte Sybilla Trinks und nahm ein Schlückchen Sekt zu sich. „Naja, Ökonomieadel! In Deutschland oder in Polen wurden im neunzehnten Jahrhundert ganze Dörfer auf diese Weise zu Baronen gemacht“, bemerkte Moll zynisch.
Die Trinks fuhr fort: „Die Geschichte geht noch weiter. Als die Kinder aus dem Haus waren, fuhr der Herr einmal auf Kur. Das Ergebnis dieser Reise hat sich in Person der Frau Linda Maar niedergeschlagen. Seither tritt sie offiziell als sein Schatten auf. Dort, dort drüben – der Schatten, den Sie ja bereits seit Nachmittag neben ihm nicht übersehen können.“ „Also, ein Schatten ist sie nun wirklich nicht“, lachte Moll, „weder von der Physis her noch vom Charakter. Was ich mir da vorhin anhören musste, war eine …“.
„Hat sie Ihnen etwa die neue Rolle der modernen Frau als Führungskraft zu vermitteln versucht?“ „So könnte man es ausdrücken, ja!“ „Verstehe! Also, der Baron ist ein Meister der Doppelrolle, wie Sie unschwer erkennen können. Arm ist nur seine Gattin. Ich habe schon einmal angedeutet, dass sie eine ganz liebenswerte Person ist. Sie würde sich nie über ihre Situation beschweren, glauben Sie mir. Eine Frau, die stets versucht hat, nur das Gute in diesem Menschen zu sehen, und niemals seine Fehler.“
„Ach!“, kam es Moll so über die Lippen. „Aus welchen Gründen sie das tut, ist mir noch unklar. Ein wesentlicher Grund aber dürfte sicher der gesellschaftliche Status sein. Das heißt, man lässt sich nicht scheiden in dieser Welt, aus der sie kommt. Die Pracht der Tracht, wenn Sie verstehen!“ „Und so duldet sie still.“ „Wie viele von uns“, sagte Norman Moll nachdenklich. Sybilla Trinks lehnte sich in ihrem Korbsessel zurück, mitleidig lächelnd. Blitzschnell dachte Moll an einen Rückzieher. Zu spät! „Das habe ich erwartet, dass Sie jetzt so etwas sagen würden. Sieht Ihnen ähnlich, wirklich!“

Moll hob erstaunt seinen Kopf. „Wieso?“, fragte er, „was hab‘ ich schon wieder gesagt?“ Und beinahe befürchtete er die Beziehung zu ihr im Kippen, wie auch eine gewisse Nüchternheit sich seiner ihr gegenüber bemächtigen wollte, äußerst unangenehm, bedachte er seine bisherige Situation mit ihr, das Tänzchen vorhin und überhaupt! Es wollte ihm nicht konvenieren, dass sich die Sache nun in eine Art psychotherapeutische Séance zu wandeln begonnen hatte, noch dazu in eine, in der er den Patienten spielen sollte. Unerhört! Da läutete ihr Handy. Moll schreckte hoch. Sybilla Trinks war aufgestanden und spazierte ganz langsam auf der Terrasse auf und ab, telefonierend.
Über dieser höchst störenden Unterbrechung hatte Moll aufgehört, irgendwelche Schlüsse aus ihrer letzten Bemerkung zu ziehen, so echauffierte ihn diese und seine Erinnerung an das Schöne, das Romantische, ja, das Ideal des Menschseins schlechthin, die Leidenschaft der, beinahe hätte er Liebe gedacht, nein, Liebe war es eigentlich nicht, der Neugierde – zerstörte sich mit einem Male ganz von selbst, und er saß da, ein Häuflein Elend, mit runden Schultern, die nach vorne fielen, in der Hand das Sektglas, das leere, der Patient – ausgeliefert, krank in der Seele, unrettbar verloren!
Ein Blick zu Lodenbaron Rabitsch. Man unterhielt sich prächtig dort drüben. Die Trinks telefonierte noch immer.
Jetzt war Rabitsch aufgestanden und die Treppen in den Park hinuntergegangen. Sein helles Lodensakko strahlte im Mondlicht. Wieso geht er in den Park? Die Toiletten waren doch …? Moll dachte an seine Lendenwirbelsäule und wagte nicht, sich ruckartig zu erheben, und doch zehrte eine unbändige Neugierde an seinen Nerven. Er stützte sich mit beiden Händen auf die Lehnen und erhob sich ganz langsam. Keine Ahnung, wie lange er hier schon gesessen hatte, auf alle Fälle zu lange! Die Schmerzen in seinem Rücken waren erheblich.

Aber der Drang, dem Trachtenbaron unauffällig zu folgen, war stärker. Wer Moll so sah, den musste unweigerlich tiefes Mitgefühl befallen, ihn so leidend zu sehen, und es gelang ihm erst nach einigen mühevollen Schritten, sich selbstständig aus der weit nach vorn gebückten Haltung vollständig aufzurichten, begleitet von einer seufzenden Interjektion, aahhh, Ausdruck einer spontanen Gefühlsbewegung, leicht ablesbar aus dem Gesichtsausdruck sowie der Stellung seines Mundes, welche Schmerz signalisierte. So begab er sich, unbeobachtet von Trinks, die mit dem Gesicht in jene von ihm aus entgegengesetzte Richtung stand, ganz langsam, scheinbar völlig ohne bestimmtes Ziel, den Baron dabei nicht aus den Augen lassend, in Richtung der Treppen, die in die Parkanlage führten und an denen er nun vorsichtig hinunterstieg.
Zunächst waren seine Augen noch von der Terrassenbeleuchtung geblendet und konnten im Dunkel der Bäume und Büsche nichts ausrichten. So verharrte er vorläufig im Schutze einer mächtigen Thuje. Dort vorne war Rabitsch, ganz deutlich auszunehmen, in strahlend weißer Tracht, und offensichtlich bemüht, authentische Laute der Natur nachzuahmen. Vielleicht jene der Nachtigallen? Rabitsch übte das Modulieren des Klanges, erst hoch, dann etwas tiefer – das klang aber nicht nach Nachtigall – eher wie die Tritonschnecke – das Herakleumrohr – eine Nuance zerbrechlicher und etwas zu leise – aber er machte es geschickt – platzierte den Ruf so, dass zu erwarten war, das Wild würde in den nächsten Minuten zustehen – galt es doch als wahrscheinlich, es vom Rudel wegzulocken, was zwar nur in ganz seltenen Fällen gelang, aber bitte!

Dieser Teil des Rabitsch´schen Reviers, mit seinen Niederungen und Dickungen, beanspruchte den erfahrenen Fährtenleser voll und ganz, wies es doch zumeist kurz geschnittene Rasenflächen auf, dazwischen eingesprengt etliche Blumenbeete, in denen zweiundfünfzig Rosenarten ihr bunt duftendes Dasein fristeten. Doch immerhin gestattete es der kleinkörnige weiße Kies durch tiefere Abdrücke der Hufe, das Abfährten leichter erkennbar zu machen, welche Richtung das Wild letztlich genommen hatte. Moll schlich unauffällig hinter Rabitsch her, auf leisen Sohlen. Vor Rabitsch etwas Helles, das Tier – unvorsichtig und überhaupt nicht darauf bedacht, sich zu tarnen oder gar vor seinem Jäger verstecken zu wollen, nein, es fühlte sich offenbar völlig sicher in seinem dichten, mit trockenen Zweigen übersäten Bestand, ja, verursachte dabei sogar noch heftige Geräusche, derart, als ob es mit einem Mülleimerdeckel spielte.
Aber es stand noch nicht zu, trotz Rabitsch´s heftigster Lockungen. Und dieser war noch zu weit entfernt und musste wohl näher heran. Schwierig, in diesem dichten Unterwuchs, obwohl – der Wind stand günstig, wenn auch schwach – so könnte er es anpacken! Etwas störend dabei schien das helle Trachtensakko. Nicht unbedingt ein Tarnkleid. Doch, was gab es Aufregenderes, als so nahe der Beute zu sein, um sie in ihrem Einstand mit dem Ruf anzugehen? Und selbst wer niemals Jäger war, musste ihn spätestens jetzt empfinden, den Urinstinkt jagdlicher Triebhaftigkeit! So standen sie, hintereinander, in atemberaubender Stille und in unmittelbarer Nähe der geweihten Beute. Da brach es aus dem Unterholz! Fräulein Trixi, die Haushaltshilfe, mit einem Biokübel in der Hand.
„Ach! Jetzt bin ich aber erschrocken!“, rief sie Rabitsch zu, „haben Sie mich aber…“. Moll verschwand blitzschnell hinter einem Rosenstrauch und ging in Deckung. Diese Niedertracht! Moll war empört. Das hier sollte sozusagen zum „Wildbret“ werden! Schau dir an, dachte er, dieser Gauner! „Also, das tut mir jetzt aber leid“, log Rabitsch, „nie im Leben hätte ich daran gedacht, Ihnen Angst einzujagen, ehrlich! Ach, darf ich Ihnen behilflich sein? Geben S‘ her, das Küberl ist ja viel zu schwer für Sie!“, worauf Trixi diesen dem perfekten Gentleman mit zuckersüßem Lächeln übergab. Beide kehrten scherzend zur Villa zurück.

Moll krachten die Knie vom Hinhocken. Ein stechender Schmerz durchfuhr beide Minisken, das musste der Plural sein, schien ihm, sodass er schier aufschreien wollte, als er plötzlich nach hinten umkippte und auf dem Rücken zu liegen kam, wie ein Käfer in der Morgenstarre, das Laufwerk in die Höhe gerichtet. Gott sei Dank hatten sie ihn nicht wahrgenommen. Äußerst peinlich das Ganze! Als er ihre Stimmen kaum mehr hören konnte, drehte er sich in Bauchlage, um sich aus der Stellung „auf allen Vieren“ langsam zu erheben. Gottlob hatte seine Garderobe keinen Schaden genommen.
Also schlenderte er ebenso unauffällig, wie er gekommen war, der belebten Terrasse zu. Er stieg die Treppe hinauf, vorbei am Tisch der übrigen Gäste, die sich immer noch prächtig unterhielten. Vorbei am Lodenbaron, der ihn anlächelte und seinen Platz neben Lindakind wieder eingenommen hatte. Diese hatte, dank ihrer Naivität, natürlich nichts von seinem waidmännischen Ausflug bemerkt. Moll lenkte seine Schritte in Richtung einsame Rattansitzgarnitur am anderen Ende der Terrasse, gleich neben der Music-Band, wo Sybilla Trinks bereits auf ihn zu warten schien.
Bis auf das Getratsche und Gelächter der anderen war nichts zu hören, vielleicht ein wenig Tellerklappern und Gläserklirren aus der Küche, aber die Grillen waren lauter und der Wind säuselte noch immer leise in den Ästen der gewaltigen Bäume rund ums Haus und im rückwärtigen Teil der Parkanlage. Die Musiker bekamen soeben im Salon ihr Nachtmahl serviert.

„Wo sind Sie denn auf einmal hergekommen?“, fragte Sybilla Trinks ganz erstaunt. „Ich war ein wenig auf der Pirsch“, lächelte Moll und setzte sich. Trinks schüttelte ungläubig ihr hübsches Köpfen, während die Wellen ihres luftig leichten Haares das zarte, schmale Gesicht umspielten. Da waren sie wieder, diese Impulse ihrer Haut, die sein körpereigenes Radarsystem bereits mehrfach geortet hatten, wenn er ihr plötzlich wieder so nahe war, und versetzten ihn in einen Schwebezustand unerhörter Selbstverständlichkeit, Besitzender zu sein, Eigentümer ihrer geheimsten Gedanken und gar Wünsche, Momente, an denen man eben an die unglaublichsten Dinge zu denken imstande war, ohne auch nur ein Jota Logik zu gebrauchen.

Norbert Johannes Prenner

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Das Examen

Es war bei Gott kein Tag für eine Prüfung. Der Störungseinfluss hatte weiter zugenommen. An der Alpennordseite war es seit Tagen schon bewölkt mit zeitweisem Schneefall. Morgen sollte es noch schlimmer kommen. Das nasskalte Wetter machte Rheumatikern ohnedies schon genug zu schaffen. Kurt quälte sich die Treppe zur Universität hoch, seine fertige Diplomarbeit, gebunden, in dreifacher Ausfertigung, unter den linken Arm geklemmt. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn.
Die ganze Nacht über hatte er sich unruhig im Bett gewälzt, Fragen, die er sich selber stellte, beantwortet. Und immer dann, wenn er beinahe schon eingenickt war, schreckte er wieder hoch. Da stand er vor ihm. Hoch aufgerichtet, mit schütterem Haar über dem roten, aufgedunsenen Gesicht, die Hände am mächtigen Körper schlapp hinunterhängend, schwer atmend, Professor Lot. Nein, nur in seiner Fantasie. Ein Albtraum. Kurt zog sich erneut die Decke über den Kopf. Irgendwann musste er dann doch eingeschlafen sein, sagte er sich.

Aber jetzt, ja, jetzt sollte es ernst werden. Mit seiner ganzen Kraft schob er die schwere Glastüre zum Eingang auf, dann durch die Aula, Stiege fünf, links. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Sollte er den Lift nehmen oder die Treppe? Besser die Treppe. Was wäre, wenn der Lift wieder steckenblieb, so wie neulich? Ganze zwei Stunden war er zusammen mit einer Sekretärin Gefangener zwischen Himmel und Erde. Eine durchaus nette Vorstellung, die Dame war weit über fünfzig und brachte gut und gern an die hundert Kilo auf die Waage. Vielleicht war ihr Gewicht der Auslöser für den Defekt gewesen? Ja ja, dachte er, jeder ist, wie er ist.
Kurt verdrängte die Erinnerung an dieses ungewollte Abenteuer. Nun war er bereits oben angelangt. Welches Zimmer? Mein Gott, welches Zimmer? Wo ist denn der verdammte Zettel? Kurt kramte aufgeregt in seiner Manteltasche. Die Hausschlüssel, Taschentuch, Zehn-Cent-Münze. Verflucht! Dann eben in der anderen. Ja, da vorne musste es sein, das Zimmer 411. Das Sterbezimmer, dachte Kurt. Das Schicksalszimmer würde es sein. Ja, er wusste es. Er hatte es immer schon gewusst. Und er würde darin aufgebahrt. Mit Kerzen, links und rechts von ihm.

Mein Gott! Die ganze Sache wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt. Er hätte sich nie auf diesen Prüfer festlegen sollten. Hätte ja genug andere gegeben. Warum war er nicht einfach zum Knoll gegangen? Der Knoll, das war ein friedlicher Mensch. Berechenbar, nett. Und nicht so ein Kapazunder wie dieser Lot! Über die Lande hinaus bekannt. Der konnte ja jede Menge Diplomanden haben. Konnte sich seine Leute aussuchen, musste nicht jeden nehmen. Warum hatte er gerade ihn genommen, fragte sich Kurt? Lot kannte er von einigen seiner Vorlesungen. Aber Kurt war dem sicher nie sonderlich aufgefallen.
Warum musste er sich gerade bei dem anbiedern? Manno! Aber Lots Vorlesungen hatten ihm gefallen, weil sie so erfrischend waren, so neu. Vermittelten irgendwie ein weites Umfeld. Um den rissen sich alle, klar, weil das, was er sagte, anerkannt war, Gewicht hatte, Kompetenz und so. Der war eine Koryphäe! Aber er, Kurt, war eben bloß Durchschnitt, und das wussten sie beide, Lot und Kurt selbst.

Doch jetzt war es zu spät. Das hättest du dir früher überlegen müssen, haderte Kurt mit sich und zählte die Zimmertüren. Ach, würde doch nie die Zahl 411 kommen. 405, 403, 402, verdammt, die falsche Richtung. Kurt hetzte zurück, bog um die Ecke. Scheiß Uni! Da vorne, da war es ja. 409, 410, oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb´! 411! Kurt war atemlos. Bis zum Hals schlug sein Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer. Das ist normal, das hatte ich immer schon, beruhigte er sich. Er hob den rechten Arm, wollte anklopfen, hielt plötzlich inne, den Zeigefinger schon gekrümmt, abgewinkelt, bereit, ihn als Türklopfer einzusetzen.

Was hatte er wegen diesem Lot nicht schon alles durchgemacht, ha! Der Dativ ist des Genitivs Tod, fielen ihm dessen Worte wieder ein. Das war dem Lot seine Vorlesung! Ach was! Als er begonnen hatte, die Diplomarbeit zu schreiben, war ausgemacht, er lieferte ihm wöchentlich so fünf bis acht Seiten. Das hatte er auch getan. Lot hatte sie jedes Mal wohlwollend in Empfang genommen und Kurt gelobt. Gut, gut, hatte er immer gesagt. Machen Sie das so weiter. Vielleicht ändern Sie dies und jenes, hatte er manchmal angefügt. Ob er die Zitate am Fußende so lassen könne, hatte Kurt gefragt. Natürlich, lassen Sie die so, hatte Lot geantwortet. Danach war Kurt wieder sich selbst überlassen. Wühlte in unzähligen Büchern in der Fachbibliothek, saß stundenlang in der Mensa bei einem oder zwei Kaffee, kopierte, exzerpierte, redigierte und inhalierte eine Zigarette nach der anderen.

Weihnachten stand kurz vor der Tür. Dies bedeutete drei Wochen ohne Betreuung. Beinahe als wenn … was ist, wenn dein Psychiater auf Urlaub fährt? Kurt fragte sich, das gibt´s nicht, oder? Wie, wie sollte er denn ohne ihn auskommen? Ohne diesen Lot! Womöglich ist er mit dem, was ich da zusammenschreibe, nicht zufrieden. Dann kann ich die ganze Scheiße noch mal von vorne machen! Im Feber würde die Prüfung sein. Bis dahin musste Lot seine Arbeit korrekturgelesen haben, sie dem Zweit- und Drittprüfer übergeben haben und und und!
Das ginge sich doch nie aus! Kurt war verzweifelt. Dann wäre das Stipendium auch futsch und er müsste arbeiten. Ja, arbeiten! Man würde irgendeinen Job finden. Ja, doch. Sicherlich. Irgendeinen Job würde er schon finden. Geschirrspülen in der Mensa oder so. Oder dort an der Kassa sitzen. Er kannte den Mensa-Chef flüchtig. Ein verkrachter Medizinstudent im Gott weiß wievielten Semester. Musste auch jobben. Na und? Irgendwann würde man schon damit fertig sein. Im schlimmsten Fall könnte man noch einmal antreten.

Da war dieses Zimmer 411! Kurt hielt sein Ohr näher an die Tür. Sie waren schon da. Verdammt! Die Professoren waren drinnen. Er konnte die Stimmen zweier Männer hören. Ob das Lots Stimme war? Kurt war sich nicht sicher. Die andere kam ihm vertraut vor. Natürlich, Professor Wendelin, sein Zweitprüfer. Vielleicht hätte er sogar bei dem schreiben sollen? Allemal besser als beim Lot. Oder doch beim Knoll? Scheiße! Jetzt war es doch egal! Hauptsache, es ging rasch vorüber.
Hoffentlich stellten die anderen keine unangenehmen Fragen, durchfuhr es Kurt. Der Wendelin würde nicht so schlimm sein, aber wer war der dritte? Die Meier, die alte linke Lesbe? Bitte nicht, die fehlte ihm gerade noch. Kurt atmete tief durch. Die Beine wollten versagen. Aber dann – dann klopfte er vorsichtig. Nichts. Sollte er noch einmal? Keine Reaktion. Noch einmal, poch poch poch. Bloß nicht zu laut. Wer weiß, vielleicht kreideten sie ihm an, dass er sich so aufdrängte? Konnte ja sein.

Bei Professoren wusste man nie, wie sie reagieren. Einmal hat einer eine Studentin während eines Seminars zur Sau gemacht, vor allen anderen, bloß weil sie auf die Toilette gegangen war. Ob sie ihren Stoffwechsel nicht in der Pause erledigen könnte, hatte er ihr ins Gesicht geschleudert. Als ob man noch auf der Schule wäre! Kindergartenallüren! Nahm sich nicht einmal die Mühe, hochdeutsch zu sprechen. Do hot der Mann ihm das Buch gebroocht (sic!), hatte er einmal gesagt.
Die Studenten haben gelacht, besonders die Deutschen. Wie kann so einer auf der Germanistik sitzen, haben sie gefragt und sich gewundert. Überhaupt gab es dort die witzigsten Typen unter den Professoren. Einer, der während seiner Vorlesungen ständig ins Libretto abgerutscht war, sobald er sich im Biedermeier und der Romantik befunden hatte, war Professor Keller. Ein Beau. Ein Original! Und optisch doch ein Klon – Mittelding aus Charlton Heston und Maximilian Schell. Aber – ein Mann des Librettos. Ja, das Libretto, seine Leidenschaft.
Als er wieder einmal abglitt, ins seichte Fach der Musen, begannen einige Studenten in Trichter zu blasen, die Tischtrommel zu rühren und den Bariton zu mimen. Eine Sage machte seit seither unter den Hörern die Runde, dass jene ihm während dieser Vorlesung eine regelrechte Kapelle ausgerichtet hätten, mit Topfdeckeln als Tschinellen und Trichtern als Trompeten und nebenbei allerlei Schlagwerk und vielstimmigen Gesang. Daraufhin hatte Keller die Vorlesung abgebrochen und diejenigen unter ihnen aufgefordert, die vorhätten, ernsthaft zu studieren, ihm ins naheliegende Café zu folgen, wo er seinen Vortrag fortzusetzen gedachte. Die Kapelle eskortierte ihn und die Studierwilligen artig bis vor die Pforten der Restauration. Allein der Oberkellner verweigerte deren Eintritt energisch. Ob das alles so stimme, wusste Kurt nicht. Trotzdem, es hatte ihn stets amüsiert. Doch das war jetzt nicht von Belang.

Als Kurt zum dritten Mal anklopfen wollte, öffnete sich plötzlich die Türe und vor ihm stand Professor Wendelin. „Ach, Sie sind´s! Na, da haben wir aber heute ein Pech. Soeben hat uns der Kollege Lot angerufen, dass er heute nicht kommt, weil er krank ist. Tut leid“, fügte er hinzu. Was war das? Der Lot ist heute krank, an seinem Prüfungstag? Ja, ist das denn die Möglichkeit? Kurt traf beinahe der Schlag! „Ja, aber aber“, stotterte Kurt, „wann, also wann muss ich denn dann…?“ „Machen Sie mit ihm einen neuen Termin aus, Herr Kollege“, sagte Wendelin beinahe väterlich, „irgendwann wird er ja wieder gesund werden, nicht wahr? Wie gesagt, heute, tut leid!“ Mit dieser kümmerlichen Phrase ließ er Kurt am Korridor stehen und schloss die Türe hinter sich.
Kurt stand da, verstand die Welt nicht mehr, während die Gedanken in seinem Gehirn Purzelbäume schlugen. Alles vergebliche Mühe, dachte er. Ich werde verrückt! Die schlaflose Nacht! Das ganze Hin und Her! So eine verdammte Scheiße!,  und verließ die Universität auf kürzestem Wege.

Vier bange Wochen waren vergangen, als Kurt zum neu ausgemachten Termin seiner Diplomprüfung eilte. Das Wetter war um nichts besser als beim letzten Mal. Doch diesmal sollte das Prüfungszimmer im Parterre sein.
Naja, wenigstens eine kleine Erleichterung, dachte Kurt und eilte durch die engen Gänge. Sein Herz, wie sollte es anders sein, raste ebenso wie damals. Die Beine wollten wie immer versagen. Der Mund war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi. Vielleicht war er wieder krank, der Lot? Vielleicht war was mit seinem Blutdruck? Weil er immer so rot war? Vielleicht war er sogar überraschend verstorben? Alles wäre ihm recht gewesen. Bitte, lieber Gott, hab Erbarmen!
Doch diesmal fand er die Türe gleich beim ersten Anlauf. Scheiß Uni, wie üblich, durchfuhr es ihn, und oh mein Gott, bitte hilf mir jetzt, dass ich das überleb‘!, flüsterte er wie gewöhnlich. Er war atemlos. Bis zum Hals schlug das tapfere Herz, stotterte manchmal, hatte kleine Aussetzer, wie immer, nichts Neues bei Kurt. Alles normal, habe ich immer, sagte er sich. Da! Da vorne, da musste es sein.

Diesmal zögerte er nicht und klopfte, todesmutig, gleich. Eine harsche Stimme rief schnarrend herein. Kurt wurden die Knie noch weicher. Sein Darm wand sich verdächtig und vom Magen her stiegen ihm heiße Wallungen auf. Ach du große Scheiße! Alle waren sie da, der Lot mit dem roten Gesicht, nein, nicht tot. Der Wendelin und die Dritte, wie er es geahnt hatte, die linke Lesbe, die Meier. Kurt stand da wie angewurzelt. Sein Unterhemd war pitschnass, und man hatte noch nicht einmal begonnen, ihn zu foltern. Lot stellte seinen Prüfling vor und bat ihn, Kurt, möglichst kurz über seine Arbeit zu sprechen, um sie den anwesenden Kollegen in den Grundzügen vorerst einmal vorzustellen.

Jetzt ist es so weit! Jetzt filetieren sie dich, dachte Kurt. Er stotterte etwas von er hätte wenig Zeit gehabt die letzten Wochen und so weiter und wolle sich bemühen, eine Zusammenfassung der Arbeit vorzustellen. Zunächst beleuchtete er das Thema von den klassischen Wurzeln her, leitete dann etwas zittrig im Ton zu den theoretischen Schriften im 19. Jahrhundert über und stellte schließlich fest, dass es bemerkenswert sei, dass die Vermengung der rhetorischen und sprachlichen Formen seit der Antike nachweisbar und eine ziemliche Dehnungsbreite im heutigen Sprachgebrauch aufwies. Es wäre gut, winkte Lot ab.
Nun wetzten sie die Messer. Kurt spürte die Einstiche, noch ehe sie die Klingen angesetzt hatten. Die beiden anderen Prüfer, die bisher keine Fragen gestellt hatten, nickten wohlwollend und reichten Lot ihre vorher erhaltenen Exemplare von Kurts Diplomarbeit. „Ich werde Sie nun noch etwas anderes fragen“, sagte Lot dann, und Kurt stieg die heiße Wallung aus der Magengegend erneut nach oben. Was will er denn noch, fragte er sich erschrocken? Ich weiß doch gar nichts mehr!

„Erzählen Sie uns etwas über das Verb. Was gibt es denn da alles?“ Scheiße, durchzuckte es Kurt, der prüft Grammatik. Aber davon war doch nie die Rede, verdammt! In Grammatik bin ein Trottel, dachte er. „Das Verb, also es gibt..“, stotterte Kurt. Lot, mit hochrotem Kopf, seinetwegen?, dachte Kurt,  zog Dackelfalten auf der Stirn. „Nun, Sie werden doch etwas über das Verb wissen, nicht wahr?“, bohrte Lot. „Wer regiert denn eigentlich den Satz, wissen Sie das vielleicht?
Kurt schwitzte. Er rutsche unruhig auf seinem Stuhl umher und dachte fieberhaft nach. „Das, den Satz, der, den Satz regiert, äh, das Substantiv“, würgte er gebrochen heraus. Zack! Blöder hätte es nicht kommen können. Was hatte er da gesagt? Er wollte das doch gar nicht. Es war ihm plötzlich so herausgerutscht.
Die Prüfer sahen sich an. Was für Blicke! „Was reden Sie denn da zusammen?“, grantelte Lot und sein Gesicht wurde noch roter. Kurt dachte immer, farbliche Adjektiva ließen sich nicht steigern. Er wollte in einem Mauseloch verschwinden.

Eine Frage folgte der anderen, Kurt wand sich wie ein Wurm. Doch man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte ja doch keine Ahnung von der Materie. Raunen im Professorium. Dann fragte Lot vorwurfsvoll: „Haben Sie nicht auf meine Homepage gesehen? Dort steht, was ich im Allgemeinen so verlange.“
Nein, hatte er nicht, hätte er ihm ja sagen können, Mann! Schließlich hatte er noch drei Tage vor Abgabetermin verlangt, die Zitate aus allen Seiten unten zu löschen und im Anhang zu bringen, und das, nachdem er jedes einzelne Blatt schon seit Oktober gesehen und korrigiert hatte. Das ganze Programm war zusammengebrochen. In drei Tagen schrieb Kurt alles noch einmal. Wäre etwas dabei gewesen, wenn er ihm gesagt hätte, he, Sie, werfen Sie mal einen Blick auf meine Homepage. Dort steht, was Sie für die mündliche Prüfung brauchen, oder? Wäre das zu viel verlangt gewesen?

Und dann fiel das Messer des Schafotts. Es kam, wie es hatte kommen müssen. Zack! „Also, das ist zu wenig, Herr Kollege“, sagte Lot enerviert. Man wird doch noch so etwas fragen dürfen,  heutzutage, nicht wahr? Kommen Sie im Juni wieder.“ Schwarz! Kurt wurde es schwarz vor Augen. Er hörte und sah nichts mehr. Wie ein Blitz hatte ihn die Nachricht getroffen. Das war´s. Aus! Ende! Verschissen! „Tut leid“, flüsterte der Knoll und grinste. Die linke Lesbe verzog keine Miene, stand auf und ging, ohne sich zu verabschieden. Kurt erhob sich wie in Trance, grüßte artig, wenigstens das funktionierte bei ihm wie bei einem Roboter, nahm seine Sachen und verließ den Raum mit einem leisen „Auf Wiedersehen“ auf den Lippen.

Norbert Johannes Prenner

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Vertrieben

Vor langer Zeit herrschte in einem von der übrigen Welt bislang völlig unbeachteten Land ein mächtiger und reicher Herrscher. Er war ein Mann, der sehr darauf achtete, dass seine Befehle, die er gab, auch eingehalten wurden und drohte jedem mit der Todesstrafe, der sich seinen Anordnungen widersetzte, aber auch jenen, die über ihn schlecht redeten oder gar über ihn lachten. Als dieser strenge Landesherr nach vielen Jahren absoluter Machtausübung schließlich von ein paar unzufriedenen Untertanen ermordet wurde, eine Tat, die in diesem Lande nichts Besonderes oder gar Seltenes war, übernahm sein Sohn die Macht und wurde mithilfe eines selbst ernannten Kaisers, dem das Votum des Volkes völlig gleichgültig war, an die höchste Position der Politik gesetzt, da er dessen Günstling war.
Er wurde zum obersten Befehlshaber einer Sicherheitstruppe, dem die Menschenrechtsorganisationen im Laufe seiner Amtsperiode die verschiedensten Verbrechen zur Last legten, wie etwa Totschlag, Entführung oder auch Folter, ohne diese jemals beweisen zu können. Kurze Zeit später wurde er auf Vorschlag des Kaisers zum Premierminister ernannt und durch eine Parlamentswahl zum Präsidenten des Landes gemacht, nachdem er das dreißigste Lebensjahr erlangt hatte, das Mindestalter, welches als Voraussetzung dafür galt, ein derartiges Amt auch annehmen zu können. Als solcher versprach er, das Land, das zuvor durch Kriege zerstört worden war, wieder aufzubauen, durch weitreichende wirtschaftliche Hilfe und Reformpläne wieder instandzusetzen und den Terrorismus im Lande zu bekämpfen. Dies alles sollte mit finanzieller Hilfe des Kaisers sowie steigenden Erlösen aus dem Ölgeschäft rasch umgesetzt werden.
Durch den Tod des Vaters und durch die Protektion des mächtigen Landesfürsten war jener nun also an die vorderste Front des Landes gelangt und nicht zuletzt auch für die Sicherheit des Landes verantwortlich. Zu viel Macht für einen einzigen Menschen, wie sich herausstellte, denn es entwickelte sich ein Personenkult um ihn, der darin gipfelte, dass sich von nun sein Portrait in überdimensionaler Größe über das ganze Land verteilt, in Straßen und Städten, an Wänden und Hausmauern, wiederfand.
Vom Größenwahn gepackt, wie schon sein Vater zuvor, umging er in allen Belangen Entscheidungen des Parlaments, um sich selbst den Titel „Präsident“ an die eigene Brust zu heften, oder sich auch noch gleich „Imam“ oder sogar „Vater des Volkes“ nennen zu wollen. Doch der „Vater des Volkes“ handelte nicht wie ein sorgender Vater, sondern unterdrückte seine Mitmenschen aufs Furchtbarste. Auch das hatte immer schon Tradition in diesem weiten Landstrich.

Eines Tages floh ein Mann aus dem Volke, um der Welt da draußen mitzuteilen, welcher Schreckensherrschaft er soeben entronnen war. Er wandte sich an den Europäischen Gerichtshof und legte dort Fotos von Gefolterten in seinem Lande vor, Zeugenaussagen misshandelter Bürger und Berichte über Vergewaltigungen und Entführungen. Monate später wurde er von Agenten des Präsidenten in einer der friedlichsten Städte der Welt am helllichten Tag auf offener Straße erschossen.
Der Präsident, den man international mit dieser Tat in Verbindung brachte, bestritt natürlich jeden Zusammenhang mit diesem Mord. Darüber hinaus war bekannt geworden, dass es im Land zu zahlreichen Frauenmorden gekommen war, welche offiziell als Ehrenmorde bezeichnet worden waren. Der Präsident verdammte solche Morde zunächst in der Presse als unmoralisch und distanzierte sich vehement von derartigen Verbrechen, um sich allerdings in einem darauffolgenden Interview sofort zu widersprechen. Vielmehr müsse sich ein Vater schämen, sagte er, wenn dieser seine Tochter im Falle einer Vergewaltigung nicht auch noch sofort töte. Seinen Feinden jedoch, die Kritik an ihm übten, ließ er ausrichten, sie würden unweigerlich in der Hölle braten, würde er sie eines Tages in die Hände kriegen.

In diesen schweren Zeiten also verließen immer mehr und mehr Menschen dieses Land, um anderswo ein neues, geordneteres und sichereres Leben beginnen zu können. Eine dieser Flüchtlinge hieß Milana. Sie war verheiratet, hatte neun Kinder und lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Gatten seit über fünfzehn Jahren in einem großen Haus in einem kleinen Dorf nahe der Grenze zum Nachbarland.
Eines Tages klopften zwei Beamte des Präsidenten an die schwere Eichentür des Vierkanthofes. Milana öffnete zögernd. Man hätte ihren Mann verhaftet, sagte einer von ihnen, weil dieser sich geweigert hätte, die Zustimmung zum Verkauf eines bestimmten Grundstücks zu geben, welches angeblich für den Bau einer wichtigen Straße gebraucht würde. Aber jeder wusste, dass es auf diesem Grundstück Öl gab. Öl, das kaum einen Meter tief unter der Erde sprudelte. Und solche Grundstücke gab es viele. Milana sagte, davon wüsste sie nichts. Der Beamte drängte sie, anstelle ihres Gatten das Papier zu unterschreiben. Doch Milana meinte, sie würde nie etwas Derartiges ohne die Zustimmung ihres Mannes tun.
Daraufhin kehrten sie Milana den Rücken und stiegen in ihr Auto. In der folgenden Nacht umstellten fünf Militärlastwagen das Gelände um Milanas Haus. Soldaten sprangen von den Ladeflächen, schlugen mit Brechstangen das Tor ein und trieben Milana und ihre Kinder aus den Betten in den Innenhof. Die Frau war im achten Monat schwanger. Einer der Soldaten fragte sie, wo sie das Geld und den Schmuck aufbewahre. Als Milana schwieg, schlug er ihr mit der Kalaschnikow über den Oberarm, sodass dieser auf der Stelle brach. Die Kinder schrien und weinten. Die Kleinen hängten sich an Milanas Beine und die älteste Tochter küsste das schmerzverzerrte Gesicht der Mutter.
Die Soldaten beschlagnahmten das Haus samt Inhalt. Sie luden wertvolle Möbel auf die Wagen und trieben die ganze Familie mit Schüssen aus dem Haus. Mutter und Kinder flüchteten in Panik in den nahen Wald. Zwei der Kinder verliefen sich an einer Weggabelung. Milana sollte sie nie mehr wiedersehen. Unterwegs stießen sie auf zwanzig weitere Flüchtlinge, die ihr berichteten, man hätte ihren Mann in einem Dorf, zwanzig Kilometer von seinem Heimatort, erschossen.

Für Milana brach eine Welt zusammen. Gemeinsam mit den anderen gelang es ihnen, unbehelligt über die Grenze zu kommen. Nach sechs Wochen waren alle an einem sicheren Ort eingetroffen, wo man sich um sie kümmerte. Viele Monate vergingen. Die Gruppe wurde inzwischen in einer Wohnhausanlage auf dem Land untergebracht.
Im Innenhof dieser Wohnhausanlage saß nun Milana eines Nachmittags mit einer Gruppe Frauen, die umständlich nach Sitzgelegenheiten suchten. Hier ein alter Kunststoff-Gartensessel, dort ein ausrangierter Küchenstuhl. Jede fand schließlich irgendwie einen Platz. Der Hof war weitläufig. Eine junge Sozialarbeiterin stellte den Frauen den neuen Deutschlehrer vor. Vierzehn Augenpaare starrten ihn an. Der Fremde hier war er, schien es. Die Frauen sprachen kaum ein deutsches Wort. Kinder tollten im Hof umher, näherten sich zaghaft dem Outdoor-Klassenzimmer.
Milanas dreizehnjährige Tochter ging hier nun schon das zweite Jahr zur Schule. Sie fungierte ausgezeichnet als Dolmetscherin. Manche Frauen hielten die Übungsblätter verkehrt in den Händen und starrten aufs Papier. Alphabetisierungskurs. Eine las langsam und holprig einen kurzen Satz. Sie konnte nur ein Wort darin verstehen: putzen. Ich kann waschen und putzen, hieß der ganze Satz. Die Unterarme dieser Frau wiesen tiefe Narben jüngst verheilter Brandwunden auf. In ihren Augen spiegelten sich die Gräuel eines sinnlosen Krieges wider. Nur manchmal lächelte sie.

Milana war abwesend. Sie starrte auf ihr Handy und betrachtete eine MMS, die sie erst kürzlich aus ihrer Heimat erhalten hatte. Es zeigte den Präsidenten mit seinen Kumpanen auf Tausenden von Dollarscheinen tanzend in einem geschlossenen Raum. Während er über die Scheine sprang, fuchtelte er mit seiner Pistole in der Luft herum. Ein weiteres Bild zeigte ihn, wie er lachend auf die Dollarnoten schoss.
Milana musste an ihren Mann denken und an ihre beiden verschollenen Kinder. Unbemerkt von all den anderen rannen langsam, perlengleich, Tränen aus ihren traurigen Augen über die Wangen, und mündeten salzig auf ihren blassen Lippen.
Es war die Zeit des Ramadan. Die Frauen waren sehr schwach vom Fasten und konnten sich nur mit Mühe konzentrieren. Was ist eine Verbklammer? Was ist die Infinitivform? Der Lehrer blickte ihnen hilflos in ihre dunklen Augen, die ihn verständnislos ansahen. Erst am Abend durfte wieder gegessen werden. Ab einundzwanzig Uhr, bis zwei Uhr dreißig. Dann nicht mehr. In dieser Zeit durfte auch nicht getrunken werden. Nicht einmal ein Schluck Wasser!
Die Frauen hier hatten in der Heimat alles verloren. Die Eltern – erschossen. Die Brüder – bei einem Angriff umgekommen. Die Häuser verbrannt. Nur wenige von ihnen hatten sich mit ihren Kindern in Sicherheit bringen können und waren froh, dieses Wild-Ost-Szenario überlebt zu haben.
Hier waren sie sicher. Vorerst zumindest. Ich habe Angst um meine Kinder, sagte eine Anrainerin, wenn die hier sind. Die geflüchteten Frauen hatten auch Angst. Aber wir sind doch Christen, erwiderte die Sozialarbeiterin der Einheimischen. Ist es nicht unsere Pflicht als Christenmenschen, Notleidenden, Hilfesuchenden die Hand zu reichen? Ja, schon, aber, warum müssen sie ausgerechnet zu uns kommen?, fragte die Nachbarin.

Wenige von den Frauen hatten schon Arbeit. Ihr größtes Problem war die deutsche Sprache. Die Arbeitgeber sprachen noch dazu alle im Dialekt. Viele Wochen vergingen mit Lesen oder mit Zeichnen, oft einziges Kommunikationsmittel, wenn etwas nicht verstanden wurde. Tausendmal wurde im Wörterbuch nachschlagen. Eine hatte ihr Baby mitgebracht und stillte es während des Unterrichts. Der Lehrer hatte gewonnen. Er war akzeptiert worden, und das als einziger Mann hier herinnen. Am anderen Ende des Hofes trieben sich die Ehemänner der Frauen herum. Unrasiert, die meisten ohne Arbeit, oder bloß geringfügig beschäftigt. Es passte ihnen überhaupt nicht, dass ihre Frauen den Deutschunterricht für sich selbst durchgesetzt hatten. Misstrauisch sahen sie zum Lehrer und zu den Frauen herüber. Er verkörperte das Fremde, das Unbekannte, das Unverständliche. Sind die gefährlich?, fragte sich der Deutschlehrer. Ein verzweifelter Gatte lieferte ein schreiendes Kind ab, das zu seiner Mutter wollte. Das Kind beruhigte sich, als sie es auf den Arm nahm. Die Mütter schienen streng zu ihren Kindern, aber gleichzeitig auch wieder liebevoll. Die Kinder waren allesamt sehr diszipliniert. Überhaupt kein Störfaktor während des Unterrichts.
Der Vermieter der Wohnhausanlage wollte die Miete erhöhen, erklärten die Frauen dem Lehrer umständlich. Wovon sollte man das bezahlen, und wie soll man das dem Vermieter erklären? Sie wären hier in der Fremde. Müssten sich den Gegebenheiten anpassen. Wenn euch was nicht passt, sagte der Vermieter, zieht eben anderswo hin. Punktum! Nach einigen Wochen klappte das Notwendigste zur Kommunikation. Einer der Männer hatte Asthma. Giftgas, sagten die Frauen. Seitdem hätte er diese Beschwerden.
Einmal begann der Unterricht damit, dass alle gemeinsam die Tasche einer Kursteilnehmerin trockenlegten, weil die Trinkflasche ihres Babys ausgeronnen war. Ein andermal forderte die Behörde von einem eine plausible Erklärung, weil er, ohne zu fragen, für eine Woche in die Heimat gefahren war, unter Lebensgefahr. Sein Bruder war verunglückt, so sagten sie. Das Unglück aber war eine Kugel aus einem Soldatengewehr. Ein Ansuchen hätte drei Wochen gedauert, dann wäre das Begräbnis längst vorbei gewesen. Gemeinsam entwarfen sie mit dem Lehrer ein Schreiben.

Auf Fragen, was für die Flüchtlinge hier anders wäre, antworteten sie einstimmig, die Ordnung. Was für eine Ordnung? Der Straßenverkehr, sagte eine. Alle hielten sich an die Ampelregelung, niemand fuhr bei Rot. Sie schüttelten die Köpfe und lachten. Befremdend offensichtlich. Geregelte Öffnungszeiten! Daheim wäre das nicht so. Anpassung würde von ihnen verlangt, sagte man ihnen bei den Behörden. Integration. Manchmal wäre es das Wetter, das sie irritierte. Der heiße Sommer, meinte eine. Aber natürlich die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, dem Artikelwirrwarr und den unregelmäßigen Verben. Alles wäre anders. Es würde Generationen dauern, hier zu Hause zu sein, heimisch zu werden.

Ob sie etwas vermissten, was sie zurücklassen mussten? Ja, die Eltern, sagten mehrere Frauen. Milana schluckte. Sie schwieg. Was wäre noch anders hier? Die Natur. Die Pflanzen, antwortete Milanas Tochter. In den Skripten, die der Lehrer verwendete, fanden sich Kurzgeschichten, in denen von Rekorden die Rede war. Von einem Mann, der sieben Luftballone rasieren konnte, ohne dass einer dabei platzte. Oder von einer Frau, die in siebenundzwanzig Sekunden einen Autoreifen wechseln konnte. Die Kursteilnehmerinnen verstanden anfangs nicht. Was haben diese Leute gemacht? Es herrscht Ratlosigkeit. Das sollte der goldene Westen sein? Haben die Menschen hier nichts Wichtigeres zu tun, fragt das Mädchen? Er schlug ein anderes Kapitel auf. Präsens – und Perfektübungen. Die Frauen waren zu müde, die Konzentration ließ nach zwei Stunden deutlich nach. Also Pause.
Nach dem Unterricht wurde Tee vom Aufgussbeutel und Schokolade gereicht, einziger Luxus. Aber nur für den Lehrer. Schließlich war Ramadan. Kein Kuchen, kein Kaffee, kein Zucker. Die eine Frau mit den Verbrennungen war in ihrer Heimat Lehrerin gewesen und zweiundvierzig Jahre alt. Hier würde sie bestenfalls Reinigungsfrau sein.
Milana würde kein eigenes Haus mehr haben. Vielleicht einmal eine eigene Wohnung, wenn sie Arbeit bekäme. Ihren Kindern könnte sie dann eine gesicherte Zukunft bieten. Doch im Moment bestimmten nur schreckliche Erinnerungen an die Vergangenheit ihr Leben.

Nachwort: Leider ist die Geschichte um Milana nicht erfunden und auch nicht „1000 und einer Nacht“ entlehnt, sondern sie ist tatsächlich passiert. Als Milanas Deutschlehrer habe ich sie aufgezeichnet und Milana, deren Namen ich geändert habe, gefragt, ob sie im Falle einer Veröffentlichung ihre Zustimmung dafür geben würde. Sie hat „Ja“ gesagt.

Norbert Johannes Prenner

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Der Verbalist

Was ist, fragt ihr, ein Verbalist? Bedaure, dass für derart’ge Debatten kein Vorschlag einzubringen ist. Doch längst ist so den Herrn, wohl auch den Damen, aufgefallen, als wär er tot und sein Verschwinden leis‘ verschwiegen. Sein‘ Aufgab‘ war, uns stets zu unterhalten. Doch galt er nicht in aller Munde gleich. Dem einen war er Schalk und Narr, dem andren Anarchist. So war er allen das, was sie aus ihm gemacht. War einmal dies und einmal das. Ganz je nachdem, wie es die Zeit verlangt. Was liegt daran, wer spricht? Ist nicht die Stille mehr dem Lärm der Worte vorzuziehen?

Doch noch einmal zurück zur Frage, was er denn sei, der Verbalist? Vielleicht ein Schöpfer? Urheber sprachlicher Gebilde? Veranlasser geistiger, sprachlich‘ oder bildlich‘ Werke? So hört denn selbst, was uns so einer zu erzählen hat:

Beinah ein halbes Leben habe ich verschwendet, um zu berichten. Habe das Publikum verätzt. Mir manches damit auch verbaut. Doch stets darauf bedacht, mir Ungereimtes zu verbeten. War da und dort die Wahrheit selbst verbogen. Vielleicht verdichtet? Ich wär verbohrt, warf man mir vor. Was ich verbrach, sei niemals wieder gutzumachen. Den Rest des Lebens sollt‘ ich nun mit Stillesein verbüßen. Verdacht, sagen die, bestünde, ich hätte sie verladen. Bin nun verdammt, das Maul zu halten. Und was ich schrieb, wär schwer verdaulich. Jetzt steh ich da, verdutzt. Versteht: All das tat ich bloß aus Verehrung um Veredelung der Worte. Doch eines tat ich nie, die Zeit verdösen. Schrieb niemals unverdrossen in den Tag hinein. Gar zum Verdruss für andere? Hab niemals je verdünnt. Schon eher dicke aufgetragen, wenn Fakten oft nicht immer das gehalten, was sie zu allererst versprachen. Doch mit der Zeit verebben alle Worte. Hab unverblümt gesagt, was ich mir denke. Nur um der Wahrheit Willen Getratsche zu verbreiten?
Ich tat’s, das Wort galt’s zu verehren. Mal zu entzwei’n, mal zu vereinen. Mein Umfeld wollte ich vereisen, manch einen gern verekeln, wenn es danach schrie. Dann schließlich, wenn leise sich der Horizont verengte – mein Geist verfällt – hab ich nichts weiter zu vererben. Wollte die Welt zum Kritischen verfärben. Verzeiht, wenn das, was ich verfasst‘, nicht gleich in eure Lade passt. Und manch Histörchen war wohl bass verfault. Verflixt, nie wollt‘ ich mich mit euch verfemen. Verzeiht mein unwürdig‘ Vergehen.
Die Zeit verfloss, derweil ich schrieb. Mich nun zu loben oder zu verdammen, scheint noch verfrüht. Gebt eine letzte Chance. Doch wenn ich euch verletzt‘, jetzt könnt ihr über mich verfügen. Mir auch vergeben oder mich vergessen, denn das Papier, auf dem ich schrieb, schon ist’s vergilbt. Der Geist vergisst leicht mit der Zeit, was er erfuhr. Und dennoch bin ich stets vergnügt. Nichts könnt‘ man Schön’res mir vergüten, als um den Augenblick des Schreibens. Und nichts von alledem war mir verhasster, mehr, als dumpfes Brüten.
Ich hätte mich verhauen können. Verheult hätt‘ ich den längst verlor’nen Tag. Verhext! Nun will man mich verhören, was ich dazu zu sagen hätte. Verhüten hätt ich sollen. Einer wie ich würd‘ alles nur verhuren. Tät‘ sich in Wortlaut-Labyrinthen stets verirren. Man könnte mich, wenn man das wollt‘, verjagen. Einer wie ich würd‘ ohnehin die Ehr‘ verjuxen. Dann auch noch jammern, weil man ihn verkannt‘! So weit soll’s auch noch kommen! Ist diese Welt denn nicht verkehrt?
Was kann denn ich dafür, dass sie mich jetzt verlässt? Verlaust, verlebt, verklebt. Ein Wortverdreher. Na und? Was wurde schon verlegt? Das Bisschen? Nein, nein, man hat sich nicht verlesen. Zuwenig war’s verlinkt. Und alles wär‘ verlogen. Doch noch ist nichts verloren. Wolltet ihr schon mein Seel‘ verlosen? Vermeint ihr, dass ihr’s könnt? Und mir den Lebensabend trüben? Ohn‘ jegliche Vernunft. Ihr habt vermutet, dass ich den Anschluss hätt‘ verpasst? Von wegen! Doch was ich tat, war höchst verpönt. Ich geb es zu. Kritik zu üben! Wer meint er, dass er sei?, sagt ihr. Nun, einerlei, der Vorschuss ist verprasst. Da kann man halt nix machen. Ich hätte mich verrannt, sag’n die! Herkunft und Vaterland verraten. Dass ich nicht lach!

Meine verruchten Schriften soll’n verrohen? Ich hör euch schon von Weitem drohen. Jetzt wäre ich verrufen. Nun gut. Ich schreib nicht mehr. Beschloss’ne Sache. Tasten, die verrußen. Ideen versagen. Hilferuf versandt. Den Rest des Lebens nicht versauern. Ihr werdet’s schon bedauern. Ist kein Verschiss, auf meine Ehr! Ihr dachtet erst, er wäre recht versiert im Schreiben? Macht selbst ein Bild. Bloß Neider nennen mich versifft. Und andere sagen, er ist total versnobt. Kein‘ Red‘ auch von Verstand.

So bleib ich im Versteck. Ich schließe das Verdeck. Werd‘ mir das Leben schon versüßen. Wenn mir was einfiel, so ließ ich’s nicht vertagen. Ideen sofort auf dem Papier vertäut und rasch für mich in Wort und Laut vertont. Wer kann’s einem verübeln? Natürlich kam es vor, dass mancher auch verulkt sein muss, weil er so blöd war. Das soll beileib‘ kein Vorwurf sein. Ist jeder nur so wie er ist. Verwandte blieben da nicht ausgenommen. Und innig tat verwegen ich Zug um Zug mein Spinnennetz verweben. Gedanken kommen und verwehen. Zurück bleibt oft das Auge nur, verweint. Der Schreiber wird verwesen, und sein Schreibtisch? Der verwaist. Verzicht‘ die Welt auf mich! Ich bin verzogen. Sie ist mir zu verzopft. Ich will sie ganz verachten. Verändern kann ich’s nimmermehr.
Schluss ist’s schließ- und endlich mit Veräppeln und der Verarschung sei’s genug. Kein Wort mehr von verbrannter Erde. Mag niemand‘ mehr verbellen. Der Hund bleibt stumm. Ich werd‘ mich vor den Lesern tief verbeugen. Habt Dank, dass ihr so brav mir zugehört. War auch nicht alles klug, was ich gesagt, hab nicht gedacht, und nur mein Herz gefragt. Was soll’s. Mein Image ist verbeult. Wer will mich denn dafür verbimsen? Mich gar verbläuen, weil so verbissen ich dran schuf? Mein Geist ist hell, ich wollte nicht verblöden. Hat oft verblüfft. Und ist bereits verblüht, mein Schwung.
Hab’s selber mir verbockt und mir den Mund verbrannt, die Zung‘ verbrüht. Und ich gesteh, in meinem Wahn hab alles ich verbraten, was mir wert. Kaum kam ein Lob. Viel Arbeit, wenig Brot. Wie sollt‘ man selbes auch verbuchen? Verdamm mich, wenn meine Gabe doch nicht bloß genetisch wär. Vererbung, ja, natürlich. Ein jeder hat verdient, was er bekommt. Womit sollt‘ ich mir sonst die Stund‘ verdingen? Zu sonst nichts Lust, als wär mir alles schon verdorben. Die Hand, die stetig schrieb, verdorrt. Den hingeworf’nen Brocken schwer verdaut. Das Unheil um den hoffnungsvollen Satz beinah vereitelt. Na und?
Wo find’st du den Verfasser? Ist er zu Haus? I wo! Im Internet. Na klar! Denn dort ist alles nachzulesen, was du anderswo nit find‘st. Verewigt. Für die Ewigkeit. Das hätt’ste nicht vermutet, was? Doch immer schon, die Zeit heilt alle Wunden. Der Schreiber ist schon längst verfault. Verziehen das verfehlte Wort. Verfeuert in die Menge und verheizt. Verjubelt. Verflucht! Jetzt sag bloß ohne Honorar! Ganz unverfroren. Die Chance, Millionär zu werden, ist vergeigt. Ist and’ren Schreibern vorbehalten, gar jenen, die die Welt vermessen. Ich möchte sie vergiften! Besser wär’s, sie gleich vergessen. Nicht sinnlos Energie vergeuden. Auch geniale Hirne werden irgendwann vergipsen. Und der Pokal in dem Regal, der wird verrosten, wenn Lobeshymnen längst verhallen. Der Glanz verhuscht. Trotz alledem. All jenen will ich ihren Ruhm vergönnen, wenn sie ihn hart verdient‘. Wir soll’n nicht die Ehr‘ verhunzen. Ach, könnt ich mich verjüngen! Und mit Vokabeln mich verkabeln. Stattdessen bin ich schon verkalkt. Genie verkapptes! Und die Ernücht’rung macht verkatert.
Ein Typ, wie ich, gänzlich verkokst. Verkünder krauser Theorien. Und selbstverliebt, das ja, und nicht zu wenig. Zu schwach verlinkt. Bekanntheitsgrad verlischt. Bleib ohnedies nur der Verlierer, trotz der Verlockung, die so groß. Vermarktung ausgeblieben. Was blieb, ist lediglich verludern und verlumpen. Vermessen wär’s, sich forthin zu vernetzen. Ganz schlecht verpackt. Die Zeit verpennt. Man sollte sich verpissen. Der frühe Lorbeer ist verprasst. Und ums Verrecken niemals wieder zu erringen. Die Zukunft scheint verregnet und versalzen. Verspür schon den Verstand versanden. Die elektronisch‘ Feder rasch verstauen. Sie rasch verstecken. Und selbst? Verstört, verwirrt, verstockt, versunken. Verbittert. Zurück bleibt, leicht verblasst, verblichen und verdummt, ein Schreiber.

Norbert Johannes Prenner

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