Dieses Leben bietet, abgesehen von Überraschungen, offenbar zur Genüge Wiederholungen dessen, was man schon einmal erlebt oder vielleicht gelebt hat. Vielleicht auch bloß in Variationen, aber immerhin. Das macht mich oft so müde, weil ich ohnehin schon genau weiß, wie’s ausgeht und wonach es schmeckt. Derartig vergleichbare Begebenheiten haben mir so manches Mal die ohnehin seltene Freude am Neuen bereits im Voraus genommen. Gibt´s was Neues?, frage ich manchmal trotzig und füge gleich dran, hoffentlich nicht, denn das Neue ist nicht immer gut. Dann lache ich. Aber mein Lachen ist gar keins. Bedauerlich für mich, nur für einen kurzen Augenblick ein so genanntes Kind unserer Zeit gewesen zu sein, denke ich. Vielleicht aus Langeweile an der Oberflächlichkeit ihrer Tendenzen? Ich hab mich recht früh von allem verabschiedet, was man eben so tut, und bin dadurch stets isoliert geblieben, wenn nicht sogar einsamer geworden als andere. Ich blieb an einer Vergangenheit hängen, die nicht die meine war, die ich mir jedoch zunutze gemacht habe. Oft überlege ich, wie weit ich mich zur Wahrnehmung über die Zeichen der Zeit hinauslehnen soll? Mehr als über mein eigenes Befinden, frage ich mich? Mehr als über meine kleine Welt, über den Bereich meines eigenen Tellerrandes hinaus? Weiter zu denken als über das, was in meiner unmittelbaren Nähe passiert oder passiert sein soll? Wozu?, denke ich dann.
Und wieder einmal beginne ich an der Sinnhaftigkeit dieses Lebens zu zweifeln, weil es ja doch enden wollend ist. Man will mir einreden, schätzen zu lernen, was alles in meinem bisherigen Leben von mir erschaffen worden ist, wie das schon klingt, und dass alles, worüber ich spreche, auch tatsächlich von mir so gewollt ist. Ich selbst bin mir da gar nicht so sicher, dass es so ist.
Ich fühle mich auch durchaus nicht als Herr des Universums, wie es die Esoteriker gerne unterstützen möchten, und mein Geist ist mir nicht immer dienlich, wie die das gerne sehen würden, im Gegenteil, manchmal ist er mir eine unglaubliche Last. Diese Leute haben da ein sinniges Rezept parat:
Du richtest einen Befehl an das Universum und lässt es wissen, was du willst. So einfach ist das. Das Problem bei mir dabei ist bloß, was will ich eigentlich? In Ruhe gelassen werden, da bin ich mir sicher. Na bitte! Sei nicht immer so negativ, sagt eine meiner inneren Stimmen, wohl die, die es immer so gut mit mir meint. Also gut, ich will es versuchen. Angenommen, das Universum spricht auf meinen Wunsch an, auf meine Gedanken eben, die ich an es richte. Besser, ich schreibe sie gleich auf, damit ich nicht vergesse, was ich mir gewünscht habe. Nur - wie soll das Gesetz der Anziehung wissen, was ich will, wenn ich mir selber nicht im Klaren darüber bin, was ich eigentlich begehre? Das hat was. Also gut, ich bitte um etwas. Ich bitte darum, dass ich so leben kann, dass sich meine Existenzängste auf ein Minimum reduzieren, und dass mir nie die Ideen ausgehen mögen, ohne die ich sonst völlig hilflos in dieser Welt herumhänge. Ich stelle mir daher das Universum als überdimensionalen Versandhauskatalog vor und suche mir darin etwas aus, oder? Ich möchte also, dass ich keine Angst mehr haben und mir von niemandem was gefallen lassen muss! Eine einmalige Bitte soll angeblich genügen. Hier also ist meine Bestellung. - Ich warte! - Ich warte noch immer! Da fällt mir ein, mein Konto ist überzogen und ich kriege Panik, denn es ist erst der Vierte des Monats.
Panik bedeutet Angst. Also was ist? Nichts tut sich. Alles wie immer. Vielleicht war mein Wunsch nicht exakt genug? Wovor soll ich mich nicht mehr fürchten? Ich bemühe mich um eine Formulierung. Sagen wir, vor diesen XXL-Typen etwa, die andern immer so locker sagen können, was Sache ist. Zu denen gehöre ich nicht. Das muss man mögen. Oder, ein anderer Wunsch: Schütze mich vor der Machtgier unbefriedigter Mitmenschen. Oder davor, dass mit einem Male alles aus sein könnte. Vor Abhängigkeiten. Genau! Abhängigsein ist ein schwerer Fehler. Zu viel?
Ach, wenn ich so zurückblicke! Warum ausgerechnet mir nicht der gerade Weg beschieden war, den ich lieber beschritten hätte, ohne die zahllosen Kaskaden meines angeblichen Begabtentums nützen zu müssen, Sturzsprünge der Verlegenheit, wie ich sie zu nennen pflege, um mich den eigentlichen Pflichten zu entziehen, die für eine „ordentliche“ Karriere unentbehrlich gewesen wären. Ich habe mich hinter diesen improvisatorischen Wasserfällen zu verstecken begonnen. Sie waren mir stets Schutzwall gegen die öffentliche Meinung des Nicht-eingeordnet-werden-Könnens, eine meiner ausgeprägtesten, ureigensten Haupt- und Staatsphobien. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, mit mir abzurechnen. Schon sehe ich meine Seele auf dem selbsterrichteten Operationstisch. Der „natus sum“ war sich selbst nicht gut genug, stelle ich fest. Man muss aus sich etwas machen, hat der Herr Papa immer wieder gepredigt. Muss man das, frage ich mich? Der homo faber in mir sollte dem homo sapiens weichen. Aber – hätte ich Bauer werden sollen? Transitiv ein Feld bereiten? Ursprünglich auf Haus und Kammer beschränkt, mein natürliches Umfeld gesucht zu haben? Etwas hervorgebracht zu haben, aus Feld und Flur, und daran gewachsen zu sein, auch wenn es mich nicht unsterblich gemacht und niemandem etwas gebracht hätte außer mir selber, als Matrix meiner genuinen Beschaffenheit vielleicht? Ich lasse Mut und Hände sinken, die ich, das Universum beschwörend, bis jetzt emporgehalten hatte, ohne zu bemerken, dass sie mich bereits schmerzten.
Da ist jetzt diese Therapie! Mit Akribie hat man in diesen letzten Wochen mein Inneres seziert, bearbeitet, gestreckt, gedehnt, teilweise massiert, dann aber auch wiederum geschunden. Es einzurichten versucht wie ein verrenktes Glied. Und es sind Wunden aufgeplatzt dabei, bereits vernarbte. Fast wäre ich innerlich verblutet.
Und jetzt? Was ist jetzt? Jetzt gähnen mich die offenen Stellen hämisch an, von denen ich meine, dass sie ein jeder sehen kann. So nackt und bloß, wie sie daliegen! Aber - es gibt einen leisen Unterschied zum Zustand davor - es macht mir nichts mehr aus, ob man hineinsehen kann, in die Aufgebrochenheiten! Ich denke, es hat sich in mir eine gewisse Stabilität etabliert, wie man es nennen könnte. Tatsächlich! Ich erkenne es daran, dass ich denjenigen, die mich durch ihre bewusstlosen Bosheiten verhindert haben, nicht mehr ihre Unfähigkeit vorwerfe, mich in meiner Individualität zu wenig wahrgenommen zu haben, sondern deren Methoden anzuzweifeln beginne, die überdies ausschließlich und allein auf die exakte Dokumentation meines Versagens ausgerichtet gewesen zu sein schienen.
Ich habe mir vorgenommen, die Dinge, die ich wirklich will, als meine eigenen anzusehen. Eigentlich lächerlich! Wer ist schon ganz unbeeinflusst von allem, was da täglich auf einen einwirkt? Auch egal. Vielleicht mehr Gleichgültigkeit an den Tag legen, sage ich zu mir. Ich rede mir ein, alles zu besitzen, was ich benötige, um einigermaßen glücklich zu sein. Dabei sehe ich in den Spiegel, um festzustellen, ob ich mich selbst belüge. Rot bin ich dabei nicht geworden. Was wäre noch wünschenswert? Wünschenswert wäre, wenn mir jemand meine Sorgen und Ängste abnähme.
Eigentlich ist alles nicht so schlimm wie ich es noch vor Wochen gesehen habe. Schließlich hat mir diese Zeit den Blick auf das Dahinter geöffnet, ein wenig – doch, ja. Zweifel? Hm, nun, wenn es ganz schlimm war, konnte ich dieses Seelenfenster eine Zeit lang wieder schließen, bevor ich daran völlig zerbrochen wäre, um es beim nächsten Mal, vorsichtiger als zuvor, aus purer Neugier wieder einen Spalt zu öffnen. Das mit dem Dahinter ist eine ambivalente Sache. Das Seelenskalpell hat manchmal tief angesetzt, zu tief gar, ein andermal hat es mich nur geritzt. Trotzdem ist Blut geflossen!
Neulich habe ich geträumt, unsere dicke alte Volksschullehrerin mit den Nilpferdbeinen hätte im Burgtheater Regie geführt. Sie wollte mir mit Erste-Fibel-Wissen weismachen, wie Goethes Faust zu inszenieren sei. Es hat mich rasend gemacht, dass ausgerechnet sie – nicht, dass ich so wahnsinnig auf Goethe stehe, trotzdem – ich habe ihr entgegengeschleudert, dass sich die berühmten psychologischen Elemente, die sie andauernd darin sehen wollte, in die sich das Genie auflösen lässt, ebenso in jedem Straßenfeger oder Monteur finden ließen, wenn man nur suchte. Was für ein Traum! Wow! Das habe ich mit „mein Geist ist mir nicht immer dienlich“ gemeint. Hat man denn keine Ruhe, nicht einmal im Schlaf? Aber - es ist mir leider in diesem Traum verwehrt geblieben, ihr Dienstgesicht nach meiner frechen Antwort genauer sehen zu können. Vielleicht war das nicht so wichtig. Und doch - es war sowas wie ein Sieg! Dieser Traum hat mich den Glauben an mich selbst wieder erleben lassen, wenn auch nur für einen kurzen Moment lang, aber - immerhin.
Und? Danach? Nun, mein Vorhaben, es mir im wirklichen Leben gleichzutun wie in jenem Traum, gewinnt zunehmend an Gestalt.
Heute denke ich, ich bin ein Kind unserer Zeit. Was denn sonst? Dieser Satz geht mir nicht aus dem Kopf. Torberg, Schüler Gerber. Ein Gedicht. Ich weiß den Wortlaut nicht mehr. Ich bin in die Vergangenheit abgerückt, eben wegen der allzu oberflächlichen Tendenzen dieser Zeit und habe mich zu sehr mit jenen der Vorfahren identifiziert. Und das Ergebnis? Mein ganzes Hoffen ist in der Erstellung dieser Familienchronik gelegen, meine Gefühle an das Gewesene noch zu vertiefen. Es ist mir bis jetzt nicht gelungen. Stattdessen muss ich mich mit einer Gegenwart herumschlagen, die ich nicht akzeptieren kann und will! Schlimm!
Im Rückblick durchforste ich meine Gedanken-Partitur der letzten Wochen in der Hoffnung, dass ich beim Durchlesen des bisher Geschriebenen Dinge herausfinde, die ich heute vielleicht schon wieder anders sehe.
Eins habe ich dabei entdeckt, die Unzufriedenheit mit meiner alten Welt ist einer Gleichgültigkeit gewichen, die mich die Dinge, die angeblich die Welt bedeuten und so wichtig sein sollen, in etwas gedämpfterem Licht erscheinen lassen. Mir ist, als hörte ich auch schlechter als zuvor. Nicht mehr alles, oder zumindest nur das, was ich an mich heranlassen möchte. Auch komme ich nicht mehr im Sitzen außer Atem und auch der Wunsch, aus meinem Körper zu verreisen, ist nicht mehr so stark wie früher. Ein Liebling der Götter bin ich offensichtlich trotz alldem noch immer nicht geworden. Verflucht, entweder ist man einer oder nicht, denke ich, man kann keiner werden!
Und immer öfter schon ertappe ich mich in letzter Zeit dabei, dass etwas in mir, dem Stummen, zu singen beginnt und ich vor mich hin summe, so ganz unbewusst, leise zwar, und doch deutlich hörbar.
Es hat einmal eine Zeit gegeben, da dachte ich, ich wäre unsterblich. Diese Ansicht habe ich immer noch nicht völlig aus meinem Kopf verbannt. Dabei bemerke ich, wie sparsam ich mit meinen Ressourcen umgehe, wie vorsichtig ich mich ernähre, wie behutsam ich etwas vom Boden aufhebe, um mich nicht zu verletzen, wie neidisch ich mein Sperma bewache oder mit Akribie auf meine Ruhezeiten achte. Jetzt, da ich zurückblicke, sehe ich einiges, was mich bisher kaum gestört hat, ja, mir nicht einmal aufgefallen ist. Muster sind es, die ich mir angewöhnt habe. Alte Muster, die kaum aufzubrechen sind, und immer wieder tappe ich hinein. Die Eile, Dinge zu erledigen zum Beispiel. Als ob es nicht auch langsamer ginge! Mag sein, dass darin die Ursachen dafür liegen, dass mir alles aus den Händen fällt. Ich packe zu wenig fest zu. Alles, was mit mir passiert ist, ist nur meiner Vorsicht, sich zu vergeuden, sich zu verschwenden, anzulasten. Und dann - ach!, denke ich, es wird langsam Zeit, in die wärmende Märzsonne hinauszugehen.
Das tue ich dann auch. Mein Weg führt wie immer durch den Volksgarten, über den Heldenplatz in den Burggarten. Das Palmenhaus ist vor elf Uhr geschlossen. Ein Drang, der mich plötzlich nicht mehr loslässt und dem es gilt nachzugeben, führt mich auf die Toilette des Augustinerkellers, gleich neben der Albertina. Im Vorraum sitzen vier Fiaker-Kutscher bei der Jause. Draußen warten ihre Pferde geduldig. Als ich die Tür zum Pissoir öffne, meinte ich, der Koch hinter der Glastür hätte gerufen: „Do is scho wieda ana. Sperrt‘s zua!“ Ich könnte mich auch getäuscht haben und lasse mich von meinem Vorhaben nicht abbringen. Doch während ich pinkle, höre ich plötzlich, dass jemand die Tür hinter mir zusperrt. Ich lasse mich in meiner Verrichtung nicht beirren, obwohl mich das flaue Gefühl meiner vagen Wahrnehmung von vorhin nicht in Ruhe lässt.
Eiliger als sonst schließe ich den Reißverschluss, wasche meine Hände und will auch schon die Tür nach draußen aufstoßen. Geht nicht! Tatsächlich! Sie ist verschlossen. Mir wird heiß. Ich überlege fieberhaft, was zu tun sei. Die Polizei rufen? Einen Skandal daraus machen? Ich bemerke, wie sich meine Brust verengt, mein Herz rast. Ich versuche, durchzuatmen. Geht nicht. Panik! Dabei schien mir die Sonne grad vorhin noch so wunderbar ins Gesicht. Die ersten warmen Strahlen. Und jetzt? Gefangen! Ich trommle wie verrückt an die Tür. Herz klopft wild. Niemand reagiert. Ich trommle weiter, bis mir die Knöchel zu schmerzen beginnen. Nichts. Das Handy, denke ich und nehme es aus meiner rechten Manteltasche. Nein, es ist zu früh für einen Notruf. Vielleicht hört mich doch noch jemand? Ich schlage verzweifelt an die Tür. Da, endlich! Eine weibliche Küchenhilfe, nehm ich vorerst an, rüttelt an der Tür und schreit: „Komm eh glei. Wart a bissl!“
Nichts tut sich. Ich setzte mein Trommelfeuer fort. Dann zücke ich die Brieftasche und entnehme ihr eine Visitenkarte, auf der ich mir den Namen desjenigen aufschreiben werde, der mich, obwohl einige Angestellte mitangesehen hatten, dass ich noch im Pissoir war, hier eingesperrt hat. Der Schlüssel wird umgedreht. Ich stürze hinaus. „Wer war das?“, brülle ich wie ein Rasender. „Ich bin oft genug Gast hier gewesen. Wer von euch hat hier zugesperrt? Das ist Freiheitsberaubung! Sie alle haben es genau gesehen. Ich werde Anzeige erstatten!“ Ein bosnisch aussehender Küchengehilfe weicht vor mir zurück, sagt kein Wort. Ich stürze hinein in die Stube. Drinnen, ein schlitzäugiger junger Mann, sieht mich verschlagen an. Durchtriebenes Pack, durchzuckt es mich! „Wo ist der Geschäftsführer?“ Keine Antwort. „Wie heißt der Geschäftsführer?“ Die beiden wenden sich stumm von mir ab. Na gut, ich mache kehrt, gehe zum Ausgang. Mein Herz schlägt wie verrückt. Die Fiaker schauen mir blöde nach und grinsen. Ich hasse dieses beschissene Wien, denke ich. Irgendwann ziehe ich von hier weg. „Hier bin ich längste Zeit Gast gewesen!“, brülle ich. Das tut gut.
Aber, kurze Zeit danach, ich bin erstaunt, wie rasch sich mein Herz beruhigt hat. Beinahe so, als ob nichts passiert wäre, schlendere ich am Palais Epstein vorbei. Aus den Stallungen wird ein Lipizzaner in den gegenüberliegenden Hof geführt. Überall riecht es nach Pferdemist. Sollte ich jetzt einen Kaffee trinken gehen? Ich weiß nicht so recht. Ein wenig schwach sind meine Knie noch, ziemlich wackelig eigentlich.
Irgendwann habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht einfach mehr dabei sein sollte, bei allem, auch wenn ich nicht genau weiß, wobei. Also studiere ich das aktuelle Theaterprogramm und entscheide, in die Nachmittagsvorstellung Ödön von Horváths „Der jüngste Tag“ zu gehen. Seit dem grandiosen Umbau des Josefstädter-Theaters war ich ohnehin noch nicht dort. Mein Sitzplatz ist im Orchester rechts / Reihe 4 / Platz 6. Ich bin mit meinen vierundfünfzig offensichtlich der Jüngste im Publikum bei dieser dramatischen Angelegenheit. Die sogenannte dramatische Handlung, soll Horváth gesagt haben, sei eine rein sekundäre Angelegenheit und wäre bloß der Rahmen. Schöner Rahmen! Hinter mir ignorieren zwei uralte Abonnentinnen die angespannte Stille des Einganges zum ersten Akt und müssen ihre Eindrücke der ersten Szene unbedingt hörbar kommentieren. Auf der Bühne wird das Kommen eines Zuges erwartet.
Das dauert, wie im richtigen Leben. Schließlich - „Kommt kein Zug?“, fragt die erste ungeduldig. „Es kommt einer“, flüstern sie dann unisono. Der Bahnhofsvorstand geht nach vorn an den Bühnenrand und stellt die Weichen. Ein Signal am oberen Bühnenrand wird auf Rot gestellt. „Das hab ich schon erlebt“, sagt die andere laut hinter mir, „als Kinder haben wir immer gewunken, weißt noch?“ „Schau, die hat ja ein Nachthemd an“, lispelt die erste für alle hörbar, als eine Schauspielerin die Bühne betritt. Mein Gott! Ich rutsche unruhig auf dem neuen Sessel hin und her, der mehr als bisher Platz für die Knie zum vorderen Sitz lässt. Erst als auf der Bühne gesprochen wird, halten die zwei aufgetakelten Hofratswitwen endlich ihren Mund. Ich selbst würde nie wagen, während der Vorstellung laut zu sprechen, weil ich zu viel Anstand habe, und auch Angst, von jemandem zurechtgewiesen zu werden. Ich bin eben ein Man-tut-das-nicht.
Dann werde ich endlich Teil des Stückes und gehe aufmerksam mit, wie auf der Bühne Bewusstsein und Unterbewusstsein eindrucksvoll miteinander kämpfen. Eine Tragödie muss ich mir anschauen, ich Idiot! Als ob es mir nicht selber schlecht genug geht! Meine Stücke sind Tragödien, hat er gesagt, der Horváth, und komisch werden sie nur, weil sie unheimlich sind. Also, ich finde gar nichts Komisches dran, sondern alles wirklich unheimlich, auch die Sitznachbarn. Trotzdem halte ich durch, weil die Schauspieler so fantastisch sind. Zum Glück bin ich keiner geworden. Schauspieler, mein ich. Wenn ich denke, wie einen die Leut´ andauernd anstarren, nein, das wäre nichts für mich! Sämtliche Zustände befallen mich, wenn ich mir das vorstelle und ich beginne schon in Gedanken mühsam auswendig gelernte Sätze zu stottern, die Stimme bleibt mir weg, und ich schwitze wie ein Pferd, das einen schweren Wagen zieht. Die beiden Urahnen hinter mir lachen an Stellen, wo es überhaupt nichts zu lachen gibt. Gott, ist das peinlich! Und irgendwann ist das Stück ja schließlich aus. Am Ende des letzten Aktes applaudiere ich wie alle begeistert und erlaube mir freudig und wichtig festzustellen, oh, jetzt war ich also doch wo dabei. Endlich! Also scheint noch nicht alles verloren.
Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung
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