Archiv der Kategorie: Norbert Johannes Prenner

Hymne auf einen bemerkenswerten Vogel

Bist nicht Gans und auch nicht Ente, an Eleganz und Anmut kaum zu überbieten. Und neidlos zugegeben, im Wasser ein Talent, geübt in Sachen Schwimmen. Auf sanften Wellen treibend, majestätisch, hoheitsvoll und graziös, wiegst, still bewundert, du gerne dich auf dunklen Wassern. Rauschst flügelquietschend über Seen und Teich. In deinen weichen Daunen trotzt du jedem Wetter, ganz gleich ob Regen oder Schnee, auch wenn sich niemals Nebel lichten. Ziehst in verwunsch´nen Nachen Helden mir nichts dir nichts fort in eine andre Welt. Verwandelst, unbemerkt vor unseren abgelenkten Blicken, zunächst noch hässlich, nach kurzer Zeit dich zur Vollkommenheit. Jedoch, singst du beim Mondschein einsam und allein dein Lied, ehe du stirbst, so ist´s, als wär es eines Sängers letzter Auftritt.
Du Mittler zwischen Traumgespinst und Wirklichkeit. Allegorie der Reinheit, unnahbar schön und eitel doch zugleich. Verführerisch wie eh und je die Sünde. Mit deinem stolzen Hals, als Attribut der Schönheit, hoheitsvoll, stets elegant getragen, nährst du den Hunger ungestillter Sehnsucht. Dem Irdischen erscheint wohl gar nichts heilig. Profan, wie diese Welt nun einmal ist, das Vorbild solcher Biegsamkeit, dient ihm als Halterung zur Leseleuchte. Verbindungselement, halbsteif und doch elastisch. Gewendelter Metallschlauch sozusagen. Man sagt, ein Traum von dir soll heilsam wirken? Verführt uns gar zu Liebesabenteuern? Du weißer, reiner Vogel giltst, schier unberührt, als Bindeglied für hier und drüben, für einst und jetzt, für göttlich und für sterblich. Dein Trauerflor jedoch verheißt den Tod.

Dein Anblick lässt uns Ungeahntes hoffen. Es wird gesagt, du stehst für Treue und Vollendung. Dennoch, zwei Seelen stecken, ach, in deiner Brust. Wirst gar vom Lamm zum Wolf, wenn du mit vorgestrecktem Hals und Zischen, schlangengleich, zum Angriff übergehst. Wenn du so bist, so soll dies gar von Bösem künden. Nichtsdestotrotz bedeutest du das Licht am Horizont, bist oft Musik und Virtuos´ zugleich. Ach, heil uns, bloß durch dein Erscheinen!
Im Dienst der Götter scheinst du einst gewesen, du Bote, der dich zu den Asen trug. Walküren, unverletzbar, künden laut in deinem Federkleid vom Schicksal. Entführen gern gefall´ne Helden nach Walhalla, der Grenze zwischen Jetzt und Ewigkeit. Der Göttervater selbst, der Schelm, getarnt in flauschigem Gefieder, verfolgt vom Adler, sucht´ Schutz im Schoße der Geliebten. Und Leda selbst? Das kennt man ja! Anfangs zwar keusch, doch bald schon siegt die Wollust.

Wer hätte das gedacht? Ein Wunder ist´s wohl kaum, wo just in diesem einen edlen Teil der Vogel einem Mann an Ähnlichkeit kaum unterliegt. Was willst du mehr, du einzigartiges Symbol der Liebe? Besinn dich nur des Auftrags, Herr Lohengrin, der Herzogin zum Schutz gesandt zu werden! Dann dies, ein harter Schlag für dich, die Rollen neu verteilt. Nicht du, ein plumper Storch soll plötzlich kleine Kinder bringen! Was soll´s? Wenn du dich flügelschlagend aus den Wassern hebst, dann hängen, Trauben gleich, Poeten an karottengelben Flossen, frech, und faseln wie im Wahn von längst verfloss´nem Eros, von Jugend und Vergänglichkeit. Und was tun wir? In deine Daune flüchten wir uns jede Nacht, wird uns der Tag zur untragbaren Last, in Wärme und Geborgenheit, wenn draußen unbarmherzig Eisesstürme toben.
Sinnbild du, der hohen Kunst des Reimes! Und wie man hört, zierst du die Wappen edelster Geschlechter, von Königen und Pharaonen. Hältst steinern Wache über Teich und Zinnen. Heilig bist du, ja, heilig! Verbirgt nicht eine Jungfrau oder gar ein Prinz sich hinter aufgeplustertem Gefieder, die voller Sehnsucht auf Erlösung warten?

Woanders wiederum mimst ungeniert du die verzauberte unglückliche Prinzessin, die nur durch wahre Liebe die Erlösung findet. Doch da, da vorn! Ein ganzer Schwarm von deinen Artgenossen! Der Trieb zur Jagd erfasst den jungen Prinzen. Wird´s jetzt nicht endlich Zeit für dich, ganz plötzlich aufzutauchen? Gewiss, im fahlen Mondlicht trittst du aus dem Wasser, verwandelt, in deiner unnachahmbaren Gestalt. Wenn der dir ew´ge Liebe schwört, dann kann er dich erlösen. Es ist zu hoffen, er spielt die Rolle gut! Voll Grazie tanzen deine Schwestern und die Brüder.

Den Part des Sterbenden beherrschst du wirklich gut, du hochverehrtes Opfertier! Schlägst eindrucksvoll mit deinen Flügeln, indes du auf dem linken Knie solierst. Dein Köpfchen, von Federflächen, die dich tragen, schamhaft zwischendurch bedeckt.
Du stirbst in wirklich eindrucksvoller Anmut. Wenngleich, vielleicht ein wenig parodistisch, nicht? Das reicht für eine Nummer in der Tierrevue! Was soll dein theatralisches Verhalten? Heißt das, du bist ganz einfach hin, total Banane? Die ganze Zeit, durch diese schnulzige Romanze, ein Cello dich hinübergeigt. Ist dir bewusst, so nebenbei, dass jemand eine Totschlagfalle nach deinem eleganten Hals benannt?
Und weiter? Dem Orient orakelst du, die Welt entstünd´ aus deinem Ei. Du Urquell aus der Sonne! Aus deinem frühen Ovum entschlüpften einst ein Knabe und ein Mädchen. Du leistetest Apoll Gesellschaft. Am Schnabel der Weissagung hängend bot´st du Venus deine Flügel als Begleiter. Einer wie du macht unsre Träume wahr.

Bist stets Symbol für Glück und Liebe, du treuer Einzelgänger du. Nur selten fliehst du schützendes Gewässer, den Sumpf, den See, die flachen Tümpel oder Lacken. Und wo die Wasser nicht zu tief sind, dort stocherst du mit deinem Löffel still nach Tang. Geschickt entgingst du bis zum heut´gen Tag dem Spieß, das hast du nicht zuletzt dem Truthahn zu verdanken. Den derben Briten kümmert´s wenig. Selbst in der Bibel steht zu lesen, man soll den Adler, Habicht, Fischreiher, die Weihe, Geier und auch Raben, den Strauß, nicht Nacht- und Tageseulen, und auch nicht Kuckuck, Fledermaus, besonders dich, als auch die Rohrdommel nicht essen. Nur reine Vögel sollt ihr essen!

Apoll hast du die Gabe weiszusagen zugestanden, das ist doch so? Und ihm den Geist der Musen und Musik bewahrt? Du hast ihn mit der Gabe des Gesangs versehen, ihn in den Sternenhimmel hoch erhoben, wo heut´ er noch als helles Sternbild glänzt. Als Wächter gar im Reich der Toten, wo Mitternacht die Sonne hoch am Himmel steht, treibst du dich rum! Vermittler zwischen hier und drüben. `Ne ziemlich graue Zone, wie? In zahllosen Legenden kommst du ganz gut weg, Symbol von Eros und der Liebe du! Zugvogel warst du, vor Venus´ und Amors Wägelchen gespannt.
Die Heil´ge Schrift vergleicht die Reinheit deiner Federn mit jener von Maria. Und der, der diese Schrift erneuert hat, Herr Luther, vergleicht sich selbst mit dir. Ist irre, oder etwa nicht? Du Kunstmotiv, du und dein Ritter Lohengrin! Ist kaum zu glauben, was dein Erscheinen so bewirkt. Die einen denken, es würden ihre Wünsche nie erfüllt. Den andren bist du Schönheit, Reichtum, Macht und Liebesglück zugleich. Unfassbar, von dieser Welt des Kapitals zum schützend´ Vogel des Geschäfts erkoren! Du Wappentier schnöder Ökonomie!

Wenn du zu Land recht unbeholfen und einsam durch die Gegend latscht, bedeutet dies, Verborg´nes wird ans Licht geführt. Na, hin und wieder schaffst du´s ja, den schweren Körper in die Luft zu heben, das heißt, man würde demnächst wohl genarrt. Dem andren wird ein Wunschtraum jäh erfüllt. Mag sein, dein Schneeweiß kündigt eine gute Zukunft, dein dunkler Teint jedoch Tyrannis oder Tod. Du nährst sogar erotische Gelüste, die heimlich im Verborg´nen blüh´n. Wer denkt schon dran, wenn man dich füttert, an treue Freundschaft bis zum Tod? Dein Kreischen oder Singen, das kann man glauben oder nicht, verkündet schrill, dass einer stirbt. Drum bitt ich dich, sei endlich still! Wo noch dazu ein totes Exemplar von euch als Zeichen gilt von Überdruss. Mir ist das gleich, ich denk nicht gleich an Kindersegen, wenn ich dich seh! Auch glaub ich nicht, dass zwei von euch, im Doppelpack, verführ´n zur Hoffnung an das Gute. Ich fleh dich daher an, hör auf zu singen, und stirb gefälligst, wo man dich nicht sieht! Du raubst uns unsre Illusion, dass alles einmal besser war, du schräger Vogel! Zu guter Letzt, sei nun bedankt, dass ich nicht anders kann. Zieh endlich in die weite Flut zurück, dahin, wo du einst zogst den Kahn. Komm nur, wenn´s sein muss, hier zurück, dann sei verdammt dein Dienst getan. Leb wohl, leb wohl, mein lieber Schwan!

Norbert Johannes Prenner
In: Der Dreischneuß, Anthologie. Marien-Blatt Verlag, Lübeck, Nr. 25, 8/2013, Seite 36 -39

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 15043

Liebster Papa

Liebster Papa!
Ich hoffe, dort wo du jetzt bist, geht es dir gut? Heute habe ich dir vieles zu berichten. Angenehmes, aber auch Unangenehmes. Aber höre selbst. Das Leben hier hat sich, seit du von uns fort bist, sehr verändert. Weiß nicht, ob man sagen kann, zum Vorteil. Oft vermeinte ich schon, den Weltuntergang zu ahnen. Erinnerst du dich, Hemingway: „Aber der Weltuntergang läuft nicht so ab, wie Bobby es auf einem der großen Gemälde projektiert hatte. Er kommt mit einem von den Inseljungen, der die Straße vom Postamt heraufeilt, ein Radiotelegramm bringt und sagt: Bitte unterschreiben Sie hier auf dem abreißbaren Teil des Umschlags. Es tut uns leid, Mr. Tom!“
Zu mir hat der Postmensch nicht gesagt „Es tut uns leid.“ Er hat gar nichts gesagt, außer: „Ein Einschreiben.“ Er hält mir den Stift hin. „Da unten. Fest aufdrücken! Auf Wiederschaun.“ Vom Finanzamt. Ich denke daran, wegzufahren. Auf meine Insel.

Ach, Papa, wer auf meine Insel kommt, macht eine Zeitreise. Die Häuser, die Pflastersteine in den engen Gassen, die kleine Kirche oben am Hügel. Alles ist einige Hundert Jahre alt. In der näheren Umgebung gibt es eine Ölmühle, ein paar Weinkeller und Stallungen, inmitten von Olivenhainen, gesäumt von Orangen- und Zitronenbäumen. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert, den alten Stil beibehalten. Nichts, was das Auge stört. Kaum Asphalt.
Nicht so wie hier! Jeder Feldweg zuasphaltiert. Auch die Einfahrt beim Bürgermeister. Aber dort? Alles grün, dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, nur ein Hauch. Eine Oase der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche.
Ach, Papa, ich wollte, du könntest es sehen! Ich weiß, dir wäre es viel zu heiß hier. Hitze konntest du nie ausstehen. Bist mehr der Typ fürs Kühle. Mama wäre gerne hier, denke ich, schon wegen ihrer Gicht. Auf der Insel gibt es kein Gemeindeamt. Überhaupt kein Amt. Gott sei Dank! Die Administration ist weit, weit weg, irgendwo auf dem Festland. Und Exekutive ist nicht nötig hier. Alles geht seinen jahrhundertealten Weg. Einträchtig, besonnen. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé. Man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne sofort einen Schwips zu kriegen. Und das Brot! Dieses Brot, olivig, mit ein wenig Oregano, himmlisches Manna ganz einfach!

Auf meiner Insel ist eben alles anders. Die Jungen, wenn sie Spaß wollen, nehmen ein Boot und fahren ans Festland. Und wenn es daheim Feste zu feiern gibt, bleiben sie alle da. Die Alten, die haben das Sagen. Vor denen hat man Respekt. Nicht wie bei uns. Und die Jungen lassen sich was sagen von ihnen. Hören auf ihre Ratschläge.
Nicht so, wie … aber, höre selbst: Gar nicht so weit von uns beginnen die Jugendlichen zu rebellieren. Sie verwüsten die Innenstädte, zünden Autos an, werfen die Auslagenscheiben ein. Fragt man sich, warum? Ich weiß es nicht. Vielleicht wollen sie die Kontrolle über die Straße haben. Ein wenig Machtfantasien ausleben. Macht, die sie nicht besitzen. Darum plündern sie, um das alles endlich auch zu besitzen, was die anderen schon lange haben.
Weißt du, ich denke, ihnen fehlt das soziale Bewusstsein. Wir Wirtschaftswunderkinder, wir sind da anders. Wir hatten erst nichts, dann ein wenig und schließlich haben wir alles gehabt. Radio, Fernsehen, Video. Richtig satt sind wir. Denen aber fehlt der Bezug zur Gesellschaft, würdest du sagen. Die Hoffnungslosigkeit hat sie erfasst. Aber diese Modefummel, oder was weiß ich, das alles ist kein Ersatz für das, was ihnen wirklich fehlt. Sie reden verschlüsselt und du kommst nicht ran an sie. Ihre virtuelle Welt ist aus dem Nichts entstanden, nicht gewachsen, wie unsere. Sie praktizieren eine Kultur des Diebstahls und der Fantasie, völlig ohne Regeln. Und weil ihnen niemand zuhört, müssen sie jeden Furz, den sie lassen, auch noch www-mäßig posten.
Aber eine ungeregelte Welt funktioniert nicht. Du weißt das, Papa. Ein Mensch braucht Regeln, hast du immer gesagt, weißt du noch?

Hier, auf meiner Insel, wird nicht viel geschrieben. Alles, was man so hört, lebt aus Erzählungen. Was man wissen muss, wird von Mund zu Mund weitergegeben. Meinetwegen wo’s die besten Fischgründe gibt, wo noch nicht alles leergefischt ist. Oder wo man eine tolle Disco findet. Auch der Mythos lebt aus den Erzählungen der Alten. Gottlob gibt es auf der Insel keine Politiker. Jeder macht seinen Job.
Für Hobbys hat man hier keine Zeit. Auch zum Streiten nicht. Nachdem hier niemand reich ist, gibt es auch keinen Neid, vor allem aber keine sozialen Spannungen und Gegensätze. Kein Stress, wer den größeren SUV hat und so. Weißt du, Papa, als ich damals zum ersten Mal hier an Land gegangen bin, wollte niemand eine Dienstbeschreibung von mir haben. Keiner wollte meine Zeugnisse sehen. Ist vielleicht auch besser so.
Auf ein Glas Wein haben sie mich eingeladen und wir haben gelacht, als ich erzählt habe, wo ich herkomme, wenn auch erst hinterher, denn: „Kommunista! Kommunista!“, hat der Priester gebrüllt, als ich Österreich sagte und ist von seinem Stuhl aufgesprungen und der wilde lange, graue Bart hob und senkte sich rhythmisch mit dem schweren Atem seines Besitzers. Aber der Lehrer hat ihn beruhigt. „No no, Avustria, Kreisky, Kreisky!“, hat er gesagt und ihn mit einer Hand an der Schulter genommen und wieder in den Sessel gedrückt.

Der Lehrer und der Priester, die beiden sitzen immer zusammen vor der Kneipe, sind mittlerweile meine Freunde. Einer der Fischer, Jannis, mit weißen Bartstoppeln im Gesicht und einigen Zahnlücken, hat mich früher immer zum Korallenriff mitgenommen, wo sie meistens fischen. Er ist im vorigen Sommer verstorben.
Dort liegt das Wrack eines alten Frachters. Es hatte Westwind gegeben, damals, sagte er. Die Wellen sollen fünf Meter hoch gewesen sein. Dann sind sie auf dem Riff hier hängengeblieben und schließlich gekentert. Einige aus der Mannschaft hatten sich retten können. Der Steuermann ist nicht mehr in seine Heimat zurückgekehrt, sondern hiergeblieben. Vor zwei Jahren ist auch er verstorben. Wir haben ihn alle sehr gemocht, fügte er hinzu. Portugiese. Er liegt jetzt auf dem winzigen Friedhof hinter der Kapelle, unweit von Jannis´ Grab.
Wenn ich mich so umsehe, denke ich, dass ich auch einmal dort liegen möchte. Es ist ein so friedlicher Ort. Keine aufgeblasenen Grabsteine, mit für sich vereinnahmten Riesenengeln, um die Wichtigkeit der darunter Liegenden pompös zu untermauern, wer sie nicht alle waren, und was sie zu Lebzeiten nicht alles besessen haben. Dort, Papa, spätestens dort sind wir alle gleich.

Im Norden der Insel liegen noch zwei kleinere Dörfer, mit ebenso malerisch weiß leuchtenden Häusern und einem idyllischen Fischerhafen. Dahinter das karge Felsplateau mit seiner schroffen Steilküste gegen Westen hin. Auf der anderen Seite aber habe ich eine versteckte, traumhaft weißsandige Bucht vorgefunden, mit türkisfarbenem, beinahe cremigem Wasser. Anfangs seicht, so drei vier Meter weit hinein, dann leicht abfallend. Und erst weiter draußen so um die zwanzig Meter tief.
Weißt du, Papa, du hast mir nie das Schwimmen beigebracht. Ich musste es erst viel später mühsam lernen. Das hat dich alles nicht interessiert, ich weiß. Du warst immer nur mit dir beschäftigt, mit deinen Bildern. Wolltest auch hinaus, auf deine Insel. Aber du hast uns dabei vergessen. Deine Frau, deine Kinder, beinahe. Trotzdem. Ich hätte deine Zuneigung so dringend gebraucht. Das Zehngang-Fahrrad! Alle hatten eins, bloß ich nicht. Von meinen Söhnen hat jeder eines von mir bekommen. Ich wollte nicht denselben Fehler machen.

Gestern war ich unten am Hafen. Mit Freunden. Es ist spät geworden. „Wirf diesen ganzen Ballast über Bord, den du da mit dir immer herumschleppst“, hat mir der Hafengjörgi, der Kneipenwirt, geraten. „Deine Notizbücher, die Dose mit den Schlaftabletten und das ganze andere Zeug. Alles Unsinn, Mann! Du nimmst dir für nichts richtig Zeit und dich selbst viel zu wichtig, du Österreicher du“, hat er gelacht! Dann hat er Ouzo für alle gebracht und hat sich eine Zigarette gedreht.
Könnte es sein, dass ich etwas falsch mache? Aber das habe ich alles schon irgendwann einmal gehört, denke ich – in einem anderen Zusammenhang etwa? Der romantische Individualismus wäre tot und so! Wirf diesen Ballast über Bord, Mensch! Einer wie du, der sich schon viel zu lange im Mittelpunkt seines eigenen Interesses aufhält, sollte in die Welt hinaus! Bin ich ja auch, Papa. Aber wie soll ich mich verwirklichen?
Soeben steckt das Finanzamt mein Urlaubsgeld ein. Ich hätte im vergangenen Jahr zu viel verdient! Dass ich nicht lache. Nein, es ist eher zum Weinen. Diese Leute, die wir da immer wählen, und die angeblich so viel Verantwortung für uns übernehmen, stecken sich die Taschen voll und verschwinden einfach, nachdem sie uns per Gesetz das Geld abgenommen haben. Das war schon immer so, höre ich dich sagen. Du musst es ja wissen. Warst ja lange genug hier.

Ach ja, und dieses Haus auf meiner Insel, in dem ich dann immer wohne, wenn ich hier bin, Papa, steht auf der höchsten Stelle, einer Art Landzunge. Es ist stark gebaut, beinah wie – wie eine Festung. Und es hat zwei Hurricans standgehalten. Ringsherum stehen eine Menge Palmen, ein wenig schief gewachsen, wegen des dauernden Westwindes. Wenn ich auf der Terrasse stehe, überblicke ich die Südseite der Insel, den weiten, weißen Strand. Nichts trübt meinen Blick. Nichts ist architektonisch künstlich hineingekleckert, so wie bei uns hier. Alles ist natürlich gewachsen.
Niemand wagt es hier, der Natur ins Handwerk zu pfuschen. Die Häuser, die Wege, die steinernen Terrassen, auf denen der Wein wächst, alles macht optisch irgendwie Sinn. Wirkt nicht so polarisierend wie bei uns. Fünf Bauten nebeneinander. Fünf verschiedene Architekten. Fünf grauenhafte Konstruktionen. Und jeder darf seinen Mist in die Landschaft hineinknallen, wohin, und wie er will, und die Gesetzeslage ermöglicht es auch noch. Alles gefördert, versteht sich! Scheißegal, wie das aussieht. Hauptsache, es ist lukrativ. Und wenn nicht, wird der ganze Plunder an jemanden verkauft, der angeblich noch Geld hat, und die Sache läuft munter weiter. Die Kunst, in der sich diejenigen üben, denen wir unser Vertrauen geschenkt haben, hat immer schon darin bestanden, dem dummen Volk einen stinkenden Misthaufen als Rosenbeet zu verkaufen. Und wir haben ihnen auch noch vertraut. Sie haben uns bitter enttäuscht.

Ich kann mich heute nicht entspannen, Papa. Andauernd denke ich an dich, was du zu all dem sagen würdest. Ja, ich weiß, du hast Schlimmeres erlebt, damals, an der Maginot-Linie.

Übrigens, wenn ich so von meinem Hügel hinunter aufs Meer schaue und den weißen Sand sehe, da fällt mir ein, wie ich eines Morgens alleine schwimmen war. Ich bin nicht weit hinausgeschwommen, weil ich ziemlichen Respekt vor Haien habe. Die Sonne war schon etwa dreißig Grad hochgeklettert, als ich einen Blick nach unten werfe. Ein langer, dunkler Schatten. Ich hebe den Kopf, angespannt wie ein Drahtseil. Schaue wieder ins Wasser. Der Schatten folgt mir. Wohin ich auch schwimme. Durch die kabbelige See ist die Sicht etwas behindert. Ich schwimme wie verrückt, um ans Ufer zu gelangen. Atemlos und völlig erschöpft laufe ich die letzten Meter im seichten Wasser auf den sicheren Strand zu, falle hin, schaue zurück und suche das Wasser ab nach dem Furcht einflößenden Schatten. Nichts zu sehen, denn es war mein eigener gewesen! Was bin ich nur für ein Trottel, dachte ich.
Was sagst du, Papa? Du warst nur selten mit mir im Strandbad. Und das mit dem Schwimmen, du weißt ja. Später, beim Frühstück, habe ich alles der alten Alina und dem Hafengjörgi erzählt. Was haben die gelacht! Und ich habe mitgelacht. Ach, was waren das für herrliche Tage! Ich wollte, du wärest hier. Manchmal versuche ich mir vorzustellen, wie´s damals war, zu Hause, mit dir und Mama, den Schwestern. Ich habe noch den Schaum von Badedas in den Ohren, wenn ich daran denke, und meine nackten Füße laufen über grünes Linoleum. Mutter hat gerne immer das „e“ in Linoléum betont.
In Nachbars Garage stand ein DS 19, mit hydropneumatischer Federung und unsere Haushaltsgeräte waren allesamt von BBC. Nur das Radio war von Philips. Im halb verdunkelten Wohnzimmer hast du Dietrich Fischer-Dieskau gelauscht, begleitet von Jörg Demus am Klavier. Die kennt kein Mensch heute mehr. Und ich habe noch deine Stimme im Ohr, wenn du uns vorm Schlafengehen aus dem Märchenbuch vorgelesen hast. Man sagt, Kindern, denen man Märchen vorenthält, wird die Hilfe zur Aufarbeitung unbewusster Spannungen in der Fantasie versagt. Dadurch könnten sie angeblich emotional gestört bleiben.
Stimmt das? Was meinst du? Wenn ich so über uns als Familie nachdenke, haben wir eigentlich kaum Probleme gehabt. Ich habe dir bereits erzählt, wie´s anderswo derzeit so aussieht, mit den Jungen und so. Ich denke, wir haben uns natürlich auch alle am Materialismus orientiert. Vielleicht noch eine Nuance bescheidener. Aber bei uns hat es noch Geschichten gegeben, nicht war, Papa? Ich danke dir dafür. Ich fühle deine warmen Hände an den meinen, und wie du mich zugedeckt hast.

Normalerweise lese ich beim Frühstück gerne Zeitung. Gottlob gibt es auf der Insel nur einmal pro Woche eine, und die ist von der vorigen. Ich höre erst darin zu lesen auf, wenn ich gesättigt bin von den Negativschlagzeilen und den Sommerlochirritationen. Dann wird mir die Kluft zwischen dem, was uns vorgegaukelt wird und der Wirklichkeit wieder bewusst. Wenn einem ständig vorgekaut wird, was man haben muss, kann man sich gut vorstellen, dass manche an der Tatsache, nicht dabei zu sein, ganz einfach scheitern.
Plötzlich begreifen, dass man nicht hat, was andere längst haben. Zähneknirschend zur Kenntnis nehmen müssen, womit Eliten sich die Zeit vertreiben, wenn es im eigenen Bereich zum Nötigsten nicht reicht! Wo bloß falsche Versprechungen gemacht und keine Lösungen angeboten werden und die Raffgier und der Geiz zum Antrieb der Ökonomien verkommen sind, die sich im Spinnennetz der Korruption verfangen haben, tagaus tagein auf neue Beute wartend. Wo flotte Sprüche anstatt Sensibilität regieren. Dort ist der ideale Nährboden für das Entstehen einer maßlosen Wut. Kannst du das verstehen, Papa?

Ach, Papa, immer, wenn ich auf meine Insel komme, mache ich eine Zeitreise. Es sind nicht nur die Häuser, die Pflastersteine, die engen Gassen, die kleine Kirche am Hügel, die mich alles vergessen lassen, was die andere Welt so grausam macht. Alles hier atmet eine Zeit des Friedens aus. Gerne gehe ich an der Ölmühle, den Weinkellern und Stallungen, die inmitten der Olivenhaine liegen und gesäumt sind von Orangen- und Zitronenbäumen, vorüber. Lasse sie vorbeiziehen, wie einen Film, in dem ich keine Rolle spiele, nur Beobachter bin. Die alten Gemäuer – alles liebevoll restauriert.
Man hat den alten Stil ganz selbstverständlich beibehalten. Nichts gibt es, was das Auge stört. Alles grün, im Sommer vielleicht etwas brauner, von der Sonne ausgedörrt, aber sonst? Dahinter das blaue Meer, der azurblaue Himmel, ein paar Federwölkchen, ganz hoch, gerade noch zu sehen. Ein Ort der Ruhe und Entspannung, geprägt von der Freundlichkeit der wenigen Einwohner, die nie um ein Lachen verlegen sind, wenn ich irgendwo auftauche. Ach, Papa, ich weiß, ich habe dir bereits davon berichtet. Der Wein ist leicht und hell, beinahe ein Rosé und, wie du ja schon weißt, man kann ihn zu jeder Tageszeit trinken, ohne gleich betrunken zu sein.

Erinnerst du dich, wie du mir immer erzählt hast, als du mit dem Dr. Scheuhammer in Klöch warst? Du hast vom Rotwein dort geschwärmt. Und dass ihr zusammen einmal ein Glas zu viel getrunken hattet. Der Doktor, mit seinem alten VW Kübelwagen, es hat geregnet und das Verdeck klemmte. Ich habe dich noch nie so triefnass heimkommen sehen wie damals. Mama war in Sorge. Sie war ja stets in Sorge um uns, um dich. Du hättest dir in den nassen Sachen den Tod holen können, hat sie gesagt. Aber du hast bloß gelacht. Ich kann dich gut verstehen. Dieses Brot hier, Papa! Irgendwie olivig, mit wenig Oregano, wie himmlisches Manna, wirklich! Auf meiner Insel ist eben alles anders.

Zuhause besuche ich gerne den jüdischen Friedhof. Warst du jemals dort, Papa? Die Wege dort sind nicht asphaltiert, sondern mit Gras bewachsen. Ich gehe ganz vorsichtig. Meine Schritte sind nicht zu hören. Gelbe Blümchen wachsen auf den Wegen. Zwischen den Grabsteinen rankt sich Efeu, erklimmt die Grabsteine wie zum Schutz vor neugierigen Blicken und den Erinnerungen an die Vergangenheit. Der Zauber der Erinnerung – verblasst. Unten, am Sockel eines Steines ist zu lesen: Hier ruht mein liebster Gatte, von den Nazis im Konzentrationslager ermordet. Ich muss dann immer tief Luft holen. Bleibe stehen. Der Zauber der Erinnerung, denke ich dann, heiliger Wehmut süßer Schauer, haben innig uns durchklungen, kühlen unsre Glut. Ist nicht von mir, Papa, Novalis! Langsam gehe ich dann weiter. Über mir im Minutentakt Flugzeuge. Komisch ist das, mit den Namen hier.

Weg von den Josefs, den Karls und Franzen, den Pichlers, Schwarz und Krenns. Hier ruhen Jenni Goldschmidt, Sigmund Blau, Moses Grünbaum. Irgendwie – ich spüre eine Art Bruch. Es ist nicht wegen des Vorwissens. Die Gräber atmen etwas anderes aus, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es sind so viele Grabsteine, unglaublich. Ich denke, Sterben ist etwas Selbstverständliches, obwohl ich es nicht glauben kann, dass ich eines Tages … aber Leben, Leben ist etwas ganz Besonderes. Ich muss es für mich nützen, denke ich, nach den Erschöpftheiten mancher Hoffnungslosigkeit.

Die meisten Grabsteine sind aus schwarzem Marmor, ragen hoch empor, spitz, wie Obelisken. Nur wenige sind aus Sandstein, Biedermeier, mit Blumenranken. Manche sind umgefallen. Haben das schmiedeeiserne Gitter um sich herum erdrückt. Brennnesseln, wohin das Auge reicht. Noch nicht hoch. Jeden Schritt setze ich behutsam.

Mein Rücken schmerzt vom vielen Gehen. Ich lasse mich auf einem umgefallenen Grabstein nieder und raste eine Weile. Dieses Licht, das durch die hohen Thujen scheint, die zahlreich, gleich einem stillen Hain das ganze Areal mit ihrem Immergrün und den weit ausladenden Ästen bestimmen, taucht das Schwarz und Grau der Steine in wärmenden Frieden. Eine süße Sehnsucht ergreift mich, beinahe neidvoll denen gegenüber, die hier ungestört Teile des unendlichen Universums sind.
Vor mir das Grab eines Dr. med. Carl Robitsek. Ich muss unweigerlich an die Pension Schöller denken und schmunzle, (Max Böhm als Onkel Robitschek). Der Ehrgeiz plagt mich und ich versuche, die verwitterte Schrift auf dem Stein zu entziffern: „Wehklagt – die ihr – Talent und Tugend – und Kunst und Wissen ehret – immer redlich lobt. Der liebe Vater starb mir (Dativus ethicus) seinen Kindern – der liebevolle Gatte seinem Weib. Ein wacker Forscher in dem Dienst des Wissens – ein Menschentraum in diesem Grabe …“

Ach, Papa, nächste Woche, wenn ich auf der Insel bin, kann ich eine Zeit lang nicht mehr herkommen. Du verstehst? Wahrscheinlich bleibe ich drei Wochen hier. Und heute bitte, verzeih mir, ich werde auch schon so vergesslich, ich habe das Windlicht zu Hause vergessen. Die Streichhölzer auch. Aber ich habe noch rasch einen kleinen Strauß Magnolien mitgebracht. Hier! Gefallen sie dir? Die hast du doch stets am liebsten gemalt. Es sind auch ganz dunkelviolette dabei. Die Vase sollte man wirklich austauschen, die macht es nicht mehr lange.

Bitte, ich stelle sie ganz nahe an deinen Grabstein, damit sie nicht umfällt, sollte ein Sturm kommen. Ich küsse und denke an dich. Also dann, bis bald, wenn ich wieder zurück bin! Mach´s gut!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15040

 

 

 

Am Ende

Mit Burn-out zu Hause und der Tatsache, dass seine Ehe seit den letzten Wochen in Brüche zu gehen drohte, befand sich Arno psychisch und physisch im absoluten „Down-under“. Wie sollte man dem angehäuften Elend entkommen?, fragte er sich. In der Ablenkung bestand stets eine mögliche Variante, den Tag relativ unbeschadet zu überstehen. Nachdem der Postbote ohne eine Trost spendende Nachricht wieder abgezogen war und die Türchen der Briefkästen laut scheppernd zugeworfen hatte, darin, höchst verantwortungslos, jede Menge Werbematerial, Zahlscheine und ähnlichen Mist ungestraft zurücklassend, ohne sich weiter darum zu scheren, wie es demjenigen ergehen mochte, dem dieses Postfach gehörte, sah Arno für sich lediglich die Option, der kürzlich eingetroffenen schriftlichen Aufforderung eines amtlichen Schreibens seiner Dienststelle Folge zu leisten.

Dies bedeutete, kurzfristig in jene Stadt zu reisen, deren einzige Silbe sich auf Provinz reimte, und versprach, eine höchst unangenehme Sache zu werden. Ein grauer Regentag, nebelverhangen. Tiefdruck und der beißende Geruch von Industrieabgasen. Ein Taxi mit einem wortkargen Fahrer. Im Inneren lautstarker Regionalsender im Jodelmodus und das Knacken der Scheibenwischer auf Intervallstellung.

Schließlich das Wartezimmer einer psychiatrischen Ordination. Arno hatte sich angemeldet.
„Ah? Sie? Für Sie brauche ich mehr Zeit“, sagte die Ärztin und nahm noch rasch einen Wartenden vor. Arno schluckte. Das tapfere Herz pochte in unruhiger Erwartung. Was wollte man von ihm hier? Er hatte ein gültiges Attest, das verhieß, es wäre alles zur Zufriedenheit. Banges Warten. Endlich. „Bitte! Kommen Sie herein!“
D i e  sollte hier für ihn zuständig sein? Ein derbes Weib, hatte er irgendwo bei Ludwig Tieck gelesen. Arno konnte sich nicht so genau erinnern, wo. Mit kräftigen Schenkeln und einem feisten Hintern. Ein Weib! Und hatte Macht über ihn, den Zarten, Verwöhnten, Leptosomen und Schöngeist, Angsthasen und Weltverbesserer, den das Schicksal zynisch ins falsche Jahrhundert versetzt hatte, ins bürokratische, technokratische, unromantische. Was für eine Welt! Sie sah ihn eine Weile sehr genau an. Dann begann sie, ihn auszufragen.

Wo und wann geboren, verheiratet, Kinder und so weiter, ihre prüfenden Blicke immer wieder auf ihn, dann wieder auf den PC vor ihr richtend. Wozu das alles? Stand ja doch alles in seinen Personalien. Vielleicht wollte sie wissen, ob er überhaupt in der Lage wäre, klare Antworten zu geben? Unverschämte Person! Welche Schulen er besucht hätte, und wozu die vielen Studien? Wären für seinen Job gar nicht relevant?
Weil er eben so wissbegierig sei, antwortete Arno.
„Eine beinahe manische Profilierungssucht, finden Sie nicht?“ Arno fühlte Zorn aufsteigen. Nur nicht gehen lassen, dachte er, nur jetzt nicht gehen lassen! Die will dich nur aus der Reserve locken. Sehen, ob die Lebensgeister intakt wären. Das darf doch alles nicht wahr sein, arbeitete es in ihm.

„Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern beschreiben?“, bohrte sie weiter, „standen Sie stark unter Druck? Waren Ihre Eltern leistungsorientiert? Wie empfanden Sie Ihre Kindheit und Jugend?“ Arno plauderte bedenkenlos drauflos. Vielleicht würde das die ganze Sache irgendwie positiv beeinflussen? Ja, doch, er wäre sehr unter Druck gestanden. Besonders vom Vater her. Die Mutter war eher zurückhaltend gewesen.

„Hatten Sie manchmal das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu sein, wenn Ihre Leistungen nicht so waren, wie sie Ihnen von Ihrem Vater abverlangt worden sind? „Nicht, dass ich mir dessen bewusst wäre.“ „Gut. Jetzt zieh´n Sie sich aus, bis auf die Unterhose. Legen Sie sich dort auf die Liege.“ Arno stand auf. Spinnt die? Er war außer sich! Die war wohl verrückt geworden? Unglaublich, diese Demütigung! Man behandelte ihn hier, als wäre er besoffen ins Radar gefahren! Schlimmer hätte man ihm nicht zusetzen können. Es gab ihm den Rest. Er fühlte den moralischen Sturz in die Tiefe.

Eigentlich war er wegen Herzbeschwerden länger im Krankenstand gewesen. Im Zuge dessen hatte man ihm das Burn-out attestiert. Er sollte sich eine Zeitlang erholen können. Die haben doch alle einen Knall hier, stolperten seine Gedanken durcheinander, während er die Hose über den Stuhl hängte.
Dann legte er sich auf die mit einem weißen Leintuch bespannte Liege.
„So! Nun versuchen Sie, mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze zu berühren, mit geschlossenen Augen!“ verlangte sie von ihm.
Ach, darauf wollt ihr hinaus, ihr Schweine!, dachte Arno. Ihr wollt wissen, ob ich nicht doch ein wenig krank im Hirn bin, wie? Aber den Gefallen tu ich euch nicht! Das hatte ihm der Dreckskerl aus der Personalabteilung angetan, war Arno überzeugt. Parvenü! Kommt mir damit! Dem möchte ich gegenüberstehen! Arnos seelischer Pegelstand knallte in rasender Talfahrt nach unten. Was ist, wenn sie was findet? Vielleicht habe ich irgendein Leiden, von dem ich nichts weiß?
„Und nun fahren Sie mit den Zehenspitzen des rechten Fußes das linke Schienbein entlang, hinauf bis zum Knie. Ja, in Ordnung. Die weiten Hosenröhren seiner Boxershorts mussten ihr genügend Einblick erlaubt haben, um zu sehen, wie es um ihn dort bestellt war. Netter Nebeneffekt!
„Und nun mit dem linken Fuß.“ Arno tat, wie ihm befohlen wurde. Er ahnte, was ihm blühte, wenn er das nicht schaffte. Das Doktorluder hätte jede Macht der Welt. Nun musste er sich aufsetzen, damit es seine Kniereflexe testen konnte.

Das vergess ich euch nie! Arno kochte. Hatte er nicht erst kürzlich über das einfühlende Verständnis des Dienstgebers im Krankheitsfall des Burn-out, der neuen Modekrankheit, gelesen? Das verlogene Gewerkschaftsblatt ermunterte auch noch Betroffene, sich in ihrer Situation ruhig den Ansprechpartnern anzuvertrauen. Und der Dienstgeber hätte neuerdings dafür vollstes Verständnis!
Wirklich, sehr verständnisvoll, wie ihm hier geschah. Arschlöcher! Arno atmete tief durch. Eine ganze Weile praktizierte sie an ihm noch den einen oder anderen Reaktionstest, offensichtlich jedoch alle zu ihrer Zufriedenheit.

Arno, immer noch auf der Liege, blickte angespannt zur Decke. Er wagte kaum zu atmen. Das Herz raste. Nun fasste die Ärztin sein linkes Bein, verdrehte es, zog heftig daran und drückte es zur Hüfte. Arno entfuhr ein Schmerzensschrei.
„Tut das weh?“, fragte das Krokodil. Ja, er hätte schon seit Längerem Schmerzen in der Hüfte. Daraufhin verbog sie sein Bein noch hartnäckiger.
Dämliches Stück, so hör doch auf! Was hat denn das jetzt mit meinen Herzrhythmusstörungen zu tun?, fragte er sich. Nachdem sie offenbar genügend gezogen und verrenkt zu haben schien, sagte sie trocken: „Sie können sich wieder anziehen“, und begab sich an ihren Schreibtisch. Von dort lugte das Doktorluder geduckt aus sicherer Verschanzung hervor, um Arno abschätzend so von oben zu mustern.

Arnos Selbstwertgefühl war ins Bodenlose gefallen. Unten. Total unten. Diese Erniedrigung! Was muss ich hier ertragen?, fragte er sich fortwährend.
„Und diesen krankhaften Ehrgeiz, den man ja beinahe manisch nennen könnte, setzen Sie den auch an Ihrem Arbeitsplatz um? Bei Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie?“ platzierte sie messerscharf.
Arno überlegte, was er sagen sollte. Was sollte er antworten? Ein Teufelskreis! In diesem Moment erfasste ihn eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Freiheit der Gedanken, der Seele und gleichzeitig auch des Körpers, und nach dem Wunsch, der Zuchtmeisterin im weißen Kittel ein „Ach, Sie können mich mal und guten Tag“ entgegenschleudern zu wollen, obwohl dies seine Situation wohl kaum verbessern würde. Die unausgesprochene Kündigung würde dadurch eher auch nicht zurückgezogen.
Aber nein, er könnte an fünf Fingern abzählen, dass die Sache gegen ihn lief, das war doch klar.

Zögernd überwand er sich: „Nein nein, ich versuche stets, meine Fähigkeiten, so gut ich es eben vermag, den Anforderungen entsprechend einzusetzen. Auch gegenüber den Kolleginnen und Kollegen. Sollte ich jemals Druck ausgeübt haben, täte mir das leid. Sie verstehen, von oben macht man uns Druck, also muss ich natürlich weitergeben, dass alles in gewisser Weise auch umgesetzt wird.“

Aber das Doktorluder schien ihm nicht zu glauben. Vielmehr versuchte es, ihn noch mehr ins Eck zu drängen, das fühlte er ganz deutlich. Doch dann, ganz plötzlich, die Wende! Arno merkte es an einer gewissen Entspanntheit ihrer Gesichtszüge. Als träfe sie ganz plötzlich eine andere Entscheidung als ursprünglich geplant. Ob sie irgendeine Weisung hatte? Nein, sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Da hielt sie bereits den Kopf etwas schief und sagte: „Also gut, dann werde ich Ihrem Fortkommen in diesem Betrieb durch meine Expertise vorerst nicht im Wege stehen. Was dann entschieden wird, darauf habe ich keinen Einfluss. Dieser Bericht geht in Kopie ans Personalbüro!“ Mit diesem Satz war die Angelegenheit nun offenbar erledigt, zumindest fürs Erste, dachte er.

Arno verabschiedete sich, so freundlich es ihm in der Situation gelang und ärgerte sich erneut darüber, ihr zuletzt nicht doch den Vorwurf der Ignoranz an den Kopf geworfen zu haben, seit wann es denn üblich sei, fachlich fundierte Expertisen derart zu ignorieren und sich hier seinen eigenen Staat bilden zu wollen?
Hier, in dieser Stadt, deren einzige Silbe ihres Ortsnamens sich auf Provinz reimte. Und dann noch, dass ihm dieser Scheißbetrieb ohnehin egal wäre wie nur was, hätte er noch hinzugefügt, und dass sich der gesamte Verein den Job nach dieser Schikane sonst wohin stecken könne. So weit unten wie hier wäre er noch nie gewesen, konstatierte er für sich.

Arno, der an all seine anderen Probleme dachte, beschränkte sich dann aber doch nur auf ein heuchlerisches „Guten Tag“ und ein Lächeln und war zur Tür hinaus, froh, wieder frische Luft atmen zu können. Froh auch, in möglichst nicht  allzu nächster Nähe dringend  auf ein Bier gehen zu können, was ihm unumgänglich schien, um so der erlittenen Demütigung entgegenzuwirken, soweit dies mit einem einzigen Glas Bier überhaupt möglich wäre.
Danach würde er diese entsetzliche Stätte der Erniedrigung und Demütigung mit dem nächstbesten Zug verlassen, nicht ohne noch einen verächtlichen Blick aus dem Zugabteil auf die luftverpestenden Schlote ihrer Industrien geworfen zu haben, mit dem heiligen Eid, diesen durch seine erlittene Schmach besudelten Boden in seinem Leben nie wieder betreten zu wollen.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15037

abgetaucht

Wartezimmer haben etwas Endgültiges. Wartezimmer in psychiatrischen Ordinationen etwas Vernichtendes. Weiß getüncht. Zeitlos, uhrlos. Aluminiumfauteuils mit Leder bespannt. Repräsentieren lautlose Überlegenheit. Strahlen stuhlbeinglänzend Macht aus. Ihre Opfer, die sich auf ihnen niedertun, in unsichtbaren Netzen imaginärer Spinnen gefangengehalten. Solange, bis sie emotionslos mit ihren Namen aufgerufen werden.
Arno war einer von ihnen, und angemeldet.
Ohne Vorwarnung flog die Tür zum Ordinationszimmer auf.
„Ah? Sie? Für Sie brauche ich etwas mehr Zeit“, bestimmte die Frau im weißen Mantel im Türrahmen und nahm, um die Spannung zu erhöhen, noch rasch einen Wartenden vor. Arno schluckte. Schluckte vor Angst. Warum brauchte sie für ihn mehr Zeit? Das tapfere Herz pochte in unruhiger Erwartung. Was hatte er schon getan? Was wollte man von ihm hier? Er hatte ein gültiges Attest, das verhieß, es wäre alles zur Zufriedenheit. Und was bedeutet schon ein halbes Jahr? Einmal ausspannen, hatten die gesagt. Sie sollten einmal eine Auszeit nehmen! Er hatte nur gemacht, was die ihm geraten hatten. Bloß Herzrhythmusstörungen, hatten die gesagt.
Banges Warten. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, schlug die Türe zur Ordination auf: „Bitte! Kommen Sie herein!“ befahl die Ärztin, deren Tonfall dem floskelhaften „Bitte“ jegliche sich dahinter versteckende, ernst gemeinte Höflichkeit entzog.
Arno erschrak. Ihm war, als ging es zum Schafott. Bloß eine Nachuntersuchung, hämmerte es in ihm. Mehr nicht. Und ausgerechnet die da sollte für ihn zuständig sein? Ausgerechnet die sollte, per amtlicher Verordnung, in seine Seele dringen dürfen? Ein derbes Weib, mit kräftigen Schenkeln und einem feisten Hintern? Und hätte Macht über ihn, den Zarten, Verwöhnten, den Leptosomen und Schöngeist? Den Angsthasen und Weltverbesserer, den das Schicksal zynisch ins falsche Jahrhundert versetzt hatte, ins bürokratische, technokratische, unromantische. Die Weißbemantelte beäugte ihn eine Weile sehr genau. Fasste ihn ins Auge. Tastete ihn von oben bis unten ab. Drängte sich mit Argusaugen in sein Inneres.

Arno war äußerst nervös, atmete immer wieder tief durch. Schweiß perlte über Lippen und Stirn. Hier würde er zugrundegehen. Mein Gott! Das Ende. Von hier käme er nie mehr weg. War er doch erst vor knapp zwei Stunden noch bei ihr gewesen. Ja, bei ihr, Charlotte! Seine Gedanken hauchten ihren Namen. Transpirierten ihren Duft. Und jetzt hier! Dabei hatte sie sich eben erst zu ihm heruntergebeugt, ihn sanft geküsst. Träumte  er?
Weißmantel blätterte in den Akten. Da plötzlich offenbarte sich ihm eine Erinnerung, eine Erscheinung vielleicht, und seine Hände streckten sich sehnsüchtig nach Charlotte hin und zogen sie sanft zu sich heran. Er spürte nicht den leisesten Widerstand. Eine vom Wind herangetragene Welle errichtet eine Sandbank unstillbarer Gefühle in ihm. Schon löste er die Barrieren textilen Dazwischens, das sanft zu Boden glitt. Darunter transparent Rosafarbenes. Er berührte fremdes Gewebe. Glasklare Tautropfen auf krausem Moos. Ihre Achselhöhlen versendeten Deoströme in heißen Wellen wiederkehrender Intervalle.

Arnos knetende Hände schwitzten. Die im weißen Kittel begann, ihn auszufragen. Wo und wann geboren, verheiratet, Kinder und so weiter. Ihre prüfenden Blicke immer wieder auf ihn, dann wieder auf den PC vor ihr gerichtet. Wozu das, verdammt? Stand ja doch alles in seinen Personalien. Vielleicht wollte sie wissen, ob er überhaupt in der Lage wäre, klare Antworten zu geben? Welche Schulen er besucht hätte, und wozu die  akademischen Abschlüsse? Wären für seinen Job doch gar nicht relevant. Weil er eben so wissbegierig sei, antwortete Arno. „Eine beinahe manische Profilierungssucht, finden Sie nicht?“ Arno fühlte Zorn aufsteigen. Nur nicht gehen lassen, dachte er, nur jetzt nicht gehen lassen! Die will dich nur aus der Reserve locken. Sie machte eine Notiz.

In diesem Land musste ja seit jeher alles belegt werden. Bewiesen, auf Papier geschrieben, nachvollziehbar gemacht. Der Sommer stand ins Land und es bedurfte Universitätsprofessoren, die befragt wurden, wie man sich in klimatisierten Räumen zu verhalten hätte. Denn immer noch, seit dem Ende der Monarchie, nach nunmehr vierundneunzig Jahren, lag das Wesen anerzogener Unselbstständigkeit in den Händen von Beamten, deren Ziel es seit erdenklichen Zeiten war, die Menschen klein zu machen, um selbst groß bleiben zu können. Wurden nicht auf diese Art seit Langem unzählige eigentümliche Bestrebungen, deren charaktervolle Regungen und jeglicher Individualismus im Keim erstickt und vernichtet? Oder, wenn dies nicht sofort gelang, zumindest paralysiert?

Arno sah sich um. Seine Blicke durchstreiften den Raum, in dem er sich befand. Alles steril. Eine Welt für sich. Der Geruch von Charlotte haftete in seinen Nasenschleimhäuten. Weg von hier! Bloß weg! Jetzt gemeinsam von der Klippe springen, in die aufgewühlte See hechten, sich kühn hinunterstürzen. In die weiße Gischt unter ihnen eintauchen. Schon trugen sie die Wogen der Leidenschaft hinaus aufs offene Meer der Lüste, spülten sie kurz an Land, um gleich wieder in die offene See hinausgezogen zu werden, immer wieder, in der steten Angst, niemals endgültig an den Strand geworfen zu werden. Hierher womöglich. Nicht auszudenken! Schon treiben sie in der tosenden Brandung, entkräftet, wie Ertrinkende von Wellental zu Wellental. Sei meine Windsee, die meine Seele durchwandert, und künde den herannahenden Sturm, der meine Gefühle hochschlagen lässt, meinen Körper durchwogt, mein Gehirn flutet! Spitze Wellenberge vor mir, für Bruchteile von Sekunden, klatschen an deine anschwellende Brandungszone.

Nicht die raue See war es. Nicht der stürmische Wind. Es war die krächzende Stimme der Göttin in Weiß. „Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern beschreiben?“, bohrte sie weiter, „standen Sie stark unter Druck? Waren Ihre Eltern leistungsorientiert? Wie empfanden Sie Ihre Kindheit und Jugend?“ Und Arno plauderte bedenkenlos drauflos. Vielleicht würde das die ganze Sache irgendwie positiv beeinflussen? Ja, doch, er wäre sehr unter Druck gestanden. Besonders vom Vater her. Vom Vater, ja. Verflucht! Das war ein Fehler, wie er sofort bemerkte, denn die Weiße notierte von jetzt an alles eifriger mit als zuvor. Die Mutter wäre eher zurückhaltend gewesen, flüsterte Arno aphon.
„Hatten Sie manchmal das Gefühl, in einer ausweglosen Situation zu sein, wenn Ihre Leistungen nicht so waren, wie sie Ihnen von Ihrem Vater abverlangt worden sind?“ „Nein.“ Arno machte eine Pause. „Nein, nicht, dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre“, log er.

Fliehen! Übers Wasser. Gib meiner Seele Flügel! Für alle Ewigkeit uns als gemeinsame Welle fortpflanzend. Meine Gedanken berühren dich. Meine Hände gleiten über deinen Körper. Noch fühle ich die Wärme, die von ihm ausgeht. Noch fühle ich deinen Atem, Meeresgöttin! Entdecke endlich ihre smaragdenen Augen, die feine Nase, die zierlichen Füße, die dunkelblonden Haare. Seegras, in denen sich Muscheln und Seetang verfangen halten! Halt ein, ermahnte er sich! Seine Einbildungskraft bescherte ihm die schöpferische Neubildung dessen, was er sah, wahrnahm, fühlte. Eine Reproduktion gleichsam ihres Bildes, ihrer Gestalt, alles. Viel deutlicher noch, im klaren Wasser, fantasieverbrämt, ja, ausschweifend gar. Die Feiste konnte seine Gedanken ohnehin nicht lesen.

„Gut. Dann zieh´n Sie sich aus, bis auf die Unterhose. Legen Sie sich dort auf die Liege!“, befahl sie in schier unnachgiebigem Ton, so, als ob sie sich ihrer Sache absolut sicher wäre.
Was sollte er? Was? Arno stand auf wie in Trance. Eine Marionette. Spinnt die? Er war außer sich! Die war wohl verrückt geworden? Unglaublich, diese Demütigung! Man behandelte ihn hier, als wäre er besoffen ins Radar gefahren! Schlimmer hätte man ihm nicht zusetzen können. Das gab ihm den Rest. Er fühlte den moralischen Sturz in die Tiefe. Im Übrigen war er ja doch nur wegen Herzbeschwerden länger als üblich im Krankenstand gewesen. Im Zuge dessen hatte man ihm das Burn-out attestiert, um sich eine Zeit lang erholen zu können, fieberte es in ihm. Die haben doch alle einen Knall!, stolperten seine Gedanken durcheinander, während er mit zitternden Händen die Hose über den Stuhl hängte. Schließlich aber legte er sich umständlich auf die mit einem weißen Leintuch bespannte Liege. Über ihm drei hell leuchtende Lampen, deren Schein ihm ins Gehirn zu dringen schien.

Komm mit mir, komm, dahin, wo das Wasser etwas tiefer wird! Charlotte wehrte sich schwach. Lass mich dich unter die Wasseroberfläche ziehen, dich  hypnotisieren, gefügig machen, seufzte es in Arno. Eine Illusion in dir nähren. Deine Zuneigung mir gegenüber stärken. Dich scharf auf mich machen, in ansteigenden Wellencrescendi willenlos machen. Dich der nüchternen Wirklichkeit des Festlands entreißen. Vielleicht Wasserspiele? Ja, ein Wasserspiel wäre gefragt! Perlender Zauber zwischen Illusion und Desillusion. Künstlerische Fantasie, mehr oder minder gelenkte erfinderische Vorstellung. Doch sachte! Es bedürfte der Einfühlung! Jener Einfühlung, von der er sich erhoffe, dass sie ihn erhörte. Ein Spiel als Endstation der Begierde und der Sehnsucht. Nicht leicht, in der kabbeligen See. Mit Worten allein nicht zu beschreiben. Nonverbale Anbetung, durch das Grün ihrer Augen inspiriert, nicht bloß als Leistung eines Gefühls, nein, vielmehr teleologisch eigenschöpferischen Erfindungsgeist bemühen, zielgerichtet auf ihr – Herz!

„So!“ Arno erschrak. „Nun versuchen Sie, mit dem Zeigefinger Ihre Nasenspitze zu berühren, mit geschlossenen Augen!“, verlangte die Zuchtmeisterin. Ach, darauf wollt ihr hinaus, ihr Schweine, bohrte es in Arno! Ihr wollt wissen, ob ich nicht doch ein wenig krank im Hirn bin, wie? Aber den Gefallen tu ich euch nicht! Das hatte ihm der Dreckskerl aus der Personalabteilung angetan, war Arno überzeugt. Parvenü! Kommt mir damit! Dem möchte ich gegenüberstehen! Arnos seelischer Pegelstand knallte in rasender Talfahrt nach unten. Was ist, wenn sie was findet? Was dann? Vielleicht habe ich irgendein Leiden, von dem ich nichts weiß? Man wäre zumindest den Führerschein los.
„Und nun fahren Sie mit den Zehenspitzen des rechten Fußes das linke Schienbein entlang, hinauf bis zum Knie. Ja, so ist es gut.“ Halt endlich deinen Mund! Die weiten Hosenröhren seiner Boxershorts mussten ihr genügend Einblick erlaubt haben, um zu sehen, wie es um ihn dort bestellt war. Netter Nebeneffekt, ärgerte sich Arno. Das Licht über ihm blendete seine Augen. Er hielt sie von nun an geschlossen. Gab es für ihn ja doch nichts zu sehen. Das Monster schien irgendwie mit seiner Akte beschäftigt.

Nun hieß es, endlich wieder Luft schöpfen, ehe die Sturzsee erneut über sie hereinbrach, ihn, und Charlotte.  Danach, bereit sein zu einer Zwischenakteinlage improvisatorischen Beherztseins. Sie musste seiner Komposition verfallen, darin lag seine einzige Chance. Wasserballett. Zunächst nur ein paar Tempi, ganz nebenbei, um nicht unterzugehen, bis zum Aqua Cantabile vielleicht. Tempo rubato, jedoch immer in Bewegung bleiben. Danach langsam aus dem Gedächtnis – vielleicht eine Wiederholung? Gut. Zweimal hintereinander, ganz entspannt! Die rechte Hand, wenn sie müde würde von den Schwimmgirlanden, nachlassen, einfach den Druck nachlassen. Aber, der Bedeutung des kleinen Fingers und des Daumens in den Fluten mehr Gewicht beilegen! Jetzt musste der Zeitpunkt für die Beine kommen – rasche Auf- und Abbewegung – für besondere Effekte immer so, als würde man schweben. Zyklisch im Wasser tanzend. Zirkulieren.

„Und nun mit dem linken Fuß.“ Wie? Ach so. Arno tat, als verstünde er anfangs nicht. Tat aber dann, wie ihm befohlen wurde. Er ahnte, was ihm blühte, wenn er das nicht schaffte. Die Quacksalberin hätte jede Macht der Welt. Nun musste er sich aufsetzen, damit sie seine Kniereflexe testen konnte. Das vergess ich euch nie! Arno kochte. Niemals! Hatte er nicht erst kürzlich über das einfühlende Verständnis des Dienstgebers im Krankheitsfall des Burn-out, der neuen Modekrankheit, gelesen? Und dieses verlogene Gewerkschaftsblatt ermunterte Betroffene auch noch, sich in ihrer Situation ruhig den Ansprechpartnern anzuvertrauen! Der Dienstgeber hätte neuerdings dafür vollstes Verständnis! Lachhaft! Wirklich, sehr verständnisvoll, wie ihm hier geschah. Aufs Abstellgleis würde man ihn stellen! Arno atmete tief durch. Eine ganze Weile noch praktizierte Weißrock an ihm herum. Führte den einen oder anderen Reaktionstest durch, offensichtlich jedoch alle zu seiner Zufriedenheit.

Und Charlotte? Nein, sie wird es nicht merken, dass wiederholt wird, nein, sicher nicht. Die Linke musste bloß ein harmonisches Fundament finden, eine einfache Struktur. Brauchte nicht sonderlich kompliziert zu sein. Das ist die Aufgabe der Rechten! Trotz des Widerstandes des Wassers. Mit den Handflächen aufeinanderfolgende Arpeggi vollführen. Hände und Gehirn, beides ununterbrochen in Bewegung, in Aufruhr! Wie die See selbst. Hier und jetzt fände seine Sehnsucht ihre Erlösung. Komme danach, was wolle. Zu den heftiger werdenden Wellenrhythmen würde er sie um die schmale Taille nehmen und ins Reich der Tiefe entführen, wenn nicht…

Arno, immer noch auf der Liege, blickte angespannt zur Decke. Er wagte kaum, zu atmen. Das Herz raste vor Empörung über die auszustehende Erniedrigung. Nun fasste die Peinigerin sein linkes Bein, verdrehte es, zog heftig daran und drückte es zur Hüfte. Arno entfuhr ein Schmerzensschrei. „Tut das weh?“, fragte das Krokodil.
Ja, er hätte schon seit Längerem Schmerzen in der Hüfte. Daraufhin verbog sie sein Bein noch hartnäckiger. Dämliches Stück, so hör doch auf! Was hat denn das jetzt mit meinen Herzrhythmusstörungen zu tun?, fragte er sich und tauchte ab.

Um sie herum – Tintenblau. Eintagsfliegen. Gab es Eintagsfische? An heißen Sommertagen konnte man sie knapp unter der Wasseroberfläche tanzen sehen, vor allem die männlichen Exemplare. Verirrte sich ein leichtsinniges Weibchen in diesen schwankenden Reigen, war es um seine Jungfräulichkeit geschehen. Brandende Fieberfantasien. Dieses kurze Leben – nur von einem bestimmt, von der Fortpflanzung. Sein Begehren ließ ihn den Wasserreigen der Liebe erneut aufnehmen. Enge Schwimmhaltung – Gänsehautfühlung. Beide bewegen ihre Körper gleichzeitig von einer Seite zur anderen. Die linke Hand etwas heben, ja, gut so. Die rechte Hand unterstützt und – rechts herum in Solodrehung führen. Wasserrolle. Achtung, eine Sturzsee! Presste sie nach unten. Vorsichtig, linker Fuß paddelte. Rechter Fuß umschloss ihre Beine. Kurz Luft holen, auftauchen.

Nachdem das Ungeheuer offenbar genügend gezogen und verrenkt zu haben schien, sagte es trocken: „Sie können sich wieder anziehen“, und begab sich an seinen Schreibtisch. Von dort lugte das Doktorluder geduckt aus sicherer Verschanzung hervor, um Arno erneut abschätzend zu mustern. Arnos Selbstwertgefühl war ins Bodenlose gefallen. Unten. Total unten. Diese Demütigung! Was musste er hier ertragen?, fragte er sich fortwährend. „Und diesen krankhaften Ehrgeiz, den man ja beinahe manisch nennen könnte, setzen Sie den auch an Ihrem Arbeitsplatz um? Bei Ihren Kolleginnen und Kollegen, wie?“, platzierte sie messerscharf. Arno überlegte, was er sagen sollte. Was sollte er antworten? Ein Teufelskreis! In diesem Moment erfasste ihn eine Sehnsucht nach Freiheit, nach Freiheit der Gedanken, der Seele und gleichzeitig auch des Körpers, und nach dem Wunsch, seiner Dompteurin im weißen Kittel ein „Ach, Sie können mich mal und guten Tag“ an den Kopf zu werfen.

Nur noch zwei rasche Tempi vorwärts gegen die Strömung in die Gegenpromenade – linke Hand zwischen ihrem und seinem Gesicht, dann glitten sie in eine linke Wende. Seine rechte Hand fühlt ihre Taille. Die Luft wurde knapp. Er fasse ihre linke Hand fester, mit etwas Druck, spürte keinen Gegendruck. Eine Sehnsucht erfasst ihn. Ihre Finger waren kalt, ungewöhnlich kalt. Ihre spitzen Nägel – so lang. Geeignet, ein Muttermal auf seinem Rücken aufzukratzen. Über ihnen schlugen die Wellen zusammen, brandeten, wallten auf, während sie langsam, ganz langsam tiefer und tiefer sanken. Danach – würde nichts mehr sein.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at |Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 15036

 

 

Die Krise 1 – Die Vernissage

Es war wieder einmal so weit. Vielleicht noch nicht so schlimm wie damals 1929, aber immerhin. Die Wirtschaftssysteme des raschen Profits waren auf Grund gelaufen, ausgelöst durch gewagte, verantwortungslose Spekulationen. Nun sollte das gestrandete Schiff wieder flott gemacht werden. Die Politik, bislang bloß zum Leuchtturmwärter degradiert, wurde von ihrem Ausguck abberufen und zum Kapitän bestellt, um Befehl zu geben, aus den ohnehin schon geschändeten Staatskassen Milliarden von Steuergeldern herauszupumpen, welches man den Steuerzahlern in staatsstrategisch lukrativer Absicht wohlweislich längst abgenommen hatte. Mit diesem Geld sollten sowohl die Lecks der leeren Spekulantenkassen ordentlich, wie auch die löchrigen Börsen der Bürger ein wenig gestopft werden. Die Frage danach, ob man also ein guter Verlierer wäre, konnte daher an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie, dank ihres Humors, sogar noch dann lachen konnten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Solchen Menschen wäre ohnehin nur am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfunden hatten. Schließlich konnte man ja nicht immer nur gewinnen, daher konnten jene, die stets gewannen, es sich leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.

Zu dieser Sorte Mensch gehörte Rembert Mirando nun wirklich nicht. Er zählte jedoch auch nicht zu jener, der ein veritabler Verlust immerhin nur ein weinendes, zumindest aber auch ein lachendes Auge bescherte. Übertriebener Ehrgeiz war bislang nie seine Sache gewesen, obwohl er sich mit der Rolle des Verlierers nur schwer anfreunden konnte. Im Gegenteil. Es ärgerte ihn maßlos, wenn das Glück an eine fremde Tür geklopft hatte und nicht an die eigene, und er würde sich eher die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, wenn ihm einmal etwas nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Rembert Mirando entstammte einem Arbeiterhaushalt. Seine Leistungen in der Schule sind nicht so herausragend, dass er eine Klasse überspringt. Und schon gar nicht kann man von ihm behaupten, dass er zu den Begabten gehört hätte. Eines aber hatte er sehr bald herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen eher verhaltenen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.

Darüber hinaus beanspruchte er für sich jene gängige Meinung, welche über Menschen aus dem Arbeitermilieu besagte, dass Leute wie er durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg zur Spitze unbedingt dienlich wären. Und dazu zählten Stress- und Konfliktresistenz, frühe Selbstständigkeit vielleicht, auf alle Fälle jedoch ein gesundes Selbstbewusstsein. Präziser gesagt stellen diese Eigenschaften Faktoren dar, die erfahrungsgemäß die notwendige Grundlage dafür bieten, spezifische Anforderungsprofile für gewisse Machtpositionen zu nähren. Schließlich entstammten zahlreiche berühmte Machthaber einem derartigen Milieu. Das war ebenso bekannt, wie auch die Tatsache in der endlosen Geschichte der Menschheit bewiesen hatte, dass viele davon ihre Macht leider oftmals weidlich missbraucht haben, missbrauchen und künftig missbrauchen würden. Um also die eigene Entwicklung nach dem Vorbild milieubedingten, scheinbar natürlichen erworbenen Machtstrebens einer Person aus den unteren Reihen derart voranzutreiben, erschien es Rembert Mirando völlig legitim, seine Lebensplanung sehr sorgfältig in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, auf den Weg zu den Sternen der Macht nicht vorzeitig auf den Steinen dorthin hart aufzuschlagen.

Also beschloss er, in die Politik zu gehen, um dadurch wenigsten einen kleinen Vorgeschmack seines ungestillten Machtstrebens, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen, auskosten zu können. Aber Macht haben heißt auch Verantwortung tragen, auch wenn es manchmal bloß gilt, ohnehin nur scheinbar Verantwortung zu übernehmen, weil man zufällig in der dafür vorgesehenen Position ist, welche man zwar kraft seines Amtes zu tragen hat, sie aus verschiedenen Gründen zu tragen jedoch oft gar nicht imstande ist. In solchen Fällen macht man eben das Beste daraus.

Rembert Mirando war ein unscheinbares, eigentlich völlig normales Kind gewesen. Einerseits hatte er weder an Gitterstäben wichtiger Gebäude gerüttelt, um dort hineinzugelangen, noch hatte er sonst irgendwelche hochtrabenden Karrierepläne bereits im Sandkasten geschmiedet. Aufgrund dieser wohl unbedeutenden Ausgangsposition hatte sich sein Leben bis zu seinem Eintritt in die Politik eher als eine Laune des Schicksals und der widrigen Umstände gezeigt, niemals zur richtigen Zeit am richtigen Platz mit den richtigen Eigenschaften und den richtigen Personen gewesen zu sein.
Dieser Umstand sollte sich jedoch rasch ändern, als er auf einer Vernissage des Stadtkulturamtes dem einflussreichen Unternehmer und physischen Schwergewicht Denis Escortin vorgestellt worden war, einem Mann, dem nie die Glut seiner Zigarre auszugehen schien. Ob er dem Herrn Kommerzialrat den Kandidaten für den Bundeskongress, Herrn Mirando, vorstellen dürfte?, lispelte der Parteivorsitzende in leicht gebückter Haltung Escortin ins rechte Ohr. Bitte, wenn es unbedingt sein muss, antwortete dieser, und schnitt eine unmotiviert bulldoggenartige Grimasse. Sein Gesicht war hochrot und aufgedunsen. Auf seinem beinahe kahlen, aber riesigen Schädel glänzten zahllose Schweißtropfen wie Morgentau im künstlichen Sonnenlicht der kleinen Niedervoltlampen, die teilweise auf die ausgestellten Ölgemälde, teilweise aber auch auf die Besucher und das riesige Buffet gerichtet waren.

Mirando begann sogleich geübt zu katzbuckeln, eine Methode, derer er sich seit Längerem schon erfolgreich bedient hatte, hüstelte kurz einmal verlegen und nahm schließlich einen Anlauf, sich vor diesem so hochangesehenen Vertreter der heimischen Wirtschaft mit gewichtiger Miene in Szene zu setzen.
Er, begann Mirando, freue sich, ihn auf diese Weise kennenlernen zu dürfen. Man habe ja schon viel von ihm gehört. Von seinen Erfolgen, meinte er. Und wer kannte ihn nicht? Escortin! Die Betonflotte! Kies und Schotter!
Und dabei lachte er furchtbar dämlich. Und was Escortin von diesem Bild hielte, wenn man fragen durfte? Dabei richtete er sich vor der über ihnen hängenden grünen Impression, einem in dominantem Oliv gehaltenen Ölgemälde mit einigen roten und schwarzen von fingerdicker Sepia hingeschleuderten Farbapplikationen, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf.
Ein Murmeltier, das gerade Männchen machte, konnte es nicht besser gemacht haben als Mirando eben jetzt. Kommerzialrat Escortin betrachtete ihn gewohnt herablassend und desinteressiert von oben bis unten. Schwer atmend klemmte er die mächtige Zigarre zwischen seine kurzen, knackwurstartigen Zeige- und Mittelfinger und nahm die Zigarre aus dem Mund. Er lächelte mitleidig und klopfte ein wenig Asche in den bereitgestellten Aschenbecher auf dem stangenartigen Nirostagestell ab.
So etwas, junger Freund, wie das hier, pflege ich in Festmetern in meinem Keller zu lagern, entgegnete Escortin laut auflachend. Wissen Sie, wie viel Geld ich im Laufe der Jahrzehnte dafür ausgegeben habe? Millionen sag ich Ihnen! Mirando hielt den Atem an. Ehrfürchtig starrte er auf Escortins goldenen Siegelring an dessen kleinem Finger der linken Hand, der wohl kaum auf einen anderen dieser gewaltigen Pranke gepasst hätte. Ah, entfuhr es Mirando und ein Gefühl in seinem Bauch signalisierte ihm, dass mit diesem Herrn nicht gut Kirschenessen sei. Vor allem aber ahnte er, dass dessen Erfahrungshorizont bezüglich des offensichtlich verschwenderischen Umgangs mit gängigen Zahlungsmitteln sich mit dem seinen nicht würde decken können.

Mirando reagierte sofort und verfiel in angebrachte Demutshaltung eines Gehaltsempfängers. Alles nur für einen guten Zweck, sagte Escortin gepresst. Man müsse solche Sachen kaufen. Es musste einem ja nicht gefallen. Schließlich geschähe es nicht zuletzt, um einem guten Zweck damit zu dienen. Vor allen Dingen aber meinem – guten Zweck, fügte er hinzu, und lachte dabei verschleimt, hustete auf und schluckte hinunter, um die Cohiba sofort wieder in sein breites Maul zu stecken und dicke Wolken vor sich her zu paffen.
Man sagte, Escortin wäre einer, der einem behilflich sein könnte, in jeder Lage. Mirando wusste das und er suchte verzweifelt nach einem geeigneten Andockmanöver an ihn. Schließlich standen unmittelbar Wahlen bevor und er würde Geld für seine Kandidatur benötigen, viel Geld. Der Parteivorsitzende hatte ihm den Auftrag erteilt, Escortin an Bord zu ziehen, für die Partei, heute und jetzt, sonst wären seine eigenen Tage wie auch jene Mirandos gezählt. Und dann diese Peinlichkeit. Nicht einmal eine richtige Antwort hatte er auf seine Frage bekommen. So etwas hätte er in Festmetern im Keller! Pah! Was er zu diesem Bild sagen würde, wollte er von ihm wissen, sonst nichts. Nein, man musste anders vorgehen, überlegte er.

Escortin hatte sich kurzerhand von Mirando abgewandt, als ob er ihn nicht mehr interessierte, sah sich im Ausstellungsraum um und tat, als wäre er niemandem hier drinnen Rechenschaft darüber schuldig, was er gerade dachte, oder mit welchem entsetzlichen Gestank er der hier sonst so sterilen Raumnote seinen individuellen Stempel aufdrückte.
Die anwesenden Damen hielten sich angeekelt, doch so unauffällig wie nur möglich, parfümierte Papiertaschentücher vor ihre gepuderten Nasen in der Hoffnung, dieses grauenhafte Rauchgerät würde irgendwann einmal von ganz alleine ausgehen. Escortin aber war ein geübter Raucher.

Rembert Mirando hopste nach dieser ersten Demütigung wie ein ungeschickter Detektiv hinter ihm her, jedoch immer durch ein paar Schritte Respektabstand von ihm getrennt und lauerte wie ein Luchs darauf, mit Escortin ein neuerliches Gespräch beginnen zu können. Aus einer Gruppe schwatzender, aufgedonnerter Gattinnen der hiesigen Oberschicht weniger an den Bildern interessierter Herren löste sich eine Dame mittleren Alters und steuerte direkt auf Escortin zu. Escortins Frau, Anica. Ehemals blond, jedoch professionell nachgefärbt, mit kurzer Nutriajacke, offen, Seidenschal um den Hals, den sie in einem fort immer wieder spielerisch um den rechten Mittelfinger ihrer rechten Hand wickelte. Sie rief ihrem Gemahl zu, dass es alle hören konnten, ob ihm das Bild gefiele? Sie fände es faszinierend. Dieses Grün! Also, jenes Bild, wo er eben gestanden hätte, wäre doch bezaubernd! Im Salon würde sich das ausgezeichnet machen, und ob er es kaufen werde? Und ob er schon die anderen gesehen hätte? Also, sie würde das grüne kaufen. Wer der Herr hinter ihm wäre, wollte sie von ihrem Hasen wissen? Ob er ihn ihr nicht vorstellen möchte? Sie deutete mit ihrem umwickelten Finger hinter sich, gerade auf Mirando, der eben dabei war, seinen Abstand zu Escortin zu verringern.
Escortin sah sich bloß behäbig um, als wäre eine Wende seines Kopfes um seine Achse von kaum dreißig Grad schon wer weiß was für eine sportliche Herausforderung. Das sei der Herr Dingsda, Liebling, aber sie möge ihm verzeihen, er könne sich seinen Namen nicht merken, sagte er. Der junge Mann möchte doch einmal näher kommen, sagte Escortin, er wolle ihn seiner Frau vorstellen.
Mirando folgte der Aufforderung nur zögernd. Zuvorkommen reichte er Frau Escortin seine Hand, stets leicht nach vorne geneigt, und wagte kaum, sich aufzurichten. Er pflanzte sich vor ihr auf und nannte artig seinen Namen. Wie? lachte sie, er möge ihn noch einmal sagen, es wäre so laut hier drinnen. Rembert Mirando stand der Schweiß auf der Oberlippe. Er versuchte es noch einmal. Mirando wäre sein Name, sagte er diesmal lauter als zuvor und spürte, dass er rote Ohren bekommen hatte, fügte jedoch gleich hinzu, sie hätte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack. Auch der Herr Bürgermeister hielte das Bild dort für außerordentlich gelungen. Zu ihrem Gatten gewandt sagte sie, sie hätte sofort gefühlt, dass dieses Bild etwas Besonderes sei. Er würde es doch für sie kaufen? Wo doch grün die Farbe der Saison wäre, setzte sie hinzu. Dabei zog sie ihre ohnehin im Normalzustand bereits stark zusammengekniffenen Augenlider noch enger zusammen und lachte unangenehm hart heraus, während sie mit einem kleinen Röcheln immer wieder Luft holte, um neuerlich zu diesem klirrend kalten Gelächter anzusetzen.

Alle im Raum hatten mitbekommen, worum es gegangen war, und der Bürgermeister fühlte sich verpflichtet, da von ihm die Rede gewesen war, zu den dreien hinüberzugehen. Herr Mirando hätte Recht, liebe Frau Escortin, ein gutes Bild, meinte er. Die Gemeinde überlege, ob sie es ankaufen solle. Aber sie wisse ja, und er tat eine abfällige Geste, man wäre jetzt mitten in der Krise, sie würde das verstehn? Er lachte kurz auf. Und das würde das Wählervolk nicht gutheißen, jetzt, wo ohnehin alles knapp wäre, angefangen vom Gas bis zum Geld im eigenen Börsel. Und dazu noch die Kurzarbeit! Manche hätten gar keine Arbeit mehr. Er könnte ihr sagen, für ihn als Bürgermeister wäre das keine leichte Sache. Es wäre, und das müsste man hier einmal dezidiert feststellen, es wäre ihnen schon einmal wesentlich besser gegangen. Da müsse die Kultur auch einmal ein bisserl warten.

Und sein Blick streifte die blasse, dünne, schwarzhaarige Künstlerin Eva Vanin, in ihrem ausgefallenen, hinten tief ausgeschnittenen bodenlangen Kleid, die mit einer Schar älterer Herren, mit denen sie Sekt trank, an einem der kleinen runden Tischchen stand. Einer von ihnen, Direktor Franke, legte liebevoll seinen Arm um ihre kaum vorhandene Taille.
Wenn man noch genauer hinsah, ließ sich feststellen, wie seine zittrige Hand Zentimeter um Zentimeter von dort weiter nach unten in Richtung ihres unscheinbaren flachen Pos hinabglitt. Sie ließ es geschehen, rauchte eine Zigarette dabei, und hielt in der anderen Hand locker das Sektglas. Offensichtlich genoss sie die Situation, in der sie sich befand.

Ach, er wäre der neue Mandatar, sagte Frau Anica Escortin verwundert, und sah Rembert Mirando dabei tief in die Augen. Grad’ vorhin hätte der Herr Stadtrat über ihn gesprochen. In den höchsten Tönen hätte er ihn gelobt, müsse er wissen. Er wäre der neue Wind in der Partei, mit dem es wieder bergauf gehen sollte. Mirando, sonst so schlagfertig, tat etwas verlegen. Ja, so sagte man. So hoffte man, setzte er rasch noch lachend hinzu. Frau Escortin hängte sich bei ihm ein, um ihn bewusst etwas nach der Seite hin zu drängen. Der Bürgermeister war mit dem qualmenden Escortin angeregt plaudernd weitergegangen, ohne den übrigen Bildern noch weitere Beachtung zu schenken. Was er denn beruflich mache?, fragte Frau Escortin. Er wäre – er sei im Stadtkulturamt tätig, sagte er schließlich. Welche Ausbildung er hätte und ob er studiert hätte?, bohrte die Escortin weiter. Nein. Es – wäre ihm damals nicht möglich gewesen, stotterte Mirando. So, es wäre ihm nicht möglich gewesen, das sei interessant. Aber wenn sie ihn übermorgen ins Café Scheer einladen würde, würde es ihm doch möglich sein?
Selbstverständlich! Völlig perplex sagte er zu. Mirando verstand nichts mehr. Er sollte – mit Frau Escortin? In ein Café? In einer Kleinstadt? Wo alle alles sofort wussten? Unmöglich. Jetzt wand er sich wie ein Wurm um eine passende Ausrede herum. Aber es fiel ihm keine ein. Eigentlich sollte er hingehen. Wenn sie die Gattin eines einflussreichen Mannes war, warum eigentlich nicht, wenn dieser schon nichts von ihm wissen wollte? Vielleicht führte der Weg nach oben eben über Anica Escortin?

Er sah sich ihre in auffallend glänzenden Seidenstrümpfen steckenden, etwas stärkeren, bananenförmigen Unterschenkel an. Er dachte an ihren feisten, mehr oder weniger festen Hintern und daran, dass sie es wohl sehr gerne machen würde. Vielleicht sogar mit ihm. Und sie war ein Weib, dachte er, ein Weib, nicht so eine Gespensterheuschrecke wie diese – diese Künstlerin dort hinten bei den alten, geilen Böcken, die ganz bestimmt nicht nur wegen deren Bilder um sie herumstanden, sondern weil sie die Leichtlebigkeit suchten, die sie repräsentierte, das Wildhafte, das zum Abschuss Freigegebene.
Und alle – alle waren sie doch noch immer ein klein wenig Jäger geblieben, in ihrem Innersten zumindest, auch wenn sie in geheizten, weich gepolsterten Autos durch die Gegend fuhren, Natur meist nur durch die Windschutzscheiben konsumierten und gewohnt waren, die liebliche Landschaft ausschließlich von der Terrasse eines Haubenlandgasthofes aus zu betrachten. Aber man hatte auch irgendwie Angst und einen gewissen Respekt vor dieser Biologie, vor dem Wilden, dem Ungezähmten, das in einem selbst jederzeit durchbrechen könnte. Gepaart mit der Vorliebe für fettreiche, süße, gekochte und fleischhaltige Kost, was ihnen, den einstigen Jägern und Sammlern, in dieser Form erhalten geblieben war.
Vielleicht lag darin der Grund, sich manchmal so völlig willenlos dem Fastfood hinzugeben.

Natürlich, wenn sie es wünschte, lachte Mirando verlegen, als er seine kleine Abwesenheit bemerkt hatte. Ja, wenn ihr Gatte nichts dagegen hätte … sie sollte ihn nicht falsch verstehen … Er solle ihren Gatten aus dem Spiel lassen, ja? Das wäre eine Sache zwischen ihr und ihm, fuhr ihn Frau Escortin beinahe zornig an. Ihren Denis hätte das gar nicht zu interessieren. Seine einzige Aufgabe ihr gegenüber wäre es einzig und allein, den Versorger zu geben. Und, er solle sich gefälligst mehr um seinen Betrieb kümmern, das könne er besser.
Dabei kniff sie eines ihrer geschlitzten Lider auf und zu in der Hoffnung, Mirando würde verstanden haben. Und er hatte verstanden!
Sie und ihr Gatte wären sehr verschieden. Ihr Gerechtigkeitsgefühl sei äußerst ausgeprägt, erklärte sie Mirando. Ihres Gatten Status hingegen wäre ihr ungemein wichtig, und das wiederum würde sich bei ihm in Kauflust niederschlagen, die sie für sich zu nutzen verstünde. Man müsse immer beide Seiten sehen. Sie lachte schallend. Er sollte sich merken, Menschlichkeit wäre eine Haltung, wie sollte sie es besser sagen? Übertrieb man sie, wäre sie bloß noch ein Werkzeug der Willkür wie auch des Gnadenaktes. Und wem nützte das schließlich? Und jetzt möge er sie bitte entschuldigen. Man sähe sich demnächst, raunte sie Mirando zu, und öffnete ihre Sehschlitze so weit wie möglich, um sie gleich darauf wieder in ihre alte Position zu bringen, woraufhin sie, trotz ihres nicht allzu geringen Gewichtes, scheinbar schwerelos hinüber zur Gattinnengruppe schwebte.

Solche Gruppen wurden gewöhnlich durch gemeinsame Rituale, Mythen und Emotionen zusammengehalten, was ihnen häufig zu einer Art Binnenmoral verhalf, um ihr manchmal so plötzliches, im Grunde oftmals unerklärliches, aggressives Auftreten nach außen hin nachhaltig zu unterstützen, wenn es darum ging, unerwünschte Personen davon abzuhalten, sich zwischen sie zu drängen, wie es eben jetzt gerade Stefanie Raymundo in ihrer gewohnt selbstbewussten Art versuchte. Stefanie war eine Freundin der Künstlerin, vielleicht ein wenig mehr, niemand wusste es so genau und sie war als Besitzerin einer Geschenkboutique bekannt, mehr nicht. Aber hübsch war sie, schlank, brünett, auffallend anders gekleidet mit einem wippenden Hüftschwung, der auffiel.

Die Gatten und der Bürgermeister stoppten augenblicklich ihre Debatten und starrten auf die soeben auf die Gruppe der Gattinnen zuschreitende ungewöhnlich attraktive Gestalt. Die Gruppe begann sich sofort zu formieren, ringförmig, eine Menschenmauer gegen den an Jugend, Elan und Ausstrahlung weit überlegenen Feind von außen. Köpfe neigten sich vornüber, zusammen, flüsterten. Hände umschlossen den rechten und linken Partner und hielten zusammen, was mit allen Mitteln zusammengehalten werden musste. Sie wäre nie in dem Geschäft gewesen, sagte eine der Gattinnen. Oh doch, einmal wäre sie dort gewesen, sagte eine andere. Sie hätte etwas für ihre Nichte gesucht. Einen barockisierten Bilderrahmen habe sie gekauft. Sie wäre eigentlich ganz nett gewesen, diese Frau Stefanie, habe sie gefunden, meinte eine Dritte bedenkenlos.

Wie auf Kommando standen die Gattinnen mit einem Male wieder gerade und straften die Sprechende mit bösen Blicken. Zu der? Da fuhr sie schon eher in die Stadt, als dass sie dort was kaufte, sagte eine andere und blickte vorsichtig über ihre eigene Schulter, um zu sehen, wie weit die Eindringende schon vorgerückt wäre. Sie würden nie hier im Ort einkaufen. Man würde schon lieber in den Gewerbepark fahren. Dort wäre man anonymer. Hier würde man doch jeden sofort erkennen. Und wenn man was anhätte, was man hier gekauft hatte, wüsste jeder hier auch gleich, was es gekostet hätte. Eben, sagte die erste. Drum kauften sie gar nicht erst hier!

Die kluge Stefanie, auf ihrem Direktkurs hin zur weiblichen Oberschicht der vereinigten Kirchenbankdrückerinnen des Ortes, roch den Braten sofort, als sie die Phalanx des Gattinnenkollektivs vor sich formieren sah, und improvisierte klugerweise eine scharfe Linkskurve, in deren Auslaufphase sie direkt auf Rembert Mirando zusteuerte, der schon seit Wochen hinter ihr her war und den sie bis jetzt eigentlich kaum beachtet hatte. Heute aber sollte er Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen. Genug dumme Anspielungen hatte sie ja bereits über sich ergehen lassen müssen. Erst neulich, als er zwischen zwei Gemeinderatssitzungen so rein zufällig in ihren Laden gekommen war, mit seinem dämlichen Grinsen, und sie auf der Leiter gestanden hatte, um einer Kundin eine Vase herunterzureichen, da hatte er gemeint, wenn das Übrige an ihr auch so zum Anbeißen aussähe wie ihre Beine, dann würde er öfter herkommen, dieser Affe! Aber bitte, wenn er es unbedingt wollte, sollte er hier und jetzt haben, was er brauchte.

Da kam ihr Mirando auch schon süßlich anschleimend entgegen und flötete freudig überrascht, oh, das Fräulein Stefanie wäre auch hier! Das sei aber eine Überraschung. Leider gäbe es keine Leiter hier, die sie besteigen könne, aber ihr aufreizendes Dekolleté schiene ihm diesmal ein würdiger Ersatz für die fehlenden … Stefanie Raymundo fiel ihm sofort unfreundlich ins Wort, indem sie sagte, sie glaube nicht, dass das hier und heute angebracht wäre, und ob er das nicht auch fände? Auf derartige Anmache wäre sie überhaupt nicht scharf, und ob er verstanden hätte, fragte sie gereizt.
Das hatte fürs Erste gesessen. Mirando zog den Schwanz ein und blies zum Rückzug, etwas rot im Gesicht, in welchem sein ewig dämliches Lächeln erstarrt zurückgeblieben war. Der Bürgermeister und der dicke Escortin standen zufällig in ihrer Nähe. Mirando tat einen Schritt näher zu ihnen hin. Stefanie Raymundo rückte unauffällig nach.
Sie hätten ja schon viele Ausstellungen hier gehabt, begann der Bürgermeister wichtig, die meisten Künstler glauben, sie müssten ihre Arbeiten unbedingt der Zeit anpassen. Dadurch gestalteten sie das ganze Theater noch schriller, noch effektvoller, seinetwegen noch multimedialer, wenn man so wollte, dabei hätte es das alles schon einmal gegeben, betonte er.
Escortin, dem zur Freude aller endlich die Zigarre ausgegangen war, nickte dazu nur dumpf und starrte auf den Boden. Es schien ihm völlig egal zu sein, was Künstler so im Allgemeinen alles anstellten, um zu Ruhm zu gelangen. Er war ein Mann des raschen Profits und hatte sich nie mit solch unnützen Gedanken abgegeben. Kaufen konnte man vieles, verkaufen auch. Mehr interessierte ihn nicht.

Er fände alles dermaßen übertrieben, wenn das Blut so aus den Schusswunden, aus den Knochen und Fleischfetzen brechen würde, wie manche es darstellten. Gott sei Dank könne man das nicht auch noch hören, sonst verstünde man hier herinnen vor lauter Brüllen und Jammern sein eigenes Wort nicht mehr, lachte der Bürgermeister, begeistert von sich und seinen Ausführungen. Ja, alles würde irgendwie … so … verfremdet, ja, verfremdet dargestellt. Er wüsste auch nicht, wieso, sagte er, und Rembert Mirando nickte eifrig bei jedem Satz, den der Bürgermeister in den Raum stellte. Aber die Kunst hätte auch etwas Kritisches, bemerkte er noch rasch. Der Bürgermeister sah ihn fragend an. Ja, ergänzte Mirando rasch, Galerien und Museen bezögen sich neuerdings wieder auf die alten Utopien, (das hatte er irgendwo gelesen) und vor allem auf deren Stars. Man zeige daher international großes Interesse an frühen Arbeiten mancher Künstler und Künstlerinnen. Und in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15035

Herbststurm

Arno erinnerte sich, es musste im Oktober gewesen sein, als er zusammen mit seiner Frau Constance Freunde in einer Bar in der Innenstadt getroffen hatte. Eine Menge Leute waren um sie herum. Klaus und Marion, deren französischer Freund Pascal, Elke und Hans, und noch einige Bekannte, die er nicht beim Namen gekannt hatte. Man saß auf diesen hohen Stahlrohrhockern rund um eine schwere Eichentheke und plauderte angeregt miteinander. Klaus und dieser Pascal unterhielten sich prächtig übers Segeln.
Er selbst war etwas gelangweilt, irgendwie war damals nicht sein Tag. Wann war eigentlich jemals sein Tag gewesen?, überlegte Arno fieberhaft. Was für eine blöde Frage! Auf alle Fälle brannten ihm tierisch die Augen vom Zigarettenrauch, das wusste er mit Sicherheit und er versuchte, sich an Pascal genauer zu erinnern. Ein hübscher Mann, gewiss, schlank, wirklich gute Figur, schwarze, dichte lange Haare. Gesicht braungebrannt. Sein weißer Pullover mit Zopfmuster stand in Opposition zur dunklen Gesichtsfarbe. Wer so aussah, brauchte kein Hirn. Blöd war nur, dass er offensichtlich auch noch sehr klug war.  Ob Constance ihn damals … ?

Dabei war ihm nicht das Geringste aufgefallen. Und doch! In dieser Bar mussten zwischen ihr und diesem, diesem … die Grundlagen dafür geschaffen worden sein für das, was jetzt ganz offensichtlich Sache war. Spätestens da, als jener davon gesprochen hatte, dass man in Paris jetzt häufig Sushi aß, und wo die besten Restaurants dafür wären.
Wieso war ihm nicht schon damals aufgefallen, dass Constance diesem Kerl mit einer Faszination zugehört hatte, die ganz einfach … ach! Natürlich! Und wie sie ihn angestarrt hatte! Als wollte sie ihn an Ort und Stelle vernaschen. Und Arno war sich ganz sicher, dass dieser Zuchthengst gar nicht erst dazu gebracht werden musste, wenn man wusste, wie gut Constance aussah. Wieso hatte dieser Scheißkerl keinen Respekt vor ihm und seiner langjährigen Ehe mit Constance, fragte sich Arno voll Grimm und der blanke Hass stieg in ihm auf, wie ein Gewitterturm im Juli vor der Heuernte. Hatten die beiden nicht auch noch getanzt? Natürlich, weil er, Arno, zu müde war. „Man sollte das Ruder nie aus der Hand geben, richtig! Hätte ich an diesem Abend … zu spät.“

Jetzt wusste er, warum sie so ruppig zu ihm gewesen war, als er sie drängte, endlich zu gehen. Schließlich war der nächste Tag ein Arbeitstag. Natürlich! Jetzt wurde ihm alles klar. Schließlich war er dann allein nach Hause gegangen. „Was für ein nicht wiedergutzumachender Fehler!“ Aber dass es so leicht sein würde? Schließlich waren sie beiden seit über zehn Jahren verheiratet gewesen und nichts, aber schon gar nichts hatte jemals darauf hingedeutet, dass Constance, die ihm eigentlich immer so durch und durch vergeistigt schien, auf solch animalische Anmache hereinfallen würde.
Nie im Leben hätte Arno daran gedacht. So konnte man sich täuschen!

Am Abend des folgenden Tages … richtig, sie steckte mit beiden Beinen in ihrer Fußbadewanne, vor dem Fernseher, und rasierte sich die Beine mit einer Gründlichkeit, die er so bei ihr zuvor niemals beobachtet hatte. Sie hatte sich Kaffee gemacht und telefonierte eben, als er hereinkam und ganz offensichtlich störte! Jetzt fiel es ihm wieder ein. Diese Blicke, die sie ihm zugeworfen hatte! Beinahe verächtlich, so, als wäre er für sie gar nicht vorhanden. Er war nicht darauf eingegangen, weil er keinen Grund dafür gesehen hatte. Alles schien in Ordnung. Kein Anlass für irgendwelche Hirngespinste. Doch musste zu diesem Zeitpunkt bereits etwas im Busch gewesen sein. Was sie von dem Franzmann wollte, schien ihm jetzt klar.

Heute Morgen, nachdem er vergeblich versucht hatte, Constance telefonisch zu erreichen, hatte er einen Brief von ihr an sich gefunden. Er lag versteckt hinter dem Brotkörbchen, und irgendwann, wenn man dieses zur Seite geschoben hatte, musste man eines Tages zwangsläufig darauf stoßen. Und dieses „irgendwann“ war heute. Also öffnete er ihn und begann ganz langsam darin zu lesen:  Liebling, wenn du diese Zeilen gefunden und gelesen hast, ruf mich bitte nicht gleich an, sondern versuche, mich ganz einfach erst zu verstehen!

Arno senkte das Blatt und starrte stumm in den Raum. Er, der kaum rauchte, ging in den Vorraum, um nach Zigaretten zu suchen, die dort meist im Schuhregal deponiert waren, wenn überhaupt welche da waren. Zum Glück waren welche da. Mit Zeigefinger und Mittelfinger fischte er eine aus der bereits geöffneten Packung und suchte nach einem funktionierenden Feuerzeug. Neben dem Gasherd fand er eines, wer hätte das gedacht? Arno zündete sie an und blies den Rauch bedächtig von sich. Er wagte vorläufig nicht, weiterzulesen, so, wie er es oft bei Finanzamtsbenachrichtigungen tat, damit der Schock über die Enttäuschung etwas zeitverzögert blieb.
Um noch Zeit zu gewinnen, denn er wusste, dass dies keine für ihn beruhigende Nachricht sein konnte, ging er zum Schiebeschrank und nahm die einzige, nur noch viertelvolle Flasche Whisky heraus. Er griff sich ein bauchiges Glas und goss langsam ein. Bevor er den ersten Schluck tat, atmete er zunächst das starke Aroma tief ein. Dann setzte er das dünne Glas an seine schmalen Lippen. Der Whiskey brannte etwas auf der Zunge. An und für sich kein gutes Zeichen für einen „Zwölfjährigen“. Aber heute sollte man nicht genießen, sondern töten! Die Seele betäuben und den Schmerz lindern. Arno spürte, wie der Alkohol seine Magenwände wärmte und sich sein Bauch entspannte. Er nahm einen tiefen Zug von der Zigarette. Dann griff er zum Brief, gestützt, gefasst, gleichzeitig innerlich unruhig, aufgewühlt. Was hatte dies alles zu bedeuten?

– Ich kann nicht anders.
„Was, zum Donnerwetter kann sie nicht anders?“
– Du musst mich verstehen! Bitte, reg dich nicht auf, mir geht es gut. Ich werde voraussichtlich bis dreiundzwanzigsten bleiben.
„Dreiundzwanzigsten? Das sind… verdammt, das wären ja über drei Wochen! So lange war sie noch nie weg. Sollte doch dieser Scheißtyp aus der Bar … ich bringe ihn um, diesen Drecksack! Ja, ich erschieße ihn. Ich fahre nach Paris und knall ihn ab!“ Arno musste sich setzen. Seine Beine wurden schwach. Er rauchte hastiger als zuvor. Die Zigarette war bereits bis an den Filter geraucht. Er dämpfte sie in einem Kaffeeuntersetzer aus und nahm einen großen Schluck Whisky, an dem er sich beinahe verschluckte.

– Es hat alles überhaupt nicht mit dir zu tun, verstehst du?
„Nein! Das verstehe ich nicht!“, schrie Arno und erschrak vor seiner eigenen Stimme. „Was gibt es daran zu verstehen? Alles klar, oder?“
– Du bist wunderbar, Liebling.
„Sie will mich bloß verarschen, oder?“, flüsterte Arno und raste in den Vorraum um eine zweite Zigarette, die er sich mit zittrigen Fingern ansteckte.
– Das mit Pascal ist eine ganz andere Geschichte. Es ist eine Sache zwischen uns beiden, ihm und mir, verstehst du?
„Und ich bin ein Arschloch, oder?“, schrie Arno aus vollem Halse. „Ich habe nichts damit zu tun, du blödes Stück!“, brüllte er wie von Sinnen und warf sich zu Boden. Das Glas fiel um. Auf dem Teppich breitete sich ein riesiger Fleck aus. „Scheiße! Scheiße!“ Mühsam rappelte er sich hoch. Sein Herz raste wie verrückt. „Ich schneid ihm den Schwanz ab!“, tobte er. „Ich erschlage ihn. Und sie dazu!“ Dann setzte er sich auf die Couch und vergrub sein Gesicht in seine beiden Hände, bitterlich schluchzend. Es dauerte eine Weile, bis er sich erholt hatte. Im Kühlschrank waren noch zwei Flaschen Bier. Er stand auf, etwas wackelig, vor Aufregung und wegen des Whiskys, und ging in die Küche, um eine davon zu öffnen.

– Ich kann dich nur bitten, zu verstehen. Mehr kann ich dir jetzt nicht sagen. Ich liebe dich. Auf bald!
Arno wurde heiß. Sein Hemdkragen begann ihn zu würgen, sodass er ihn aufriss und der oberste Knopf in weitem Bogen davonflog. Rasch einen Schluck kaltes Bier. „Setz dich!“, befahl er sich selbst, „ich bitte dich, setz dich!“, schrie er, „bevor ich einen Blutrausch kriege!“ Mit einer raschen Handbewegung griff er zum Telefon.
– Ruf mich an, wenn es dir nicht gut geht. Sollte ich nicht erreichbar sein, hinterlass mir eine Nachricht. Ich werde dich zurückrufen.
„Miststück! Bestialisches, eiskaltes, widerwärtiges, ekelhaftes Weibsstück! Wie ich dich hasse, ich finde keine Worte! Wie ich euch Weiber hasse und eure ewige Rolle des Schlangenhaften, Verführerischen, und dass ihr sofort alles kriegt, was ihr wollt! Hol euch allesamt der Teufel!“, schrie Arno erneut nach Leibeskräften.

Er wählte Constances Nummer. Nichts! Nur die Sprachbox. Schon wollte er daraufsprechen, dann ließ er das Handy sinken, resigniert, müde, erschöpft, betrunken.
„Das Ende“, hauchte er, „das überleb ich nicht!“

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15034

 

Auf die Nerven

Eindringlich, warnend, mit hoher Stimme. Wenn du nicht endlich deine Rückenmuskeln trainierst, werd ich dich eines Tages pflegen und im Rollstuhl schieben müssen. Und mit jedem Tag würde ich schon krumm und krummer. Sieh dich an, wie schief du schon daherkommst, sagst du dann. Immer sagst du solche Sachen. Ich lache verunsichert. Lach nicht, sagst du jetzt, du wirst schon sehen, wie weit es mit dir noch kommen wird. Und du? Immer, wenn ich dich etwas frage, kommst du mir mit einer Gegenfrage. Das war nicht immer so. In letzter Zeit aber passiert das immer öfter. Dann sage ich, du antwortest nicht auf meine Frage. Ja, weil ich schon vorausdenke, sagst du dann. Aber woher soll ich wissen, dass du vorausdenkst, frage ich?
Brüllt. Wo ist das verdammte Handtuch schon wieder? Am Morgen habe ich doch erst ein frisches aus dem Schrank genommen. Das rote von gestern ist nass. Da hast du es, sage ich ganz ruhig. Ich rede nicht vom roten von gestern, sondern von dem, das ich heute Morgen aus dem Schrank genommen habe. Es ist nicht da.
Das gehört auch zur Krise, flüstere ich jetzt. Alles ist derzeit in der Krise. Ich, du, wir beide zusammen, die ganze Welt, doziere ich, ist in der Krise. Weinerlich. Mein Gott, jetzt übertreib nicht schon wieder, das ist ja nicht auszuhalten! Mit dir kann man einfach nicht diskutieren. Zornig. Mit mir kann man nicht diskutieren, mit dir kann man nicht diskutieren, weil du immer Recht haben willst. Ich geh jetzt den Buchs spritzen, bevor ihn die Würmer noch ganz auffressen.

Zynisch. Ja, geh nur den Buchs spritzen, jetzt, wo´s doch gleich regnen wird. Das ist sehr klug von dir, damit der Regen gleich alles wieder abwäscht, sage ich. Kämpferisch. Du immer und dein Wetterbericht. Es wird nicht regnen, glaube mir, von wo heraus soll es denn regnen? Etwa aus der kleinen Wolke über uns? Wissenschaftlich. Ich behaupte, dass es gegen Abend Regen geben wird, meine elektronische Wetterstation zeigt die Regenwolke an und das Balkendiagramm geht total nach unten. Verächtlich. Du und dein Balkendiagramm, da kann ich nur lachen. Bestimmend. Ich sage dir, dass es nicht regnen wird und ich gehe jetzt den Buchs spritzen. Vorwurfsvoll. Es ist schade um das Geld, das du dafür ausgegeben hast, wenn es der Regen ja doch gleich wieder abspült. Zurechtweisend. Spinn nicht, sagst du dann, sieh doch nach oben, keine Wolke weit und breit.

Das Thema wechselnd, so tun, als ob nichts gewesen wäre. Irgendwie hoffnungsvoll, mit deutlichen Hebungen und Senkungen. Was ist jetzt mit, frage ich. Nichts ist damit, was soll sein, antwortest du abschmetternd. Wichtig. Ich dachte, wir sehen uns die Angebote an? Herunterholend. Es ist noch zu früh, sagst du, wir warten noch ab. Drängend. Worauf willst du warten, frage ich, bis die Preise noch höher steigen als sie ohnehin schon sind? Vorwurfsvoll. Früher, sage ich, warst du nicht so anstrengend wie jetzt. Ätzend. Wie ist das gekommen? Ironisch. Früher warst du auch ganz anders als jetzt, wie ist das gekommen?
Berechnend angriffig. Das ist es, was ich meine. Siehst du, immer, wenn ich dir eine Frage stelle, stellst du auch eine, anstatt mir eine ordentliche Antwort zu geben. Mit Kalkül. Weißt du, wieso du so anders geworden bist, fragst du. Stark, innerlich aber ängstlich. Nein, ich weiß es nicht, wieso du so anders geworden bist, sage ich. Etwas milder als zuvor. Wir haben uns beide verändert, bemerkst du. Stichelnd. Aber ich sage, du bist so ganz anders geworden, seit damals, als wir uns kennengelernt haben. Einlenkend. Da waren wir jung, sagst du. Jetzt sind wir alt. Resigniert. Ja, jetzt sind wir alt, sage ich. Das ist doch kein Grund, dass man so ist, wie du bist, sage ich. Erst recht. Forte. Das ist sehr wohl ein Grund, anders zu sein, als man war, sagst du.

Verordnend. Und koste jetzt diesen Shake. Abwehrend. Aber ich will jetzt nicht, sage ich, ich habe mir eben ein Bier aufgemacht. Insistierend. Probier ihn, er schmeckt nach Himbeere, den musst du probieren. Wegwerfend. Kann schon sein, aber ich will nicht, sage ich. Attackierend. Hier, du hältst mir das Glas hin. Protestierend. Nein, sage ich, jetzt will ich verdammt noch mal nicht. Begründend im Crescendo. Um diese Zeit bin ich schon beim Bier. Sforzato auf „will“. Ich will deinen blöden Shake jetzt nicht kosten, verstehst du mich nicht? Klein beigebend. Gut. Für eine Weile ist Funkstille. Zwei Minuten hinterm Mond. Kaum, dass sie vergangen sind, eine neue Szene: süßlich. Siehst du dir am Abend den Film mit mir an?
Gelangweilt. Ich weiß nicht, sage ich. Prüfend. Aber da, die Decke! Ich frage mich, ob du das absichtlich machst. Finger auf  die Stirn. Wo ist hier die Logik, fragst du. Schulmeisterlich. Wie oft habe ich dir gesagt, die Fransen gehören nach vorne. Nach vorne, hörst du mich?  Stumm. Ich schaue nur kurz um die Ecke ins Wohnzimmer. Du legst die Decke, ein blassviolettes, klassisches englisches Plaid, welches ich neulich über einen Versandhauskatalog bestellt hatte, um dir eine Freude zu machen, jetzt so auf die Couch, dass die Fransen vorne zu liegen kommen. Brummig. Auch gut. Giftig. Das machst du absichtlich, oder bist du so dumm, sagst du.
Ich ziehe mich in die Küche zurück und denke ganz fest daran, nicht zu reagieren. Ich bitte mich inständig, den Mund halten zu können, sonst wird alles nur noch schlimmer. Am besten gar nichts sagen. Stillhalten. Schweigend. Es wird vorübergehen. Alles – wird vorübergehen, kommt mir in den Sinn.

Bald wird es zwanzig Uhr fünfzehn sein. Dann beginnt der Fernsehabend. Du siehst dir doch den Film mit mir an, oder?, fragst du. Ich weiß nicht, antworte ich. Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen. Es war taktisch unklug. Inzwischen hat die Waschmaschine zu schleudern begonnen und ist dabei derart laut geworden, dass ich sie mit beiden Händen festhalte, um die Vibrationen, die die Küche, die Regale und Schränke ins Schwanken bringen, etwas zu besänftigen. Sechs Minuten dauert der Spuk. Endlich ebbt er ab. Meine Hände zittern, weil ich das Gerät so intensiv vorm Davonfliegen bewahrt habe.
Also, was ist jetzt mit dem Film, fragst du. Ich habe es schon einmal gesagt, ich weiß es nicht. Vielleicht schaue ich noch in meine Mails. Immer gibst du so viel Geld aus für deine Filme, sagt du jetzt. Dann spielen sie einmal einen gescheiten, und du willst ihn nicht sehen. Bitte, sage ich mit Nachdruck! Im Vorzimmer fallen deine Walkingsticks um. Ich hebe sie unwillig auf und lehne sie an die Garderobe. Ach ja, das hätte ich beinahe vergessen, sagst du, ich gehe noch mit den beiden walken, du weißt schon. Mit welchen beiden, frage ich, als ob ich nicht wüsste, wen sie meinte. Na mit den beiden eben, sagst du. Mit der Dicken, sage ich. Auch. Und? Was dagegen? Ich? Mir ist das wurscht, ob du deine Freizeit mit deinen zentnerschweren Weibern verbringst, ehrlich. Zum Filmbeginn bin ich wieder da, sagst du und öffnest die Tür, weil du gehen willst. Küss mich wenigstens, fordere ich dich auf und dann drückst du mir einen flüchtigen Schmetterling auf meine welken Lippen. So ist dieses Leben, sage ich mir, so, und nicht anders.

Im Hintergrund läuft der Fernseher dezent, aber laut genug, dass ich alles verstehe, was gelabert wird. Der schwarze Politheini hat also gestanden, mit den blauen Kumpanen ein linkes Ding gedreht zu haben, wovon die roten, die grünen und die orangen Mitesser angeblich keine Ahnung gehabt hätten. Und diese Arschlöcher wählen wir immer wieder, blöd, wie das Volk eben ist. Dann beschließen die, dass wir noch länger arbeiten müssten als bisher, und nehmen uns über die Steuer auch noch das letzte Geld weg. Ich könnt jeden Einzelnen von ihnen in den fetten Arsch treten, diesem verlogenen Pack!

Bevor du vom Walken zurückkommst, werfe ich das Backrohr an. Heute gibt es Moussaka. Ich hab mich mächtig angestrengt, dass alles so wird, wie´s zu sein hat. Schließlich wollen wir uns auf Zakynthos einstimmen. Die Auberginen nicht zu sehr im Öl, die Kartoffelscheiben ebenfalls nicht zu fett. Das Faschierte gut gewürzt, mit frischen Kräutern und Knoblauch, versteht sich. Koch nicht schon wieder, sagst du dann immer, wie soll ich sonst abnehmen? Du musst es ja nicht essen, sage ich dann. Du musst es ja nicht essen!, äffst du mich nach. Wenn es aber so gut ist? Dann koch ich eben nicht mehr so gut, werfe ich ein und freue mich insgeheim schon darauf, die Bechamelsoße mit Kartoffelpüree aufzupeppen. Den Tipp dazu habe ich einem verschwiegenen Griechen nach und nach aus der Nase gezogen. Ist doch nicht normal, dass die verdammte Soße so steif ist ohne irgendeine zusätzliche Masse. Man kann doch nicht zwei Liter Bechamelsoße anrühren, die sich zu guter Letzt ohnehin bloß zwischen den Kartoffeln und den Auberginen verkriecht. Obenauf kommt geriebener Parmesan, und dann noch eine Schicht pürierter Tomaten. Und nun, ab ins Rohr. Der Ofen macht mächtig Hitze in der ohnehin sommerlich erwärmten Küche.
Ein zweites Bier muss her. Bin gespannt, wen von den verschwitzten Stockwanderinnen du heute mit herauf auf einen Drink nimmst? Könnten doch unten in der Pizzeria im Haus einen nehmen, nicht? Sei nicht so unfreundlich, sagst du, ich hör schon genau, wie du das sagst. Also gut, immer herauf mit ihnen. Die Fenster hab ich schon einmal weit geöffnet. Nicht zum Aushalten! Ist ja schließlich keine Umkleidekabine hier!
Und überhaupt, frage ich, wo sind meine Jausenbehälter? Woher soll ich das wissen, keifst du. Pass selber auf sie auf, sagst du. Aber ich weiß, dass du sie oft als Butterdosen oder sonst irgendwie benutzt, wenn wir aufs Land fahren. Dann landen sie dort im Kühlschrank und finden nie mehr den Weg hierher zurück. Das stimmt nicht, fauchst du jetzt giftig. Das war vielleicht einmal der Fall. Wahrscheinlich hast du sie selbst irgendwo verräumt und wie üblich vergessen, wo du sie hingetan hast. Ich weiß immer, wo meine Sachen sind, sage ich. Ich bin nämlich ein ordentlicher Mensch, im Gegensatz zu dir, ätze ich. Da wirst du aber erst recht wild. Was kümmern mich deine blöden Jausendosen, brüllst du mich an.
Ich liebe dich, sage ich. Aber das nützt mir nichts. Als wäre ich in ein Hornissennest getappt. Die Dosen sind dort, wo sie immer sind, schreist du mich an. Entweder dort unterm Fenster im Kübel oder in der Dreh-Ecke bei den Töpfen. Sind sie aber nicht, sage ich bewusst ganz ruhig. Aber es nützt mir nichts. Dort sind sie aber nicht, wage ich einzuwerfen. Das war wieder ein Fehler. Dann drehst du den Kübel um. Marmeladegläser kommen zum Vorschein, Plastikschüsseln und Blechdosen. Sag ich ja, dass sie nicht dort drinnen sind, flüstere ich. Dann sind sie eben in der Dreh-Ecke, verdammt, plärrst du, und beginnst gleichzeitig Töpfe und Deckel aus dem Eckschrank zu räumen. Allein, die Jausendosen sind nicht darunter. Hab ich ja gesagt, wage ich festzustellen.

Ich geh jetzt, ich hab genug von deinen blöden Dosen, sagst du, nimmst deine blöden Stöcke und verschwindest durch die Eingangstür, hinaus auf den Flur, durch das Treppenhaus, raus auf die Straße. Knall, die Haustüre fliegt ins Schloss. Super, sage ich halblaut und öffne das Backrohr, um nach dem Moussaka zu sehen. Der Fernseher ist noch an, obwohl niemand mehr im Zimmer ist. Mache ihm den Garaus und kehre mit einer Dubliners CD in die Küche zurück. Von der Straße her knattert Mopedlärm penetrant an meine empfindlichen Ohren. Meine Fantasie arbeitet an einer Art Robin Hood, der mit Pfeil und Bogen Störenfriede auf Zweirädern erlegt, die sich dann am Ende der Straße zu einem Biker-friedhof ablagern. Während ich an der Bechamelsoße arbeite, mache ich im Geist Reime mit Politiker- und mehr oder weniger Prominentennamen. Das klingt so:
Putin Pröll Milosevic
Voves Niessl Schüssel
Platter Schmied Berlakovich
Stöger Fekter Küssel.
Nun gebe ich das vorbereitete Kartoffelpüree zum Bechamel dazu und vermische alles innig. Hervorragend! Was für eine Konsistenz! Langsam verteile ich den Brei auf die Kartoffeln und Auberginen.
Wallner Häupl Pühringer
Dörfler Doris Bures
Strache Karl Hörbiger
Kruse Bores Duris.
Obendrauf noch Tomatenmark und Parmesan. Dann ab in die Röhre.
Mikl Leitner Spindelegger
Petzner Mock und Faymann
Reich-Ranicki Schwarzenegger
Darabos und Paymann.

Und dann, während ich zwischendurch das Geschirr wasche, trittst du ganz plötzlich wieder in Erscheinung und vereinnahmst mich, völlig, sodass mir die Tränen kommen und ich höre ein Lied, das Banjo-Barnie (The Dubliners) immer gesungen hat, mit seiner rauen Stimme, ganz langsam, sodass es unter die Haut geht und ich muss daran denken, dass nichts auf dieser Welt ewig hält. Auch unsere Beziehung nicht:

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

Meet me tonight in the moonlight,
Meet me tonight all alone,
I have a sad story to tell you
I’m telling it under the moon.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

Tonight is our last night together,
Nearest and dearest must part,
The love that has bound us together
Is shredded and torn apart.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

I wish I had ships on the ocean
Lined with silver and gold
Follow the ship that he sails in
A lad of 19 years-old.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone

I wish I had wings of a swallow,
Fly out over the sea
Fly to the arms of my true love
And bring him home safely to me.

I wish I had someone to love me,
Someone to call me his own,
Someone to sleep with me nightly,
I weary of sleeping alone.

So, und nach diesem Song bin ich völlig durch, in Tränen aufgelöst, hinüber. Her mit dem Bier! Das wäre ja gelacht. Also, so geht das nicht. Ich muss sie anrufen. Schatz, ich liebe dich. Und wenn ich dich beleidigt habe, dann tut es mir aufrichtig leid. Du ahnst nicht, wie sehr ich dich brauche. Du mich auch? Ist das nicht wunderschön? Ich liebe dich! Komm bald! Bussi. Uff!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 15032