Kategorie-Archiv: Martin Stankowski

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But something whispers to my mind … Emily Brontë (1818-1848) zum 200sten Geburtstag am 30. Juli

Es sind wohl für eine «gerechte» Beurteilung keine guten Voraussetzungen, wenn man – oder besser, hier: frau – gerade einmal 30 Jahre lebt und nur einen großen Roman hinterlässt. (Wobei es, gemäß Verlegerbrief, ein knapp beendetes zweites Manuskript gab, das jedoch nie aufgefunden wurde.) Bekannt ist überdies ein 1846 gedruckter Sammelband unter dem (männlichen) Pseudonym Currer, Ellis, and Acton Bell mit Gedichten auch zweier Schwestern, die eine älter, die andere jünger.

Die drei Brontë-Schwestern empfanden sich mit dem vorwiegend malenden Bruder nicht zuletzt durch die äußeren Lebensumstände – von den identischen Verhältnissen im elterlichen Pfarrhaus im Norden Englands (Yorkshire) mit einem ebenfalls als Verfasser tätigen Reverend-Vater und einer einfühlsamen Tante als Mutterersatz über eine lang anhaltende, an Holzfiguren sich entzündende Phantasiewelt bis zum Sitzen für (Gruppen-)Bildnisse – zumindest bis nach der Pubertät als eine enge Gemeinschaft. So wie, stets aufs Neue herausgearbeitet, dies Gemeinsame auch späterhin in ihren literarischen Werken im Vordergrund gestanden haben soll.

Was sich aber, sieht oder besser: liest man genauer hin, inhaltlich als etwas arg summarisch und, nimmt man einige Äußerungen (gerade der ältesten über die mittlere, eben Emily) hinzu, durchaus als etwas arg eingeschränkt herausstellt. Gleichwohl blieb inklusive des frühen, rasch aufeinander folgenden Ablebens fast aller Geschwister reichlich Stoff für mehr oder minder einfühlsame Hypothesen, die nicht zuletzt zwischen 1943 und 2016 in phantasievollen Filmen einen Niederschlag fanden, und an mehr oder minder gehaltvollen Thesen, deren Wahrheitsgehalt offen, wenn nicht fragwürdig bleibt. Noch bewunderte Virginia Woolf die Leistungen, die aus nicht mehr Lebenserfahrung entstanden, als das Haus eines achtbaren Geistlichen betreten durfte. Solchen Standpunkten lässt sich auch dank wachsendem Dokumentationsmaterial widersprechen, in diesem Fall etwa, indem sich eine erhebliche Bildung außer Haus und der Auslandsaufenthalt in einem Erziehungsheim in Brüssel mit nachfolgendem Plan einer eigenen Schule festhalten lässt.

Besonders bekannt wurden, bei uns, zwei ihrer Bücher, Jane Eyre von Charlotte und Wuthering Heights von Emily, jeweils eine Mischung aus frühromantischer Empfindung und gesellschaftlicher Realistik. Bei Wuthering Heights, 1847 wieder als von Ellis Bell verfasst und erst posthum 1850 unter eigenem Namen herausgegeben, in mehrfacher deutscher Übersetzung als (Die) Sturmhöhe erschienen, ist der Titel trotz der Bezeichnung eines zentralen Ansitzes Programmansage: Es geht zutiefst um leidenschaftliche Gefühle und ihre nicht ausbleibenden Auswirkungen. Ein Mitglied der Gentry bringt von einer Reise ein Waisenkind mit, das trotz ungebärdigen Wesens zum bevorzugten Sohn wird, in den sich, vollkommen erwidert, die Tochter des Hauses vernarrt. Was in der Familie zu erheblichem Missvergnügen und, nach des Oberhaupts Tod, zu starken Gegenmaßnahmen, zur Trennung und zur bitteren indes örtlich nahen Verheiratung von Catherine führt.
Das Unglück nimmt seinen Lauf, als der Findling Heathcliff nach einigen Jahren als gemachter Mann zurückkehrt und sich nun in schockierender Weise als Rabauke ohne Manieren manisch-obsessiv dem finanziellen und menschlichen Ruin aller vor Ort Verbliebenen widmet, in den er die nachfolgende Generation mit einbezieht. Nach dem Triumph im allseitigen Elend lebt er nur noch im Bann seiner heißen, bereits bald verstorbenen Liebe bis hin in den Untergang im (shakespearehaften) Wahn. Was jedoch ein knapp geschildertes, deshalb umso überraschenderes glückliches Ende in dem allein überlebenden jungen Paar ermöglicht.
Berichtet wird, in schriftstellerischer Hinsicht zugleich spannend wie bewunderungswürdig, aus einer zweifachen Perspektive: einer Rahmengeschichte und der sämtliche Ereignisse abhandelnden Erzählung durch die Haushälterin, infolge der mehrfach in die Gegenwart mündenden Erinnerung trotz der (scheinbaren) Kontinuität eine vielfache Verschränkung von Personen, Ereignissen, Reaktionen und feinnervig durchleuchteten Beweggründen.

Zu diesem Roman gehört unbedingt die Rezeptionsgeschichte dazu, weil sie seinen Wert mitbestimmt. Da sind die Zeitgenossen, die zwischen Faszination und Bedenken schwanken; der Mode entsprechende, starke, die gesamte Handlung bestimmende und sensitiv entfaltete Gefühle stehen dem Herausarbeiten einer in ihrem Wirken geradezu abstoßenden, wie die Kritik monierte, amoralischen Hauptperson mit vielfältig konkretisiertem negativen Heldengestus gegenüber. Kritische Äußerungen Charlottes – die die Schwester als eigensinnig bis leicht tyrannisch (bzw. a solitude-loving raven, no gentle dove) beschrieb – führten gemeinsam mit dem Blick auf die zweifellos in das Geschehen unmittelbar miteinbezogene autobiographische Landschaft, einer feuchten stürmisch-windigen Moorgegend, zu die Mystifizierung nur anheizenden Versuchen, des Romans Hauptfigur mit der Autorin enger zu verbinden.

Die Gewalt der sich allein am Fortgang der Geschichte ausrichtenden psychologischen Studie, in der theoretisierende Erklärungen fehlen, allenfalls dann und wann durch leicht altklug anmutende Bemerkungen ersetzt, blieb in der kompromisslosen Darstellung erst späteren Lesern zugänglich. Sodass der Roman schließlich als eines der wichtigsten literarischen Zeugnisse der vorviktorianischen Epoche, gar als Teil der englischen «Klassik» bewertet wurde und wird.

Die feministischen Würdigungen konnten – vor dem Hintergrund einer weiteren schwesterlichen Charakterisierung, die Emily stärker als ein Mann, einfacher als ein Kind empfand – nicht ausbleiben; noch einmal Virginia Woolf: Nur Jane Austen und (…) Emily Brontë (…) schrieben wie Frauen schreiben, nicht wie Männer schreiben, (…) setzen nur sie allein sich völlig über die unaufhörlichen Ermahnungen des ewigen Pädagogen hinweg – schreibe dies, denke jenes. (…) Man muß etwas von einer Aufrührerin haben, um sich zu sagen: (…) Die Literatur steht allen offen. Nicht zuletzt von dieser Warte aus folgten über die Jahrzehnte – bis hin zu Elfriede Jelinek – mehr oder minder freie Adaptionen des Stoffs und wiederum zahlreiche Verfilmungen, zuletzt in Irland 2011 durch die Regisseurin Andrea Arnold, und zusätzlich der Song von Kate Bush 1978 mit mindestens sechs späteren Adaptionen.

Versuchen wir bei all diesen Transkriptionen, Umformungen, Umwandlungen uns aufgrund einiger Porträts durch ihren Bruder ein Bild Emilys aus anderer Perspektive zu machen. Da ist die häufige abgebildete, traditionelle Büste im Profil: ein schmales Gesicht mit auffallend hoher Stirn, geradlinig langer, keineswegs überlanger Nase, abgesetztem schmallippigen Mund, weich zum Hals überleitendem Kinn, das volle dunkle Haar kompakt auf die rasch sich senkenden Schultern herabfallend – und, im weißlichen, nur stellenweise «Farbe» annehmenden Inkarnat-Ton des Pastells speziell auffallend die dunkelbraunen Augen unter geraden kurzen Brauen, insbesondere Träger des Ausdrucks: in die Welt blickend, studierend-nachdenklich und zugleich ebenso stark auf das Innere der Person bezogen. Ein früheres Bild, zusammen mit den Schwestern, erfasst, fast frontal, eher mädchenhafte Züge, die «halbe» Strenge verliert sich, der Mund wirkt weicher und der Augenausdruck heller, die etwas größer angegebene Figur bleibt schmal, wodurch, wenn Emily in einem dritten Beispiel ein Buch mit langgliedrigen Händen vor die Brust hält, die Kontur fast silhouettenhaft geschlossen wirkt.

Auch wenn, im deutschsprachigen Raum, der eine, jedoch umwälzende Roman sicherlich die Bedeutung Emily Brontës «ausmacht», erscheinen ihr literarisches Gewicht und ihr literarischer Verdienst in den angloamerikanischen Ländern mindestens gleich groß bezüglich ihrer Gedichte, die, sehe ich es richtig, bei nur wenigen Übersetzungen hierzulande eher unbekannt blieben. 74 an der Zahl, naturgemäß in verschiedener Kürze oder Länge, schrieb man ihr zu, ein sehr respektables Opus also, partiell bis 1850 von Charlotte, 1908 als Gesamtedition herausgegeben.
Emily empfand sehr stark ihre inspiration, für sie eine die Phantasie übersteigende Vorstellungskraft, die sie sogar personalisiert zu sehen vermochte. Der Inhalt der Poems orientiert sich erneut oft an der heimatlichen landschaftlichen Umgebung: I know not how it falls on me, / This summer evening, hushed and lone; / Yet the faint wind comes soothingly / With something of an olden tone. Hochsensibel erfasste Stimmungen rufen auf zu Meditationen über das Leben, in denen die Lyrikerin insbesondere die Endlichkeit besingt. It will not shine again: / Its sad course is done; / I have seen the last ray wane / Of the cold, bright sun. Sie ist stets präsent wie – auch – die Romanfiguren früh, was heißt etwa im eigenen Alter der Autorin, die Erde wieder verlassen.

Was macht das (mein) Dasein aus? Emily Brontë gibt in ihrer Biografie und in ihrem Werk eine überraschend(e) klare Antwort: Der Wert besteht darin, das jeweils individuelle Leben in seinem singulären Lauf anzunehmen. Damit ist kein Laissez-faire, kein simples Es-drauf-ankommen-Lassen gemeint, sondern ein Akzeptieren, was «es» mit sich bringt und dieses «es» nicht nur ernst zu nehmen, sondern in der Annahme voll auszuloten, mehr noch: ein volles Auskosten.
In dieser Fülle relativiert sich die Zeit: Nicht ein möglichst langes Leben (wie heute häufig bis hin zu den Anti-Aging-Versprechen) ist anzustreben, sondern ein zutiefst, genauer: in der Tiefe erfülltes Leben. There is not room for Death / Nor atom that his might could render void / Since thou art Being and Breath / And what thou art may never be destroyed. Erfüllt bedeutet dabei buchstäblich in der gesamten Bandbreite, die es bereithält, in der wach erlebten Spannweite von innen und außen, von Himmel und Erde, von Gefühlen und Realität(en). Dazu gehört Mut: No Coward Soul is Mine, heißt der Anfang ihres wohl letzten Gedichts.

Just in den Tagen, in denen dieser Essay entstand, macht eine neue Studie in Fachkreisen Aufsehen, die dank vieler Belege mit der These aufräumt, die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit sei mit dem Alter von 30 Jahren abgeschlossen. Wenn sich die nunmehr (gemäß Poppers Methodik) falsifizierte These gleichwohl bis dato als gültig «hielt», wirft das immerhin ein, wenn man will: sehr positives, Schlaglicht auf Emilys Erdenleben, zu dessen Länge auch diejenige anderer Künstler (allen voran Schubert mit knapp 32 Jahren) hinzugedacht werden muss. Und, rufe ich mir die zahlreichen Äußerungen von und über Emily auf, zeigt sich das eindeutige Bild eines Menschen mit hohem Selbstbewusstsein, genauer: einer Frau, die sich in beeindruckendem Maß des eigen-artigen Selbst bewusst war. Das gilt ungebrochen bis zu ihren letzten Tagen, als eine Krankheit ausbricht, die mit der Verunreinigung des Wassers in unmittelbarer Friedhofsnähe in Verbindung gebracht oder/und als Tuberkulose diagnostiziert wurde.

Entscheidend bleibt Emilys Verweigerung von Arzt und Medizin. In diesem Sinn lautet die erste Strophe des genannten Gedichts: No Coward Soul is Mine / No trembler in the world's storm-troubled sphere / I see Heaven's glories shine / And Faith shines equal arming me from Fear … Und nicht von ungefähr wünschte sich die große amerikanische Lyrikerin Emily Dickinson diese Zeilen bei ihrer Beerdigung 1886, ebenfalls ein Hinweis auf die starke Wirkung, die bis heute anhält: Das Pfarrhaus in Haworth ist ein aus aller Welt vielbesuchtes Museum der Brontë-Schwestern.

(Verwendet wurden Die Sturmhöhe, übersetzt von Grete Rambach, Frankfurt/Main 1975 insel tb 141 und verschiedene Gedichteditionen, auch im Internet verfügbar. Die Zitate Virginia Woolfs stammen aus: Ein eigenes Zimmer, übersetzt von Heidi Zernig, Fischer tb 50906, Frankfurt/Main 2005, S. 70 und 74/75; das engl. Original 1929.)

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 18119

Dorothea Nürnberg, herzwortweben

Wien bei Ibera/ European University Press 2017, 96 S. davon 85 Seiten Gedichte

Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: PODIUM, Doppelheft 185/186, November 2017

Das schöne Cover-Foto der Autorin mag zuerst erstaunen: der zentrale Ausschnitt eines Kristalls, welcher – siehe Titel – so gar nichts vom weichen Textilen an sich hat. Und doch ist er wegweisend, beachtet man die Form der Gedichte: Es gibt es keine langen Zeilen, keine Sätze, sondern Worte untereinander und zusätzlich gegeneinander verschoben, ja in der konsequenten Kleinschreibung buchstäblich «verrückt» in einer vielfach gebrochenen Struktur, die in ihren Bestandteilen durchaus in verschiedene Richtungen zu verweisen scheint. Nur scheint: Denn anderseits nimmt Frau Nürnberg das Weben ebenfalls ganz im Wortsinn. Nicht zufällig stehen die Worte, sondern in einem immer wieder «durchschlagenden» Rapport, der in den klug ausgearbeiteten Abständen eigene, gleichsam geschichtete Muster aufbaut. In diesem Sinn stimmt wort schafft welt (28) ganz unmittelbar.

Das Ganze bliebe ein bereits großartiges l’art pour l’art (wie es das ja schon gegeben hat), verbände Frau Nürnberg nicht das Formale eng mit dem Inhaltlichen. Die Wort-Gestaltung «gebiert» ihre Sinnzusammenhänge, seien sie assoziativ – fragenmeer / im anker / der stille und dann wann flutet helle? (11), seien sie unmittelbar – geflügelte / worte / über /schwarzen / federn und dann absprung / ins gedicht (16). Die beiden Beispiele illustrieren den Kosmos, aus dem Frau Nürnberg schöpft: Es sind die ursprünglichen Prozesse in der Natur, in der aus der (heute so oft missachteten) Muße geborenen feinen Beobachtung. Zumal das Feine stets in das Feinsinnige übergeht: lautlos öffnen / träume ihr gefieder (46).
So wird das Psychologische ein wesentlicher Bestandteil, ist allerdings beim raschen Lesen kaum zu finden. Es bedarf, wie das die Lyrikerin da und dort eigens tut, des Nach-Sinnens. Eine deutliche «Hilfe» geben zum einen die Kapitel-Titel, zum anderen, im letzten Abschnitt, die Gedicht-Überschriften. Neben dieses Förmliche treten die vielen Bilder, die in diesem Prozess zu Metaphern mutieren und zum Bedenken ermutigen: über den Blick von außen und jenen von innen, über Frage und Antwort, Sein und Entstehen.
Daraus resultiert unter der Maßgabe des heutigen problematischen Welt-Zustands kein Himmelhochjauchzen, sondern eine etwas wehmütige Stimmung, ein verhaltenes Klagen, das manches Mal (gottlob) durchaus in ein leises Lachen umschlagen kann. Und zu der ein hoher Grad an nicht zuletzt klassischer Bildung gehört, die kulturgeschichtlich wie weltumspannend geografisch wie lebensphilosophisch einen weiten Bogen zu schlagen vermag. Diese Verwurzelung – «bloß» besonders ausgeprägt in edelsteingarten (79/80) – drängt auf den Prozess, äußere Umstände und Erlebtes in innere Welten umzutexten … was damit womöglich zur ernst genommenen, weil persönlichen Wandlung (herz!) in der Haltung zu Ökologie und sozialem Habitus beizutragen hilft.

Schließlich bleibt noch eine weitere Lesart, die lediglich auf den ersten Blick anders ist, indem sie von den gleichen Grundzügen getragen wird. Man gibt sich dabei sinnlich dem Rhythmus hin und vor allem dem Farbenreichtum, in Wort und Sprache. Beide müssen Frau Nürnberg ein wichtiges Anliegen sein, denn fast paradigmatisch erfüllt das längste Gedicht – farbrausch (85-89) – kongenial diesen Anspruch. Das wohl Essenzielle zeigt sich auch darin, dass sich diese Ansätze dann ebenfalls in den Romanen der Autorin wiederfinden lassen, nach diesem Buch möchte man sagen, leider etwas versteckt … Und es sind wahrscheinlich gerade diese lyrischen Eigenheiten, die speziell romanische Dichter/innen ansprechen, sogar regelrecht aufhorchen lassen (wie es denn Gedichten gebühren sollte!). Mir erscheint es, so gesehen, kaum erstaunlich, wenn bereits Übertragungen ins Französische und ins Kastilische (d.i. das südamerikanische Spanisch) vorliegen resp. bei renommierten Verlagen vorbereitet werden.

Ein ehrliches Zeugnis, ein persönliches Werk, ein überzeugendes Beispiel lebendiger Poesie.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17188

Anders

Eigentlich bin ich gar nicht anders. Ich spreche die gleiche Sprache, ich schreibe dasselbe Idiom. (Ein deutscher Lektor etwa wollte mir Stiege in „Treppe“, Matura in „Abitur“, und „Da schau her“ in „Sieh einer an“ verbessern.) Ich esse sogar leidenschaftlich gern die drei landesspezifischen Knödelsorten. Ich blinzele nicht einmal oder ziehe eine Augenbraue hoch, wenn es als Beilage Sauerkraut gibt. (Schließlich gehört dieses, sogar in der Namensgebung, zum Elsässer Nationalgericht, wobei choucroute für Hiesige womöglich feinschmeckerischer tönt.) Selbst als durchaus gerne Weintrinker schmeckt mir der Most ausgezeichnet. Es ist allerdings nicht ganz einfach, eine dem Wein äquivalente Qualität aufzutreiben. Vor allem, wenn man kein Auto hat.

Aha, da ist es jetzt womöglich: Ich bin mangels eigenem Wagen anders. Ich wohne fünfzehn Kilometer vor der Stadt und bin allein auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Werkstags in Schulzeiten mag, dank leicht erhöhter Fahrplanfrequenzen, eine solche Reduktion der Mobilität akzeptabel sein. Lange Wartepausen infolge fataler Anschlusszeiten lassen sich immerhin am Bahnhof mit einem Buch aus der Tasche überbrücken. Die Teilnahme an abendlicher Bildung gleich welcher Art entwickelte sich indessen unweigerlich zu einer Vielstunden-Expedition. Ich nehme also nirgends teil, ob an Aufführung in Oper respektive Theater oder an Seminar mit Wissensangebot oder Lesung mit Diskussionsrunde. Ich lerne niemanden in der Szene kennen, und mich kennt man auch nicht, sehe ich von meiner freilich klugen Frau und ein paar Freunden ab. Dadurch bin ich wohl unbeachtet, aber kaum absonderlich, oder? Ich könnte ein Taxi nehmen, das leider käme zu teuer. Ob ich mit einem beschränkten Portemonnaie-Inhalt anders bin als viele andere, wage ich zu bezweifeln.

Somit behaupte ich, ich bin keine Anomalie. Ich sehe ganz gewöhnlich aus, selbst für mein Alter, falle also nicht auf. Vielleicht merkt jemand auf, wenn ich spreche. Da meint der (!) eine oder andere, mich als Piefke beschimpfen zu müssen. Nun, erstens weiß er wohl nicht, woher der Ausdruck kommt (ich bin kein Militärmusiker), und zweitens stimmt diese Bezeichnung noch nicht einmal für meine Person. Es gibt in Europa ja weitere, andere Regionen, in denen man so etwas wie „Deutsch“ spricht. Und eben daher … Nun ja, ein paar romanische Elemente schwingen aufgrund meiner Herkunft in meinen Sätzen häufiger mit. Ein sprachliches Phänomen. Es trifft aber (seit dem berühmten renversement des alliances von Maria Theresia und Graf Kaunitz) nicht zuletzt für den Osten des Lands mit einigen Wendungen wie dem Trottoir oder dem Plafond ebenfalls zu. Sie, diese fremdsprachlichen Einsprengsel, sind folglich kaum anormal, sondern allenfalls ein wenig befremdend.
Item, als Fremden kann man mich wirklich nicht bezeichnen, höchstens als den Benutzer der dementsprechend benannten Zimmer in den Ferienorten.

Ansonsten habe ich immerhin eine nur mir eigene Biografie. Einerseits hat diese Biografie jede, jeder und ist demzufolge (und gottlob) keine quantité négligeable, ist jedoch damit noch lange nicht anders. Sie oder Er kann inklusive der oder, soll umgekehrt argumentiert werden, ungeachtet der Biografie als ein Mensch wie alle anderen bezeichnet werden. Zudem bin ich für die Ärzte keineswegs ein spezieller Fall, für den Psychologen oder Soziologen höchstens unverwechselbar, indem ich spezifische Eigenarten besitze. Was hingegen keineswegs von vornherein gleichbedeutend ist mit einzigartig. Somit darf ich behaupten, ich sei (indirekte Rede oder Konjunktiv?) eine Individualität, indessen bin ich damit allenfalls graduell anders als andere. Obwohl „man“ Kleider von der Stange trägt, obwohl „man“ die Musikwahl keineswegs als ausgefallen empfindet (von Bach bis Keith Jarrett), obwohl „man“ im Internet zugänglich ist, obwohl „man“ das Auto von Typ und Farbe modisch wählte. Doch halt, das Auto fehlt bei mir ja jetzt.

Zugegeben, es gibt in dem Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne, keinen Lift, ich muss also zu Fuß in die dritte Etage. Dieses Hinaufsteigen empfinden zahlreiche Zeitgenossen, wie ich immer wieder von Neuem vernehme, nicht als normal. Gleichwohl weisen, sogar die hiesigen, Architekten darauf hin, Treppensteigen ist gesund für vieles, geradezu allzu vieles. Bin ich demnach, weil ich trotz meines fortgeschrittenen Alters einigermaßen gesund bin, bereits anders? Das mag insofern gelten, weil ich kein modisches Anti-Aging betreibe, sondern schlicht das bin, was ich vermag.

Meine Geltung im sozialen Raum beruht für manchen bedauerlicherweise auf meinem Namen, der nicht germanisch ist. Durch ihn bin ich, gerade in Österreich, jedoch nicht effektiv anders als eine Vielzahl der Landeskinder. Wer weiß: Vielleicht färbt der Name doch irgendwie ab? Weil er nicht farbig klingt, passt er unter Umständen in ein Schwarz-Weiß-Schema. Aber wenn ich mit jemandem rede, müsste doch eigentlich nicht unbedingt der Name am Beginn stehen. Ja das Sprechen …

Womit ich mit einem Déja-vu wieder beim Anfang meiner Überlegungen bin …

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 17159

 

Ordnung im Chaos. Luigi Pirandello (1867-1936) zum 150. Geburtstag am 28. Juni

Ein durchgeistigter Kopf mit hoher Stirn, großen, dunklen, wachen, zugleich gedankenvollen Augen, gerader Nase im schmalen Gesicht, verlängert durch Kinn- und Spitzbart, so präsentiert er sich auf dem am häufigsten reproduzierten Porträtbild aus der Alterszeit. Ein Mann mit Durchblick und doch ein Mann der Nachdenklichkeit, sehr aufmerksam und doch sinnend, vornehm und doch «allem» zugetan. Nein, diese Eigenschaften legt nicht nur das Foto nahe, sie vermitteln ebenfalls seine Biographie und ziehen sich zutiefst durch sein ganzes Werk.

Bekannt ist der Mann, wenn noch überhaupt in unseren Breiten, vor allem als Dramatiker. Sein Ruf kommt nicht von ungefähr; nicht zuletzt entwickelte er sich mehr und mehr zum Praktiker, der sogar 1924 eine eigene Theatertruppe gründete, mit der er für mehrere Jahre auf Welttourneen ging. Und der bereits früh, 1892, in seiner Bonner (!) Dissertation Laute und Lautentwicklung der heimischen Mundart untersuchte. Das Stück «Sechs Personen suchen einen Autor» (1921) steht allerdings als fast einziges pars pro toto für ein umfangreiches, bereits zehn Jahre zuvor beginnendes dramatisches Schaffen. Das sogar bald Max Reinhardt als Regisseur nördlich der Alpen fand. Drama, das nimmt Pirandello sehr wörtlich: Jedes Scheinbild, jedes Geschöpf der Kunst muss sein Drama haben, um zu existieren, schreibt er in einer langen Vorrede, das heißt ein Drama, dessen handelnde Person es ist und durch das es zur handelnden Person wird. Wenn jetzt nur in der Phantasie entstandene Figuren auf die Bühne kommen, entwickeln sie ein Eigenleben, eine «unmögliche» Situation. Deshalb kann es keine logische Entwicklung, […] keinen Zusammenhang der Geschehnisse geben. Die Folge ist ein organische(s) und natürliche(s) Chaos, das aber alles andere als konfus dargestellt wird, sondern im Gegenteil sehr verständlich, einfach und geordnet. (Dazu sei eine Anmerkung erlaubt: Ein Augenzwinkern des Schicksals ließ Pirandello in einem Ortsteil des sizilianischen Agrigent namens Càvuso, Chaos, das Licht der Welt erblicken.) Eine andere Version legte Pirandello zeitgleich mit Heinrich IV. (1922) vor, im Erkennen vergangener Wirklichkeiten, die wie ein […] Traum zurückgeblieben sind, ein buchstäbliches Spiel mit gleichzeitiger heutiger Identität und mittelalterlicher Konkordanz – auf derselben Bühnenebene, fast zwangsweise eine Tragikomödie[1].

Der Ruhm allein als Dramatiker ist schade, denn sein erzählerisches Werk ist nicht nur sehr umfangreich sondern ebenso bedeutend. Pirandello wollte eigentlich für jeden Tag im Jahr (also 365 Mal) eine Novelle vorlegen; ganz hat es nicht gereicht … Es gibt (auch im Taschenbuchformat) einige gute Zusammenstellungen in deutscher Übersetzung, die die Breite seines Schaffens und damit seiner spezifischen Annäherungsweise an komplexe humane Stoffe darlegen.

Schon sein erstes Werk (1904), ein Fortsetzungsroman, lässt im Titel aufhorchen: Il fù bzw. Der gewesene Mattia Pascal[2]. Ein auf einer, heute würde man sagen: virtuellen, Ebene, Gestorbener berichtet über sein aktuelles Dasein: Sein und Schein verwirren sich (auch ohne Bühne). Bis zum Schluss seines Schaffens gelingt es Pirandello meisterlich, das jeweilige Geschehen der Erzählungen ganz konkret «auf der Kippe» zu lassen. Es kann sozusagen alles anders kommen, ohne dass sich wirklich etwas (äußerlich) ändert. Oder umgekehrt, es ändert sich (äußerlich) nichts und zugleich hat sich die Grundlage des Lebens verschoben. Solche Entwicklungsgänge erscheinen kaum einmal als schwer oder gar als schrecklich, denn es sind die «nur» kleinen Verschiebungen, die eine hohe Wirkung entfalten. Niemand ist gefeit vor derartigem Schicksal. Nein, zuerst: Ein eigentliches Schicksal ist es nicht, denn niemand greift da ein, gar autoritär oder mit Macht. Ausgerechnet in dem zunächst als unverrückbar Gekennzeichneten ist die folgende abweichende Wende bereits angelegt. Eben darum kann es jeden treffen, den armen Schlucker wie den bedächtigen Anwalt, die ehrbare Witwe wie den braven Angestellten, den würdigen Professor wie den glücklichen Besitzenden. Wenn die kleinen, die einfachen Leute dasselbe Recht auf die ihnen eigene Existenz haben wie die Studierten und die Betuchten, gewinnt die vom Verfasser stets sorgsam erarbeitete Haltung (der Habitus) der Personen als ihr Erscheinungsbild zeichenhaft die Kenntnis innerer Zustände. Auf, in dieser allen gleichen Ebene wird viel sicher Geglaubtes fragwürdig, vom täglichen Kleinkram über das Heldentum bis zu «der» Wahrheit.

Gerade in dieser, eben nicht nur atmosphärischen, sondern wegweisenden vielschichtig lebensphilosophischen (Schreib-)Weise überwindet Pirandello – der, nach Journalistentätigkeit seit 1892, als Professor für italienische Literaturgeschichte in Rom 1897-1922 die Szene bestens kannte – auch im Erzählerischen den in Italien nach wie vor tonangebenden und betont bodenständig argumentierenden Verismo (den Realismus, am bekanntesten wohl jener von Giovanni Verga). Jetzt erhalten wir Lesenden von ihm subtile psychologisch-inhaltliche Charakterisierungen, doch gerade so knapp, um noch folgen zu können, gerade so sprunghaft, um gebannt die Lücken selbst zu füllen, gerade so kurz angebunden, um mehr erfahren zu wollen, gerade so facettiert, um effektiv betroffen zu sein. Namen sind da kein Zufall, sie führen weiter in die Tiefe, ebenso – und nicht selten – die Titel, etwa und insbesondere «Angst vor dem Glück», «Wenn man das Spiel verstanden hat» oder «Die Pein dieses Lebens».

Wer wie eine Art Kernaussage eine außerordentlich konzentrierte und doch zutiefst literarische (!) Version kennenlernen möchte, der/dem sei die relativ späte Kurzgeschichte «Antwort» empfohlen (Risposta, aus Sciale Nero, 1922[3]). Hier wird das für Pirandello entscheidende Tableau der menschlichen Fragestellungen – Was bin ich wirklich? Was ist demnach richtig? – fast tabellarisch (die Fakten) geordnet und zugleich höchst kunstvoll in der Verschränkung des Verhältnisses von vier Personen abgehandelt in der Argumentationskette eines Ich-Erzählers, in dem unschwer der Autor als Interpret erkennbar wird. Glaub mir, mein Freund, dein Fall (das Versetztwerden durch die vermeintliche Geliebte mit zwei anderen Männern) ist uralt. Neu und originell ist daran nichts als meine Methode und die Erklärung, die ich dir liefern werde. Der vertrackte Ausgangspunkt: Eine andere ist Signorina Anita gewiss. Nicht nur das; sie ist noch viele und viele andere […]; obwohl ein jeder von uns die Illusion hat, die wahre Signorina Anita sei lediglich diejenige, die er kennt; und obwohl auch sie selbst, ja, vor allem sie selbst, die Illusion hat, nur eine und immer dieselbe für alle zu sein. Und was ist, in der Zusammenfassung, das überraschend wichtigste Indiz: Siehst du, mein Freund, es hat schon einen Grund, dass du mir nie von dem Stupsnäschen der Signorina Anita erzählt hast! Dieses Näschen gehört nicht dir. Dieses Näschen gehörte nicht deiner Anita. Dir gehörten die Nachtaugen, ihr leidenschaftliches Herz, ihre ausgesuchte Intelligenz. Aber nicht das verwegene Näschen mit den fleischigen Flügeln […]. Dies Näschen wollte sich rächen […].

Pirandello hätte durchaus von eigenen vielschichtig verflochtenen Lebenssituationen berichten können, namentlich über sein (widersprüchliches) Verhältnis zur italienischen Politik, nicht zuletzt zum regierenden Faschismus, oder über die psychische Krankheit seiner Frau, die 1919 eine Hospitalisierung notwendig machte, oder über die Auswirkungen seines Literatur-Nobelpreises 1934. Voraussichtlich galt bei ihm, nein, für ihn dieselbe achtbare Basis wie für seine Erzählungen: Kein persönliches Geschick ist sehr schwer zu ertragen oder gar bejammernswert, sondern in allen chaotischen Zuständen regiert letztlich immer eine ihnen immanente Ordnung. Welche ihrerseits in dem eleganten, eingängigen und feinen Schreibstil des Autors ihre sozusagen definitive Fassung erhält. Und so prägt – Ach, niemand von uns kann das, was er aus innerem Antrieb tut, richtig übersehen[4] –  gerade eine grundlegende Ambivalenz in unnachahmlicher Weise ein großes, bedeutendes literarisches Schaffen.

[1] Beide Zitate aus L.P., Sechs Personen suchen einen Autor / Heinrich IV, Fischer TB 592, Frankfurt/Main 1964.
[2] Auf «spiegel-projekt gutenberg» im Internet zu lesen.
[3]  Zitiert nach L.P., Novellen für ein Jahr, Fischer TB 1336, Frankfurt/Main 1973, S. 7-16; etwa gleichzeitig wird von L.P. dieselbe Meinung im Stück «6 Personen», in «Heinrich IV.» und auch in zahlreichen Geschichten ausgedrückt.
[4] Heinrich IV. im 1. Akt.

Martin Stankowski
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www.verdichtet.at | Kategorie: about | Inventarnummer: 17164

Ins Stocken kommen 2 (Minihörspiel)

Zwei Stimmen, die erste weiblich, die zweite männlich

„Schläfst du?“
„Nein.“
„Denkst du?“
„Nein.“
„Träumst du?“
„Mmm.“
„Was träumst du?“
„Ich schlafe doch noch nicht.“
„Warum sagst du dann Mmm? Das klingt nach ja.“
„Mmm.“
„Träumst du wenigstens von mir?“
„Wie soll ich das, meine Liebe, wenn mich deine Knie stören.“
„Magst lieber meinen Busen, Schatz?“
„Dann schlafe ich wohl erst recht nicht!“
„Wär’ das denn so schlimm?“
„Ich muss aber morgen arbeiten.“
„Dabei dauert es bis morgen noch soooo lang.“
„Das meinst du, weil du nur Hausfrauenarbeit machst.“
„Du bist gemein! Jetzt kann dafür ich nicht mehr schlafen.“
„Dann träum was Schönes.“
„Nein, jetzt muss ich denken!“

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17161

Ins Stocken kommen 1 (Minihörspiel)

Zwei Stimmen, die erste weiblich, die zweite männlich

„Ich liebe dich!“
„Wie schön.“
„Wirklich!“
„Wie schöner.“
„Das ist doch kein richtiges Deutsch.“
„Aber es stimmt.“
„Stimmte das, wär’s ja noch schöner – so viel verstehe ich schon von unserer Sprache. Ach, man sollte Italienisch können, klingt gleich viel romantischer: Ti amo!“
„Verstehe ich nicht.“
„Du verstehst nicht, dass ich dich liebe? Du bist zum Verzweifeln.“
„Ich verstehe kein Italienisch.“
„Du bist halt eine Schweizer Krämerseele ohne Verständnis für Tiefe.“
„Das ist falsch! Wer rettete dich aus dem Wasser?“
„Das war nicht tief, ich konnte damals nur noch nicht schwimmen. Und romantisch war’s auch nicht, wie du mich am Hals hieltest.“

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 17160

 

 

Der Ruf aus dem Gestern. Pearl S. Buck (1892-1973) zum 125. Geburtstag am 26. Juni

Beginnt man über Pearl Sydenstricker Buck zu schreiben, fühlt man sich fast auf verlorenem Posten. Es stellt sich die Frage, ob man sich nicht mit einer doppelten vergangenen Welt beschäftigt: mit dem China, in dem die Autorin über Jahrzehnte lebte, und welches sie Zeit ihres Lebens in zahlreichen Schriften behandelte, ein Land, das, wie bekannt, seither mehrfach gewaltigste Umbrüche erlebte. Sowie mit der amerikanischen Gegenwart der 1950er/1960er Jahre, in der die Autorin massgebend stilbildend zu wirken versuchte, eine Welt, die im 21. Jh. ebenfalls bereits fast allzu weit zurückzuliegen scheint. Wenn ich trotzdem eine positive Antwort gebe – es lohnt sich unbedingt, an Frau Buck zu erinnern –, dann aufgrund ihrer literarischen Bedeutung für ihre Zeit und aufgrund ihrer Thematiken, die heute, in einer Zeit der fast überbordenden Sinnfragen, wieder Konjunktur bekommen.

Es ist, obgleich fast von Beginn ihrer Schreibtätigkeit an vielfach und namentlich von Männern geäußert, wohl doch eine sehr einseitige Sicht, Pearl S. Bucks Stil als eine biedere (amerikanische) Hausfrauenschreibe abzuqualifizieren. Natürlich können bei einer hohen Produktion von achtzig Titeln, darunter knapp dreißig Romane, nicht zwingend stets äußerst differenzierte Äußerungen erwartet werden. Gewiss kennzeichnet ihren Stil eine Disziplin ohne alle Schnörkel und eine wenig komplexe Ausdrucksweise. Man darf dabei nicht vergessen, in welch starkem Maß die Schriftstellerin zum einen von evangelisch-presbyterianischem Missionselternhaus und erster Ehe in China geprägt wurde, zum anderen vom nachfolgenden gesellschaftlich ausgerichteten Wirken in den USA. So mag die an Bucks Qualitäten zweifelnde Haltung – die im Übrigen bereits parallel zur Verleihung des Nobelpreises 1938 (»für ihre reichen und epischen Schilderungen […]») geäußert wurde – sich als eine Art self fulfilling prophecy erweisen.
Der die Autorin insofern selbst Stoff gab, indem sie sich niemals als novelist, als Romancier, bezeichnete, sondern (lediglich) als Erzählerin. Und auf wen dieser Stil misslich schlicht wirkt, muss sich klarmachen, wann ihre ersten Bücher erschienen. Mit dem Drang nach unkomplizierter Sprache, mit der Suche nach unmissverständlichen Aussagen, mit einer Linearität des «Fort-Schreibens» ist sie in der Zwischenkriegszeit und den folgenden Jahren bei Weitem nicht allein. Ihr lassen sich viele andere Mitautoren anschließen, die, weil zeitgebunden, gleichfalls nicht einfach «bescheiden» zu bezeichnen sind: aus unseren Regionen etwa Gertrud Fussenegger, Karl Heinz Waggerl oder Stefan Andres. Bei Pearl S. Buck scheint der Stil überdies unserem Empfinden für die Äußerungsart Ostasiens zu entsprechen – oder hat gerade sie mit ihrer Produktion womöglich dieses Empfinden erst in diese eine Richtung kanalisiert?

Dies, weiter gedacht, führt zur Frage, wie ihr Stil zum Inhalt steht. Im Wesentlichen handelt insbesondere das geläufige Gros ihrer Geschichten im China der 1920er und 1930er Jahre, jener Zeitspanne, in der das alte Kaiserreich mit seinen jahrhundertelang bindenden Traditionen in Gesellschaft und Kultur zusammenbrach. Die Autorin stellt sich dabei nicht dezidiert gegen die Neuerungen, setzt ihnen indessen eine gehörige Dosis Traditionalismus entgegen – dies nicht zuletzt, weil sie die besonderen Werte dieser vergehenden Zeit nicht allein aus der interpretierenden Distanz der «Abendländer» kannte, sondern insbesondere aus der inneren Welt ihrer einheimischen Freundinnen. In der Mischung aus Teilnahme und Abstand und in ihrem Wunsch, gegensätzliche Vorstellungen auszugleichen, ist sie nicht nur ehrlich; sie wird zu einer authentischen Zeugin: Bei aller dichterischen Freiheit der Romanstoffe hat sie gelebt, was sie schreibt. Diesen Hinter-, besser: Untergrund schildert sie eindringlich bereits im Prolog von «Die Gute Erde» – 1931 (dt. 1933) und nach wie vor wohl ihr bekanntestes Werk –, eingedenk des gewählten Untertitels: «Die Geschichte des chinesischen Menschen» (!).

Die Empathie liegt bei Pearl S. Buck nicht «obenauf». Empfindung ist eher zwischen den Zeilen, genauer: zwischen den Worten zu finden. Denn sie breitet, beschreibend, äußere gesellschaftliche Situationen aus, deren Ablauf eben durch den inneren Habitus innerhalb der handelnden Familienverbände ganz wesentlich bestimmt wird. Nicht das Gefühl trägt also das (Auf-)Schreiben, sondern das Einfühlungsvermögen. Dies impliziert allerdings, auch, das Vorhaben eines «auktorialen» Erklärens. Doch gilt hier wiederum eine Einschränkung: Die Autorin fällt nicht in die (ansonsten leider häufige) Unsitte, nacherzählend gleichsam Bericht zu erstatten. Sie hält konsequent den Blick auf das jeweilige Geschehen gerichtet … und ihre Ausdrucksform, den ihr eigenen Stil, durch. Aus einem anderen Blickwinkel erweist sie sich dabei – vermutlich durch das Angloamerikanische erleichtert – durchaus versiert in der Kunst des Weglassens und versteht gerade dadurch, «in den Bann zu schlagen».

Diese Rücksicht auf den Anteil des Lesers und bei dieser Autorin ausdrücklich der Leserin mag seinerseits zur Auseinandersetzung durch Filmschaffende gereizt haben; im Kino waren bald nach dem Erscheinen der Bücher etwa «Die Gute Erde» (natürlich) oder «Drachensaat» zu sehen, 2000 wurde dann noch «Die Frauen des Hauses Wu» herausgebracht. Eine gute Grundlage für diese Weiterführung liegt sicherlich in P.S. Bucks gekonnter Handwerklichkeit, wobei bei der Vielschreiberin fast naturgemäss die Professionalität– und darin die Absicht, spezielle Haltungen zu erzeugen – zunimmt. War sie niemals frei davon, die missionarische Stimme mitsprechen zu lassen, so erweist sich der Wille zur unmissverständlichen Deutung deutlich im Spätwerk, etwa in «Lebendiger Bambus» (1963, dt. 1964), das ausnahmsweise in Korea spielt und vor dem Hintergrund des unlängst zu Ende gegangenen Kriegs (1950-53) letztlich fast etwas aufdringlich den amerikanischen Einfluss thematisiert.

Zu diesem Zeitpunkt war die Buck bereits seit drei Jahrzehnten definitiv aus China in ihre Heimat, die sie vollständig als solche empfand, zurückgekehrt, hatte in zweiter Ehe ihren Verleger geheiratet und sich umfassend dortigen sozialen Themen zugewandt. Namentlich engagierte sie sich in der Organisation für Kinder in schwierigen Lagen, sicherlich mitbeeinflusst durch die Behinderung ihrer ersten, in China geborenen Tochter und ihrer zahlreichen Adoptivkinder. Dies «amerikanische» Engagement wirkte sich naturgemäss auf ihre literarische Tätigkeit aus, die sich unter anderem nunmehr der Rassenfrage widmete. Neuartig war dieser Stoff für sie nicht, ging es ihr doch vom presbyterianisch-christlichen Schreib-Beginn an um Toleranz und Völkerverständigung. Wohl nicht von ungefähr also beginnt sie einerseits spät unter dem Pseudonym John Sedges zu publizieren und schreibt andererseits in kurzem Abstand zwei Autobiographien (1954, 1962).
Diese fallen in eine Zeitspanne, in der Pearl S. Buck sich intensiv mit anderen kreativen Fähigkeiten befasst wie Bildhauerei oder Filmregie … und mit der Landwirtschaft, die sie zum Kauf einer Farm in Vermont führte, wo sie auch ihre letzte Ruhestätte fand. Wobei sie neuerlich einen Bogen zu ihren «chinesischen» Erstlingswerken schlägt, die bewusstmachen wollten, dass sich auf explizit diesem Gebiet die beiden von ihr er-, nein: gelebten Welten gar nicht gewaltig unterscheiden.
Unterschieden haben, sollte man wohl hinzufügen – in einer nach der Lektüre ihrer Bücher kenntnisreicheren Spannung von Gestern und Heute, die sich auf das Wirken von Pearl Sydenstricker Buck gründet.

Martin Stankowski
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Mit klarem Blick und spitzer Feder. Jane Austen (1775-1817) zum 200. Todestag am 18. Juli

Obschon man nur sehr wenig über Jane Austen weiß, meint man sie gut zu kennen.

Es gibt zahlreiche Informationsmöglichkeiten über sie, darunter neuere Bücher, die angestrengt versuchen, alles annähernd sicher Qualifizierbare und nur irgendwie Erhaschbare aufzuführen: Weil streng nachvollziehbare Unterlagen und Abbildungen fast vollständig fehlen, behilft man sich mit ihrer häuslichen Umgebung, den Kenntnissen des Englands im frühen 19. Jahrhundert und namentlich mit dessen Sozialstruktur. Denn diese spielt zweifellos zum Verständnis eine enorme Rolle. Erschwerend kommt hinzu, dass «Englands Lieblingsautorin» (NZZ 1.4.2017) bereits kurz nach ihrem Ableben von der Familie vereinnahmt wurde, beginnend mit den Erinnerungen ihres Bruders Thomas und einer zunehmenden Mystifizierung «der lieben Tante Jane».

Und es gibt jede Menge von Verfilmungen, 1938 beginnend und nicht endend bis in die letzte Zeit, namentlich 14 Mal ihres bekanntesten Romans (Stolz und Vorurteil), gleich in mehreren Varianten: als moderne Version mit der Möglichkeit, dank einer Schiebtür zwischen dem heutigen London und der buchstäblich vergangenen Welt zu wechseln, oder umgekehrt ganz als Eintauchen in die Atmosphäre von 1810 auf dem englischen Land.
Die Bildsprache unterstützt, nimmt man sich die Geschichte anschließend (noch einmal) vor, den Eindruck, Jane Austen schreibe «Historische Romane», die aus viel Angelesenem und Studiertem einen möglichst spannenden, möglichst echt wirkenden Plot generiert. Das ist heute höchst modern, gab es aber ausgerechnet bereits in ihrer Epoche: Zeit seines – und ihres! – Lebens berühmt etwa der Autor Walter Scott, der das neue Genre zu einem einflussreichen literarischen Zweig entwickelte … und der gleichwohl Jane Austens literarische Sicht der Welt sehr bewunderte.

Der Eindruck eines gleichsam heraufgeförderten Inhalts trügt natürlich, noch dazu in allerhöchstem Maß: Jane Austen ist schlichtweg authentisch, nein, mehr als das: absolut echt. Sie springt zwar auf den Zug des außerordentlich populären Sittenromans auf, krempelt ihn jedoch gehörig um. Trotz der nach wie vor beibehaltenen Position der auktorialen Erzählerin identifiziert sie sich mit einer weiblichen Hauptperson. Diese bestimmt damit letztlich die Perspektive, mit ihr tauchen wir als Lesende vollkommen in ihr «Universum» ein. Das heißt ebenso: Jane Austen rekonstruiert nicht, sie erklärt nicht. Sie schildert aus zutiefst eigener Erfahrung und schöpft aus kontinuierlich sprudelnder Quelle.

Praktisch alle Romanhandlungen spielen in der «Gentry», jener sich selbst als eigene soziale Gruppierung verstehende Schicht aus niederem Adel und Landbesitzern, der sie selber angehörte. Gerade deshalb beeindruckt es, dass sie niemals berichtet. Sie erzählt aus dem inneren Zirkel heraus, innerhalb der (selbst in den Übersetzungen nachvollziehbaren) Grenzen eines gesellschaftlichen Habitus. Die Enge sprengt sie mit sprühender Gestaltungskraft, mit einem scharf klärenden Blick hinter die Kulissen des Scheins ebenso wie mit der notwendigen dichterischen Freiheit, nicht zuletzt ebendarum zugleich voller Bezüge und Charakterisierungen. Das beginnt bei der Landschaft Mittelenglands mit ihren weitläufigen Hügeln, Forsten und Buschwerk und freien Flächen mit Ausblicken.
Das geht weiter über die intensive Schilderung der Wohnorte, oft schlossartige Anwesen. Eine gewisse Rolle als Bezugspunkt wird der Stadt Bath verliehen (die damals einen enormen Entwicklungsschub erlebte), aber eben nicht als urbanes Gebilde, sondern rein als gesellschaftlicher Treffpunkt. Das reicht bis zur Formung des Alltags mit steten Wanderungen querfeldein (die den Geist auslüften lassen), mit der beständigen Sorge um eine «gute» Verheiratung (bei Müttern und Töchtern), mit dem nie aufhörenden Schreiben von Handzetteln und natürlich Briefen (auf deren Gebiet Jane Austen eine vielgeübte Meisterin war), mit der steten Suche nach Höhepunkten (namentlich in gesellschaftlichen Anlässen wie Bällen und Reisen).

Auf den ersten Blick mag solche Wiederholung etwas langatmig, vielleicht sogar langweilig wirken. Doch der Schein täuscht: Das Gleiche ist bei Jane Austen niemals dasselbe. Somit ging ihr erstens der Stoff nie aus. In ihrer kurzen, für die Zeitumstände allerdings nicht ungewöhnlich kurzen, Lebenszeit erschienen in dichter Folge fünf groß angelegte Romane. Zu ihnen treten zahlreiche weitere Arbeiten, die allerdings nicht den gleichen nachhaltigen Bekanntheitsgrad gewinnen konnten. Zweitens beschreibt sie in der Qualifizierung und Führung ihrer Figuren das Wirken des Äußeren in den inneren menschlichen Schichten.
Aus dieser höchst subtilen literarischen Leistung resultiert ein farbiges, genauer: farblich changierendes Tableau menschlicher Zustände, eine Psychologie (ante definitionem sozusagen) eines nur scheinbar, weil durch strenge soziale Regeln, in sich geschlossenen Personenkreises.
Und, was die Feministinnen unter den Lesenden freuen wird, jeweils zutiefst aus der Sicht einer sich jedem Tag neu stellenden, stets gründlichen Überlegungen über die eigenen Erfahrungen offenen jungen Frau.

Diese Ausgangslage eröffnet die Chance zum ehrlichen Reflektieren all der großen und der kleinen Dinge des Alltags (Allow me to feel no more than I profess), weckt ein sensibel-einfühlsames Verhalten und gibt Anlass zu ironisch-geistvoller Kommentierung. Dazu zwei Beispiele: In «Stolz und Vorurteil» erreicht nach einigen Wirren die Heldin Elizabeth ausgerechnet durch ihre bis zur Kompromisslosigkeit reichende Verwurzelung im eigenen Selbst eine kaum für möglich erachtete soziale Karriere. In Jane Austens letztem, dreibändigen Werk schildert sie schließlich mit «Emma» (Woodhouse) eine bis zur Verweigerung der Heirat bestrickend selbständige Persönlichkeit und beginnt, zu neuen Ufern aufzubrechen. Sie war sich dessen voll bewusst, wenn sie schrieb: Ich werde eine Heldin schaffen, die keiner außer mir besonders mögen wird. Die andere Seite ist das Zurücktreten hinter ihre Werke; sie publiziert anonym «by a lady», wird jedoch trotzdem zunehmend als Autorin bekannt – und öffnet damit eine Gasse, etwa für die Brontë-Schwestern der nachfolgenden Schriftstellerinnengeneration.

Man meint sie gut zu kennen: Aber man lese! Man lese nicht zwingend die kaum noch überblickbare Sekundärliteratur über sie, sondern vielmehr und unbedingt – mit stets wartenden Neuentdeckungen – ihre eigenen Werke.

Martin Stankowski
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Rezension - Dorothea Nürnberg, Unter Wasser

Eine Rezension von Martin Stankowski

Dorothea Nürnberg
Unter Wasser, Roman, Wien Ibera 2015, 259 Seiten
ISBN 978-3-85052-346-2

Es war eines der Paradebeispiele für großflächige Umweltzerstörungen mit weltweiten Auswirkungen: der Bau des Staudamms Belo Monte am Rio Xingú im Amazonien Brasiliens[1]. Gegen ihn schreibt – literarisch – Dorothea Nürnberg an. Und auf ihn bezieht sich der Titel, sowie, nicht sogleich evident, auf das Phänomen starken Regens, Sintflut und Regeneration zugleich. Neben der Stadt Altamira als Dreh- und Angelpunkt des Projekts rückt noch Mexiko-Stadt, Hauptort der iberischen Eroberung, in das Geschehen: «Lateinamerika» bedeutet folglich nicht nur Aktualität, sondern überdies das Eintauchen in die niemals ganz verschwundene, nunmehr markant, ja fordernd wiederauftretende indigene Kultur, sei es der Indios im Regenwald, sei es der Azteken (die durch die den Kapiteln vorangestellten Denksprüche große Wirksamkeit erzielen). Aufgrund einiger Protagonisten kommen dann noch Wien und die Steiermark vor, primär als Projektionsfläche für die dort beheimateten Beteiligten.

Dadurch ergibt sich ein vielteiliges «Mosaik», allerdings in großen Formaten, wenngleich mit feiner Binnenzeichnung. Geführt werden die Lesenden durch die Vornamen über den 22 Kapiteln. Bei allen Personen geht es, stufenweise, sehr stark um Verantwortung: für die Fakten und die Einstellung zu ihnen, für die Selbstachtung und die zwischenmenschliche Berührung. Diese Schuldigkeit schließt viele Verwicklungen ein: zwischen den Handelnden im unmittelbaren Austausch, als Selbstzweifel oder gar Selbstentfremdung bis zum drohenden Selbstverlust, als Zusammenbruch und Neuanfang, als Besinnung auf die eigenen Wurzeln. Das Spannende, genauer: das Eindringliche liegt in den unterschiedlichen Blickwinkeln zu den gleichen oder vergleichbaren äußeren und inneren Fragestellungen, wobei diese Perspektiven differente Zugehensweisen generieren, «man» in der Antwort also ebenso annehmen wie ablehnen kann.

Die Autorin geht wie bei einem textilen Werk nicht linear vor, indem die verschiedenen Fäden zum einen sich zum Muster verdichten, zum anderen von dort aus zu weiteren Verbindungen ansetzen und mittels «Rückblenden» neue Motive gewinnen. Da ist zunächst Peter Grabner (nomen est omen), Manager eines am Damm beteiligten Unternehmens, der, den Freuden nicht abhold, sich auf einen längeren Seitensprung mit der Umweltaktivistin Chantal einlässt. Die anfangs meint, ihn dabei zu bekehren (was am Buchbeginn zu dessen bald abgebrochener Reise nach Altamira führt), dann aber in einer tiefen Sinnkrise in die wohltuenden Hände einer Heilerin gelangt (und als Chanatl das den Bogen schlagende Schlusswort erhält).

In dieses Geflecht eingelagert sind weitere Figuren: Ehefrau Anna, die, nach Kenntnis der Verfehlungen des Gatten, zu einem selbstbestimmten Leben zurückfindet; Paulo, aus São Paulo stammender Ingenieur im Staudammcamp, der – nach dem Kontakt mit Iracema, die als indigene Vorkämpferin nach wie vor mit dem Urwald in enger innerlicher Verbindung steht – grundlegend am Projekt zu zweifeln beginnt und sogar, als unmittelbare Auswirkung, die große Wassernot in der Heimatstadt miterlebt; sowie Diego, der als Fotograf die Konsequenzen zieht und die dem Untergang geweihte Welt in Bild und Ton aufnimmt.

Mit diesen Hauptträgern des Romans treten weitere Menschen in Kontakt: namentlich Jandir, Vater Iracemas und Schamane der Kayapó, und Maria Jolanta in Mexiko, die ungeachtet bescheidener Verhältnisse die heilkräftige Verbindung zwischen indianischen und christlichen Werten herzustellen vermag. Wie bei einem Teppich bleiben aus (Leser-)Distanz die Beobachtungen nicht einfach in sich «stehen», sondern Dorothea Nürnberg verflicht darin weitere Beziehungen, wodurch etwa auch Parallelentwicklungen entstehen.

Das Ende bleibt offen, weil nicht abgeschlossen. Dennoch: Der Staudamm wird weitergebaut, die Umsiedlung des im Fokus stehenden indigenen Stamms stattfinden, die weitflächige Zerstörung der Natur fortschreiten. Immerhin gelingt (im Buch) eine umfangreiche Dokumentation in Bild und Ton, die Selbstorganisation verfolgt die Indiobevölkerung weiter. Zum anderen legt die Auseinandersetzung mit Sachlage und Vergangenheit in den Personen menschliche Grundlagen offen, deren Entfaltung «absehbar» sind, weil der beschworene Geist weiterwirken wird – und der Titel somit an C.G. Jungs Wasser als Symbol für die Auseinandersetzung mit den Schatten erinnert.

Das Buch bezeichnet sich als Roman. Es ist einer, verfolgt man die Erzählung von den im Handeln und in der Spiegelung der Fakten sich entwickelnden Personen. Der sprachliche Duktus geht meist von einer situativen Beschreibung aus, gewinnt da und dort sogar poetisches Niveau, insbesondere in der «Symphonie» des Waldes (82 ff). Und ist es doch nicht, denn es handelt sich ebenso um einen Bericht: durch vielfache Informationen zur gravierenden Umweltproblematik, durch ethnologische Hinweise, namentlich zum Schamanismus, zu den indigenen Lebensumständen und der Welt der Konquistadoren. In diesen Passagen wechselt die Sprachform, in welcher inhaltliche Aspekte wie in einer Fallstudie statt in Dichte in Breite auftreten, was die Häufigkeit von Hilfsverben erlaubt oder Detailerklärungen.

Schließlich erweist sich das Coverfoto als überzeugend wegweisend: Der große Solitärbaum spiegelt sich im Wasser, wobei die Prägnanz seiner Krone hier, im Schattenbereich, deutlicher zu Tage tritt. Das ausgezeichnete Bild vermittelt darüber hinaus die zweifellos ebenso hohe Befähigung der Autorin zur (Kunst-)Fotografin …

Zum Schluss noch dies: In einem zehn Jahre älteren Roman «Tochter der Sonne» entwickelte die Autorin bereits dieselbe Problematik, hier als Schilderung von Reisen, die in der Auseinandersetzung mit dem Unbekannten neue Perspektiven auch für die abendländische Welt eröffnen.

[1] Er ging 2016 in Betrieb, mit einer geplanten Endbaustufe 2019.

Martin Stankowski
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Rezension - Veronika Seyr Forellenschlachten

Eine Rezension von Martin Stankowski
Ersterscheinung: Literarisches Österreich 2016/2

Veronika Seyr
FORELLENSCHLACHTEN. 33 Briefe aus dem vergessenen Krieg
Wien, Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2014, 416 Seiten
ISBN 978-3-901602-54-2

Die Briefe erfassen chronologisch den erbarmungslosen Bürgerkrieg im zerfallenden Jugoslawien von 1991 bis 1997 auf den über den Balkan verteilten Schauplätzen. Inhaltlich bedeuten sie nur teilweise ein Nacheinander, da Frau Seyr trotz konsequenten Verfolgens der Kontinuität des Geschehens fast in jedem dieser an eine Wiener Freundin gerichteten Schreiben thematische Schwerpunkte setzt. Auf diese Weise gelingt ihr bei klarer Orientierung zugleich die Kunst der lebendig-lebensnah geordneten Fülle.

Manchmal hat man nach spätestens drei Briefen genug. Genug von der Unmenge an detailliert aber nicht minutiös geschilderten Brutalitäten, dem Schrecken des blutigen (Massen-)Mordens und der zügellosen ethnischen Säuberungen, der überbordenden Hybris der Mächtigen, des anhaltend schonungslosen Raubs durch Kriegsgewinnler, der hundertfach grimmigen zivilen Wunden in Alltag und Gesinnung. Aber Frau Seyr versteht es, ohne Brüche im Berichten doch immer wieder zu gleichsam weniger aufrüttelnden „Erholungszonen“ durchzustoßen. Und man bleibt gefesselt, will wissen, wie es weitergeht (vielleicht vom größten Lob für eine schriftstellerische Arbeit) im Drama von shakespearischer Dichte und Gewalt, lässt sich bereitwillig durch das zunehmende äußere Chaos steuern, wird anerkennend ihrer bei aller Berichterstattung eindeutigen Stellungnahmen gewahr. Dieses sichere Führen gelingt Frau Seyr durch die niemals aufgegebene, naturgemäß den Blickwinkel bestimmende Perspektive des ORF-Büros in Belgrad wie des persönlichen familiären Lebens mit oft schwierigen Korrelationen: eine duplizierte Filterung, die zwar keine umfassende, schon gar nicht eine historische Bewertung entwickelt, indes anhaltende Authentizität und Tiefenwirkung sicherstellt.

Ja, es gibt absolut Schreckliches, ob als faktische Angaben, ob als beschriebene Taten. Noch darüber hinaus bedrückt das Konglomerat der vielgestaltigen gezielten Streiche in der Kriegs-Kontamination, in ihren Auswirkungen hautnah in den diversen Einschüben der Alltagssplitter zu fassen. Zu ihnen treten, nur partiell mildernd, die parallelen Unwägbarkeiten, verursacht durch die im Großen wie im Kleinen Handelnden. Denn es bleibt der Mensch bei Frau Seyr, in einem von Gerechtigkeit getragenen und dadurch in einem sich selbst im äußerst Schwierigen um Verständnis bemühenden Blick, der alle Richtungsbahnen „vereinnahmende“ Bezugspunkt. Diese nie aufgegebene Grundierung spürt man desgleichen in den zahlreichen Hinweisen auf die uns Lesern allzu oft un- oder gar falsch bekannte Geschichte – die eben nicht eine (auf dem Balkan) postulierte Gesetzlichkeit enthält, sondern oft als gewolltes Geschichtsbild geschmiedet ist –, in den Ausflügen in das kulturelle Erbe und in die nur scheinbar für sich selbst stehende Landschaft. Diese Grundierung gilt zugleich für die analytischen, sich mit den kriegerischen Strukturen befassenden Partien des Buchs, namentlich in den dargelegten Methoden, Hass zu säen, beispielhaft-überzeugend in der Untersuchung, und damit zwingend hierhergehörend, der Sprache (etwa 119-121, 171, 272, 348-349) – über das Ortsgebundene hinaus ein Lehrbuch für zahlreiche vorangegangene und folgende Katastrophen. Anders gesagt: Dass dieses „Gemachte“ auf keiner Seite verlorengeht, gerade darin liegt einer der besonderen Vorzüge dieses Werks.
Beendet wird das Buch mit einer Reihe weiterführender Anmerkungen und einer zur Vertiefung geeigneten Literatur, welche beide den hohen allgemeinen Bildungsgrad der Autorin belegen.

Durch ihre Existenz als Reporterin und als Briefschreiberin schafft Frau Seyr eine Art von doppelter Distanz. Inhaltlich und literarisch erlaubt diese Methode, Schilderungen und Darstellungen, niemals unangemessen breit ausgelotet, in der Schwebe einer steten Spannung des sich Fortbewegens wie des Festhaltens zu belassen. Es ist eben nicht das Erlebte allein, sondern immer auch der ausleuchtende visuelle Eindruck (wohinter wohl das Handwerk der Fernsehjournalistin steckt), was über die Sichtung im Persönlichen die geradezu greifbaren Bilder entstehen lässt.

Eine in diesem Sinn hohe Erzählkunst erweist sich insbesondere und nachhaltig in den beeindruckenden Charakterisierungen der Personen: Seien es die sich groß dünkenden Protagonisten (deren Namen uns, leider, noch vielfach geläufig sind), seien es die einfachen „Leute“ vom Bauernehepaar über den Möchtegern-Heros und die gegen den Medien-Terror ankämpfenden „kleinen“ Radiomacher (im inmitten des Lands gleichsam exilierten Widerstand den Verlagsintentionen nahekommend) bis zu der im embargobedingten Chaos des Niedergangs die Fahne des Normalen aufrecht haltenden Alltagsheldin. Ebensolches gilt für die Landschaftsporträts, etwa als gefühlte Momentaufnahme des dämmrigen Kriegsherbst-Auwalds an der Save oder als farbiges Tableau des Skutarisees. Wobei, im interpretativ nachholenden Notieren, die strukturierte Beschreibung auf der Basis der Eindrücke und Stimmungen zum eigentlichen Ausdrucksträger wird. In den meisterlich charakterisierenden Beschreibungen lassen sich diese Passagen – auch – aus den Geschehnissen lösen und gesellen sich zum Besten der kommentierenden Reiseliteratur.

Die Aufmachung des Buchs mag bereits der inhaltlichen harten Kost entsprechen, im Format, im faktischen Gewicht, im blassweißen Cover, vorne massiv halbiert durch ein „totes“ Graffito, rückseitig überzogen von sich massierenden Schriftzügen (die nur einem minimalisierten Foto der Autorin Platz gönnen). Mit Blick auf die inhaltliche Konsistenz und auf die hohen sprachlichen, ja literarischen Qualitäten hätte das Erscheinungsbild ruhig (in meiner Schweiz ohne pejorativen Beigeschmack) „anmachender“ sein können. Denn der Rezensent wünscht dem Buch unbedingt eine Vielzahl das Werk weiterempfehlender Leserinnen und Leser.

Martin Stankowski
www.stankowski.info

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