Anders

Eigentlich bin ich gar nicht anders. Ich spreche die gleiche Sprache, ich schreibe dasselbe Idiom. (Ein deutscher Lektor etwa wollte mir Stiege in „Treppe“, Matura in „Abitur“, und „Da schau her“ in „Sieh einer an“ verbessern.) Ich esse sogar leidenschaftlich gern die drei landesspezifischen Knödelsorten. Ich blinzele nicht einmal oder ziehe eine Augenbraue hoch, wenn es als Beilage Sauerkraut gibt. (Schließlich gehört dieses, sogar in der Namensgebung, zum Elsässer Nationalgericht, wobei choucroute für Hiesige womöglich feinschmeckerischer tönt.) Selbst als durchaus gerne Weintrinker schmeckt mir der Most ausgezeichnet. Es ist allerdings nicht ganz einfach, eine dem Wein äquivalente Qualität aufzutreiben. Vor allem, wenn man kein Auto hat.

Aha, da ist es jetzt womöglich: Ich bin mangels eigenem Wagen anders. Ich wohne fünfzehn Kilometer vor der Stadt und bin allein auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Werkstags in Schulzeiten mag, dank leicht erhöhter Fahrplanfrequenzen, eine solche Reduktion der Mobilität akzeptabel sein. Lange Wartepausen infolge fataler Anschlusszeiten lassen sich immerhin am Bahnhof mit einem Buch aus der Tasche überbrücken. Die Teilnahme an abendlicher Bildung gleich welcher Art entwickelte sich indessen unweigerlich zu einer Vielstunden-Expedition. Ich nehme also nirgends teil, ob an Aufführung in Oper respektive Theater oder an Seminar mit Wissensangebot oder Lesung mit Diskussionsrunde. Ich lerne niemanden in der Szene kennen, und mich kennt man auch nicht, sehe ich von meiner freilich klugen Frau und ein paar Freunden ab. Dadurch bin ich wohl unbeachtet, aber kaum absonderlich, oder? Ich könnte ein Taxi nehmen, das leider käme zu teuer. Ob ich mit einem beschränkten Portemonnaie-Inhalt anders bin als viele andere, wage ich zu bezweifeln.

Somit behaupte ich, ich bin keine Anomalie. Ich sehe ganz gewöhnlich aus, selbst für mein Alter, falle also nicht auf. Vielleicht merkt jemand auf, wenn ich spreche. Da meint der (!) eine oder andere, mich als Piefke beschimpfen zu müssen. Nun, erstens weiß er wohl nicht, woher der Ausdruck kommt (ich bin kein Militärmusiker), und zweitens stimmt diese Bezeichnung noch nicht einmal für meine Person. Es gibt in Europa ja weitere, andere Regionen, in denen man so etwas wie „Deutsch“ spricht. Und eben daher … Nun ja, ein paar romanische Elemente schwingen aufgrund meiner Herkunft in meinen Sätzen häufiger mit. Ein sprachliches Phänomen. Es trifft aber (seit dem berühmten renversement des alliances von Maria Theresia und Graf Kaunitz) nicht zuletzt für den Osten des Lands mit einigen Wendungen wie dem Trottoir oder dem Plafond ebenfalls zu. Sie, diese fremdsprachlichen Einsprengsel, sind folglich kaum anormal, sondern allenfalls ein wenig befremdend.
Item, als Fremden kann man mich wirklich nicht bezeichnen, höchstens als den Benutzer der dementsprechend benannten Zimmer in den Ferienorten.

Ansonsten habe ich immerhin eine nur mir eigene Biografie. Einerseits hat diese Biografie jede, jeder und ist demzufolge (und gottlob) keine quantité négligeable, ist jedoch damit noch lange nicht anders. Sie oder Er kann inklusive der oder, soll umgekehrt argumentiert werden, ungeachtet der Biografie als ein Mensch wie alle anderen bezeichnet werden. Zudem bin ich für die Ärzte keineswegs ein spezieller Fall, für den Psychologen oder Soziologen höchstens unverwechselbar, indem ich spezifische Eigenarten besitze. Was hingegen keineswegs von vornherein gleichbedeutend ist mit einzigartig. Somit darf ich behaupten, ich sei (indirekte Rede oder Konjunktiv?) eine Individualität, indessen bin ich damit allenfalls graduell anders als andere. Obwohl „man“ Kleider von der Stange trägt, obwohl „man“ die Musikwahl keineswegs als ausgefallen empfindet (von Bach bis Keith Jarrett), obwohl „man“ im Internet zugänglich ist, obwohl „man“ das Auto von Typ und Farbe modisch wählte. Doch halt, das Auto fehlt bei mir ja jetzt.

Zugegeben, es gibt in dem Mehrfamilienhaus, in dem ich wohne, keinen Lift, ich muss also zu Fuß in die dritte Etage. Dieses Hinaufsteigen empfinden zahlreiche Zeitgenossen, wie ich immer wieder von Neuem vernehme, nicht als normal. Gleichwohl weisen, sogar die hiesigen, Architekten darauf hin, Treppensteigen ist gesund für vieles, geradezu allzu vieles. Bin ich demnach, weil ich trotz meines fortgeschrittenen Alters einigermaßen gesund bin, bereits anders? Das mag insofern gelten, weil ich kein modisches Anti-Aging betreibe, sondern schlicht das bin, was ich vermag.

Meine Geltung im sozialen Raum beruht für manchen bedauerlicherweise auf meinem Namen, der nicht germanisch ist. Durch ihn bin ich, gerade in Österreich, jedoch nicht effektiv anders als eine Vielzahl der Landeskinder. Wer weiß: Vielleicht färbt der Name doch irgendwie ab? Weil er nicht farbig klingt, passt er unter Umständen in ein Schwarz-Weiß-Schema. Aber wenn ich mit jemandem rede, müsste doch eigentlich nicht unbedingt der Name am Beginn stehen. Ja das Sprechen …

Womit ich mit einem Déja-vu wieder beim Anfang meiner Überlegungen bin …

Martin Stankowski
www.stankowski.info

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 17159

 

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert