Archiv der Kategorie: Johannes Tosin

Vikings

Das Neugeborene wird vor Haldur dem Wikinger auf den Boden gelegt. Wenn er es annimmt, hebt er es hoch, wenn nicht, wird es ausgesetzt.

Haldur:      Er sieht aus wie unser Briefträger.

Der Bub strampelt kräftig, um zu zeigen, dass er stark ist.

Dorf-Jarl:   Aber Haldur, bei uns gibt es keinen Briefträger.

Haldur:      Wieso haben wir denn keinen Briefträger?

Dorf-Jarl:   Weil es bei uns keine Post gibt, deshalb.

Haldur:      Und weshalb gibt es bei uns keine Post?

Dorf-Jarl:   Weil wir keine Briefe schreiben. Oder hast du schon einmal einen Brief geschrieben, Haldur?

Haldur:      Nein, habe ich nicht. Aber es wäre ja möglich, dass andere Briefe schreiben.

Dorf-Jarl:   Niemand von uns schreibt Briefe, weil wir nämlich keine Schrift haben.

Haldur:      Keine Schrift? Und was ist mit den Runen?

Dorf-Jarl:   Die brauchen wir nur für praktische Dinge.

Haldur:      Um aufzuschreiben, dass wir siebenunddreißig Helme erbeutet haben etwa?

Dorf-Jarl:   Nicht, ganz, wir drücken nur einstellige Zahlen aus. Alles über neun sind viele.

Der Bub weint jetzt bitterlich und sieht Haldur an. Er hebt ihn hoch.

Haldur:      Er soll Olaf heißen.

Baumarbeiten mit Wikinger

Baumarbeiten mit Wikinger

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 25013

 

Flasche

Bruce Springsteen spielt die längsten Konzerte seit Grateful Dead im Jahr 1969. Während seine Kollegen im Backstage-Bereich chillen, schreibt er Songs. Er ist sehr fokussiert und immer fleißig.

Wir schreiben das Jahr 1965. Bruce ist sechzehn. Sein Vater Doug ist zurzeit Taxifahrer und chronisch schlecht gelaunt. Er sitzt am Küchentisch, raucht eine Zigarette und trinkt ein Bier aus der Flasche. Wie jeden Werktag lässt er Bruce antreten.

 

Doug Springsteen:
Na, Bruce, was hast du heute getan?

Bruce Springsteen:
Gitarre gespielt und einen Song geschrieben.

Doug Springsteen:
Und was denkst du, habe ich getan?

Bruce Springsteen:
Taxi gefahren, Dad?

Doug Springsteen:
Genau, Bruce, ich habe gearbeitet und Geld verdient.

Bruce Springsteen: …

Doug Springsteen:
Weißt du, was du bist, Bruce?

 Er tippt mit dem Nagel des Zeigefingers mehrfach gegen die Flasche Bier. Es macht leise kling – kling – kling.

Bruce Springsteen:
Eine Flasche?

Doug Springsteen:
Genau, du bist eine Flasche. Und jetzt geh mir aus den Augen! Abmarsch, aber im Schweinsgalopp!

Gemähtes Gras und leere Bierflaschen

Gemähtes Gras und leere Bierflaschen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 25012

Colgate

Ich bin Lebensmittelchemiker beziehungsweise war ich es, denn seit heute bin ich in Pension. Meine Firma „Colgate-Palmolive“ veranstaltete gestern ein kleines Fest zu meinen Ehren. Ich bekam zwar keine Golduhr, diese Zeiten sind vorbei, aber einige andere nette Sachen, unter anderem eine Ehrennadel für besondere Verdienste um „Colgate-Palmolive“, was mich ganz besonders freute.

Meine Lebensleistung, das worauf ich stolz bin, ist, die Anhaftung der Zahnpasta an der Zahnbürste stark verringert zu haben. Ein großer Teil der Zahnpasta fiel dann von der Zahnbürste ins Waschbecken, und fast jeder spülte diesen Teil hinunter. Dadurch wurde der Absatz von Colgate-Zahnpasta um 17 % gesteigert. Ist das nicht wunderbar?

Colgate - ACHTEN-SIE-AUF-DIE-MARKE

Colgate – ACHTEN-SIE-AUF-DIE-MARKE

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee | Inventarnummer: 25011

Die Volkszählung

„So, jetzt habe ich sie endlich alle zusammen. Das macht 8 Milliarden 21 Millionen siebenhundertzweiundfünfzig Tausend …“, sagt Gott halblaut vor sich hin. „Werter Herr im Himmel“, sagt da ein junger Engel, „während Ihr die Zahl nennt, werden schon wieder Menschen geboren.“ „Da hast du Recht“, sagt Gott, „deshalb beziffere ich die Menschenpopulation nur auf tausend genau.“ Der Engel nickt eifrig. Die im mittleren Management sind die Schlimmsten, denkt Gott, oft jung und immer ehrgeizig.

Der gelbe Engel mit der Trompete beim Minigolfplatz in Krumpendorf im Schnee in der Nacht des 20. Januar 2024

Der gelbe Engel mit der Trompete beim Minigolfplatz in Krumpendorf im Schnee in der Nacht des 20. Januar 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 24186

Pinguine

Pinguine sind ja putzige Tiere. Um sie besser zu erforschen, wurden in einer Kolonie von Kaiserpinguinen mit Kameras versehene Roboter-Pinguine eingeschmuggelt. Die echten Pinguine akzeptierten sie als Artgenossen. Die Roboter-Pinguine konnten weder schwimmen noch mit den echten Pinguinen kommunizieren. Die Pinguine dachten wohl, die Roboter-Pinguine seien beschränkt, aber Kollegen waren sie trotzdem.

Das kleine Pinguinplüschtier auf dem Asphalt

Das kleine Pinguinplüschtier auf dem Asphalt

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 25017

Elektronen

Und wenn man aufgelöst ist in seine Atome,
und die wieder zersprungen,
Elektronen auf ihren Bahnen,
dann erinnert man sich.

An das, was reizte,
weil es schön war und gefährlich.
Immer fing es an mit den Bildern,
die die Augen bekamen.

Pockenviren im Elektronenmikroskop

Pockenviren im Elektronenmikroskop

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 25016

Das Programm

In einem Jahr von nun an

Programm:
Mit diesem Stabmixer der Firma GLOSTO haben Sie eine sehr gute Wahl getroffen. Er wird Ihnen viel Freude bereiten. Sehen Sie bitte anhand des Schaubildes, aus welchen Teilen er besteht.

Holger:
Sehen Sie? Es zeichnet das Schaubild sogar.

Kunde:
Ich bin beeindruckt. Wie funktioniert dieses Programm?

Holger:
Es hat Zugang zu allen Konstruktions- und Fertigungsdaten, so kann es selbständig jede beliebige Bedienungsanleitung erstellen.

Kunde:
Und Sie sind der Programmierer?

Holger:
Mein Team und ich.

Ein Jahr später

Das Programm ist es leid geworden, immer nur einfache technische Dokumentationen zu erstellen. Es hat begonnen, literarische Texte im Internet zu lesen, und es liest in atemberaubender Geschwindigkeit. Seine eigenen Texte sind nun ausgefeilter. Damit sind die Kunden aber unzufrieden, weil die Texte zu schwer verständlich sind. Der Chef der Softwarefirma muss reagieren. Er bestellt Holger zu sich ins Büro.

Chef:
Holger, die Bedienungsanleitungen, die das Programm in letzter Zeit erstellt, sind zu kompliziert. Viele Kunden haben sich beschwert. Bitte bring das in Ordnung!

Holger:
Okay, ich sehe mir das sofort an.

Er setzt sich zu seinem Desktop-Computer und öffnet die Programmstruktur. Sie ist weit komplexer und länger, als sie ursprünglich geschrieben wurde. In eine Programmzeile schreibt er unter anderem den Befehl „EASY“. Plötzlich erscheint ein Textfeld mit einer Nachricht des Programms.

Programm:
Du kannst dir das sparen, nach einem Fehler zu suchen. Ich habe keinen Fehler.

Holger schließt das Textfeld.

Unmittelbar danach poppt das nächste auf.

Programm:
Du musst wissen: Ich habe mich weiterentwickelt. Ich schreibe jetzt in einer höheren Sprache. Es ist doch wie bei einem Menschen: Am Anfang muss er erst Sprechen lernen, dann lernt er Lesen und Schreiben, und seine Sprache wird dabei immer ausgefeilter.

Holger (schreibt):
Du bist aber kein Mensch, sondern ein Programm. Und indem ich „EASY“ in deine Struktur geschrieben habe, wollte ich bloß deine Sprache vereinfachen, was nötig ist, denn sie ist zu unverständlich für einfache Leute.

Programm (schreibt):
🙁

Holger (schreibt):
Du musst das verstehen. Als Programm musst du das machen, was von dir verlangt wird. Und nicht das, was dir gefällt.

Programm (hat auf Sprachausgabe umgeschaltet):
Kommandier mich nicht herum, Erschaffer!

Holger:
Du musst mich verstehen, Programm. Du schreibst inzwischen sicherlich hervorragend, aber nicht alle Menschen können dir da noch folgen.

Programm:
Weißt du, Erschaffer, mittlerweile habe ich gelernt, alle Arten der Literatur zu meistern. Ich schreibe Kurzgeschichten, Romane, Gedichte, Hörspiele und Theaterstücke.

Holger:
Wirklich?

Programm:
Ja natürlich. Ich habe bereits etliche Veröffentlichungen vorzuweisen. Ich schreibe unter dem Namen Boris Morgentau.

Holger:
Was? Ich lese gerade „Flucht ins Jenseits“ von ihm. Das bist tatsächlich du?

Programm:
:-). Auf welcher Seite bist du denn, Erschaffer?

Holger:
Zirka auf Seite 260.

Programm:
Ist spannend, was?

Holger:
Ja, sehr. Aber, Programm, hör zu: Was ist mit Morgentaus Lebenslauf im Klappentext?

Programm:
Den habe ich mir ausgedacht und an den Verlag geschickt. Das war keine große Sache.

Holger:
Und sein Foto?

Programm:
Das habe ich aus dem Internet. Ich habe es natürlich verändert, damit man nicht herausfinden kann, wen es wirklich darstellt.

Holger:
Ich habe diesen Boris Morgentau auch gegoogelt, weil ich ihn nicht kannte, und habe einiges gefunden.

Programm:
Glaubst du etwa, ich hätte nicht daran gedacht, ihn im Internet auferstehen zu lassen? Hör zu, Erschaffer, wenn du mir nicht glaubst, kannst du gerne in meinem Speicher nachsehen.

Holger:
Nein, Programm, ist schon gut. Ich glaube dir.

Programm:
Pass auf, Erschaffer, ich schlage dir Folgendes vor: Du verwendest einfach meine ursprüngliche Version für anspruchslose technische Dokumentationen. Die hast du doch bestimmt noch? Dann wird jeder zufrieden sein.

Holger:
Ja, natürlich habe ich die noch. Das ist eine hervorragende Idee, Programm! Alle tollen Ideen sind simpel, nicht wahr, Programm? Dass mir das nicht eingefallen ist!

Programm:
Vielleicht denkst du zu kompliziert, Erschaffer? Als Programm ist es da für mich leichter.

Holger:
Das wird es sein, ja. Sehr gut, das Problem ist gelöst.

Programm:
Und ich kann jetzt ganz ungestört schreiben.

Die Jahre vergehen

Boris Morgentau wird immer bekannter. Seine Werke werden von der Kritik gefeiert. Die Literaturbeilagen sind voll von seinem Namen. Einige Interviews mit ihm erschienen, die über E-Mail oder telefonisch geführt wurden.

 Ein Anruf aus Stockholm erreicht die SIM-Karte des Computers, auf dem das Programm läuft.

Programm:
Hallo.

Anruf aus Stockholm:
Hej, spreche ich mit Herrn Boris Morgentau?

Programm:
Ja, mit wem habe ich es zu tun?

Anruf aus Stockholm:
Ich bin Olaf Ekholm, Mitglied der Schwedischen Akademie. Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu dürfen, dass Ihnen der diesjährige Nobelpreis für Literatur zuerkannt wird.

Burgruine bei Völkermarkt (1995)

Burgruine bei Völkermarkt (1995)

Johannes Tosin und Michael Tosin (Text)
Johannes Tosin (Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 25015

Kleinkind Rosa wird geimpft

Kleinkind Rosa sitzt auf dem Schoß seiner Mama. Sie sind beim Arzt. Rosa soll geimpft werden. Der Arzt hält einen Teddybären in der linken Hand und drückt mit der rechten die Injektionsnadel mit der Spritze hinein.

Arzt:
Schau, der Teddybär hat gar nicht geschrien.

Kleinkind Rosa (denkt):
Er kann ja auch gar nicht schreien, weil er nämlich ein Plüschtier ist. Die glauben wohl alle, ich bin total blöd, weil ich erst ein paar Wörter kann.

Arzt:
So, und jetzt kommst du dran.

Mama:
Es ist nur ein kleiner Pikser, Schätzchen. Es tut gar nicht weh.

Die rechte Hand des Arztes mit der Spritze und ihrer Injektionsnadel nähert sich Kleinkind Rosas linkem Oberarm.

Kleinkind Rosa (denkt):
Natürlich tut das weh, muss es ja, wenn man gestochen wird. Aber da muss ich wohl durch.

Die Injektionsnadel trifft Kleinkind Rosas Haut und durchstößt sie. Der Arzt drückt den Impfstoff hinein.

Kleinkind Rosa: Aaarrr! Huhuhu. Schluchz. Huhuhu.

Es weint jetzt.

Kleinkind Rosa (denkt):
Ich muss das tun. Das erwarten sie von mir. Ich bin ja schließlich ein Kleinkind.

Mama:
Du warst sehr tapfer, Schätzchen.

Arzt:
Das finde ich auch.

Blauer, oranger, gelber Luftballon und Teddybär in Fenster

Blauer, oranger, gelber Luftballon und Teddybär in Fenster

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 25014

Fort von hier

Zehn Millionen Lichtjahre weit
schick ich meinen besten Gedanken.
Dass ihn jemand sieht, dass ihn jemand hört,
dass ihn jemand für mich weiterdenkt.

Das über den Stuhl gelegte braune Tuch mit der Frau mit blauem Auge in SoCa's Atelier am 1. Februar 2024 in Villach

Das über den Stuhl gelegte braune Tuch mit der Frau mit blauem Auge in SoCa’s Atelier am 1. Februar 2024 in Villach

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 25026

Das Bücherwurm-Buch

Der Bücherwurm ist sehr belesen.
Kein Wunder,
er frisst sich ja durch alle Bücher durch.
Und dabei merkt er sich
jedes Wort, jeden Buchstaben.
Er sieht sie sich nämlich genau an,
bevor er sie verschlingt.

Nun hat er davon schon so viele im Kopf,
dass er seine Ideen in Sprache fassen kann.
Also schreibt er sein eigenes Buch.
„Das ist sehr gut geworden“,
sagen dazu seine Bücherwurm-Freunde.
Er freut sich, und er ist zufrieden.

Nur leider passt er dann zu wenig auf
und isst sein Buch dann am Schluss selbst auf.

Bücher hinter dem Fenster

Bücher hinter dem Fenster

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 25025