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Die neuen Welten der Maria Knehs

Am fünfzehnten April des Jahres 2013 hatte Maria Knehs endgültig genug von dieser Welt. An diesem Tag, exakt zwei Wochen vor ihrem sechzigsten Geburtstag, war ihr Hund gestorben.
»Frau Knehs«, sagte der Tierarzt, »Ihr Spitz hat Krebs. Es ist für Benni das Beste, wenn ich ihn einschläfere. So ersparen wir ihm Schmerzen.«
›Mach nur!‹, dachte sie, zu sprechen war sie nicht in der Lage. ›Wenigstens muss mein Benni nicht leiden, so wie ich. Ach, ich wünschte, ich könnte für immer woanders leben.‹
Mit ›woanders‹ meinte sie keineswegs einen anderen Ort als den kleinen im steirischen Hügelland, in dem sie zur Welt und aus dem sie nie wirklich herausgekommen war. Sie meinte eine andere Welt, einen anderen Planeten gar.

Sie ließ ihren toten Hund in der Praxis des Veterinärs und fuhr zu ihrem kleinen Haus am Rande der Ortschaft. Dort angekommen, rief sie ihre Tochter Monika an, die in Graz lebte.
»Moni, der Benni ist tot. Er wurde eingeschläfert«, weinte sie in den Hörer. »Wann fliegen wir wieder? Ich denke, dieses Mal bleibe ich oben.«
Monika Knehs seufzte. »Das tut mir leid für dich, Mama«, sagte sie halblaut. »Ich kann im Augenblick nicht mit dir reden. Manfred ist gerade eingeschlafen und du weißt ja, was für ein Theater er macht, wenn ich ihn wecke.«

Manfred war Monikas elfjähriger Sohn, der geistig behindert zur Welt gekommen war und der es überhaupt nicht schätzte, bei etwas gestört zu werden, egal, was er gerade machte. Sie hatte sich drei Monate nach seiner Geburt von seinem Vater getrennt, da dieser seinen Sohn weder akzeptieren konnte noch wollte. Nachdem erwiesen war, dass die Behinderung des Kindes schwer ausfallen würde, machte der Mann Monika Vorwürfe, sie wäre schuld an diesem Unglück. Bald jedoch ließ er das bleiben und ging dazu über, ihr Ohrfeigen zu verabreichen, worauf sich Maria Knehs gezwungen sah einzuschreiten.
Ihre Tochter hatte sie weinend angerufen und um Hilfe gebeten. Maria stieg sogleich in ihren Kleinwagen und fuhr zu ihrem hochschwangeren Kind. Mit tatkräftiger Unterstützung der als ruppig bekannten Grazer Polizei wies sie den Unhold aus der Wohnung und blieb drei Tage lang bei Monika.

Diese Zeit belastete Maria Knehs sehr. Zum einen, weil sie in all die Vorkommnisse eingeweiht wurde, die sich zwischen Monika und diesem Mann zugetragen hatten, zum anderen hatte sich Michael, ihr Sohn, soeben ein weiteres Mal auffällig verhalten.
Während Monika, die um drei Jahre jünger war als ihr Bruder, ihre Arbeit als Krankenschwester vorbildlich verrichtete, war Michael ein problematischer Fall. Er betrachtete sich nämlich als Künstler und führte ein entsprechendes Leben. Er hatte keine Arbeit, kein Geld und keine Frau. Er trank, schlief bei Freunden auf dem Sofa und bat seine Mutter in regelmäßigen Abständen um Geld.

»Es ist zum Verzweifeln mit dem Buben!«, sagte sie oft. »Klar, er hatte nie ein männliches Vorbild, weil er ohne Vater aufwachsen musste. Aber irgendwann muss er doch vernünftig werden! Nur Skulptur, Malerei und Alkohol ist zu wenig!«
Gustav Knehs, Marias Ehemann, war kurze Zeit nach Monikas Geburt bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Daraufhin hatte sie ihre beiden Kinder alleine großgezogen. Da ihr Mann eine gute Lebensversicherung abgeschlossen hatte und ihre Eltern ihr eine hübsche Summe hinterlassen hatten, konnte sie es sich leisten, ihren Job als Volksschullehrerin aufzugeben, um sich ganz ihrem Nachwuchs zu widmen.

Jedenfalls war Michael auffällig geworden. Wieder einmal. Er hatte sich als Nacktkünstler versucht und unbekleidet eine Aktion auf dem Grazer Hauptplatz zelebriert, als dort gerade einige Klosterschwestern friedlich gegen die Kriege und für Gott demonstrierten. Es kostete Maria viele Worte und einige Scheine, ihren Sohn aus den Fängen der Polizisten freizukaufen. Eine Entschuldigung bei den Ordensfrauen war auch vonnöten. Die versprachen, für Michael zu beten.
»Frau Knehs, ich muss Sie aber bitten, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen«, sagte die Äbtissin. »Ich fürchte nämlich, dass Michaels Zug schon zu weit gefahren ist, als dass Gebete ihn noch aufhalten könnten. Meiner Ansicht nach kann bloß noch die Schulmedizin Ihrem Sohn die Hilfe geben, die er offensichtlich benötigt.«
Daraufhin konnte sie ihren Sohn überreden, seine Tabletten wieder zu nehmen, und bald legte sich sein Wahnsinn.
›Er ist ja ein guter Junge‹, dachte sie oft. ›Er scheint halt nicht für diesen Planeten geschaffen zu sein. Er müsste auf einem anderen leben dürfen, dann wäre er sicherlich ein anerkannter Künstler, von mir aus auch nackt.‹

Zu dieser Zeit dachte Maria Knehs oft über ihr Leben nach. Sie hatte, das Wort ›eigentlich‹ kam ihr dabei häufig in den Sinn, alles richtig gemacht, oder wenigstens nichts allzu falsch. Sie war eine hübsch anzusehende, einigermaßen gut situierte Frau, die zwei erwachsene Kinder hatte. Eines von diesen war sogar, und das wurde ihr von sämtlichen Bewohnern des Dorfes bestätigt, wohlgeraten. Sie war gutherzig, großzügig und ihren Mitmenschen gegenüber stets freundlich und zuvorkommend. Schlechte Manieren waren ihr nämlich ein Graus. Dass ausgerechnet ihr Erstgeborener solche gerne und oft an den Tag legte, erfüllte sie mit Trauer. Nie hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen, von der Sache mit Willibald einmal abgesehen.

Willibald Grampert war ein übel beleumundeter Geselle, ein echter Nichtsnutz. Ein Tischler, gemacht aus dem schlechtesten Holz, das war er. Nicht nur, dass er seinen Lehrbuben ihre Ausbildungszeit ganz und gar vergällte durch Tritte, Schläge und unflätiges Geschrei, er hatte auch den Hang dazu, Frauen nicht eben gut zu behandeln. Grampert war ein im ganzen Ort verhasster Mann, doch wagte niemand, etwas gegen ihn zu sagen, war er doch der Ortsparteiobmann der Rechten.
Eines Tages erfuhr Maria Knehs, dass er sich mit Jennifer Wildbolz eingelassen hatte. Sie, die fünfzehnjährige Tochter des Betreibers mehrerer Solarien, hatte sich den dreiundvierzigjährigen Tischler angelacht. Maria dachte zwei Tage lang über dieses Gespann nach, dann informierte sie den Landesparteichef der Rechten, der ein widerlicher Ingenieur mit Schmissen im Gesicht war, persönlich über die Vorlieben seines Ortsobmannes. Willibald Grampert beendete die Mesalliance und wurde, auch was seine politische Gesinnung anging, katholisch.

Es waren die Umstände und die Zustände, auf die sie keinen Einfluss hätte nehmen können, die Maria Knehs verzweifeln ließen. Die Menschen reagieren in solchen Situation auf unterschiedliche Arten. Manche flüchten sich in den Rausch, andere in die Nervenheilanstalt und ein paar scheiden gar aus dem Leben. Nicht so Maria.
Wurde ihr die Verzweiflung unerträglich, stellte sie sich einfach vor, auf einem anderen Planeten zu leben. Und zwar auf einem, wo alles gut war. ›Omega‹ hieß dieser, doch wusste seine Erdenkerin nicht, wie sie auf diesen Namen gekommen war.
Auf Omega schien, wenn es nicht gerade Nacht war, stets die Sonne, und obwohl es ein von blühenden Bäumen und Sträuchern bestandener Planet war, regnete es dort nie. Kein Wölkchen trübte das Blau des Himmels. Es gab viele Tiere, doch befanden sich unter ihnen keine Beutegreifer allzu brutaler Wesensart. Maria bewohnte ein weiß gekalktes geräumiges Haus, dessen Zimmer schlicht, aber schön möbliert waren. Es gab einen großen Schwimmteich, eine Sauna und einen Pferdestall, doch Zaun gab es keinen. Ein solcher wäre auch gar nicht notwendig gewesen, denn es musste niemand davon abgehalten werden, ihren Rückzugsort zu betreten.

Auf Omega war Maria Knehs alleine.
Er war ein Planet des Glücks für sie. Keine Kriege wurden dort geführt, keine Verbrechen begangen, und die Kunst war Kunst im besten Sinne. Ihre Tage auf Omega brachte sie mit Lesen und Kochen zu, und wenn sie informiert und satt war, dann steigerte sie ihr ohnehin vollständiges Glück um noch ein kleines bisschen, indem sie es auf dem Rücken ihres Schimmels in sich sog.
Wann immer es ihr auf der Erde zu viel wurde, flog sie auf Omega. Bereits in der ersten Minute nach ihrer Ankunft dort fielen alle Sorgen von ihr ab, Rindenbrocken gleich, die von einem Baumstamm fallen.
Auch am letzten Tag, den sie auf Omega verbrachte, der gleichzeitig der letzte der Existenz dieses imaginären Planeten war, verhielt es sich so.
›Nun stehe ich wieder auf deinem Boden, mein Omega!‹, dachte sie. Sie entkleidete sich und öffnete die Türe ihrer Sauna.

Diesen Besuch hatte sie auch bitter nötig, denn Michael hatte wieder einmal einen Skandal provoziert, oder besser gesagt: eine ganze Reihe von Skandalen.
Irgendwie hatte Michael es fertiggebracht, als Künstler durchzugehen. Sogar in der Zeitung war er ein paarmal erwähnt worden, wenngleich diese Aufmerksamkeit eher seinem Hang zur Nacktheit geschuldet war als seiner Kunst.
Jedenfalls, alles begann mit einem Kunstwerk, das er erschaffen hatte. In einem riesigen Aquarium, voll mit Formaldehyd, wurde ein Bullenhai von einem Schwarm Karpfen mit Piranhazähnen attackiert. ›Die große Rache der Karpfen‹ hieß das Werk, das den ersten Eklat auslöste. ›Der Nacktkünstler als exemplarischer Wahnsinniger‹, so betitelte ein Magazin einen Artikel, in welchem Michaels Fischwerk analysiert wurde.

Maria Knehs las diesen Artikel und wagte zwei Tage lang nicht, ihr Haus zu verlassen, so groß war ihre Furcht vor hämischen Kommentaren der Leute im Dorf. Also flog sie auf ihren Planeten.
Nur zwei Wochen nach diesem Vorfall wurde der Künstler Michael Knehs weit über die Grenzen der Steiermark hinaus bekannt und berüchtigt.
Das Grazer Frauenkloster hatte ihn beauftragt, eine Skulptur für den Klostergarten zu erschaffen. Die Nonnen, die seine Nacktaktion keineswegs vergessen hatten, hatten ihm mit diesem Auftrag unter die Arme greifen wollen. Es kam der Tag der Enthüllung. Eine Klosterschwester fiel sofort in Ohnmacht, den anderen trieb es die Schamesröte ins Gesicht beim Anblick dessen, was sich da vor ihnen entphallte.

Maria Knehs bat ihren Sohn, doch wieder seine Pillen zu schlucken, doch dieser lehnte mit der Begründung ab, dass ein Drogenfreak, und ein solcher wäre er mittlerweile, keine herkömmlichen Medikamente bräuchte. Dann forderte er Geld von ihr.
»Ich weiß nicht, wie ich Michael noch helfen kann!«, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Vergiss ihn. Der wird nicht mehr«, lautete deren Antwort.
Auf Omega fand Maria Trost.
Als Michael öffentlich ankündigte, die Paarung eines Ebers mit einem Stier filmisch dokumentieren zu wollen, wobei er den Eber an des Stiers Kehrseite platzieren wollte, war das Maß voll und des Künstlers Belohnung die Zwangseinweisung in die Grazer Irrenanstalt.

Maria Knehs besuchte ihren Sohn dort mehrere Male, konnte sich jedoch kaum mit ihm unterhalten, so sediert war er von den schweren Medikamenten.
Nach ihrem letzten Besuch beschloss sie, dass es an der Zeit war, eine ganze Woche auf Omega zuzubringen.
Sie öffnete also die Saunatüre auf ihrem perfekten Planeten. ›Das wird mir guttun‹, dachte sie noch. Dann schrie sie laut auf. In ihrer Sauna saß Michael, nackt, grinsend und die ausgestreckte rechte Hand vor ihr Gesicht haltend, offensichtlich in Erwartung einer gewissen Summe an Bargeld. Dann sprach er auch noch.
»Hallo, Mama. Schön hast du es hier! Ich denke, ich werde für eine Weile« – weiter kam er nicht.
Maria Knehs packte ihren verrückten Sohn an der Hand und flog mit ihm zur Erde zurück. Über der Klapsmühle ließ sie ihn los. Er fand den Weg an den Ort seiner Bestimmung, sie den zurück in ihr Haus.

Omega, ihren Planeten, ließ Maria in der Sonne verglühen. Eine gleißende Explosion von Licht, und alles war vorbei.
»Monika, mein imaginärer Planet ist verglüht!«, schluchzte sie ins Telefon.
»Das macht nichts, Mama«, beruhigte Monika Knehs ihre Mutter. »Dann kommst du mit auf Epsilon. Alleine wird es mir dort allmählich langweilig.«

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques |Inventarnummer: 17018

 

Mahlzeit

Gestern hatte ich meinen Lieblingsmenschen bei mir zu Hause. Ich hatte diesen Menschen zum Abendessen eingeladen.
Ich darf sagen, dass ich zeit meines Lebens Freude am Kochen gehabt habe. Es hat mich entspannt, das Kochen. Und dieses gestrige Abendessen sollte die Krönung meiner Leistungen hinsichtlich der Zubereitung köstlicher Abendmahle werden, und es wurde fürwahr die Krönung.

Mein Lieblingsmensch kam pünktlich, und wir nahmen einen Aperitif im Stehen ein, an meiner Bar in meinem geräumigen Wohnzimmer.
In diesen Aperitif tat ich eine Prise Paracetamol und auch eine geringe Menge vom besten bolivianischen Kokain, das beste, und leider auch teuerste, Kokain, das ich in meinem Leben genossen habe.

Ich kann sagen, dass ich für dieses Abendessen weder Kosten, was die hochpreisigen Zutaten anlangt, noch Mühen hinsichtlich der Beschaffung ebendieser Ingredienzien gescheut habe. Und darauf, also auch auf mich, bin ich fürwahr stolz. Jawohl. Heute bin ich zum ersten Mal in fünfunddreißig Jahren stolz auf mich, und dieses Gefühl des Stolzes werde ich für die restliche Lebenszeit, die mir verbleibt, auskosten. Also für die nächsten zwei Stunden.

Ich muss erwähnen, dass ich dem Aperitif, den wir aus meinen guten Lobmeyr-Gläsern genossen haben, auch eine geringe Menge des Giftes des Inlandtaipans zugesetzt habe, jedoch wirklich sehr wenig davon, denn die Wirkung dieses Stoffes, nämlich das Blut stocken, es verklumpen zu lassen, wollte ich keinesfalls erzielen. Ich wollte lediglich sicherstellen, dass der Geschmack des Aperitifs nicht unter dem Fehlen einer essenziell wichtigen Substanz leidet.
Die Gegenmittel, die ich zuvor, in vielfältiger Art und reichlicher Menge, eingenommen hatte, taten mir gut.

Nach dem Aperitif wechselten wir in meinen Speisesaal, an dessen Wänden ich meine durchaus beeindruckende Sammlung geladener Schrotflinten hängen habe, und ich bereitete uns ein Carpaccio.
Die Blaubandkraken für das Carpaccio zu beschaffen, hatte sich als ähnlich schwierig erwiesen wie die Beschaffung des Inlandtaipans für den Aperitif. Der Blaubandkrake mundete meinem Lieblingsmenschen sehr, mir im Übrigen ebenfalls, auch die marinierten Stückchen vom Weißen Knollenblätterpilz harmonierten mit dem Aroma des Kopffüßers.

Wir aßen von meinen guten Tellern aus Meissener Porzellan und mit meinem silbernen Besteck. Als Servietten wählte ich frisch abgezogene Haut der Gila-Krustenechse, als optischen Kontrast zum weißen Tischtuch aus Leinen feinster Mailänder Provenienz.

Nach dem Carpaccio vom Blaubandkraken reichte ich eine klare Suppe, die ich aus Schierling und gerösteten schwarzen Tollkirschen gekocht hatte, eine am Gaumen sich wunderbar entwickelnde Kombination. Ich bot meinem Lieblingsmenschen an, eine Einlage in die Suppenteller zu legen, ich hatte Knödel aus der Leber eines Eisbären vorbereitet, doch schlug mein liebes Gegenüber dieses Angebot aus, da mein Lieblingsmensch offensichtlich gesundheitliche Schwierigkeiten hatte, welche sich durch dicke Schweißperlen auf seiner Stirn bemerkbar machten, ebenso durch vernehmliche und übel riechende Winde.
Ich für meinen Teil hatte derartige Schwierigkeiten nicht, obwohl ich festhalten muss, dass die Raumtemperatur in meinem Speisesaal mir durchaus auch Ungemach in Form dicker Schweißperlen bereitete.

Nach einer kurzen Essenspause, in der wir eine selbstgedrehte Zigarette mit bestem marokkanischem Haschisch rauchten, servierte ich Steaks, scharf angebraten, also innen noch beinahe roh, aus den feinsten Stücken des Komodowarans, also aus dessen Zahnfleisch und Zunge. Meinem Gast mundeten die Steaks sehr, ebenso die gedünsteten Blätter der Engelstrompete, die ich als Beilage reichte.
Als Snack, also als kleinen Zwischengang, reichte ich scharf angebratene Schwänze des Gelben Mittelmeerskorpions, wobei ich beim Bratvorgang besonders darauf Acht geben musste, die zarten Reservoire, welche die Essenz der Tiere enthalten, nicht zu zerstören, denn wir nahmen lediglich die Flüssigkeit in diesen Reservoiren zu uns, die Stacheln an den Enden der Skorpionschwänze benutzten wir als Zahnstocher; sie erwiesen sich für diese Art des Gebrauchs als bestens geeignet.

Meinem Lieblingsmenschen schien es wieder besser zu gehen, und so war ich bereit, den nächsten Gang aufzutischen.
Es handelte sich bei diesem um ein leichtes Gulasch vom Schnabeltier, zu welchem ich Knödel aus Semmeln und Eisenhut reichte, denn Eisenhut fügt sich geschmacklich besser in die Kombination aus Schnabeltiergulasch und Semmelknödel, als gewöhnliche Petersilie dies je zu tun vermöchte.

Als Dessert reichte ich Marmorkuchen, jedoch kreativ zubereitet, also nicht nach Großmutters altbekanntem Rezept, vielmehr zielgerichtet verfeinert. Der gelbliche Teil des Marmorkuchens verdankte seine Farbe Hühnereiern mit einer Prise Schwefel, der dunkle Teil einem Brei aus Spinnen, um präzise zu sein Schwarzen Witwen, welchen ich Stücke aus der Leber des Kugelfisches beigemengt hatte, den ich im Tropenhaus des Tiergartens Schönbrunn besorgt, also schlicht gestohlen hatte, indem ich ihn einfach aus dem Wasser geholt hatte.
Die Schwarzen Witwen habe ich fein passiert, um zu verhindern, dass ihre Chitinpanzer sich als störende Objekte in den Zahnzwischenräumen meines Lieblingsmenschen und in meinen eigenen einlagern.

Nach dem Dessert begann es meinem Lieblingsmenschen sehr schlecht zu gehen. Er erbrach Blut auf mein schönes Tischtuch aus Mailand, und plötzlich verstarb er. Er lag mit seinem Oberkörper auf meinem Esstisch und schadete mit seinem nutzlosen Herumliegen der Optik meines schönen Speisesaals.
Ich musste ihn beseitigen und brachte ihn in den Schweinestall. Nachdem meine Säue ihn restlos aufgefressen hatten, starben die armen Schweine.
Nicht wissend, was ich mit den toten Schweinen anstellen sollte, brachte ich sie der Küche der nächsten Volksschule. Als Geschenk, versteht sich.
Kinder sollen ja widerstandsfähig sein. Oder werden.

Und ich für meinen Teil habe jetzt genug. Fünfunddreißig Jahre sind doch ausreichend. Die Reste der Gegenmittel habe ich vernichtet und die Reste des gestrigen Abendessens ins Backrohr geschoben. Ich habe Lust auf eine schmackhafte und wirkungsvolle Quiche. Mahlzeit!

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17017

 

Die Morgen danach

Am Morgen des vierzehnten November 2014 erwachte Peter in seinem Einzelbett und wusste gleich, dass etwas anders war als sonst.
Die Sonne schien durch das Fenster. Ihre Strahlen waren ganz anders als in den Tagen davor. Diese Tage waren nebelig und trostlos, schon morgens war klar, dass sie das werden würden. Durch die wabernden grauen Nebelschwaden vermochte die Sonne lediglich in Form von vereinzelten hellgrauen Strahlen zu dringen.

Dieser Morgen jedoch war freundlich. Peter, der es gewohnt war, beim Aufwachen in Ruhe gelassen zu werden, spürte, dass ihm in seinem Bett weniger Platz als gewöhnlich zur Verfügung stand. Schlaftrunken murmelte er einen Morgengruß, erhielt aber keine Antwort.
Dass er bestimmt nicht alleine im Bett lag, merkte er an der Hand, die auf seiner linken Schulter lag. Er drehte seinen Kopf aber nicht zur Seite um zu sehen, wem die Hand gehörte, es war ihm egal. Er genoss den Moment der Wärme, die die Hand abgab. Er machte sich nicht allzu viel aus körperlicher Nähe, suchte selten nach ihr. Wenn es sich jedoch ergab, dass er am Morgen in Gesellschaft war, so nahm er diesen Umstand als die Bestätigung hin, dass seine Verführungskünste wieder einmal eine dankbare Empfängerin gefunden hatten.

Peter war dreiundvierzig Jahre alt. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft hatte er in einer großen, international tätigen Bank angefangen und war schnell aufgestiegen, allerdings nur bis in eine bestimmte Ebene der Hierarchie. Eines Tages, nach einer Besprechung, legte ihm der Vorstand für Internationale Geschäfte die Hand auf die Schulter und flüsterte ihm ins Ohr. Wenn Peter seine Aufgaben als Controller bei zwei gewissen heiklen Auslandsgeschäften weniger genau ausführte, ließe sich durchaus etwas machen, erfuhr er. Eine andere Abteilung, die Verdreifachung seiner Bezüge und ein Dienstwagen wurden ihm diskret offeriert. Daraufhin drückte er beide Augen zu, die Geschäfte wurden abgeschlossen, und Peter war ein gemachter Mann.

Er lebte in einer luxuriös eingerichteten Wohnung, trug die teuersten Anzüge, und konnte dennoch keine Frau dazu überreden, bei ihm zu bleiben. Dies lag an der Art seiner Brautwerbung. Als ein Mann, der sich alles kaufen konnte, ging er davon aus, dass dies auch auf den Bereich des weiblichen Geschlechts zutreffen müsste. Wenn er also eine seiner berühmten, und bald auch berüchtigten, Austernpartys gab, und ihm eine Frau ins Auge gestochen war, zögerte er nicht lange, sie darüber in Kenntnis zu setzen, was sie sich als seine Frau alles würde leisten können.

Zwei Frauen hatten sich darauf eingelassen. Die erste, Christina, verließ ihn nach nur drei Monaten, und auch die zweite, Ludmila, suchte bald fluchtartig das Weite, ohne mit Peter vor den Traualtar getreten zu sein. Er war kein Mann fürs Leben, das hatten die beiden schnell herausgefunden. Er arbeitete bis siebzehn Uhr und wollte dann bloß noch seine Ruhe. Dabei ging er sogar so weit, ein zweites Schlafzimmer in seiner Wohnung einzurichten, für die Frau an seiner Seite. An lediglich einem Abend in der Woche standen ihm die Sinne nach Intimität, und nach diesen fünfzehn Minuten verließ er das Schlafgemach, um sich in sein Einzelbett zu legen.

Da keine Frau bei ihm bleiben wollte, obgleich sein Vermögen stetig anwuchs, verlegte sich Peter auf das Bestellen per Telefon. Ein Vorstandskollege hatte ihm eine Telefonnummer gegeben, unter welcher man Frauen ordern konnte.
Diese Hinwendung zur käuflichen Liebe war der Wendepunkt, was Peters Verhältnis zur körperlichen Nähe anlangte. Fürchtend um die teuren Gegenstände, die überall in seiner Wohnung standen und herumlagen, sah er sich gezwungen, die bestellten Damen, die nur für die ganze Nacht gebucht werden konnten, zu beaufsichtigen. Diesbezüglich wählte er die einfachste Methode, nämlich das Schlafen an der Dame Seite. Da sich viele dieser Damen nach ein wenig Wärme sehnten, lagen sie eng an Peter geschmiegt, und so kam es, dass er sich allmählich daran gewöhnte, eine Hand oder gleich einen ganzen Körper beim Aufwachen zu spüren.

Als Bankmanager begriff er diese amourösen Episoden als simples Geschäft. Die Frau kam, er bezahlte sie, und nachdem auch der Morgen gekommen war, ging sie wieder. So lebte Peter als reicher und in erotischen Angelegenheiten zufriedener Mann. Im Vorstandssessel seiner Bank saß er bequem und fest, so fest, dass selbst die ambitioniertesten Versuche übelwollender Konkurrenten, ihn aus diesem zu hebeln, ohne Erfolg blieben.
Diese herkulische Anstrengung konnte nur ein einziger Mensch bewältigen, nämlich Peter selbst.

Am siebzehnten Juli 2011 hatte er schließlich damit begonnen, diese Aufgabe zu erledigen. Ein bankinternes Dokument hatte ihm aufgezeigt, dass ein Konto des größten Stahlproduzenten des Landes mit einer wahren Unsumme an Schwarzgeld gefüllt war. In den folgenden Monaten bediente sich Peter mit beiden Händen reichlich aus diesem ebenso unerschöpflichen wie fremden Topf. Eine hübsche Segelyacht, einen Porsche und einen Kokoschka später war der Spuk vorbei, und Peter stand vor Gericht, vertreten von den besten Anwälten des Landes.

Am Morgen des vierzehnten November 2014 konnte sich der noch schlaftrunkene Peter trotz aller Anstrengungen nicht an den Namen der Person erinnern, deren Hand auf seiner linken Schulter lag. Er wusste, dass er diesen Namen am Abend zuvor etliche Male ausgesprochen hatte, doch wollte er ihm nicht einfallen.
So drehte er seinen Kopf zur Seite, um die Hand zu betrachten. Er erschrak. Hatte er perfekt manikürte Damenfinger erwartet, so bot sich ihm nun ein Bild der Armseligkeit. Die Finger waren wulstig und an den Seiten mit Schwielen übersät, die Nägel viel zu lang, schmutzig, und einer war sogar eingerissen.
Peter wandte sich um, um zu sehen, wer neben ihm lag.
Er sah eine breite, behaarte Brust und einen Bauch, der Unmengen von Bier und Steaks in sich aufgenommen haben musste. Nun wusste Peter, dass er neben Walter lag. Walter war sein Arbeitskollege in der Spenglerei, und auch nach Dienstschluss teilten sie sich eine Zelle.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: drah di ned um |Inventarnummer: 17009

Ausgekocht?

Franz Mierz war zweiundfünfzig Jahre alt, als er Wien verließ. Er fuhr zum Flughafen und bestieg ein Flugzeug zu einer Destination, die bis heute beinahe keinem Menschen in Österreich bekannt ist.
Es war eine Flucht, die er verübt hatte, vor dem Boulevard und ihm übel gesonnen Menschen.
Die Klatschpresse hatte sich nämlich auf ihn eingeschossen. Wenigstens einmal pro Woche war ein Artikel erschienen, der den langsamen Niedergang des einstigen Starkochs zum Inhalt gehabt hatte. Die Leute hatten ihn auf der Straße angesprochen und gefragt, ob er denn in Erwägung ziehen würde, in einem Würstelstand zu kochen, und ein paar hatten ihm sogar Kleingeld in die Hand gedrückt – für ein Glas Weißwein, wie sie hämisch grinsend dazugesagt hatten.

Franz Mierz war einmal ein Koch von Rang gewesen, mehrere Auszeichnungen hatten dies belegt. Sein Name stand für überbordende Kreativität am Herd. Berühmt war er für seine Beilagen; wahre Kompositionen waren sie, Sinfonien der Kulinarik. Sein Püree mit einem Hauch Radieschenwasser war eingeschlagen wie eine Bombe. Ganz Wien war bass erstaunt, was Mierz alles möglich machen konnte, nämlich das schier Unmögliche. Ein Trauben-Haselnuss-Mus als Begleitung eines Zanders – das war beinahe unerhört, doch es ging durch.

Sein Restaurant ‘Zur Taube’ war auf Wochen ausgebucht. Legendär war der spöttische Tonfall in der Stimme von Fräulein Gratzer, der für die Reservierungen zuständigen Mitarbeiterin der ‘Taube’. Wagte es jemand, ohne gültige, also bestätigte Reservierung vor ihr zu stehen und Einlass zu begehren, wies sie ihn mit strengem Blick darauf hin, dass er nicht in einem Schnellimbiss wäre, und danach wies sie ihm den Weg zur Türe.

Gourmetkritiker kamen erwartungsvoll und gingen hochzufrieden, die Wiener Schickeria ließ sich von Mierz bewirten und in immer ausgefallenere kulinarische Abenteuer führen.
So ging es über zehn Jahre lang, und es ging gut. Franz wurde wohlhabend, heiratete eine Frau aus besten Wiener Kreisen und hätte weiterhin beides bleiben können, sowohl reich als auch verheiratet.
Trunken vom Erfolg begann er jedoch, Fehler zu machen. Er ließ seinen Souschef ans Ruder, wenn er schlicht keine Lust hatte, in der heißen Küche vor dampfenden Töpfen zu stehen. Dieser war ein ganz passabler Koch, doch gebrach es ihm an der Kreativität. Den Gästen blieb nicht verborgen, dass der Chefkoch des Öfteren lieber bei etlichen Gläsern Wein am Naschmarkt saß, als sie zu bekochen.

Darüberhinaus war Franz Mierz im Umgang mit Menschen wenig versiert. Als sich eine Frau, die mit ihren Enkelkindern in der ‘Taube’ gespeist hatte, über die Beilagen mokierte, stürmte er an ihren Tisch. Sternanis-Pfeffer-Sauce wäre ebensowenig unpassend zu einem Fenchelsteak wie Vanille-Knoblauch-Reis, klärte er die Frau auf. Mit der Information ausgestattet, dass ein Franz Mierz gerne darauf verzichtete, eine alte Krähe in seinem Gourmettempel sitzen zu haben, verließ sie das Lokal.

Als er zur Faschingszeit einmal eine Gurke auftischen ließ, die einem männlichen Glied ähnelte und mit einer weißen Sauce angerichtet war, hatte dies einen Skandal zur Folge. Feministinnen standen vor dem Restaurant und klärten die Gäste, die es betreten wollten, über den Sexismus des Franz Mierz auf. Der Herausgeber der größten kleinformatigen Tageszeitung des Landes, ein Stammgast, kam persönlich in die Küche und wies ihn mit scharfen Worten zurecht.

Franz war dies gleichgültig. Er hatte viel Geld auf der hohen Kante und einen gut gefüllten Weinkeller, in welchem ihn seine Frau an immer zahlreicher werdenden Tagen antraf. Am letzten dieser Tage trennte sie sich von ihm.
Der Scheidungskrieg, der darauf folgte, wurde in den Medien breitgetreten, und die ‘Taube’ musste Federn lassen. Die Auslastung ging zurück, und bald war das Lokal nicht mehr kostendeckend zu führen. Franz Mierz gab den Kochlöffel ab.

In der Folge versuchte er sich als Betreiber und Koch eines Wirtshauses, doch konnte er an seine früheren Erfolge nicht anknüpfen. In der Wiener Gesellschaft etablierte sich bald der Begriff ‘Mierz schauen’. Man brauchte kein allzu großes Glück, um dabei erfolgreich zu sein.
Oft genug saß Franz an der Bar seines Gasthauses und betrank sich. Selbst wenn das Lokal voll war, war er sein bester Gast.
Die Kritiker stuften ihn nicht herab, sie nahmen ihn vielmehr nicht in ihre Wertungen auf. Es dauerte bloß eineinhalb Jahre, bis er auch das Wirtshaus schließen musste.

Von baldiger Obdachlosigkeit bedroht, wandte er sich an seinen einzigen verbliebenen Freund. Walter Srnek, der Betreiber eines großen Bordells, war auf der Suche nach einem Koch für sein Etablissement und stellte ihn ein.
Rasch hatten die Medien Wind von der Sache bekommen. Ein kleinformatiges Blatt brachte ein Foto der berüchtigten Faschingsgurke auf der Titelseite, und die Internetforen der Zeitungen waren voll von zotigen Kommentaren.
Franz ließ sich nicht dazu herab, Interviews zu geben, also schrieben die Journalisten, was ihnen in den Sinn kam. Von wilden Partys in der Küche war ebenso die Rede wie von einem eigens für ihn einzuführenden Bewertungssystem – Mieder statt Haube und Stern.

Er trank weiter und wurde knapp vor seinem zweiundfünfzigsten Geburtstag entlassen.
Drei Wochen nach der Kündigung setzte sich Franz Mierz in ein Taxi und ließ sich zum Flughafen fahren. Bereits vier Wochen nach dieser Flucht war in den Zeitungen von Buenos Aires von einem europäischen Koch zu lesen, Hans Zierm wurde er genannt, der mit seinen unerhörten Beilagen Furore machte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17008

Hubert, der Beobachter

Vorgeschichte

Hubert Laufschaft, ein Mann von achtunddreißig Jahren, verwitwet und kinderlos, ist begeisterter Beobachter.
Er ist Beobachter, wohlgemerkt. Kein Voyeur oder Spanner!

Im zarten Alter von sieben Jahren hatte sich sein Talent für das Beobachten gezeigt, als seine Großeltern ihm zu Ostern einen Feldstecher geschenkt hatten. Es war ein einfaches, kostenextensives Exemplar, lackiert in billigem Schwarz, welches bald durch Huberts Handschweiß abzublättern begann. Der Feldstecher hatte, damit er um den Hals seines Benutzers getragen werden konnte, einen Riemen aus schwarzem Kunststoff, welcher Leder imitieren sollte, dies jedoch nicht zur Gänze fertigbrachte, auch fehlte ihm eine Skalierung, mit deren Hilfe Hubert Entfernungen einigermaßen präzise hätte bestimmen können. Hubert hatte dennoch große Freude mit dem Geschenk, schließlich war ihm damit die Möglichkeit gegeben worden, Tiere zu beobachten.

Er beobachtete Mäusebussarde, die in der ländlichen Gegend, in der er aufwuchs, in großer Zahl vorkamen, und wurde bald ein durchaus kundiger Ornithologe, freilich einer der zweiten Kategorie; um ein Ornithologe erster Kategorie zu werden, ist ein Studium vonnöten.
Er beobachtete die Bussarde bei ihrer Balz im Flug, beim Bereinigen ungeklärter Fragen bezüglich der Grenzen der Reviere einzelner Paare dieser Raubvögel sowie bei der Jagd, diese faszinierte Hubert am meisten, auf Feldmäuse und Kröten. Des Weiteren beobachtete er Habichte, die er bald von den Bussarden unterscheiden konnte, durch ihr gänzlich anderes Flugbild am Himmel und natürlich durch die unterschiedliche Färbung ihres Federkleids, wenn sie gelandet waren, ihre Beutetiere rupften oder ihnen das Fell abzogen und sie auffraßen.

Weiters liebte Hubert das Beobachten der seltenen Wiedehopfe und der Eichelhäher. Säugetiere beobachtete er nicht, außer diese nahmen an den Jagden der Greifvögel teil, als Beutetiere.
Seine Beobachtungen behielt Hubert für sich. Selbst seinem besten Freund erzählte er nicht, womit er seine Freizeit verbrachte.

Als Hubert in die Pubertät kam, entdeckte er das Beobachten von Menschen für sich.
Er, der keine Geschwister hatte, mit welchen er hätte Zeit verbringen können, suchte sich Plätze am Waldesrand, die von niedrigen Büschen bewachsen waren, welche ihm Deckung gaben. Deckung war ihm wichtig, denn er, der kein Spanner war, fürchtete, und das wohl zu Recht, als eben solcher hingestellt oder gar denunziert zu werden, im Falle seiner Entdeckung. Aus diesem Grund, und auch weil ihn Menschen in freinatürlicher trauter Zweisamkeit nicht interessierten, machte er einen weiten Bogen um Plätze, die dafür bekannt waren, dass sich an ihnen Liebespaare zu verlustieren pflegten.

Susanne Laufschaft

Susanne war Huberts Ehefrau gewesen.
Sie hatte dem Drängen von Huberts Eltern nachgegeben, die der Ansicht waren, dass ihr Sohn im Alter von neunundzwanzig Jahren endlich unter die Haube kommen sollte. Sie hatten ihr eine Masse Geld gegeben, und sie hatte eingewilligt, Hubert zu ehelichen und sogar seinen Familiennamen angenommen. Geliebt hatte sie ihn nie und so war es auch kein Wunder, dass dieser Ehe kein Nachwuchs entsprungen war.
Die Menschen im Dorf begannen, sich über diese Amour fou lustig zu machen, Gerüchte über eine arrangierte, eine gekaufte Ehe begannen die Runde zu machen.

Hubert blieb dies nicht verborgen und er stellte seine lieblose Ehefrau zur Rede. Sie bestätigte die Gerüchte und eröffnete ihm, dass sie einen Mann kennengelernt hatte, den die wirklich liebte und dass sie die Scheidung wünschte.
Dies war der Moment, in dem Hubert beschloss, seine Ehefrau zu beobachten.
Er kaufte sich einen Feldstecher und folgte ihr, ohne dass sie dies bemerkte, auf Schritt und Tritt. Er, der keiner geregelten Arbeit nachging und vom Vermögen seiner Familie lebte, hatte ausreichend Zeit, Susanne zu folgen und sie zu beobachten.

Bald fand er heraus, wo der Mann, den seine Ehefrau wirklich liebte, wohnte. Er suchte sich einen Platz, von wo aus er die beiden beobachten konnte, ohne selbst gesehen zu werden.
Er beobachtete sie einige Male durch sein Fernglas mit Skalierung, und schließlich war er sich sicher, dass Susanne die falsche Frau für ihn war. Er war froh, dass sein Feldstecher ihm erlaubte, die Entfernung zwischen seiner Ehefrau und seinem Platz in der Deckung zu bestimmen. An zwei aufeinander folgenden Tagen machten ihm Sommergewitter Striche durch die Rechnung, eines der Gewitter führte gar Hagel mit sich. Doch am dritten Tag war das Wetter perfekt.
Er beobachtete Susanne und bestimmte ein letztes Mal, um ganz sicherzugehen, die Entfernung.

Mathilde und Egon Laufschaft

Mathilde und Egon waren Huberts Eltern.
Dieser, im schwarzen Anzug, stellte die beiden noch am Rande der Tafel von Susannes Leichenschmaus zur Rede. Er fragte sie, ob sie seiner Ehefrau Geld gegeben hätten, um diese dazu zu bewegen, ihn zu heiraten.
Die beiden wollten anfangs nicht mit der Wahrheit herausrücken, deutlich erkennbare Furcht lag in ihren Augen, doch nach einigen Minuten fasste sich Huberts Vater ein Herz und bejahte die Frage. Hubert war außer sich vor Wut und der verständlichen Enttäuschung des Hintergangenen.

Er überlegte, ob er seine Eltern beobachten sollte,  doch konnte er sich weder zu einem Ja noch zu einem Nein in dieser Frage durchringen. Vorerst. Drei Tage später eröffnete Mathilde Laufschaft ihrem Sohn, dass sie eine neue Frau für ihn gefunden hätte.
In diesem Augenblick wurde Hubert klar, dass er seine Eltern würde beobachten müssen. Er wollte schließlich verhindern, ein zweites Mal an eine lieblose Ehefrau zu geraten.
Er zog sich in den Rand des Waldes bei seinem Elternhaus zurück und beobachtete seine Eltern durch sein Fernrohr. Es war immer noch Sommer, doch war die Zeit der Unwetter vorüber.
Eines Tages beobachtete Hubert seinen Vater, als dieser den Rasen des weitläufigen Grundstücks mähte. Seine Mutter kam aus dem Haus und häufte das geschnittene Gras mit einem Rechen auf.
Hubert ermittelte die Entfernung zwischen seinem Versteck und seinen Eltern.

Gestern

Gestern ermittelte Hubert die Entfernung zwischen seinem Versteck und seiner Volksschullehrerin, die ihn getriezt hatte. Obwohl schwacher Wind weder die Flugbahn noch die Durchschlagskraft eines Projektils von großem Kaliber maßgeblich beeinflusst, beschloss er zu warten. Er wird die Lehrerin wieder beobachten.

 Heute

ist es windstill.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens |Inventarnummer: 17007

Heute gab es Taube

Als ich heute Morgen erwachte, ahnte ich, dass dieser Tag ein besonderer werden würde – und ich sollte recht behalten.
Nach dem Aufstehen saß ich in meiner Bleibe und grübelte und haderte mit meinem Schicksal. Ich bin nämlich arbeitslos, ein Umstand, der meiner Ehrlichkeit geschuldet ist.
Als Vorstandsmitglied einer großen Bank hatte ich viele Jahre lang mein Bestes gegeben, um mein Geldhaus ‘auf Kurs zu halten’, so wurde die Tätigkeit des Vorstandes intern bezeichnet. Diese beinhaltete von Einflussnahme auf Politiker über Bestechung bis hin zum Diebstahl alles, was nicht an die Öffentlichkeit dringen darf.

Eines Tages wurde mir das Wissen um diese Machenschaften zu einer derart schweren Bürde, dass ich an die Öffentlichkeit gehen musste – sonst hätte ich mich nie wieder im Spiegel ansehen können. Ich verfasste ein Dossier über die Verbrechen meiner Kollegen, ließ es sämtlichen Tageszeitungen zukommen – und wurde gefeuert.
Ich verlor meine schöne Wohnung, meine Ehefrau ließ sich von mir scheiden, und am Ende stand ich mittellos da. Ich versuchte natürlich, eine Stelle zu finden, doch wusste mein ehemaliger Arbeitgeber dies zu verhindern. Die Drohung, sämtliche Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen, die mich einstellen würden, abzubrechen, verfehlte ihre Wirkung nicht, und so kam es, dass alle meine Bewerbungen abgewiesen wurden.

Ab und an kam es vor, dass mir Personalchefs unter vier Augen eröffneten, dass sie meinen Schritt an die Öffentlichkeit nachvollziehen konnten, doch wäre es aufgrund meiner daraus resultierenden Bekanntheit unmöglich, mich zu beschäftigen. Auf der Straße wurde ich von vielen Menschen angesprochen, die mich zu meinem Mut beglückwünschten. Stets bedankte ich mich freundlich lächelnd, doch in mir wuchs die Vermutung, dass diese Leute mich zwar wortreich lobten, insgeheim jedoch verachteten, denn ich hatte es schließlich gewagt, aus dem System auszubrechen, um nicht länger im Geläuf der Lemminge gefangen zu sein.

Ich gelangte zur Erkenntnis, dass die Menschen zwar wünschen, mutiger zu sein, aber fürchten, dass ihnen aus diesem Mut Nachteile erwachsen könnten – also lassen sie es gleich bleiben und delektieren sich lieber am Fall eines Mutigen, der es wenigstens versucht hat.

Jedenfalls, heute besuchte mich der Vorstandsvorsitzende meiner ehemaligen Bank. Ich weiß nicht, woher er erfahren hatte, dass ich mittlerweile nicht mehr in meiner alten Wohnung anzutreffen war. Er stand vor meiner Bleibe und drückte mir hämisch grinsend eine Flasche billigen Wein in die Hand.
„Lass ihn dir schmecken!“, sagte er. „Ich erinnere mich noch gut an deine Einladungen. Dein Perlhuhn war immer ausgezeichnet. Wenn du wieder grillst, trinke diesen Wein.“
Dann ging er mit schnellen Schritten davon.

Ich war zwar verärgert über den Fusel, doch freute ich mich auch ein wenig über das Geschenk, denn Wein zu kaufen ist mir momentan nur sehr selten möglich.
Mein Mitbewohner Ndugu warf begehrliche Blicke auf die Flasche, und ich versprach ihm, sie mit ihm zu leeren. Ndugu ist Chirurg, doch wird seine Ausbildung hierzulande nicht anerkannt, also darf er seiner Berufung, nämlich Menschen zu helfen, nicht nachgehen.
Eines Tages stand er da und eröffnete mir, dass er bleiben würde. Er hätte es satt, aufgrund seiner Hautfarbe angepöbelt und von der Polizei ständig nach Drogen durchsucht zu werden.

Ich bin froh, dass ich einen Mitbewohner habe – zu zweit wohnt man einfach sicherer; und auch angenehmer, wenn man ein ähnliches Schicksal teilt.
Ndugu hatte seine Heimat verlassen müssen, weil er mutig gewesen war. Er hatte gegen die Führung des Landes demonstriert und wäre vor Gericht gestellt und wohl auch hingerichtet worden, hätte er das Land nicht fluchtartig verlassen.

Wir unterhalten uns oft auf Englisch über die verschiedensten Dinge, was uns davor bewahrt, intellektuell abzustumpfen. Ich war der Ansicht, dass er als Arzt nicht für die Jagd geschaffen wäre – doch weit gefehlt!
Heute verließ er unsere Bleibe für etwa eine Stunde und kehrte mit zwei Tauben zurück, die er gefangen hatte. Nachdem er sie gerupft und ausgenommen hatte, wobei ihm eine alte Bierdose gute Dienste leistete, grillte ich die Tauben über einem offenen Feuer. Das Holz dafür fand ich unweit der Brücke, die das Dach über unseren Köpfen bildet.
Die Flasche Wein haben wir gemeinsam ausgetrunken, und nun, da die Nacht kalt zu werden verspricht, werde ich ein paar Zeitungen stehlen, damit wir uns in unseren Kartons wenigstens ein bisschen zudecken können.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen |Inventarnummer: 17006

Vom Löschen des Brandes

Ich weiß nicht, ob mein Entschluss, der Freiwilligen Feuerwehr meines Heimatortes beizutreten, der Einsamkeit geschuldet war, unter welcher ich zu dieser Zeit sehr gelitten habe. Ich hatte damals nicht viele Freunde, also im Alter von siebzehn Jahren, und was Mädchen anlangte, herrschte ohnehin stets Ebbe bei mir. Ich vermute, dass dieser Umstand etwas mit der Tatsache zu tun hatte, dass meine Familie arm war, heute ist sie das übrigens immer noch, und ich der schlechteste Schüler meiner Klasse war.

Die anderen Jugendlichen in meinem Alter entstammten wenigstens einigermaßen wohlhabenden Familien, welche es sich leisten konnten, ihren Sprösslingen teure Nachhilfestunden zu finanzieren. So kam es, dass etliche meiner Schulkameraden deutlich bessere Noten auf Schularbeiten erhielten als ich, obwohl sie mir, was die Intelligenz betrifft, weit unterlegen waren, und das sind sie immer noch.
Sie verspotteten mich, weil ich keine teure Kleidung tragen konnte, und die Mädchen lachten mich aus, weil ich oft gezwungen war, das selbe Paar Socken, leicht erkennbar an den farbigen Ringen auf weißem Untergrund, zwei Tage lang zu tragen, wenn die billige Waschmaschine meiner Mutter wieder einmal den Geist aufgegeben hatte. Ein Mädchen jedoch war anders, sie hat mich nicht verspottet, sondern sogar ihr Pausenbrot mit mir geteilt, wenn ich wieder einmal nur einen Apfel von zuhause mitbekommen hatte, welcher mit schwarzen Punkten übersät war. Christina, so hieß das Mädchen, besuchte meine Klasse allerdings bloß zwei Jahre, dann nahm ihr Vater eine Stelle in der Stadt an und sie verließ den Ort.

Ich war sehr einsam und wusste nicht, was ich dagegen machen sollte. Meine Eltern konnten mir nicht helfen, sie waren zu sehr damit beschäftigt, sich selbst und mir mit ihren kärglichen Löhnen, die sie durch eine Vielzahl an Überstunden aufzufetten versuchten, eine einigermaßen menschenwürdige Existenz zu ermöglichen.
Eines Tages, am Rande eines Dorffestes, nahm mich mein Onkel, der von meiner schlimmen Lage wusste, zur Seite und stellte mich dem Hauptmann der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr vor. Dieser war mir auf Anhieb sympathisch, und so fiel es mir leicht, der Feuerwehr beizutreten, zumal sich keiner meiner Mitschüler dort engagierte.
Die jüngeren Mitglieder befanden sich in meinem Alter und hatten den selben sozialen Hintergrund wie ich. Sie hatten die Hauptschule abgeschlossen und standen in der Ausbildung zu verschiedenen Berufen. Niemals jedoch kam es vor, dass meine gymnasiale Ausbildung, in welcher ich zu dieser Zeit stand, ein Thema geworden wäre, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Es war einfach eine von allen akzeptierte Tatsache, dass ich das Gymnasium besuchte.

Die Ausbildung zum Feuerwehrmann machte mir von Anfang an großen Spaß. Ich traf mich auch privat mit meinen Kameraden, und bald verbesserten sich auch meine schulischen Leistungen. Ich weiß es nicht gesichert, aber ich vermute, dass mir die Kameradschaft bei der Feuerwehr und die Freundschaft zu einigen Gleichaltrigen dort den Halt gegeben haben, der nötig war, um ein gewisses Maß an Selbstvertrauen zu erlangen. Meine Eltern stellten erfreut fest, dass ich nicht mehr mürrisch war und mich auch nicht mehr zurückzog, auch meine nunmehr erbrachten Leistungen in der Schule fanden lobende Erwähnungen.

Gleich der erste Einsatz, an welchem ich beteiligt sein durfte, führte mir vor Augen, was Feuer anzurichten in der Lage ist. Es handelte sich um einen Brand im Schweinestall des größten Bauern im Ort. Als wir an den Ort des Geschehens kamen, roch es stark nach verbranntem Fleisch. Der Stall brannte lichterloh, meterhohe Flammen schlugen züngelnd aus dem Dachstuhl, und im Stall hörten wir die noch lebenden Schweine schreien. Sie waren in einem von heißer Luft und beißendem Rauch erfüllten Raum eingeschlossen und ahnten wohl, was ihnen bevorstand. Wie gesagt, sie schrien. Es waren panische Schreie der Todesangst, die mich tief rührten. Wir brachen das Tor des Stalls auf und gaben unser Bestes. Von insgesamt zweihundertdreizehn Schweinen konnten wir immerhin einhundertdrei vor dem Tod in den Flammen bewahren.
Nach diesem Einsatz war ich mir sicher, dass es meine Berufung ist, Feuerwehrmann zu sein. Der Großbauer spendierte uns drei Tage später ein opulentes Mittagsmahl auf seinem Hof, und der Hauptmann lobte uns für unsere Tapferkeit und außerdem dafür, dass wir alles, was wir in oftmaligen Übungen trainiert hatten, in diesem Ernstfall lehrbuchmäßig umgesetzt hatten.

Das Schreien der Schweine ließ mich wochenlang nicht los. Jede Nacht hörte ich die Schreie, und einmal träumte ich sogar davon, eines dieser Schweine zu sein, eingeschlossen und den Tod vor Augen. Ich beschrieb dieses Erlebnis in einer Schularbeit und erhielt zum ersten Mal die Bestnote im Unterrichtsfach Deutsch.
Die Polizei untersuchte den Stall des Großbauern, es hätte schließlich auch Brandstiftung vorliegen können. Doch die Ursache des Brandes war ein Schaden an einem Kabel, das die Fütterungsanlage mit Strom versorgt hatte.

Ich legte meine Matura ab, dies sogar mit gutem Erfolg. Niemand in meiner Klasse wusste von meinen Aktivitäten bei der Feuerwehr, denn ich hatte dieses Thema stets geheimgehalten.
In dem kleinen Ort passierte nicht allzu viel, was das Eingreifen von Feuerwehrmännern erfordert hätte. Einmal rief eine uns allen bekannte alte Frau an und erläuterte uns mit tränenerstickter Stimme, dass sich ihre geliebte Katze vor dem allwöchentlichen Bad auf einen hohen Baum geflüchtet hätte und von uns gerettet werden müsste. Die schelmische Frage, die ein Kamerad daraufhin in die Runde warf, nämlich ob diese Rettung auch vermittels einer Schrotflinte vollzogen werden könnte, rief allgemeines Gelächter hervor, doch verzichteten wir darauf, die Katze abzuschießen. Stattdessen fuhren wir zum Haus der alten Frau und ich barg das arme Tier, auf dass es nicht des Erlebnisses des wöchentlichen Bades verlustig gehen sollte.

Eines Abends, ich war gerade dabei einzuschlafen, ertönte die Sirene auf dem Haus des örtlichen Notars, was für meine Kameraden und mich das Signal war, so schnell wie möglich zum Rüsthaus zu kommen. Ich dachte erst an eine nächtliche Übung, doch bald erfuhren wir, dass im Gymnasium des Ortes ein Brand ausgebrochen war. Wir fuhren mit eingeschaltetem Blaulicht und Martinshorn vor die Schule und verschafften uns Zutritt. Der Brandherd befand sich im Biologiesaal und hatte bereits auf das dem Saal angeschlossene Kabinett übergegriffen, was eine besonders gefährliche Situation darstellte, denn dort lagerten unter anderem in Alkohol eingelegte Präparate, wie Schlangen, Fische und verschiedene Arten von Lurchen.

Ich wurde aufgefordert, voranzugehen, denn als Abgänger dieses Gymnasiums kannte ich mich dort am besten aus. Ich brach die Tür des Kabinetts auf und musste unwillkürlich lachen. Die Bälge, also die ausgestopften Vögel, standen in Flammen. Ein Gänsegeier mit ausgebreiteten Schwingen brannte hell, ein Uhu hatte diesen Prozess bereits hinter sich, er war verkohlt und schwarz. Dieser Uhu war der Grund, warum ich lachen musste. So müsste wohl ein Uhu nach einem Waldbrand aussehen, dachte ich und lachte, während ich den Schlauch auf die Vögel richtete und sie löschte.
Wenige Wochen nach diesem Einsatz stellte sich heraus, dass einer der Biologielehrer des Gymnasiums den Brand gelegt hatte, denn er war mit den Arbeitsbedingungen in der Schule unzufrieden gewesen.

Ich nahm eine Stelle in der Tischlerei an, da ich schlicht keine Lust auf ein Studium an der Universität hatte. Ich tat mir bei der Arbeit leicht, denn ich bin handwerklich begabt, doch hatte ich von Beginn an Probleme mit meinem Arbeitgeber. Er triezte mich und ließ mich bei jeder Gelegenheit wissen, dass ich für das Tischlerhandwerk ungeeignet wäre, denn schließlich hätte ich maturiert, anstatt den mühevollen Weg durch etliche Lehrjahre zu gehen.
Es begab sich, dass ein Feuer in der Tischlerei ausbrach. Pflichtschuldig half ich, den Brand zu löschen, doch mein Arbeitgeber, anstatt mir zu danken, wie er es bei meinen Kameraden gemacht hatte, machte mir Vorwürfe. Ich wäre schuld, meinte er aufgebracht, dass ein großer Teil seines Betriebes abgebrannt sei, denn ich, der dort arbeitete, hätte verhindern müssen, notfalls unter Einsatz meines Lebens, dass auch nur ein Quadratzentimeter mehr als nötig abbrennen konnte.

Da reichte es mir endgültig. Noch in meinem Schutzanzug kündigte ich. Dem Hauptmann sagte ich, dass ich die Woche darauf nicht zur Verfügung stehen könnte, denn ich müsste mir eine neue Arbeitsstelle suchen.
Der Zufall wollte es, dass just in dieser Woche die Tischlerei vollständig ausbrannte. Mein Mitleid mit dem Besitzer hielt sich in Grenzen. Ich schrieb ihm einen Brief, in welchem ich ihn bat, mir doch einen schönen Tisch aus Raucheiche anzufertigen. Er beantwortete diesen Brief jedoch nicht mit Worten. Stattdessen sandte er mir einen Umschlag, in welchem sich bloß ein Blatt Papier befand, das eine zur Faust geballte Hand erkennen ließ, deren Mittelfinger ausgestreckt dargestellt war.

Ich meldete mich arbeitslos, was mir natürlich weniger Geld einbrachte als die Arbeit in der Tischlerei, doch so hatte ich es nicht mit einem bösartigen Chef zu tun. Da ich nunmehr über viel Zeit verfügte, hatte ich die Möglichkeit, mich voll und ganz meiner Bestimmung als Feuerwehrmann zu widmen. Ich bildete den Nachwuchs aus, welcher sich aus drei jungen Männern und auch zwei Mädchen aus dem Ort rekrutierte. Ich brachte ihnen die Tricks und Kniffe bei, die bei der Brandbekämpfung von Vorteil sind. In den Nächten ging ich oft durch den Ort, immer auf der Suche nach etwaigen Stellen, an welchen ein Brand ausbrechen könnte.
Entdeckte ich solche Stellen, informierte ich die Besitzer des Hauses oder Stalls über die mögliche Gefahrenquelle auf ihrem Grund und Boden. Doch erwiesen sich diese keineswegs als dankbar für meine Mühe. Sie reagierten enerviert, einige wiesen mich sogar schroff ab.

Doch ich sollte Recht behalten. An sämtlichen dieser Stellen brachen Brände aus, mal kleine, mal große. Für den Nachwuchs meiner Freiwilligen Feuerwehr waren dies natürlich willkommene Anlässe, sein Können unter Beweis zu stellen. Die Jungen agierten in der Tat professionell, alles, was ich ihnen beigebracht hatte, setzten sie in hoher Perfektion um. Sie gewannen sogar den Nachwuchswettbewerb der Freiwilligen Feuerwehren des Bezirks Graz-Umgebung.

Der am öftesten ausgezeichnete Kaninchenzüchter des Ortes hatte meine Warnungen stets ignoriert. Gut und gerne dreißigmal hatte ich ihn auf die Gefahr eines Stallbrandes aufmerksam gemacht, doch er schlug jede einzelne dieser Warnungen in den Wind und droht mir sogar mit einer Anzeige, sollte ich es nicht unterlassen, ihm weiterhin, wie er sich ausdrückte, auf die Nerven zu gehen.
Kurze Zeit nach seiner Drohung mich anzuzeigen stand sein Kaninchenstall tatsächlich in Flammen. Wie durch ein Wunder kam kein einziges Tier zu Schaden, denn die Türe des Stalls war unversehrt geblieben. Die Kaninchen hatten so die Möglichkeit gehabt, die Türe mit ihren Körpern zu öffnen, also sie aufzudrücken, und in das dem Stall angeschlossene Freigehege zu gelangen, wohin weder Feuer noch Rauch dringen konnten.

Eine Untersuchung der Brandruine ergab, dass die Türe nicht hätte offenstehen dürfen, denn das Schloss war so beschaffen, dass es stets einschnappte, darüber hinaus hatte die Türe einen mechanischen Schließmechanismus, der vermittels zweier Arme aus Metall, in welchen sich gespannte Federn befanden, garantierte, dass die Türe zufiel, wurde sie nicht arretiert. Und doch hatten es die Kaninchen fertiggebracht, die Türe zu öffnen.
Der Züchter war erfreut, dass seinen Tieren nichts geschehen war, und bedachte die Feuerwehr mit einer großzügigen Spende.
Mit einem Teil dieser Summe richteten wir ein internes Fest im Rüsthaus aus. Einer unserer jungen Feuerwehrmänner, der aufgeweckteste von allen, nahm mich zur Seite und drückte mir, schelmisch und wissend grinsend, ein verkohltes Sturmfeuerzeug amerikanischer Provenienz in die Hand, in welches meine Initialen eingraviert sind.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: Perfidee |Inventarnummer: 17005

Der Rehbock

Martin Möstl war schon oft gefragt worden, ob er nach dem Mittagessen einen Spaziergang machen wollte. Stets hatte er abgelehnt, denn die Menschen, die ihn begleitet hätten, waren ihm als denkbar schlechte Gesellschafter vorgekommen.

Eines Tages, es war ein regnerischer Nachmittag, ging Martin doch spazieren. Das schlechte Wetter ließ ihn hoffen, dass er auf dem weitläufigen Areal alleine sein würde. So war es dann auch, er war alleine, wenigstens sah er keine Menschen.
Er verließ Pavillon 10, seine Unterkunft, und schlenderte den Waldweg entlang. Bald kam er auf eine freie Fläche, die von hohem Gras bewachsen und von einigen Apfelbäumen bestanden war. Martin kämpfte sich durch die vom Regen nassen Halme und verfluchte sich dafür, dass er eine kurze Hose angezogen hatte, denn so machten seine Beine die Bekanntschaft mit Brennnesseln, die auf der Wiese zahlreich wuchsen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend änderte er die Richtung und hielt sich nicht mehr bergan, sondern stapfte nach links. Er hörte Rascheln im Gras und stand wenige Sekunden später einem Rehbock gegenüber.
Martin Möstl war nicht überrascht; er wusste, dass es auf der Baumgartner Höhe Wildtiere gab. Wenige Tage zuvor hatte er einen Dachs neben seinem Pavillon gesehen.
Er blickte dem Rehbock in die Augen, und nachdem er gerade nichts Besseres zu tun hatte, setzte er sich vor ihm ins Gras und genoss den Anblick des schönen und offensichtlich an Menschen gewöhnten Tieres.

Der Rehbock erwiderte Martins Blick, und so kam es, dass der Patient, der Rehe bis zu diesem Tag lediglich kulinarisch wahrgenommen hatte, mit ihm zu sprechen begann.
„Du hast es gut, Rehbock“, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme, um das Tier nicht zu erschrecken. „Ich bin hier eingesperrt, und du bist frei.“ Martin dachte ein paar Sekunden lang nach. „Das war Unsinn, entschuldige bitte. Du bist natürlich ebenfalls eingesperrt, denn du hast keine Möglichkeit, dieses Areal zu verlassen.“

Der Bock blickte ihn an, schüttelte sich und fuhr dann fort, ihm zuzuhören.
„Solltest du ausbrechen, würdest du wohl von einem Auto überfahren werden. Auch ich wäre wohl in Gefahr, sollte ich von hier abhauen. Nicht nur, dass mich die Polizei einfangen und in die Psychiatrie zurückbringen würde. Die Freiheit würde mir augenblicklich wahrscheinlich gar nicht guttun.“

Das Tier, so kam es Martin vor, hörte ihm gerne zu.
„Seit vier Wochen bin ich nun hier, auf der Baumgartner Höhe, weil ich unter Schlafstörungen leide und angeblich depressiv bin. Weißt du, Rehbock, vierunddreißig Jahre habe ich, oft mehr schlecht als recht, vor mich hin gelebt, und plötzlich bildet sich meine Mutter ein, dass ich verrückt bin. Zugegeben, es war nicht besonders klug von mir, ihr einen Abschiedsbrief mit der Post zu schicken, aber das war bloß meiner Schlaflosigkeit geschuldet. Wenn du kaum schlafen könntest, würdest du dir doch auch wünschen, auf einem Teller zu landen, oder?“

Der Rehbock reagierte nicht.
„Nein, das würdest du nicht“„, seufzte Martin. „Du erfreust dich deines Lebens hier im Park, wo es keine Jäger und andere Fressfeinde gibt. Ich frage mich, ob ich dich berühren darf.“
Er streckte seinen Arm aus, doch er reichte nicht bis zum Rehbock.
„Nein, das ist keine gute Idee.“ Martin zog den Arm wieder zurück. „Es genügt, wenn du mir zuhörst. Wenn du berührt oder gar gestreichelt werden möchtest, kannst du ja näherkommen. Es würde mich freuen. Jedenfalls, es ist sehr angenehm, zu dir zu sprechen. Du stellst keine dummen Fragen wie Frau Dr. Malic, meine behandelnde Ärztin. Ständig will sie von mir wissen, warum ich nicht umziehe, wenn ich in meiner Wohnung nicht schlafen kann. Ich meine, Straßen gibt es in Wien doch überall. Was soll es also bringen, meine Wohnung aufzugeben?“

Der Rehbock starrte ihn an.
„Du bist ein ziemlich attraktiver Bock. Ich kann mir gut vorstellen, dass alle Geißen hier glücklich sind, dass du ihnen Gesellschaft leistest. Na ja, auch wenn du hässlich wärst, hättest du vermutlich Erfolg beim weiblichen Geschlecht. Wie auch nicht? Der Park ist schließlich eingezäunt. Ich hingegen muss damit leben, dass es keine Mauer um den Bezirk gibt, in dem ich wohne. Mir laufen alle Frauen weg. Meine Psychiaterin hier meint, dass meine Schlaflosigkeit daran schuld ist.“

Das Tier neigte den Kopf zur Seite.
„Du fragst dich sicherlich, was es ist, das mich nicht oder nur schlecht schlafen lässt. Nun, ich weiß, dass es am Verkehr liegt. Meine Wohnung liegt nämlich an einer stark befahrenen Straße. Klar, ich könnte mein Bett in das hofseitig gelegene Zimmer schaffen und meiner Arbeit als Schriftsteller im jetzigen Schlafzimmer nachgehen. Daran habe ich sogar schon gedacht, denn im ruhigen Raum zu schreiben ist ohnehin nicht meine Sache. Es ist nunmal so, dass ich ein viel zu glücklicher Mensch wäre, wenn alles in Ordnung ist. Ich brauche die Unzufriedenheit einfach für meine Arbeit. Der Straßenlärm passt schon, denn er raubt mir den Schlaf und macht mich unglücklich, und wahrscheinlich auch depressiv.“

Der Rehbock wandte sich um, und Martin war nicht eben erfreut, die Kehrseite des Tieres betrachten zu müssen.
„Willst du mir etwas Bestimmtes mitteilen, indem du mir deinen Hintern zeigst?“
Der Bock begann als Antwort Losung abzusetzen. Dann drehte er sie wieder um und sah Martin in die Augen.
„Gut, ich habe verstanden. Du sagst mir dasselbe wie die Ärztin. Vielleicht sollte ich tatsächlich meine Wohnsituation ändern.“ Ein ärgerlicher Ton lag in seiner Stimme. „Erst sagt mir das die Psychotante, und jetzt der Hornträger.“

Martin dachte zwei Minuten lang nach, dann trat ein sanfter Ausdruck auf sein Antlitz und er sagte mit einer Stimme, in der milde Resignation lag: „Ach, ich gebe mich geschlagen.“
Der Rehbock schüttelte sich, dann trottete er mit langsamen Schritten davon.
„Danke, Rehbock!“, rief Martin ihm nach und ging, nachdem das Tier aus seinem Blickfeld verschwunden war, zurück zu Pavillon 10.

Dr. Malic erwartete ihn in seinem Zimmer. Sie bedachte ihn mit strengen Blicken, und ein Blick auf seine Armbanduhr offenbarte ihm den Grund dafür.
„Frau Doktor, es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Es wird Sie aber sicherlich freuen, dass ich beschlossen habe, meine Situation zu ändern und an mir zu arbeiten.“
„Was hat Sie denn zu diesem Meinungsumschwung bewogen, Herr Möstl?“, fragte sie. In ihren Augen lag der Ausdruck der erstaunten Freude.
„Ein Gespräch mit einem Freund, der mich so angenommen hat, wie ich bin.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17004

Ganz nett

1

Im Sommer des Jahres 2012 besuchte Peter Koller den Gemeindeball des kleinen Dorfes Gratwein in der Steiermark, wo er Maria Schuster über den Weg lief.
Er fühlte, wie ihm immer heißer wurde, und wusste, dass diese Wallungen der Liebe geschuldet waren, die er für Maria empfand.
Sie hatten einander im Jahre 1983 kennengelernt, und zwar in der Volksschule. Vier Jahre lang waren sie dort nebeneinander gesessen, dann hatte Maria ein Gymnasium in Graz besucht und Peter die Gratweiner Hauptschule. Er hatte in der Folge eine Lehre zum Tischler abgeschlossen, sie ein Medizinstudium. Sie hatten sich an den Wochenenden oft gesehen, in einem kleinen Lokal im Nachbarort, wo sich die jungen Leute trafen, um zu trinken und sich zu unterhalten.

Peter und Maria hatten im Jahr 2008 eine Nacht miteinander verbracht. Es war Vollmond, und die ganz besondere Stimmung einer unterschwelligen Erotik hatte in der Luft gelegen. Beide hatten sie getrunken, und schließlich hatte sie eingewilligt, bei ihm zu übernachten.
Am Morgen des nächsten Tages war er sich sicher, dass er sie liebte. Er erzählte ihr davon, doch anstatt ihn zu erhören, lachte sie bloß und eröffnete ihm, dass er lediglich eine Verlegenheitslösung gewesen war, denn sie hätte am Vorabend die Lust auf ein unverbindliches Abenteuer verspürt.

Peter war tief getroffen, doch ließ er sich das nicht anmerken. Er liebte Maria, sagte jedoch niemandem, dass es so war. Wenn sie sich an den Wochenenden über den Weg liefen, tat sie so, als wäre zwischen ihnen niemals etwas passiert, und ließ seine Annäherungsversuche ins Leere laufen.
Er hatte keine feste Freundin, bloß kurzlebige Beziehungen, die kaum eine Woche Bestand hatten. Maria hatte zwar einen Freund gehabt, doch war diese Verbindung nach zwei Jahren, im Sommer 2011, in die Brüche gegangen.

Als er Maria auf dem Ball begegnete, beschloss er, ein klärendes Gespräch mit ihr zu führen.
„Maria“, sagte er, „darf ich dich auf ein Glas Sekt einladen?“
Sie blickte ihn erstaunt an, dann lachte sie.
„Du versuchst es also immer noch bei mir, Peter“, stellte sie fest. „Na gut, ein Glas Sekt kann nicht schaden.“
Sie gingen zur Bar, und Peter bestellte.
Nachdem sie angestoßen und einen Schluck getrunken hatten, nahm er seinen ganzen Mut zusammen.
„Maria, ich liebe dich. Seit unserer gemeinsamen Nacht habe ich keine Augen für andere Frauen.“
Sie stöhnte und sah verlegen auf ihre goldene Armbanduhr.
„Peter“, begann sie und zögerte dann doch weiterzusprechen.
„Ja?“
Er wollte sie zum Weitersprechen bringen und fühlte, wie ihm die Angst die Kehle zuschnürte.
Es war das sichere Wissen um eine abweisende Antwort Marias, das diese Angst in ihm auslöste. Sie zögerte ihre Antwort hinaus, doch Peter wusste ohnehin, was sie zu sagen im Begriff war.

„Es würde mit uns nicht funktionieren“, sagte sie. „Du bist mir einfach zu minder.“
„Wie bitte? Was hast du gerade gesagt?“, fragte er ungläubig.
„Ich bin Ärztin, und du bist nur ein Tischler.“
Peter Kollers Miene verfiel.
„Du könntest mir nie das bieten, was ich nun einmal benötige, um ein standesgemäßes Leben zu führen“, fuhr sie fort. „Du magst ja ein ganz netter Mann sein, doch gesellschaftlich und wirtschaftlich bist du ein Niemand.“
Er schwieg. Die Tränen, die er in sich hochsteigen fühlte, hielt er zurück.
Maria Schuster trank ihr Glas aus und sagte: „Danke für den Sekt, Peter. Und nimm es nicht so schwer. Du wirst eine andere Frau kennenlernen und mit ihr glücklich werden. Eben eine, die deine Kragenweite hat.“

Dann wandte sie sich um und ließ ihn an der Bar stehen. Peter blieb nichts anderes übrig, als ihr nachzuschauen. Er betrachtete ihre sich entfernende Silhouette, und als er ihr blondes Haar unter den zahlreichen Ballgästen nicht mehr ausmachen konnte, verließ er den Saal.
Er fuhr nach Hause, wo er sich an den Küchentisch setzte und an seine ihm eben attestierte Minderwertigkeit dachte, wobei er weinte.

 

2

Zwei Monate nach diesem Abend lernte Peter Koller eine Frau kennen, die seine Kragenweite hatte. Ihr Name war Claudia Salzer, sie war gleich alt wie er und von Beruf Schneiderin.
Sie war aus Gratkorn, einem Nachbarort, nach Gratwein gezogen und hatte eine Änderungsschneiderei eröffnet, die neben der Tischlerei lag, in der Peter arbeitete.
Da ihm das Rauchen in der Firma wegen Brandgefahr verboten war, stand er oft vor der Halle und somit neben Claudias Laden. Nachdem auch sie vor die Türe ging um zu rauchen, kamen sie ins Gespräch und vereinbarten Zeiten für das Rauchen ihrer Zigaretten.
Sie waren einander auf Anhieb sympathisch und bald ein Paar. Claudia zog bei Peter ein, und nach einem halben Jahr heirateten sie auf dem Gratweiner Standesamt.

Peter Koller hatte sein Glück gefunden. Er besuchte die Gasthäuser in Gratwein und den umliegenden Dörfern seltener als zuvor, und wenn, dann stets in Begleitung seiner Ehefrau. In der Tischlerei stieg er zum Vorarbeiter auf, und Claudias Schneiderei florierte. Die Abende verbrachte das Paar für gewöhnlich zu Hause.
Peter las gerne, und Claudia liebte es, wenn ihr vorgelesen wurde. Sie besprachen jede Erzählung, und allmählich wuchsen ihre Kenntnisse über Literatur ebenso wie ihre Ansprüche an sie. Hatten sie anfangs die Werke Hemingways gelesen beziehungsweise gehört, so waren sie bald auf der Suche nach einem Autor, dessen Werke weniger rustikal und von Machismo durchtränkt waren. Einen solchen fanden sie in Fitzgerald, dessen Bücher sie liebten.
Maria Schuster war kein Thema mehr für Peter Koller. Er hatte seiner Frau von ihr erzählt, und diese hatte ihm geholfen, über Maria und die Demütigung, die er durch sie erfahren hatte, hinwegzukommen.

 

3

Ende Juli 2014 fand der Ball der Freiwilligen Feuerwehr in der Gratweiner Mehrzweckhalle statt, und Peter Koller besuchte diesen. Seine Frau Claudia begleitete ihn nicht, denn sie traf sich an diesem Abend mit ihren Schwestern.
Die Veranstaltung war gut besucht, und auch Maria befand sich unter den Gästen.
Peter, der ihre harten Worte keineswegs vergessen hatte, ging nicht auf sie zu. Er beließ es bei einer flüchtigen Geste, indem er ihr zunickte und sich gleich darauf umwandte.
Wenig später stand er an der Bar und trank ein Glas Bier, als er Marias Stimme hinter sich vernahm.
„Guten Abend, Peter“, sagte sie. „Wie geht es dir?“
„Gut, Maria“, gab er zurück und drehte sich um. „Ich habe letztlich doch eine Frau kennengelernt, die meine Kragenweite hat.“
Diesen Satz sagte er, um ihr ihre Worte von vor zwei Jahren vorzuhalten und auch heimzuzahlen.
Er sah sie an und erkannte, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, ihre Wangen waren eingefallen und ihr Haar war schlecht gekämmt.
„Das freut mich“, sagte sie und seufzte.

Da taten ihm seine Worte plötzlich leid, doch waren sie bereits ausgesprochen. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte er sie ungesagt machen, doch der Gedanke an Claudia, die ihm plötzlich in den Sinn gekommen war, ließ ihn fühlen, dass in seinem Herzen kein Platz mehr für Maria war und auch nie wieder sein würde.
Um der Höflichkeit Genüge zu tun fragte er: „Und wie geht es dir, Maria?“
„Schlecht geht es mir, Peter“, sagte sie.
Er schwieg.
„Ich arbeite nicht mehr im Krankenhaus“, fuhr sie fort. „Ich bin jetzt Ärztin in der Privatklinik meines Mannes.“
„Warum geht es dir dann schlecht?“
„Ich fürchte, ich habe mir den falschen Beruf ausgesucht. Und den falschen Man auch.“
„Das tut mir sehr leid für dich“, sagte er, doch es lag keine Emotion in seiner Stimme.
„Weißt du, Peter, ich habe erkannt, dass Geld nicht alles ist. Wenn man ständig von kranken Menschen umgeben ist und am Abend einen Tyrannen zu Hause ertragen muss, ändert sich die Sichtweise.“
„Dann such dir einen anderen Mann“, sagte Peter achselzuckend.
„Daran habe ich durchaus schon gedacht.“ Sie lächelte ihn an. „Einen Tischler vielleicht.“
Peter Koller lächelte ebenfalls. Es war das Lächeln, mit dem man einer bemitleidenswerten Person zu verstehen gibt, dass sie gerade an etwas ganz und gar Unmögliches denkt.
Sie schwieg. Die Tränen, die in ihr hochstiegen, unterdrückte sie, das erkannte er.
„Ich wünsche dir ein schönes Leben, Maria“, sagte er und ließ sie an der Bar stehen.

Peter verließ den Ball und setzte sich zu Hause an den Küchentisch, wie er es zwei Jahre zuvor auch gemacht hatte. Allerdings weinte er nicht. Beim Anblick des Kuchens, den seine Frau Claudia am Nachmittag gebacken hatte, lächelte er.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten |Inventarnummer: 17015

Die Taube

Im Dezember des Jahres 2013 stand ich am Rande des Teiches meiner Familie und blickte ins Wasser. Es war ein warmer Tag, was für diese Jahreszeit ungewöhnlich ist, also war die Wasseroberfläche nicht von Eis bedeckt, und ich konnte bis auf den mit Folie ausgelegten Grund des Schwimmteiches sehen.
Die Teichfrösche, die sich in den warmen Monaten durch unablässiges nächtliches Quaken bemerkbar machen, hatten sich bereits in die Winterruhe begeben, und auch die Molche zeigten sich nicht. Die Algen, die sich auf dem Boden abgelagert hatten, erweckten den Eindruck von dunklen Wolken, die das Grün der Folie teilweise verdeckten und ein wenig einladendes Bild boten.

Meine Familie befand sich im Haus, aus welchem ich gegangen war, um unter freiem Himmel zu rauchen und meinen Gedanken nachzuhängen. Ich dachte an Martina.
Sieben Jahre waren wir ein Paar gewesen, und im Dezember des Vorjahres war sie gegangen.

Wir hatten uns auf der Universität erst kennen, dann schätzen und schließlich lieben gelernt. Beide haben wir die Klasse für Gegenständliche Malerei besucht, und unsere Atelierplätze lagen nebeneinander. Bald wurde aus dieser Nähe im Atelier eine große persönliche Nähe. Unsere Beziehung war von Zuneigung und Verständnis für den anderen Menschen geprägt, wie auch von großer Toleranz gegenüber der jeweiligen künstlerischen Herangehensweise, welche grundverschieden war. Martina malte bevorzugt idyllische Bilder in Öl, während ich mich in meinen Werken der Kritik an der Gesellschaft widme, oft in Form drastischer Motive, wie Darstellungen von Gewalt und Krieg in Acrylfarbe.

Sie war eine schöne Frau, groß und blond, mit strahlend grünen Augen, die sowohl Güte als auch Klugheit zum Ausdruck brachten, jedoch auch etwas, das in ihr schlummerte, wenn schon nicht erkennen, so doch erahnen ließen. Dieses Etwas war der Grund, wie ich heute weiß, aus welchem sie schöne Motive in ihrer Kunst darstellte. Sie hatte sich nach nichts mehr gesehnt als nach Ruhe, Schönheit und Freiheit.

Wir lebten in einer hübschen Wohnung, die so groß war, dass wir zwei Zimmer als Ateliers nutzen konnten. Das Geld für die Miete und unser Leben brachte ich nach Hause. Nachdem ich bereits als Student in einer bekannten Galerie ausstellen durfte und meine Bilder schon damals zu hohen Preisen gehandelt wurden, fiel es mir leicht, für uns beide aufzukommen.
Wir waren ein junges Künstlerpaar, hübsch anzusehen, künstlerisch ambitioniert, einigermaßen gut situiert und unzufrieden. Dieser Unzufriedenheit machten wir in unseren Werken Luft, jedoch ohne darüber miteinander zu sprechen. Während ich meinem Ärger über die Zustände auf der Welt in meinen Bildern Ausdruck verlieh, malte Martina die Idyllen, die sie in sich selbst nicht finden konnte, wie ich heute weiß.

Ich hätte mit ihr sprechen sollen, sie fragen, wo sie der Schuh drückte, doch nahm ich sie so an, wie ich sie eben sah: als eine hochbegabte und sehr liebenswerte Künstlerin, die ihre inneren Nöte und Probleme brauchte, um die Kunst, die sie machte, überhaupt auf die Leinwand bringen zu können.
Im letzten Jahr unserer Beziehung dachte ich einige Male daran, mit ihr zu sprechen, doch jedes Mal, wenn ich innerlich dazu bereit war, fand der phlegmatische Teil meiner Persönlichkeit eine Ausrede, um das Gespräch nicht führen zu müssen.

Am sechzehnten Dezember 2012 kam ich von der Eröffnung einer Ausstellung meiner Werke nach Hause und fand Martina auf dem Sofa im Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch lag ein an mich adressierter Brief, in welchem sie sich für ihre Tat entschuldigte. Mir wurde abwechselnd heiß und kalt und schließlich fiel ich in Ohnmacht.
Im Krankenhaus wurde mir mitgeteilt, dass eine eindeutige Todesursache nicht festgestellt werden konnte, doch das war mir ohnehin bewusst. Sie hätte sich niemals aktiv etwas angetan, dazu war sie ein viel zu sanfter Mensch gewesen.
Sie hatte einfach aufgehört zu leben. Hatte ihr letztes Bild so an den Couchtisch gelehnt, dass sie es in ihren letzten Sekunden sehen konnte, sich auf das Sofa gelegt und, wie ich vermute, ein letztes Mal tief ausgeatmet.

Ich wohne immer noch in dieser Wohnung. Martinas Bilder habe ich an die Wände gehängt. Ihr letztes Werk jedoch lehnte viele Monate vor Staub geschützt an der Wand ihres Ateliers, welches mir in der Zwischenzeit als Werkstätte dient. Ich versuche mich nämlich gelegentlich an Objekten aus Metall und Holz, allerdings mit bescheidenem Erfolg.
Es fiel mir zu keinem Zeitpunkt schwer, ihre Kunst zu betrachten. Der Umstand, dass sie nicht mehr am Leben war, war anfangs nur schwer zu ertragen, doch das Wissen, dass sie frei sein wollte, linderte den Schmerz. So hatte sie es in ihrem letzten Brief formuliert: ‘Frei wie ein Vogel’, steht da zu lesen, und passenderweise hatte sie auf ihrem letzten Bild einen Vogel dargestellt.

Als ich im Dezember des letzten Jahres am Schwimmteich stand und rauchte, erblickte ich eine Türkentaube. Sie saß auf der Kante der Dachrinne des Nachbarhauses, in welchem meine Großeltern wohnen. Dann flog sie einige Male knapp über der Wasseroberfläche über den Teich. Sie war offensichtlich noch nie an diesem Gewässer gewesen, denn erst nach dem vierten oder fünften Versuch fand sie eine passende Stelle, um sich niederzulassen und zu trinken. Sie trank vom kalten Wasser, dann blickte sie auf und sah mir direkt in die Augen.
Sicherlich hatte sie meine Anwesenheit schon vorher bemerkt, von ihrem Beobachtungsposten auf der Dachrinne aus, doch schien sie diese nicht zu stören. Im Gegenteil: Sie flog auf mich zu und landete auf dem Ast eines Apfelbaumes, etwa einen halben Meter von mir entfernt. Gurrend saß sie dort und machte keine Anstalten aufzufliegen, als ich mich ihr bis auf wenige Zentimeter näherte.

Ich sprach mit ruhiger Stimme mit dem Vogel und betrachtete ihn eingehend von allen Seiten. Er sah aus wie alle Türkentauben, nur war er, anders als seine Artgenossen, nicht scheu.
Ich betrachtete ihn weiter und erkannte, dass der dunkle Ring um seinen Hals unterbrochen war, und zwar an zwei Stellen auf der Vorderseite. Es waren keine großen Unterbrechungen, bloß zwei Millimeter waren sie breit und nur aus nächster Nähe zu erkennen.
Diese zwei Millimeter reichten jedoch aus, um mich erstarren zu lassen. Der Vogel auf Martinas letztem Gemälde ist ebenfalls eine Türkentaube, und auch ihr Band ist an zwei Stellen unterbrochen, und zwar an genau denselben wie das der lebendigen Taube vor mir es war.

Nach einigen Sekunden löste sich meine Starre, und ich sah dem Vogel in die Augen. “Martina?”, sagte ich leise und mit pochendem Herzen. Die Taube antwortete natürlich nicht mit Worten, doch sprang sie gurrend auf meine linke Schulter und schmiegte ihren Kopf an meinen Hals, und zwar an genau die Stelle, auf der Martina oft eingeschlafen war und ihr Kopf bis zum nächsten Morgen gelegen hatte.
Tränen liefen mir über das Gesicht, während ich den Vogel zärtlich streichelte. Die Türkentaube ließ mich gewähren, selbst als ich sie auf den Kopf küsste, was Martina geliebt hatte, hielt sie still. Ich sprach leise mit ihr, sagte ihr, was ich Martina noch hätte sagen wollen, und wohl auch sollen. Nach etwa fünfzehn Minuten flog die Taube wieder auf die Dachrinne meiner Großeltern, auf der sich in der Zwischenzeit eine zweite Türkentaube niedergelassen und uns beobachtet hatte. Es handelte sich offensichtlich um den Partner meiner Taube. Nachdem sie geschnäbelt hatten, flogen sie gemeinsam weg.

Ich war zwar noch irritiert von dem eben Erlebten, doch überwog die Freude, dass Martina offenbar ihr Glück gefunden hatte. Seit diesem Tag war ich oft im Haus meiner Familie zu Gast, doch habe ich diese bestimmte Taube nicht mehr gesehen. Das stimmt mich ein wenig traurig, doch habe ich auch Verständnis dafür. Ich bin schließlich ein Teil des früheren Lebens von Martina.
Die Taube auf ihrem letzten Werk sieht mir nun bei der Arbeit zu. Wenige Tage nach diesem Erlebnis kam ich wieder in meine Wohnung und habe das Bild ausgepackt und an die Wand meines Arbeitszimmers gehängt.
Auch wenn es mich heute noch schmerzt, dass Martina gegangen ist, so weiß ich doch, dass ihr Schritt der für sie richtige war, denn nun ist sie frei.

Michael Timoschek

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