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Die Insel Freedom

Das Schiff „Joy of Freedom“ mit etwas mehr als hundert Flüchtlingsfamilien an Bord brach nach Australien auf, erreichte aber nie seinen Bestimmungsort. Kein Bericht von einem Überlebenden oder einem zum Schiff gehörenden Gegenstand gelangte je in die Welt. Der Kapitän und der größte Teil der Mannschaft ertranken bei einem Unwetter, viele Frauen und Kinder starben an den Strapazen der ersten Woche auf hoher See, in kleinen Booten oder auf den Planken. Aber etwa hundert Menschen erreichten eine kleine Insel vor der Westküste Australiens. Diese Überlebenden siedelten sich auf der Insel an, die sie natürlich Freedom tauften. Das war auch das einzige gemeinsame Wort, denn die Kolonisten kamen aus den verschiedensten Ländern: Rohingya aus Myanmar, Minderheiten aus Thailand, den Philippinen, Indonesien und anderen asiatischen Gebieten wie etwa den noch immer namenlosen Inseln in der Molukken-Straße.

Zuerst bauten sie Hütten, dann eine Schule, eine Kirche, einen Tempel, ein Rathaus, sogar ein Theater, eine Bibliothek und auf der Erhebung des höchsten Hügels einen Leuchtturm.
Sie gaben ihren Gebäuden Namen aus ihren früheren Heimaten. So hieß zum Beispiel die Schule Rangun, die Kirche St. John, der Tempel Bali, das Rathaus Borneo, das Theater Goa, und den Leuchtturm nannten sie aus unerklärlichen Gründen Laputa, wahrscheinlich weil sich das Wort für alle gleich leicht aussprechen ließ. Später hieß die ganze Insel einfach nur noch Laputa.

Entgegen den Schrecken der Reise fanden sie auf der Insel günstige Bedingungen vor. Es herrschte ein gleichmäßig mildes Klima, es gab reichlich Wasser, keine wilden Tiere bedrohten sie, der reiche tropische Wald mit Früchten und Kleingetier konnte sie ernähren, und die Insel war umgeben von fischreichen Gewässern. So begannen sich die Kolonisten zu vermehren und eine laputanische Gemeinschaft zu bilden.

Doch dann erschütterte ein Ereignis die Insel. Sie verloren ihre besten vierzehn Männer, die sich mit einem roh gezimmerten Floß nach Osten aufmachten. Ob die letzten Erinnerungen an das ursprüngliche Ziel der „Joy of Freedom“ sie zu dem Wagnis verleitet hat, einen Ausbruchsversuch zu machen? Oder die Vision einer Küste, die manchmal bei Sonnenaufgang am Horizont vor Laputa auftauchte? Auf Laputisch nannten sie diesen Sehnsuchtsort Palmibarbi nach den heimischen Palmen, andere sagten lieber Luggnagg, nach dem besten Fisch in ihren Gewässern.

Niemand kann sagen, was mit den Auswanderern geschehen ist. Aber eines Tages wurden einige behauene, ausgebleichte und vom Wasser ausgehöhlte Palmenstämme am Strand angetrieben. Danach wagte lange niemand mehr, die Insel zu verlassen, und die Außenwelt geriet allmählich in Vergessenheit. Sogar den Leuchtturm ließen die Insulaner verfallen und fütterten das Feuer nicht mehr.

Am 30. Dezember des Jahres …..04 landete ein Schiffbrüchiger auf Laputa, ein finno-lettischer Seemann, der lange in einem offenen Boot getrieben war. Er war ungewöhnlich groß, hatte eine weiße Haut mit blauen Adern und bräunlichen Flecken, keine Haare auf dem Kopf, dafür aber einen mächtigen roten Bart.
Die Insulaner wunderten sich nicht sonderlich über sein Aussehen, hatten sie doch selbst einige Besonderheiten aufzuweisen. Sie waren nicht größer als fünfzehnjährige Pygmäen, ihre Köpfe waren alle entweder nach rechts oder nach links geneigt; eines ihrer Augen war nach innen und das andere senkrecht auf den Zenit gerichtet. Sie liefen immer nackt herum, sodass man sie nur an ihren körperlichen Unterschieden auseinanderhalten hätte können. Die lange Isolation und die Inzucht hatten sie aber so abgeschliffen, dass sie einander glichen wie eine Kokosnuss der anderen. Zusätzlich erschwerend war es, dass sie offenbar keinen König oder Königin hatten, keinen Führer oder Führerin, keinen Häuptling oder eine Zauberin, also nichts an sich hatten, an dem man eine Rangordnung ablesen hätte können.

Es brauchte viele Jahre, bis der Fremde ihre laputische Sprache halbwegs erlernte und den Freedomianern etwas von seiner „Welt da draußen“ erzählen konnte: verschwommene Berichte von Ländern am Rande eines Ostsee genannten Meeres, wo es acht Monate Winter mit Eis und Finsternis gab und das Meer zufror, wovon sie aber keine Vorstellung entwickeln konnten. Dabei waren sie neugierig und offensichtlich gelehrig.

In den Gegenden, von denen der Fremde zu ihnen sprach, wurde einem gewissen Obamaputintrump geopfert, offenbar einem dreiköpfigen Häuptling. Von einer EU und einem IS erzählte er, einer UNO und Opec, einer EFTA, WHO, WLO, NASA und VRChina. Er verwirrte die Insulaner sehr mit all diesen Grexit, Brexit, Öxit und Schottixt, Katalanixt, Baskixt, Kosovonixt und Republikasrpstkixt. So sehr sich der lettische Riese auch bemühte, sie verstanden nix. Danach tauften sie ihn Letnix, was sich bald zu einem Nix verkürzte. Das Einzige, was ihnen gefiel, was sie offenbar unmittelbar ansprach, was sie sofort verstanden und nachahmten, war seine Art zu singen und zu tanzen. Er nannte das Tango. Tan-go, das war auch ein Wort, das sich gut ins Laputische fügte. Ihre Sprache bevorzugte langgezogene a-, o- und u-förmige Vokale, so wie sie es beim Blasen des Tritonhornes, der angebohrten Kokosnuss oder des Bambusrohres hervorbrachten.

Vielleicht lag die Unverständlichkeit auch daran, dass der Seemann sehr lange unterwegs gewesen war und die Verhältnisse in der nördlichen Welt auch nicht mehr gut kannte. Auf jeden Fall erholte er sich nie wieder ganz von den Strapazen seines Schiffbruchs und siechte dahin. Vielleicht bekam ihm aber die karge und einseitige Inselkost nicht, es kann auch die südliche Sonne gewesen sein oder der Kummer darüber, dass er seinen Rettern die „Welt da draußen“ nicht erklären konnte. Bis zu seinem letzten Atemzug lagerte er am Strand und zeichnete für die Insulaner eigenartige Kringel in den Sand, für die Zuschauer unverständliche Gebilde, die einen kreisrund, die anderen tropfenförmig oder dreieckig, große zusammenhängende oder einzelne, lang gezogene runde wie die thailändische Schrift. Die Laputaner begruben den Nix unter der Palme auf dem Hügel, nicht weit vom verfallenen Leuchtturm.

Ohne sagen zu können, wer damit begonnen hatte – die Insulaner gingen immer häufiger zum Grab des Letnix, legten Blüten, Früchte und Muscheln, getrocknete Erbsen, Bohnen, Perlen und Kiesel auf den Hügel. Bald stellte jemand eine Hütte aus Palmblättern darüber auf, jemand ebnete das Gelände rundum ein, andere breiteten Bastmatten aus, damit die Besucher bequem um die Hütte lagern oder lettischen Tango tanzen konnten.

Im Theater Goa, aber auch in der Kirche St. John und im Tempel Bali feierten sie zu seinen Ehren große Feste mit reichlich Kokosmet, wobei sie eine übergroße Figur aus Palmblättern herumtrugen und Letno-Tango tanzten.

Die Kinder spielten mit Nix-Puppen aus Bast, und die Jugendlichen bekamen zur Initiation im Rathaus Borneo Nix-Amulette, geschnitzt aus Tritonshörnern, um den Hals gehängt. Es gab keinen Mann, der sich nicht auf irgendeinen Körperteil einen Nix tätowieren ließ.
Nur die Frauen hatten es schwerer; ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich das Haar zu einer Glatze zu scheren, um den verstorbenen Nix zu ehren.

Zu dieser Zeit bemächtigte sich der ganzen Insel eine Leidenschaft zur Erforschung der „Welt da draußen“, besonders für alles, was irgendwie mit Religion zu tun hatte. Da sie ihre früheren Sprachen vergessen hatten und sie ohnedies nur notdürftig lesen und schreiben konnten, erfanden sie eine Kringelschrift für das Laputische, so wie sie es beim lettischen Seemann im Sand gesehen hatten. Einigen Frauen gelang es, aus Bastfasern einen Papierersatz herzustellen, auf denen die Kinder von Rangun, der Schule, das Schreiben erlernten. Das Rechnen hatten sie schon früher mit Kokosnüssen und Kaffeebohnen geübt. Auf diese Wiese bildete man amtliche Schreiber aus, die die Basttafeln beschrieben und in der in Balts umbenannten Bibliothek sammelten.

Immer mehr Insulaner widmeten sich in der Freizeit nun dem Sammeln von alten Sagen über ihre Flucht, die sie zu einer Pilgerfahrt umdichteten, über die Tauf-, Hochzeits- und Sterberiten, über die Geografie ihrer Herkunftsländer, die Tierwelt, Getreidesorten, Gerätschaften und Gedichte. Bald wurde ein junges Talent entdeckt, das Hunderte von baltischen Balladen schuf und mit dem Langepos von der Welteiche ein Star wurde. Dann tauchte ein begabter Musiker auf, der Lieder erfand und viele Instrumente baute, sogar solche, die der Letnix selbst nicht kannte: Zimbeln, Flöten, Trompeten, Harfen, Gitarren und Cembalos. Ihr Lieblingsinstrument schien aber eine einheimische Art von Windorgel zu sein. An einen kurzen Stock waren wie auf einen Dreschflegel luftgefüllte Fischblasen geheftet, in denen Kichererbsen und Perlen rasselten, wenn sie den Stock durch die Luft schwangen. Die schönsten Laute ergaben sich, wenn die Musiker mit ihrem Stock den Umstehenden auf Mund und Ohren schlugen, auf den Rippen und Bäuchen ergaben sich die lieblichsten , so wie sie das Meer macht, wenn es in Felshöhlen schwappt.

Eine junge Frau konnte nicht genug davon kriegen, Kreise, Dreiecke und Quadrate, Ellipsen und Trapeze in den Sand zu zeichnen, sodass sie mit der Zeit ein Geschlecht von Mathematikern in die Welt brachte, die die ersten Bücher des Euklid nachschrieben. Das Schicksal wollte es, dass ihr ältester Sohn, Kapitän Laput genannt, gerne am Leuchtturm saß und aufs Meer und in den Himmel schaute. Nach jahrelangen Beobachtungen leitete Laput daraus den Lauf der Sterne ab und schrieb die letzten Bücher Euklids neu. Wie er immer länger so dasaß und schaute, kam er zur Überzeugung, dass dort Hunderte, ja Tausende Wesen in Behausungen von außerordentlicher Größe und Schönheit lebten.

Laput träumte davon, einen Weg zu dieser Welt zu finden und von der Möglichkeit, dass sich Freedom zu so einer Welt entwickeln könnte. Seine Mutter seufzte und schüttelte den Kopf: „Lass solche Gedanken, das sind Flausen, wir wissen es nicht, ob jene Welt noch vorhanden ist und ob sie besser oder schlechter ist als unsere. Und werden es auch nie erfahren. Wir sind nicht dafür geboren, wegzugehen. Das Beste, mein Sohn, was wir tun können, uns nicht den Kopf unnötig zu zerbrechen, sondern unsere Pflichten im Hier und Jetzt zu erfüllen.“

Laput ließ sich aber damit nicht abspeisen. Weil er wegen seiner Euklid-Interpretation großes Ansehen auf der Insel genoss, konnte er einige Männer dazu bewegen, den Leuchtturm wieder aufzurichten und das Notsignal auf dem Berggipfel instandzusetzen.
Als er eines Tages seine Kinder zu Bett gebracht hatte und schon alle Insulaner in ihren Hütten schliefen, machte Laput seine Runde durch Freedom und stieg schließlich auf den Hügel. Er setzte sich unter die Palme beim Leuchtturm und schaute auf das Meer hinaus. Unter dem Sternenhimmel sann er über das Schicksal der Kolonie nach, das ihn an diesen Platz gebracht hatte.

Und er dachte an die kommenden Zeiten, wenn seine Kinder ihn überlebt haben würden. Wie er so saß und sann und sann, schob sich ein seltsames Bild vor seine Augen. Ein riesiges Schiff, höher als der Hügel, kam langsam um das Vorgebirge herum, behangen mit Lichtern in drei Reihen übereinander, vom Vorder- bis zum Achtersteven. Zwei beleuchtete Turmskelette ragten in den Himmel und schienen die Sterne aufzuspießen. Musik klang zu ihm herüber und der Ton menschlicher Stimmen in der stillen Luft. Der Anblick war wunderschön, aber schrecklich und beängstigend.
Kapitän Laput sprang auf und dachte einen Augenblick daran, die Kirche St. John in Brand zu stecken, um auf sich aufmerksam zu machen. Ein großes Freudenfeuer zu entzünden, dass er in eine andere Welt wechseln könnte.
Aber er setzte sich wieder nieder und ließ das Wunder in der Ferne vorüberziehen. Da nahm er schattenhaft wahr, dass sich die Laputaner hinter ihm versammelt hatten, auf das Meer hinaus starrten, zitterten und schweigend in ihre Hütten zurückgingen.

Nachtrag der Universität Dublin
Der Schiffbrüchige war weder Finne noch Lette und auch kein einfacher Seemann, sondern der weltberühmte Anthropologe, der irischstämmige Finnbar McLoughlin aus Limerick, ein anerkannter Forscher und Autor vieler Bücher über die Kulturen Polynesiens, Dozent an der Universität Dublin. Er gilt seit dem Tsunami von 2004 als verschollen. Seine Aufzeichnungen sind vor Kurzem in einer bei Limerick angeschwemmten Kokosnuss entdeckt worden. Experten studieren seither die Bastrollen, die mit unbekannten Zeichen bedeckt sind. Auch das Jonathan-Swift-Institut in Irland und die Thornton-Wilder-Stiftung in den USA wurden mit der Erforschung der Schriften beauftragt, die von der Stadt Limerick finanziert wird.

3.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16163

Der Anfang der Welt

Das Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil. Es kann mir niemand widersprechen. Wer von Ihnen war schon auf den Kurilen oder kennt jemanden, der diese Inselgruppe bereist hat?

Nein, ich selbst war auch noch nie auf den Kurilen, dafür aber mein russischer Freund Lew Nikolajewitsch G. Er war von Beruf Pilot beim sowjetischen Atomministerium, er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze reden, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen prinzipiell in geschlossenen Regionen, die keine Namen hatten, nur Nummern. Und selbst die Piloten hatten nur eine Ahnung, was sie in ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, und außer dem Kopiloten waren noch vier Techniker an Bord.

Lew war ein zweifach höchstausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine Reaktion eine Katastrophe verhindert; einmal einen Zusammenstoß mit einem Wetterflugzeug über Moskau, einmal über dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich vorstellen, was passiert wäre mit dem radioaktiven Material an Bord.

Lew war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne über seine Erlebnisse. Ich weiß nicht, ob er das durfte, aber er tat es, nachdem mit der Wende das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt worden war. Zu seinen schönsten Erinnerungen gehörten seine Reisen auf Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im Fernen Osten befanden sich besonders viele Geheimorte.
Es nützte nichts, noch weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte.

Während man Kamtschatka und Sachalin bereisen konnte, waren die Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es bis zum heutigen Tag.
Wenig bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln begann.
Es besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“ fordert.

Zu den fast vergessenen Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen Faschismus erlaubte.
Die 17.300 japanischen Bewohner wurden in verschiedene sibirische GULAGS transportiert, wo alle umkamen.
Aber mein Freund Lew hat die Kurilen gesehen, er konnte lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er zwischen Ankunft und Rückflug so viel Zeit, dass er von einem Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan machen konnte, angeblich die schönste der vier großen Inseln. Ich brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das Paradies auf Erden seien. Ich nahm ihm seine Schwärmerei einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie einen Schritt aus dem Arbeiterparadies heraus gemacht.

Was wusste so einer schon von irdischen Paradiesen?
Er war doch mit mir im Jahre 1999 zum ersten Mal im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der Eremitage und kannte Tschechows „Dame mit dem Hündchen“ nicht. Er war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, wusste aber nie, ob es Nowaja Zemlja war, die Halbinsel Kola oder Tschukotka.
Einmal war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand, weil es noch Wald gab und er und seine Mannschaft sich für Neujahr – Väterchen Frost  – mit kleinen Fichten eindeckten. Auf diesem Flug kannte er die ganze Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern, die er zurück nach Moskau bringen sollte.

Als die ersten russischen Forschungsreisenden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten sie sie Kurilen, vom russischen kuritj, rauchen. Auf den 40 Inseln befinden sich 68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an rauchenden Bergen und Meeren. Mit 10.542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch der tiefste Punkt der Erde in dieser Region.

Was macht die Kurilen so besonders, fragte ich immer und immer wieder. Es ist die vom Vulkanismus beeinflusste Vegetation, meinte Lew. Shikotan zeichnet sich durch eine Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus, hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch, nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzenden Gras bedeckt, mit wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann sich das Auge an dem tief azurblauen Ozean weiden. Die unterirdischen Vulkane spucken ohne Ende Wasserfontänen und Rauch aus.
Eine Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten Wolkenreifen über den Köpfen der Vulkane, wie riesige weiße Pudelhauben.

Was den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
„Stell dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachsen und Dorschen. Du kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen östlichen Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Kübelweise haben wir sie zum Flugzeug geschleppt. Es wimmelt auch von Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen.“

Lew war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet, der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum, was machte ihn so sicher?
„Einmal fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte, und da …“

Lew hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein Geheimnis hüten würde.

„Und da?“, fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum.
„Da sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unserer Kimmung, seine Augen wie zwei riesige untergehende Monde.“
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
„Am ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich erinnern zu können, so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das Einzige, was ich sofort folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz Gottes sein konnte …“
„Lew, jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott?“
„Wer sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
„Was hast du gemacht, als du die Grenzen des Gefängnisses entdeckt hast?“
„Ich habe gebetet“, sagte er so kurz und einfach, als wollte er nicht mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt.

Ich wollte es wiedergutmachen und fragte noch einmal:
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich, würdest du es wiedererkennen?“
Er musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos: „Wenn du mich schon fragst“, sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.

1.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16167

 

 

Das georgische Kreuz

Ein Medaillon um den Hals, eine Ikone vor der Brust, ein Flachmann vielleicht oder Knoblauchzehen, das Lieblingsbuch, ein Bild der Geliebten, eine Haarsträhne oder auch nur ein metallener Mantelknopf – Geschichten über lebensrettende Amulette gibt es viele. Meist ist es der unverbrüchliche Glaube an diese Helfer, die Segnungen und guten Wünsche von Müttern oder Geliebten, immer im Abschied unter vielen Tränen, die damit verbunden sind, und nicht der tatsächliche Schutz, die sie wirkungsmächtig machen. Denn dafür wären Westen oder Helme sicher besser geeignet, früher Rüstung oder Schild.

Ein Kreuz ist von der Natur ausersehen, dass es das unpraktischste Format unter all diesen Gegenständen hat. Nicht rund, nicht quadratisch, nicht flächendeckend, ein Nichtraum. Da kreuzt sich etwas, dazwischen ist nichts, ein Nichts von übereinander gelegten Balken. Zwei oder vier Teile übereinander, mehr ist ein Kreuz nicht.
Und trotzdem besitze ich ein solches Kreuz, ein georgisches Kreuz.

Geschenkt hat es mir Korneli, ein Freiwilliger der Tiflis-Bürgerbrigade, im Februar 1991, als ich für den ORF Moskau nach Georgien reiste, um die Volksabstimmung über die Unabhängigkeit und den sich abzeichnenden Bürgerkrieg zu beobachten. Die Demonstrationen für und gegen den damaligen Präsidenten Swiad Gamsachurdia nahmen immer gewalttätigere Ausmaße an, und die Fronten waren aus der Ferne nicht mehr zu überblicken. Es war noch die Sowjetunion, in der sich Journalisten nicht frei und unbegleitet bewegen durften. Daher bekamen wir im Informationsministerium- einer Abteilung des KGB – einen Fahrer und einen Begleiter zur Seite gestellt und wurden zu einer Reise nach Gori verdonnert, an den Geburtsort des größten Sohnes des Landes Josif Dschugaschwili alias Stalin. Ich wäre gerne in der Stadt geblieben, die summte von Demonstranten, und hätte am liebsten sofort ein Interview mit dem neugewählten Staatsoberhaupt Gamsachurdia geführt. Unser Glück dabei war, dass man uns als Begleiter den jungen, smarten Ghia, genannt Gigi, zuordnete, obwohl weder Wolodja, der Moskauer Kameramann, noch ich einen Dolmetsch brauchten. Gigi hatte Anglistik und Amerikanistik studiert, schrieb Gedichte und erzählte ziemlich früh frei heraus, dass er in die Schweiz auswandern und bisnisman werden wolle.

Wenn in der hügeligen Ebene mit den vielen heißen Quellen schon die ersten Anzeichen des Frühlings zu sehen waren, herrschte in den Kaukasus-Bergen noch König Winter. Der Fahrer Ivan schraubte den robusten Lada-Jeep die schmalen Straßen immer höher hinauf und zwischen mannshohen Schneehaufen durch, die gnädigerweise die tiefen Schluchten links und rechts verdeckten.

Gori ist ein hässliches Riesendorf sowjetischer Prägung, in dessen Mitte der Stalin-Tempel thront, der über der ebenfalls künstlich nachgebauten Geburtshütte errichtet worden war, mitsamt all den erbarmungswürdigen Devotionalienläden und andächtigen Wallfahrern.
Wolodja gelangen einige schön-bizarre Aufnahmen und mir einige Interviews, keineswegs nur alte Stalin-Nostalgiker, sondern auch Schulklassen und Hochzeitspärchen, die sich vor dem Tempel ablichten ließen. Junge, glückliche Gesichter, Plastikgläser auf eine lichte Zukunft!

Wie die durchnässten weißen Kleidersäume schlapp über die Stiefel in den Februar-Matsch hingen, das ist das Bild, das ich mitgenommen habe.
Nachdem wir den Gori-Ausflug pflichtschuldig hinter uns gebracht hatten und uns der Hauptstadt näherten, peitschten plötzlich Gewehrsalven durch die Landschaft. Ivan reagierte blitzschnell und legte eine Vollbremsung hin. Schlitternd kam der Lada zum Stehen, Ivan riss die Tür auf und warf sich auf die Erde, Gigi und ich taten es ihm nach, und Wolodja gelang es noch geistesgegenwärtig, die Kamera an sich zu reißen. So lagen wir mit dem Kopf nach unten im Gatsch des Straßenrandes, platt am Boden und versuchten zu erlauschen, woher die Schüsse über unseren Köpfen kamen. Ich konnte und musste den drei Sowjetmännern vollkommen vertrauen, hatten sie doch alle mindestens drei Jahre Armee hinter sich. Ich war seit den jugendlichen Räuber- und Gendarmspielen solche Körperertüchtigung nicht mehr gewohnt. Als ich einmal wagte, den Kopf ein paar Zentimeter zu heben, sah ich, wie Wolodja sich salamanderartig zur Seite bewegte, die Kamera mit einer Hand hochhaltend. Er stieß einen leisen Pfiff aus, es ihm nachzutun. Ivan und Gigi blieben im Schutz des Lada liegen, während Wolodja und ich tiefer in den Weingarten hineinrobbten. Wenn schon Rebstöcke mit dem vollen Sommerlaub nicht der großartigste Wall gewesen wären, so waren sie jetzt in ihrem entlaubten Zustand nicht mehr als ein Wald von Zahnstochern, zwischen die sich die Kugel leicht verirren konnten. Und weit und breit kein Haus, kein Zaun, keine Hecke, sondern sanfte Rebhügel, soweit das Auge reichte, die berühmte Weinlandschaft von Kachetien, die ein paar Monate später wieder die herrlichsten Säfte liefern würde.

Natürlich dachte ich in diesem Moment nicht an den zukünftigen Wein. Blöd gelaufen, klassisch, zur falschen Zeit am falschen Ort. Sie schossen sicher nicht auf uns persönlich, sondern wir waren irgendwo dazwischen geraten. Aber die Sowjetunion zeigte sich in einem Zustand, in dem nicht einmal eine KGB-Begleitung Sicherheit garantieren konnte.
Dazu würde ich Gamsachurdia im Interview befragen müssen, wenn wir da je wieder herauskamen. So ungefähr sah es in meinem Hirn aus, als ich am Boden liegend, die Wurzeln der Rebstöcke studierte. Ich weiß nicht, wie lange, in solchen Augenblicken erstirbt das Zeitgefühl.

Da tippte mir jemand leicht auf die Schulter, und als ich herumfuhr, sah ich über mir einen Mann mit Kalaschnikow, der mir zuzwinkerte und seinen Zeigefinger an die Lippen hielt. Pssst!
Er bedeutete mir, dass ich mich in die Halbhocke aufrichten und hinter ihm tiefer in den Weingarten hineinlaufen sollte. Hinter einer Holzhütte, wahrscheinlich ein Geräteschuppen, wartete schon Wolodja und empfing mich mit einem erleichterten Lächeln.

Das war Korneli, ein Kämpfer der Bürgerbrigade des Präsidenten Gamsachurdia. Das erfuhren wir aber erst später, nachdem er uns in ein Dorf mit festen Häusern gelotst hatte, wo seine Einheit stationiert war. Sie waren eine Freiwilligeneinheit von Paramilitärs, die gegen die moskaugesteuerten „Fledermäuse“ kämpften. Wir waren in ein kleines Geplänkel geraten, aus dem uns später Korneli und zwei seiner Männer zurück nach Tbilisi führten. Hier vereinigten wir uns glücklich mit Ivan und Gigi, die selbständig zurückgekommen waren. Als Entschädigung für den Schreck lud uns Korneli in unserem Hotel auf ein üppiges georgisches Mahl ein, bei dem ich mich auf das heilsame Borschomi-Mineralwasser beschränkte, weil seit dem Weingartenerlebnis meine Gedärme rumorten. Mir wurde das ausnahmsweise gestattet, nicht ohne den Hinweis, dass auch in Jalta Stalin den magenkranken Roosevelt mit in Borschomi aufgelöstem Weinbrand traktiert hätte. Nach ungezählten Gläsern mit rotem Kindzmarauli, weißem Zinandali, nach den nicht enden wollenden Toasts auf Heimat, Freundschaft, Liebe und die Frauen, öffnete Korneli seine Uniformbluse und zog ein Kreuz hervor, das er mit einem Lederriemen auf der Brust trug. Er will, er muss es mir schenken, es hat seinem Vater gehört und schon ihn beschützt, als er im Großen Vaterländischen Krieg gekämpft und mit der Roten Armee meine Heimat befreit hat. Geschnitzt hat es sein Großvater aus einem alten Wurzelstock, als er im Bürgerkrieg 1918 für das unabhängige Georgien kämpfte. Ich protestierte heftig, das könne ich nicht annehmen, aber gegen die georgische Gastfreundschaft ist kein Kraut gewachsen. Was ein Georgier anbietet, muss man annehmen, und sei es die Großmutter oder der eigene Sohn.

So kam das georgische Kreuz zu mir. Es ist aus dem Holz eines Rebstockes geschnitzt, in einem Stück, etwa zwanzig Zentimeter lang, rötlich-braun und an den Seiten abgeflacht und poliert, dass man die Maserung sehen kann. Die Querbalken zeigen leicht nach unten, sodass es eine Ähnlichkeit mit einem Mann-Piktogramm hat, das die Arme sinken lässt. An der Vorderseite verlaufen fein ziselierte Messingleisten in alle vier Äste, die sich zu kleinen Kugeln verdicken. Nicht zu übersehen, dass die Verzierungen der mäandernden georgischen Schrift nachempfunden sind. Vielleicht haben sie sogar etwas zu bedeuten, was für ein Spruch? Am unteren Ende ragt an einem gebogenen Stiel ein kleiner Kerzenhalter hervor, in den eines der dünnen Bienenwachsstäbchen der orthodoxen Kirche passt. Auch Weihrauchkörnchen kann man darin abbrennen.

Ich bin kein Kreuzträger, kein Fetischist, kein Kerzerlanzünder oder Amulettträger. Aber dieses georgische Kreuz hing seither neben jedem meiner Schreibtische, bis heute. Wenn ich nach rechts oben aufschaue, ruhe ich mich darauf aus. Es strahlt harmonische Energie aus, vielleicht entspricht es dem goldenen Schnitt. Sogar jemand, der meine Geschichte und Kornelis Geschichte dahinter nicht kennt, sieht sofort, dass das Kreuz kräftig und zart zugleich ist, dass es erdig und schwebend wirkt, dass es einfache Volkskunst ist, aber in einer der uralten Formen des frühesten christlichen Volkes, die jetzt noch überall in den Kirchen und Friedhöfen Georgiens zu finden sind.

P.S.: Bilder von den wild tobenden Demonstrationen bekam ich in den nächsten Tagen zur Genüge, und durch Gigis Vermittlung auch das Interview mit Gamsachurdia. Dieses geriet allerdings zur größten Pleite meiner journalistischen Laufbahn.
Der Dichter, Dissident und Neupolitiker Gamsachurdia war so begeistert davon, dass mir Rudolf Steiners Schriften bekannt waren und ich aus dessen Heimat kam, dass er ausschließlich über ihn reden wollte. Er hatte nach Englisch und Französisch extra Deutsch gelernt, um Steiner im Original lesen zu können. Als verurteilter Nationalist hatte er in fünfzehn Jahren Gulag und Verbannung viel Gelegenheit dazu.
Schon sein Vater Konstantin, ebenfalls Dichter und Literaturprofessor, Germanist und Übersetzer, war Steinerianer und gründete die erste anthroposophische Gesellschaft Russlands. Sohn Swiad sprach mit Begeisterung darüber, wie er Orthodoxie mit Anthroposophie verbinden und zur Staatsphilosophie des neuen Georgien machen wollte. Ich erkannte, dass ihm Monologe lagen. Wenn Monologe gut sind, ziehe ich sie Dialogen vor. Aber ich war nicht in der Position der genießenden Zuhörerin, sondern eine Journalistin, die ein brauchbares Interview, ein paar bearbeitbare Wortspenden heimbringen und eine Story darum herum basteln musste. Ein Monolog ist, als beobachte man einen Menschen, der ein Buch nur für einen selbst schreibt: Er schreibt es, liest es vor, spielt es, korrigiert es, genießt es, freut sich darüber, freut sich über seine Freude; dann zerreißt er es und wirft die Schnitzel in alle vier Winde. Es ist ein erlesenes Schauspiel, denn während er es vorführt, ist man ein Gott für ihn, falls man nicht ein gefühlloser, ungeduldiger Trottel ist.
Große und lange Bögen zog er von Kolchis, den Argonauten, dem Goldenen Vlies zu Medea, zur der legendären Königin Tamar bis zum heutigen Tag. Ich hatte keine Chance. Er war in jeder Hinsicht massiv und eine merkwürdige Mischung: 1,90 Meter hoch, noch im Sitzen sah er aus wie ein Adlerhorst, ein großer Kopf, den ich für typisch georgisch hielt. Die Hände waren zu klein für den Körper, zu zart für einen Machtmenschen und die Gesten zu sanft. Er hatte etwas ausgesprochen Tragisches an sich, das seine lebhafte Mimik noch betonte. Die Augen unter buschigen Augenbrauen und schweren Lidern, groß wie Granatäpfel und dunkel wie Kaukasus-Seen, eine Adlernase, auch die dicken Lippen unter einem struppigen Schnurrbart und der dichte graue Haarschopf schienen ständig adlerumflattert. Er schien die ganze Zeit nur von sich zu reden und wirkte dennoch nie egozentrisch. Er sprach von sich, da er sich für die interessanteste Persönlichkeit hielt, die er kannte. Das gefiel mir, weil es mir manchmal ebenso ging. Er sprach von sich genauso wie von seinem Land. Seine Familiengeschichte führte er bis an Tamars Hof im 12. Jahrhundert, ins Goldene Zeitalter, zurück, ein Adeliger der ersten Stunde. Obwohl wir russisch sprachen, musste der Ministeriums-Übersetzer Gigi an meiner Seite sitzen, der ständig nickte wie eine chinesische Katze, auch seine Rustaveli-Familie hat einen Stammbaum bis zu Tamar. Meine Fragen zur aktuellen Politik ignorierte der Präsident ebenso elegant und gewalttätig wie vollständig. Alles, was er in seinem Monolog von sich gab, war sehr interessant für ein Geschichts- und Literaturseminar, aber ich bekam von ihm keine einzige für den aktuellen Bericht „verwertbare“ Antwort. Ebenso klar wie das Scheitern meines Interviews war, dass Gamsachurdia der falsche Mann auf diesem Posten war und sicher besser in die Argonauten-Saga passte.
Er lachte über die Ironie der Geschichte, die ihn, den Stubengelehrten, Dichter und Gulag-Häftling an die Spitze des Staates geschwemmt hatte. Er sah stets die humoristische, lächerliche Seite der Dinge – das wahre Kennzeichen einer tragischen Gesinnung.
Am Platz vor den Toren des Palastes wogten die Massen hin und her, die Miliz prügelte sich in Hochform, ab und zu drang ein Knall durch die dicken Wolkenvorhänge. Ich habe den Saal als ins Rosige getauchte Hölle in Erinnerung, in der der Präsident von Kolchis und dem Mittelalter schwafelte. Möbel und Parkett aus Rosenholz, alle Bezüge der falschen Biedermeiermöbel, alle Karaffen und Gläser, voll mit dem entsprechend farbenen Granatapfelsaft, funkelten diese Farben wider. Mir war schlecht. Mir war düster. Eine solche Verzweiflung, dass ich seine fünfzehn Sekunden Originalton im Georgien-Bericht ausnahmsweise in einer freihändigen Übersetzung darüberlegte. (Ein spätes Geständnis, für alle Pegidas und AfDs, aber zu meiner Rechtfertigung, meine Einschätzung der Lage in Georgien stimmte.)

Zur georgischen Staatsphilosophie kam es nicht mehr. Gamsachurdia wurde Ende 1993 durch einen Militärputsch gestürzt und kam unter nie geklärten Umständen ums Leben.

Wien, 18.11.16

Veronika Seyr
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Mit Kafka durch Kierling

Der Himmelbauerplatz unterhalb der Kierlinger Kirche ist eine Asphaltfläche mit acht Parkplätzen für Anrainer, weitere vier sind dem Ärztezentrum vorbehalten. Zur Kierlinger Hauptstraße hin, gegenüber der Volksschule, blühen gerade die Linden und setzen sich trotz ihrer Jugend mit ihrem Duft gegen die Autoabgase durch. An der Ostseite steht das Denkmal für den am 3. Juni 1924 im Sanatorium Hoffmann verstorbenen Schriftsteller Franz Kafka, zehn Hausnummern weiter stadtauswärts gelegen. Der grobe Steinblock sieht aus, als wäre ein Meteorit vom Himmel gefallen und hätte sich hier in den Asphalt eingerammt. Aus einer Einbuchtung an der Vorderseite ragt eine schwarz-metallene Büste heraus, es soll wohl Kafka sein. An der rechten Seite ist eine rotgesprenkelte Marmortafel mit vier groben Metallschrauben befestigt, und mit gold-gerahmten Lettern sind die Lebensdaten des Schriftstellers eingraviert: Dr. Franz Kafka, *1883 in Prag, +1924 in Kierling.

Zumindest seit Picasso verlangt niemand eine anatomische Ähnlichkeit, aber die Sehnsucht nach einem Schimmer von einer geistigen Nähe, Anhänglichkeit, sogar Liebe bleibt angesichts dieses Denkmals ungestillt. Es ist in seiner ganzen massiven Erscheinung abweisend und so aufgestellt, das man es unbedingt über- oder darüber hinwegsehen muss.
Oder hat man es etwa absichtlich versteckt? Es hat den Anschein, als habe man sich nur halbfreiwillig zu einer Erinnerungsstätte für den Juden Kafka durchringen können. Auf dem nur ein paar Stufen höheren Kirchenplatz etwa? Nein, da stehen das massive Denkmal für „die Helden beider Kriege“ und eine Schubertlinde. Noch weniger vorstellbar in dem Park, der den palaisartigen Pfarrhof umgibt.

Ich sitze auf einer Bank des Verschönerungsvereins Klbg. neben dem Klotz. Alles ist sehr nett und adrett, offensichtlich gepflegt, ich kann nicht feststellen, ob für den Parkplatz, das Ärztezentrum oder das Kafka-Denkmal; kein Müll, keine Papierln, keine Kippen, und alle Parker gliedern sich brav in die weißen Parkstreifen ein, die Radfahrer in einen raiffeisengelben Ständer. Es wird ein ewiges Geheimnis der Gemeinderatssitzung bleiben, warum man dem Deutsch schreibenden, jüdischen Schriftsteller aus Prag den ansehnlichen Platz vor der Jugendstilkirche, nur fünf Stufen aufwärts, nicht zugestanden hat.
Die letzten Spaziergänge durch das Maital, die letzten Blicke von seinem Balkon in die Hügel, die letzten Gerüche von Straße und Pfingstrosen.
Im Ort gibt es neben dem Sterbehaus noch einen Kafka-Steg und eine Kafkagasse.

Absicht, ja und nein, Gedenkenwollen und doch nicht oder nicht zu sehr, frage ich mich, als ich auf der Bank neben dem Denkmal sitze, an meinem Sandwich nage und aus meiner Thermoskanne lauwarmen Kaffee trinke. Es ist der 3. Juni 2016, ich mache Pause von meinem Raumdienst im Sterbesanatorium an seinem 92. Todestag. Ich bin die dienstjüngste der vier ehrenamtlichen Kafka-Witwen.
Über den Asphaltplatz schaue ich auf die Baustelle der Firma Bosnj. Dom (bosnisches Haus), die gerade einen Wohnkomplex hochzieht, an der Ecke, wo seit 1788 der Gasthof „Zum grünen Baum“ stand, bis er vor einem Jahr abgerissen wurde. Die Arbeiter machen den Dachstuhl fertig und geben ein kakophonisches Konzert aus Hämmern und Elektrobohrern ab. Eine barbarische, aber sicherlich vernünftige Entscheidung der Gemeinde Klosterneuburg-Kierling, die bestimmt Wohnraumbedarf im Grünen hat.

Der Gasthof war schon lange leergestanden. Die Hintergründe kenne ich nicht, aber für mich ist es eine Demolierung von kulturellem Erbgut. Ich erinnere mich gut an dieses Gasthaus, nicht nur das älteste weit und breit mit einem schattigen Garten aus alten Kastanien und Linden, ein hinterbrühliger Ort, an dem man sich Schubert in Gesellschaft seiner Freunde gut vorstellen konnte. Die ganze, sich vier Kilometer lange im öden Autoverkehr windende, Hauptstraße entlang gibt es kein einziges Einkehrlokal mehr. Das erinnert mich daran, dass diese Gemeinde schon früher auch die Überreste der Synagoge abgerissen und stattdessen eine Gedenktafel angebracht hat.
Ob diese verkehrsumbrauste Ecke ein attraktiver Wohnort sein würde, frage ich mich zwischen dem Jausenbrot und den immer noch befremdeten Blicken auf den Kafka-Klotz neben mir, meines Wissens das einzige Monument in Österreich.
Gedankenloser ist nur noch der Wackelstein beim Sanatorium von Matliary in der Hohen Tatra.

Man muss Milde walten lassen und darüber nachdenken, warum bis auf diese zwei Denkmäler – schwankend zwischen Hilflosigkeit und Verhöhnung – keine Kafka-Skulpturen bekannt sind. Wie viele gibt es denn von Shakespeare, Mozart, Goethe, Schiller, Puschkin, Heine, Hugo, Rodin oder Chaplin, alle diese Victorias, Friedriche und Franz Josephe. Und viele andere. Vielleicht kommt das daher, dass bisher niemand Kafka mit einer Skulptur gerecht werden konnte, es gewagt hat, seine schmale, mit 182 Zentimetern hochgewachsene Körperlichkeit in den Raum zu stellen. Vielleicht haben sich viele bekannte und unbekannte Künstler schon an Kafka abgemüht, wer weiß mit welchen Materialien: Stein, Metall, Holz, Gips, Gold, Silber, Porzellan, Glas, Alabaster, Perlmutt, Elfenbein, Bernstein, Sandelholz, Plastik, Papier, Pappe, Titan oder Tüll. Und alles wieder verworfen, in Scham und Demut alle Versuche zerstört und tief eingegraben haben.

Einer, der das nicht getan hat, ist Jaroslav Roda, er hat einen Bronze-Koloss von 3,75 Metern Höhe und 700 Kilogramm Gewicht in Prag aufgestellt. Auf den Schultern eines riesigen leeren Mantels reitet ein Zwerg, der wahrscheinlich Kafka darstellen soll – er ist angeblich der „Beschreibung eines Kampfes“ nachempfunden. Ich persönlich vermisse Kafka-Monumente nicht, mir genügen seine Worte. Vielleicht liegt es auch daran, dass die relativ neue Kunst der Fotografie Kafka am ehesten entspricht.
Es existieren viele dokumentierte Fotografien von Kafka, die meisten aus dem Familien- und Freundeskreis. Bis auf die erzwungenen Kinderbilder, allein oder mit den Schwestern, zeigt er keine Scheu vor der Kamera. Immer schaut er mild-freundlich in die Kamera, er lässt sich mit dem Apparat ein, fast kokettiert er mit ihm und bleibt doch leicht entfernt von der Szene. Man sieht einen überschlanken, gutaussehenden, ausgewählt elegant gekleideten Mann, leicht nach vorne geneigt, mit mild angedeutetem Lächeln, im scharf geschnittenen Gesicht auffallend große Augen, der Kopf oft gekrönt mit einem hohen, breitkrempigen Hut. Auch sein ausgeprägter Hinterkopf und schlanker Hals könnten einen Bildhauer entzücken. Soweit bekannt, ist Kafka nie anderen als Fotokünstlern Modell gestanden.

Die Gedenkstätte im Sterbehaus auf der Kierlinger Hauptstraße 187 – ein Stiegenhaus, zwei Zimmer und ein Balkon – kommt einer adäquaten Würdigung am nähesten. Nachdem sie seit 1982 in düsteren, grindigen Räumen mit einigen Schaukästen dahingedämmert hatte, nahm sich die Kafka-Gesellschaft einer umfassenden Umgestaltung an mit dem Architekten Michael Balgary und der Vizepräsidentin Charlotte Spitzer als von Kafka beseelter Designerin.

Seit der Wiedereröffnung vor zwei Jahren sprechen diese zwei Räume eine vorsichtige, ehrerbietige, weil nichts und niemanden vereinnahmende Einladung aus, sich dem Menschen Franz Kafka, seinem Werk und seinen letzten sechs Lebenswochen zu nähern. Voll und minimalistisch gleichzeitig, als sollten die letzten Atemzüge nicht gestört werden. Fotos, Gegenstände und Dokumente an Wänden und in Vitrinen, die Lebensdaten affichiert, eine nachgebaute Ecke mit einem damals üblichen Spitalsbett, gebrochenes Licht, weiße Laken mit Zitaten, Bücherborde, zeitgemäße Aufnahmen von Kierling und seiner Umgebung, so wie sie Kafka damals gesehen haben könnte.
Etwa den Blick von seinem Sonnenbalkon in den Garten des Sanatoriums und auf den gegenüberliegenden Wienerwaldhang. Man kann ihn betreten und sich einlassen auf die inneren Bilder von den letzten Blicken, man kann seinen Augen nach links zur Kierlinger Kirche folgen, von der jetzt durch nachgewachsene Bäume und Neubauten nur noch das Turmkreuz wahrzunehmen ist; der Bergrücken im Blick geradeaus ist jetzt viel dichter bewachsen als vor 92 Jahren. Er reicht hinunter bis ins Maital, ein großer Name für einen schmalen Weg entlang einem nicht einmal einem Meter breiten Bacherl, das aus Maria Gugging kommt.
Biegt man am großen, neueröffneten Hofer-Markt links zum Maibach ein, kommt man an der Rückseite des Gartens an einer versteckten Pforte vorbei, auf der man, wenn man einen Tipp bekommen hat, noch ein verwittertes und verwachsenes Schild „Sanatorium Hoffmann“ erkennen kann. Da könnte Kafka, gerahmt und gestützt von Dora Diamant und Robert Klopstock, durchgetreten sein auf ihrem Spaziergang zum „Grünen Baum“.

Wenn ich auf diesem Balkon stehe und zum Maibach hinunterschaue, mag ich die Vorstellung, dass Kafka einmal, vielleicht mehrmals, sicher nicht später als Ende April, Anfang Mai 1924, weil er danach schon zu schwach war, durch den Garten, durch die Pforte, durch das Maital zum „Grünen Baum“ und zur Post spaziert ist, Briefe und Karten aufgegeben hat an die Eltern, die Geschwister, an Onkel Siegfried, an Max Brod, Manuskripte an den Verlag.

Sicher bin ich nicht die erste Besucherin, die ein paar Häuser vor dem Sanatorium konsterniert vor der Tischlerei KAFKA stehen bleibt, sich die Augen reibt und überlegt, ob und wer uns da einen Streich spielt. Kafka, tschechisch „Dohle“, war ein häufiger Name der Kategorie Maier/Müller, und der Kierlinger Tischler Kafka jun. hat heute mit dem Versicherungsbeamten und Schriftsteller Dr. Franz Kafka nur so viel zu tun, als er die Inneneinrichtung des Gedenkraumes beigesteuert hat.

Das dreistöckige Haus Nummer 187 auf der Kierlinger Hauptstraße ist ein unscheinbarer, spätklassizistischer Bau, der an der Westseite seltsam abgerissen wirkt, wie ein verstümmelter Stockzahn. Immer wenn ich mich von der Station des 239A an der Lenaugasse dem ehemaligen Sanatorium nähere, bedauere ich, dass ich nicht über die Inbrunst einer Gläubigen verfüge, die sich einem Heiligtum nähert.
Aber sobald ich das Haustor aufsperre, hinter dem eigenartigerweise links immer ein Besen steht, als würde der Odradek aus der Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ auf mich warten, spüre ich ein hauchfeines Momentum. In einem kindlichen Orakelspiel bemühe ich mich, nicht auf die im Fußboden des Vorhauses eingelassenen Mosaiksteine zu treten: Gleich hinter dem Eingang steht SALVE und drei Stufen höher die Jahreszahl 1901, damit ich die unsichtbaren Fußstapfen nicht zer-störe.
So wie wir als Kinder manche Ritzen zwischen den Steinen ausgelassen haben, damit etwas Bestimmtes eintritt oder ausbleibt. Da ist Kafka darübergegangen. Es gibt auf der ganzen Welt sonst keinen Ort, von dem man das mit Sicherheit sagen kann. Wenn man sich in diesem nüchternen Haus in frühere Zeiten hineinschwelgen möchte, muss man das innerlich tun, mit Hilfe der Vorstellungskraft.
Und dann wieder Kafka lesen.

Am 3. Juni 2016 stehen in prächtigster Rosafülle Pfingstrosenstöcke im Vor- und Hintergarten des ehemaligen Sanatoriums. Eine seiner letzten Sorgen hat er auf einem Sprechzettel festgehalten. Sie gilt der richtigen Behandlung des Pfingstrosenstraußes in seinem Zimmer. Wer hat sie ihm gebracht? Woher stammen sie? Aus dem Sanatoriumsgarten? Wie auch immer: Er hat sie wahrgenommen und genossen. In einer flachen Schale, damit die Stängel nicht am Boden anstehen, so halten sie lange, ewig.

Charlotte Spitzer schneidet die mitgebrachten Pfingstrosen, ihre sind voll und weiß mit gelben Blütenständen, genau nach dieser Anweisung zurecht, verteilt sie in Glasvasen an mehreren Stellen, zündet neben der Fischer-Gesamtausgabe eine dicke Kerze an und zieht sich zur Sterbestunde zum Meditieren auf den Balkon zurück. Im Blick die letzten Blicke.

Veronika Seyr
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Die Kinder vom Sonnberg

Die Auskunftsperson ist der Wirt der Redlinger Hütte, der liebenswürdige und redefreudige Johann Riegler, der seit 38 Jahren dieses Gasthaus bewirtschaftet, wahrscheinlich den schönsten Platz im Wienerwald. Charlotte und ich waren auf einer Expedition, um Wege, Distanzen, Zeiten und Rastmöglichkeiten für die zweite Kafka-Wanderung am 11. September 2016 zu erkunden.
Wir bekommen eine Lektion Heimatgeschichte. Die Redlingerhütte geht auf eine Arbeitersiedlung der 1780er zurück, auf Joseph II. Der Reformator und Praktiker unter den Monarchen holte Wald- und Steinarbeiter, vor allem Böhmen und Tschechen, für die Sandsteinbrüche in der Umgebung. Sie stellten Schleifsteine her, die besten in der ganzen Monarchie und exportiert bis nach England. Später kamen die „Gastarbeiter“ für die Westbahn dazu. Ende des 19. Jahrhunderts verwandelten sich die Arbeiterbaracken in einen Wienerwald-Einkehrgasthof, wie sie damals in den Außenbezirken und rund um Wien aus dem Boden sprossen.

Besonders gefällt uns die Vorstellung, dass, wäre Kafka früher und gesünder als 1924 in Kierling angekommen, es diesen Ort schon gegeben hat und der fleißige Wanderer sicher auf diese idyllische Waldlichtung gestoßen wäre. Wahrscheinlich hätte er ihn an einen der Gastgärten in und um Prag erinnert, in denen er gern saß und sich mit Freunden traf. Den Schweinsbraten mit Kraut und Knödeln, für den die Redlinger Hütte heute berühmt ist, hätte der frühe Veganer auch bei bester Gesundheit nicht bestellt, aber vielleicht eine Linzertorte, die er trotz seiner strengen Reformkost immer gern mochte.
Ob er vielleicht ein Kafka-Menü auf die Speisekarte setzen soll, fragt der offensichtlich kafkakundige und einfühlsame Wirt mit einem Augenzwinkern. Gebratene Käfer mit Äpfeln? Charlotte lacht aus vollem Hals, als sie sich dieses „Gesundheitsmenü“ vorstellt: Rohkost, Früchte, Nüsse, Honig, ein Krug Milch, Wasser und – das Ungeziefer. Wir bestellen Linzertorten als eine der Nachspeisen für unseren nächsten Kafka-Spaziergang am 11. September. Bei Radler, Gepritztem und Grammelschmalzbrot mit reichlich Zwiebel und anhand einer Wanderkarte für die Kierlinger Umgebung erklärt uns der Wirt die verschiedenen Wege von hier weg in alle Richtungen und auch die Abstiege ins Kierlingbachtal. Der längere Weg führt in einem großen Bogen um den Marbach zum Sonnberg, dem mit 420 Metern höchsten in der Umgebung.

In einer Senke unter dem Nordhang befand sich einmal ein Steinbruch für den Abbau von Sandstein. Nur noch einige, fast unsichtbare Steinhänge sind geblieben, dicht überwachsen von Bäumen und Unterholz, von undurchdringlichen Brombeerhecken, Kletten und mannshohen Brennnesseln. Noch tiefer in der Senke stand einmal eine Burg, von der nicht einmal der Name bekannt ist und auch nicht die geringsten Spuren übriggeblieben sind, erzählt der Wirt. Nur eine Legende hat sich erhalten: Sie ist durch ein schreckliches Feuer zerstört worden. Und wer dort – natürlich nur um eine mondhelle Mitternacht – vorbeikommt, kann noch immer das Schreien und Weinen von den in der brennenden Burg gefangenen Kindern vernehmen, so grässlich, dass jedem Wanderer das Blut in den Adern gefriert und er schnellstens das Weite sucht. So hat noch niemand das Rätsel der weinenden Kinder erkunden können. Wer waren die Kinder? Die Sprösslinge der Burgherren? Eine Schule, ein Waisenhaus? Ob dieses traurige Ereignis auf den 30-jährigen Krieg, die Türkenbelagerungen oder die Franzosenzüge zurückgeht, kann uns nicht einmal der ortskundige Wirt sagen.

Wir sind uns sicher, dass Kafka, wäre er bei ihm eingekehrt und hätte er diese Geschichte gehört, einen Tagebucheintrag gemacht, einen Brief oder eine Parabel geschrieben hätte.
Die Suche nach der Burg. Das Schloss. Oder wäre Kafka, der passionierte Spaziergänger und Spezialist für Nachtmahre, einmal um Mitternacht diesen Weg gegangen, um dem Geheimnis, das ihn sicher angezogen hätte, auf den Grund zu kommen, um etwas ihm entsprechendes „Kafkaeskes“ draus zu machen.

Wir nahmen den Wanderweg 6 durch das Grüntal nach Kierling zurück. Er sollte laut Wegweiser „40 min“ dauern, wir brauchten aber viel länger, weil es ständig etwas zu bestaunen, bereden und fotografieren gab. Diese Strecke bietet an jeder Stelle so viel Lieblichkeit, dass einem die Tränen kommen und man niederknien möchte: zuerst vorbei an einem Teich, ein Stück durch einen Obstgarten mit rotbäckigen Äpfeln und dann bergauf durch alte Buchenwälder, so dicht und hoch, dass sie über dem Weg einen Tunnel bilden, und wir nicht mehr wissen, wer sich vor wem verneigt.
Charlotte ist fasziniert von der Ähnlichkeit zu der ihr vertrauten Müritzer Landschaft, wo Kafka im Sommer 1923 seine letzte große Liebe, Dora Diamant, kennenlernte. Genauso ein Wald mit Buchen, aber stell dir vor, du kommst aus dem Wald raus, und dann sind da Sanddünen und die Ostsee. Ich bin überrascht, hatte ich bei Müritz doch immer an Föhren gedacht. Meine Erinnerungen an die Ostsee verbanden sich mit der großen Wanderdüne der Kurischen Nehrung, die mit Föhren befestigt wird, mit den Föhrenwäldchen rund um Thomas Manns Haus in Nidden und den Stränden von Klaipeda mit ihren locker im Sand stehenden Föhren.

Im Grüntal mündet der Buchenwaldweg in eine unerwartet weite Wiese mit leichten Wellen und einem freien Rundblick auf die Wienerwaldhügel. Gräser und Blumen stehen hüfthoch, sie werden offenbar nicht gemäht, und Margeriten, Glockenblumen, Skabiosen, Hahnenfuß, Storchenschnabel, Schafgarbe, Ochsenmaul, Kuckucksnelken, Wiesenschaumkraut, Taubnessel, Flockenblume, Giersch, Knabenkraut, Blutweiderich, Beinwell, Pimpernell, Wiesensalbei und verschiedene Kleearten dürfen sich seit dem Frühling ausbreiten.
Wir beugen uns über ein Blumengestrüpp am Wegrand und finden, dass das Blau der Wegwarte noch schöner, tiefer violett ist als das der Kornblume. In zwei Feldern ist der Hafer gelb und eigentlich reif für die Ernte. Ob er auch geerntet wird, bezweifeln wir, weil er vom Regen an vielen Stellen niedergedrückt und von Pflanzen überwuchert ist, die man üblich Unkraut nennt: Ackerwinde, Ackersenf, Distel, Kornrade, Mohn, Beinwurz und Leinkraut.

Am Scheitelpunkt kommen wir an einem Marterl vorbei, dem hölzernen Käferkreuz, umrahmt von einigen Bänken mit der Widmung des Kierlinger Weinbauvereins. Einige große Vögel kreisen darüber, ob es Bussarde oder Falken sind auf der Jagd nach Mäusen? Nur Krähen und Tauben können wir mit Sicherheit bestimmen. Sie sitzen so dicht aufgereiht auf den Hochspannungsleitungen, flattern und fliegen auf, dass man meinen könnte, sie mögen den Elektrosmog und rappen dabei Elektrosongs.
Es ist eine der wenigen Stellen im dicht be- und zersiedelten Wienerwald, an denen man außer einem Stadeldach weit und breit kein einziges Bauwerk sieht. Im Blick voraus ragen die Wienerwaldhügel hoch empor wie ein Gebirgszug, was er ja als letzter Ausläufer der Ostalpen geologisch tatsächlich ist. Vielleicht zum ersten Mal verstehen wir, dass der Wienerwald die zärtlichste Umarmung ist, die die Alpen für eine Stadt bereit haben. Eine besonders schöne Wiesen-Waldbucht in einer Mulde mit Baumstämmen und einem Jägerstand am Rand können wir uns als die letzte Station für eine Kafka-Lesung vorstellen.

Wir stimmen überein, dass Kafka den Grüntalweg wahrscheinlich gemocht hätte und er ihn immer wieder auf- und abgegangen wäre, bei jeder Tages- und Nachtzeit, um zu ergründen, was ihm daran guttut und was ihn stört, um seine Wirkung in sich eindringen zu lassen. Kurz werden wir in unseren Phantasiegesprächen irritiert von der Gestalt eines enorm großen, braunen Tieres, das in der Ferne an einem Weidezaun entlanggeht. Ein Mammut im Grüntal? Kann nicht sein. Weiter unten kommen wir zu einer Weide, auf der sich eine Kuh mit ihrem Kalb an einem Wassertrog labt. Wahrscheinlich sind sie dicht hintereinander gegangen. Eine Schafherde ist in einem Pferch nebenan untergebracht. Es gibt noch einen richtigen Bauern im Wienerwald, wundern wir uns, Landmaschinen, Strohballen und Säcke mit Futtermittel unter einem Stadel, aber kein Mensch weit und breit.
Weiter unten verengt sich der Wiesenweg, gesäumt von Wildkirschen und Edelkastanien, darunter meterhohe Brombeer- und Brennnesselwildnis, in eine dramatische Wienerwaldschlucht, an beiden steilen Seiten bewachsen von Laubwald, mit einem mäandernden Bächlein tief unten, so klein, dass es auf der Wanderkarte nicht einmal eine Linie oder einen Namen hat. An diesem sonnigen Juli-Tag wird es plötzlich so dämmrig-grün, dass wir nicht mehr den Grund des Tales erkennen können. Als nach einer scharfen Wendung des Weges die ersten Häuser im Licht des sich weitenden Grüntals auftauchen, beginnen wir mit steigender Begeisterung, ein von uns imaginiertes Quartier für Kafkas ideale Sommerfrische auszusuchen.

Dieses Haus, nein jenes, zu groß, zu klein, zu teuer, zu einfach, zu laut, schau, das da hat eine Terrasse nach Südosten, die könnte er mögen, aber der Weg hinauf ist zu steil, denk dir den Winter aus. Dann rechts ein grün-weißes Haus, „Villa Frei. geb. 1901“ steht in goldenen Lettern über dem Eingang, das wäre das richtige, meinst du nicht auch? In dem Türmchen könnte er sein Schreibzimmer einrichten. Auf dem Balkon könnte er ungestört seinen Müller-Leibesübungen nachgehen und sich nackt sonnen. Würden seine quälenden Kopfschmerzen nachlassen? Könnte er hier die Nächte durchschlafen oder sogar etwas schreiben? Ein Kanapee muss unbedingt hinein, so wie in allen seinen Prager Zimmern. Aber nicht einmal Charlotte weiß mehr über deren Beschaffenheit. Aus Leder, mit Stoff, welchem? Wie lang, wie hoch? Mindestens so hoch, dass sich das Riesenungeziefer namens Gregor Samsa darunter verkriechen hätte können.

Bellende Hunde, krähende Hähne, kreischende Sägen, heulende Rasenmäher, schreiende Kinder, Schritte der Nachbarn, Husten, Lachen, Gespräche, fast alles störte den extrem lärmempfindlichen, an Schlaflosigkeit und Kopfschmerzen leidenden Kafka. Schau, hinter dem Haus, ein Stapel Holz und eine Wiese, da könnte er dem Holzhacken, dem Heuen fröhnen und nackt auf der Wiese herumlaufen. Die Hecken sind hoch, niemand würde ihn beim Müllern und Nacktbaden stören. Im Natursanatorium Jungborn am Harz braucht er im Juli 1912 eine Woche, um die Scham und die Badehose abzulegen. Ihm wird übel beim Anblick der alten Männer mit Spitzbauch und Glatze, die nackt mit der Sense hantieren, über Heuhaufen hüpfen, Fußball spielen, miteinander boxen oder nackt über die Wiese stürmen und sich bei Regen im nassen Gras wälzen. Im Tagebuch vom Juli 1912 macht er ausführliche Notizen von dieser Szenerie.

Guck mal, Veronika, in diese Ecke des Garten, unter dem alten Kirschbaum ließe sich leicht ein „Luftlichthäuschen“ bauen, da müsste er nicht einmal auf der Leiter in die obersten Äste steigen, sie fallen ihm direkt in den Mund. Eines war sicher, er würde hier keine Köchin brauchen, ob Vermieterin oder Schwester. Er könnte fast zur Gänze Selbstversorger sein und seiner Angewohnheit des „Fletcherns“ ungestört nachgehen, dem stundenlangen Kauen der Nahrung. Ein Jungborn für sich allein, ideal! Nicht ganz, gibt Charlotte zu bedenken, denn im Grunde liebte er Gesellschaft, er unterhielt sich gerne mit den Gästen der Sanatorien und Pensionen. Immer fand er dort praktischerweise unter ihnen Vorbilder für seine Gestalten. Etwa den christlichen Landvermesser Hilster, der ihn mit der Bibel missionieren wollte. Er ging als Josef. K. in veränderter Form in „Das Schloss“ ein.

Wenn es ihn aus seiner Klause im Grüntal unter Menschen zieht, könnte er zur Redlingerhütte hinaufspazieren und dort mit dem Wirt, seinen Kindern und Angestellten plaudern, vielleicht auch nur schweigend in einer Ecke sitzen, mit dem Hut auf dem Kopf, und mit dem zutraulichen Hund spielen. Er hätte sich amüsiert über diesen freundlichen, dicken Fuchs-Dackel-Schäferhund mit zu kurzen Beinen vom Format und Farbe einer nur leicht angebratenen Rindsroulade, der sich bis heute gern zu Füßen der Gäste im Kies wälzt. Wahrscheinlich hätte er ihn – trotz extremer Unähnlichkeit – Max genannt und mit dem Hundemax gesprochen. Vielleicht eine Karte nach Prag in die Postdirektion geschrieben mit „Lieber Max, du in deinem Anzug, in der Hitze …“ Schreiben oder Notizen machen würde er dort nicht, denn seine Schreibzeit waren die einsamen Nächte.
Eine Schwimmgelegenheit müsste man für ihn ausforschen, denkt Charlotte weiter, denn ohne das Schwimmen würde es kein guter Ort für Kafka sein. Aber die Wienerwaldbächlein reichen nicht einmal einer jungen Forelle zum Schwimmen. Wir überlegen, ob er wohl den 50-min-Weg über den Weißen Hof nach Kritzendorf an der Donau in Kauf nehmen würde? Wir glauben, ja, war er doch ein geübter, ausdauernder Wanderer. Donau oder Strombad, beide hätten Wasser genug für den leidenschaftlichen Schwimmer. Im stillen Donauarm von Kritzendorf könnte er sogar ein Boot mieten, so eines, wie er es in Prag an der Moldau besaß, wo er flussaufwärts ruderte und sich dann nackt flussabwärts treiben ließ. Wir würden auch den Wirt der Redlingerhütte nach einem Pferd für Kafkas Reitlaune befragen. Ein Ritt zum Sonnberg, zur Sandsteinmine oder zur geheimnisvollen Burg der Kinder, bei Mond oder Sonne. Wir waren sicher, dass der Wirt ihn wahrscheinlich bei sich würde gärtnern lassen, wenn es ihn überkam, und ihn vielleicht dafür mit Obst und Gemüse entlohnte.

Wie in allen Gärten des Grüntales blühen um die grün-weiße Villa Frei gerade die Rosen, Oleander, Gladiolen und Hortensien in vielen Farben, die Hauswand entlang ziehen sich volle Ranken mit Him- und Brombeeren, und im Vorgarten warten übermannshohe Ribiselbüsche und Hollerstauden aufs Geerntetwerden. Kafka würde hier ankommen können. Die vorbeiwandernden Quartiermacherinnen sind zufrieden.

Veronika Seyr
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Mein See – Sommersymphonien am Mondsee

Den Vater meiner Mutter habe ich nie kennengelernt und weiß auch bis heute nur wenig über ihn. Er ist acht Jahre vor meiner Geburt gestorben. Die Tochter, auf die Namen Sieglinde Mathilde Hermine getauft, hat nie viel von ihrer Familie preisgegeben. Ich wusste, dass sie keinen ihrer Namen mochte und fand auch für keinen einen passenden Kosenamen. Unsere Vorschläge wie Siegi, Matti oder Hella lehnte sie ab. Mein Vater nannte sie Mama. Einige wenige Gegenstände aus dem Besitz ihrer Vorfahren sind auf uns gekommen. Alle bewunderte ich: den gravierten Handspiegel aus Silber mit Kamm und Bürste, eine Rosenthaldose für Schmuck, eine Amethystkette, die ich als Sechsjährige beim Prinzessinnenspiel verlor – alle schienen mir von außerordentlicher Schönheit und von Geheimnissen umgeben zu sein.
Sogar von Mamas Stiefmutter, die sie als Fünfjährige bekommen hat, habe ich spät und nur aus zweiter Hand erfahren. Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals nach ihrer Kindheit gefragt zu haben.

Aus ihrer Salzburger Schulzeit hat sie Erinnerungen an die Trapp-Familie, mit deren einer Tochter sie das Gymnasium besucht hatte. Vielleicht sind wir auch deswegen sieben Kinder geworden? Papa machte einmal eine halbernste Bemerkung, dass Mama eigentlich acht Kinder wollte, um zumindest in dieser Hinsicht die Trapps zu übertreffen.
Gesichert ist: Großvater Karl Bruche war Ingenieur und Zeichenlehrer an technischen Schulen in Salzburg und Wien. Seine Vorfahren stammen aus Norddeutschland und aus der Zips in der Slowakei. Auf Fotos sehe ich einen alten Mann mit Kaiser-Franz-Joseph-Bart. In den Sommerferien bereiste er als Hobbymaler die Adria-Küsten. Einige Malbücher und einzelne Blätter sind erhalten geblieben und ruhen im Familienfundus.
Als Kind habe ich darin so gerne geblättert wie in Velázquez- oder Dürerbänden.

Später schenkte mir meine Mutter ein Aquarell ihres Vaters, das er zusätzlich mit Buntstiften kolorierte. Es stellt eine Küste dar, wahrscheinlich in Istrien; gerahmt von Pinien, treffen Meer und Himmel in einer Linie zusammen, am linken Rand eingeschnitten von einem Felsenstrand mit Macchia-Büschen.
Wenn ich von meinem Schreibtisch aufschaue, zurückgelehnt wie an einen Pinienstamm, kann ich das warme Harz riechen und das Konzert der liebestollen Zikaden unter dem beständigen Meeresrauschen hören.
Ein Sehnsuchtsbild. Das Land der Griechen mit der Seele suchen. Beide Eltern waren Altphilologen und Germanisten. Und sie liebten Italien: Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen? Dieses Bild hat wahrscheinlich, obwohl keine große Kunst, die Grundlage für meine Überzeugung gelegt, dass Kunstwerke in erster Linie Nutz- und Gebrauchsgegenstände sind. Lebensmittel, Überlebensmittel. Ich habe ihm vor Jahren einen schlichten Holzrahmen verpasst, er könnte von einem Baum von dort sein.

Um dem ungekannten Großvater näherzukommen, habe ich mir immer gern vorgestellt, dass dies sein Lieblingsplatz war, dieser Blick aufs Meer unter den Bäumen, vom letzten Erdstreifen hinaus ins Unendliche. Wie er auf seinem einbeinigen Malerstockerl sitzt, vorm Sonnenaufgang alleine im Nebel, in der Stille der Mittagshitze das Meer glitzert und sich im Sonnenuntergang gold-purpurn färbt. Die Farbe von reifem Weizen, hatte Homer festgestellt. Einmal auf meinen vielen Istrienreisen, habe ich in einem Moment des Schauens gemeint, bei Bale, nördlich von Pula, genau diese Stelle gefunden zu haben. Julia hat dort ein Bild gemalt und dabei unwissentlich denselben Winkel gewählt. Vererbung des Blicks, ob es so etwas gibt?

Immer lebendig und präsent war der Salzburger Großvater aber mit seinem Vermächtnis, dem Sommerhaus am Mondsee. Welche Weitsicht hat er bewiesen, als er zu Beginn der Zwanzigerjahre des vorigen Jahrhunderts ein Seegrundstück kaufte und darauf ein Holzhäuschen im Stil der Mondseer Bootshütten errichten ließ.
Im Rücken die Drachenwand und der dreigipfelige Schober, gegen den See hin eine ein Meter hohe Steinmauer, leicht rechts die stumpfe, gutmütige Nase des Schafbergs, gegenüber die sanften Wellen des Mondseer Hochmoors, später auch das Ungetüm der Autobahnraststation. Wieder ist er da, dieser Blick vom Ufer auf das Wasser, auf die Berge und in die Wolken. Morgenrot – Gutwetterbot, Abendrot bringt Schmutz und Kot – oder ging‘s umgekehrt? Hat der Berg an Huat, wird das Wetter guat, hat der Berg an Sabl, wird das Wetter miserabel.

Die Schafsnase hatte nach dem Regen oft einen Sabl. Diese Bauernregel bewahrheitete sich immer, wie Papa leicht triumphierend feststellte, als hätte er etwas dazugetan. Er war der von Mama etwas respektlos genannte „Wolkenzutzler“, weil er abwechselnd nach Westen schaute, hinter unserer Hütte, in den Wetterwinkel Richtung Salzburg, oder auf der Bank an der Hauswand sitzend, den Schafberg studierte, weil der angeblich alles verriet, was für die Wetterprognose wichtig war. So viel ist sicher, dass wir uns nie an den im Abendrot rauschgolden angemalten und von zuckerlrosa überhauchten Kalkwänden im Morgenrot sattsehen konnten.
Von diesem kleinen Uferfleck aus ließ wahrscheinlich schon der Großvater seine Blicke vom Almkogel über Scharfling bis zu den Felsstürzen und Geröllhalden auf der Brust des Schafbergs schweifen und runter, wo hinter dem Bergzwickel von Unterach der Attersee lag. Es ist leicht auszudenken, dass der Bruche-Großvater auch hier gemalt und gezeichnet hat, obwohl davon keine Spuren auf die nächste Generation gekommen sind. Oder vielleicht doch? Das Zeichentalent meiner Brüder und das meiner Tochter – stammt es von ihm? Der große Unbekannte hat uns viele schöne Sommer an diesem See geschenkt. Er hat für sich und uns mehr als eine Sommerfrische begründet, nach der Geburtsheimat Mühlviertel uns in eine mindestens ebenbürtige zweite Heimat eingepflanzt, uns im Salzkammergut eingewurzelt, bis heute, in der vierten Generation nach ihm.

Die Seligkeit war nicht zu überbieten, wenn man unter dem Glucksen, Gurgeln und zärtlichem Schmatzen des Sees gegen die Steinmauer aufwachte und sofort wusste – Ostwind – das Versprechen auf einen schönen Badetag. Über die Innenseiten des Daches zittern Kringel, die Wellen spiegeln sich in tanzenden Lichtflecken. Noch bevor man aufstand, meldeten sich die Schwaneneltern Hänsel und Gretel und ihre Jungen mit einem leisen Fiepsen, die Enten mit ihrem Geschnatter und verlangten ihr Frühstück. Wir pflückten Löwenzahn und Gras von der Wiese und bröckelten altes Brot in den See. Dass Schwäne schön aussehen, aber böse sind, erfuhren wir, als einmal der Hansl meinen Vater unter scharfem Zischen in den großen Zeh biss, so fest, dass der Nagel blau anlief und er lang nicht in die Schuhe kam.

Sogar die heftigsten Gewitter habe ich in guter Erinnerung, auch wenn Donner und Regengüsse tobten, die Blitze mit hohen Fontänen in den See einschlugen und der Sturm das Wasser aufpeitschte. Dann verwandelte sich das stille, sanfte Gewässer in Meeresungeheuer, vor denen sogar Odysseus Respekt gehabt hätte. Wir wussten uns aber in Sicherheit, weil es ja rundherum viele höhere Gebäude gab und Bäume, dass die Blitze unsere kleine Hütte mit Sicherheit nicht treffen würden. Wir zählten immer von 21 aufwärts die Sekunden zwischen Blitz und Donner, so viele Kilometer war das Gewitter noch entfernt. Schaurig-schön war es, als einmal auf dem gegenüberliegenden Ufer ein Blitz in ein Bauerngehöft einschlug und wir dem nächtlichen Inferno zusahen. Unser privates Feuerwerk. Wie alle Kinder waren wir ein wenig grausam, dem Spektakel mehr zugeneigt als dem Mitleid. Wie wir zwischen dem Donnergrollen das Tatü-Tata der Feuerwehren hörten und im Licht der Blitze und des Feuers die Männlein mit Leitern und Schläuchen hin und her wieseln sahen, das Vieh, das aus den Ställen getrieben wurde und die Menschen händeringend durcheinander liefen. Aber was wollte man gegen das Schicksal machen, wenn man Brandlgschwandtner hieß? Seither weiß ich, dass es die Angst-Lust wirklich gibt.

Wir können uns alle noch an das Bild erinnern, als die Schafbergbahn über dem langgezogenen Rücken ihre Rauchwölkchen ausstieß, zweimal in der Stunde.
Den Schafberg haben wir oft bestiegen, von jeder Seite, jeden Steig kannten wir, jede Geröllhalde auf und ab, nur nicht die Schafbergbahn selbst, die kannten wir nur aus der Ferne, nie waren wir in ihr drin gesessen. Wir kannten sie gut und wieder auch nicht, überquerten oft ihre Geleise, von unten sahen wir immer nur ihre Rauchwölkchen über dem Schafsrücken aufsteigen oder flach liegen, je nach Luftdruck – für Papa ein wichtiger Hinweis für seine Wetterprognosen. In der Senke, knapp bevor es zum Hals aufstieg, hielt es still – das war die Mittelstation. Eine Fahrt mit diesem Wunderding der Technik konnte sich eine Familie mit sieben Kindern nicht leisten. Nie. Auch in das mondäne Schafberg-Hotel waren wir nie eingekehrt. Diese steinerne Trutzburg mit den rot-weiß-roten Fensterläden blieb für uns verschlossen, wir bogen darum herum zum niedrigeren Nebengipfel, dem Adlerhorst, und schauten in die steilen Gräben des Nebengipfels hinunter auf die kühn segelnden Bergdohlen, die im Auftriebswind stehenden Bussarde und bei Glück auf Gämsen in Felsgraten und Latschen.
Als ich nach meinem Amerika-Jahr meine Gastfamilie durch Österreich, dabei auch durch das Salzkammergut, führte, lud sie mich zu einer Fahrt mit der Schafbergzahnradbahn und zu einer Jause in das Hotel ein. Ich war nicht weniger gerührt als meine New Yorker Gäste, wenn auch aus anderen Gründen. Eine späte Enttäuschung war es, als ich feststellte, dass die dieselgetriebene Zahnradbahn die Rauchfahnen schon lange künstlich herstellte.

In der Realzeit sind die Sinneseindrücke nicht getrennt, sondern eine Symphonie aller Sinne von Sehen, Hören, Schmecken, Tasten und Riechen. Am Mondsee wurde der Gleichzeitigkeitssinn geschärft, die Verdichtung des Lebens. Alles war farbiger, klarer, schmackhafter, geruchsintensiver und mit vielen Wundern gesättigt. Mit acht Jahren war ich mit der Mondsee-Initiation dran; das wurde erst möglich, nachdem die drei älteren Geschwister als erwachsen genug eingestuft wurden, im Sommer allein ihrer Wege zu ziehen. Da erst durften wir Jüngeren nachrücken, weil ja nie genug Platz für alle sieben in der Hütte war. Wir hatten damals noch kein Auto, fuhren also umständlich von Tulln mit Bahn und Autobus nach Bad Schallerbach zu Onkel Karl, der in Bachmaning eine Gemischtwarenhandlung betrieb und einen kleinen Militär-grauen Renault hatte. So einen, bei dem die Türen in der Mitte zueinander aufgehen und die Winker mit einem lauten Klicken auf den Seiten herausschnellen wie kleine Streckenwärter. Der brachte uns, ich weiß nicht wie, zusammengepresst, zu fünft nach Plomberg am Mondsee, mit allem Gepäck. Papa fuhr mit dem Rad nach. Everything goes.

Die Kirschen von Bachmaning, ich weiß nicht mehr, ob aus dem Onkel Karl- oder in einem Nachbargarten, sie sind bis jetzt noch immer die besten auf der Welt. Die Spannung in der Hand beim Griff in einen der großen Glasbehälter mit dem schrägen Hals, zu dem mich Tante Hermi eingeladen hat, ich kann sie jetzt noch spüren. Die Seidenzuckerl der Tante Hermi. Die größte Sensation, an die ich mich erinnere, war die Schartner Bombe, gespendet von den mir unheimlich reich scheinenden Onkel Karl und Tante Hermi. Das Göttergetränk in der dunkelgrünen, rundlichen Flasche mit einer gelben Zitrone drauf, das spritzig kitzelte auf der Zunge und explodierte am Gaumen, bald schon war es warm und schlabbrig wie Kinder-Lulu. Es roch im Zustand der Zersetzung nach Kaugummi, wenn wir so etwas schon gekannt hätten. Aber in diesem Geschmack aus Scharten winkte die große, neue Welt!

Bei uns geriet fast jede Situation zum Wettbewerb. Wer sah in dem Bergzwickel hinter Regau als erstes den Attersee und rief als erster: „Ah, der See!“ Wer sah nach dem Hochmoor als erstes die Spitze des Schafbergs, das erste Segelboot am Mondsee? Wenn wir an einer Burg vorbeikamen, nie vergaß Mama das „Riesenspielzeug“ von Chamisso anzustimmen, in das wir wie trainierte Papageien im Chor einfielen: “Burg Nideck ist im Elsass der Sage wohl bekannt/Die Höhe, wo vor Zeiten, die Burg der Riesen stand… /
Ein großer Silberschöpfer bei uns im Haushalt, wahrscheinlich das einzig erhaltene Stück eines Services, hieß „der Suppenlöffel von der Burg Nideck“.
Bis zu den letzten Zeilen schmetterten wir durch den VW-Käfer: „Sie selbst ist nun verfallen, die Stätte wüst und leer./Und fragst du nach den Riesen, du findest sie nicht mehr.“ Gerade da tauchten die Ruinen von Burg Wartenfels auf halbem Weg zum höchsten Schobergipfel mit dem Kreuz auf, und die heiße, beengte Autofahrt hatte in Plomberg ihr Ende. Ob die bildungsbürgerlichen Eltern uns damit die größere Realität von Dichtung praktisch vorführen wollten oder selbst nur ihren Spaß hatten? Sie sagten einander stundenlang Gedichte und Balladen auf, ihr Wettbewerb? Wer kann das heute noch wissen. Auf jeden Fall trainierte Mama bis ins hohe Alter mit dem Gedicht- und Balladenschatz ihr ohnedies ausgezeichnetes Gedächtnis. Sie hatte eine eigene Wikipaedia im Kopf.

Am Mondsee erkannte ich, dass das Salzkammergut ganz anders roch als meine Donau-Mühlviertler-Umgebung. Das frisch gemähte Gras hinter unserer Hütte bis zum Hanslbauer, das Heu, der klare, nicht modrig-algige Geruch des Wassers, wie ich es von der Donau kannte, hier viel frischer, weil aufgemischt vom durchsichtigen Seewasser, vom zitronigen Schilf und angereichert mit den Wald- und Beerengerüchen.

Die ganze Schönheit des Lebens konnte einem in einem Sommersonntag aufgehen: Draußen in der Seemitte flattern und knattern weiße Segel im Wind, Reihe um Reihe ist aufgezogen. Wir haben Glück und sitzen in der ersten Reihe, denn unserem Ufer gegenüber liegen die Wendebojen der Mondseer Segelregatta. Postkarten- und Landschaftsmalermotive mit glitzernden, türkisblauen Wellen und Schäfchenwölkchen darüber. Das Licht funkelt und flimmert, als hätte ein freigiebiger Zauberer Edelsteine ins Wasser geschüttet. Nachdem wir alle schwimmen gelernt hatten, durften wir das Holzboot des Tischler-Ebner-Nachbarn ausleihen, nach links bis zur Mündung der Fuschler Ache ins Schilf fahren oder nach rechts um den Mündungsspitz des Klausbaches, in die Bucht mit den Bootshütten bis zum Hotel Plomberg.
Viel später bekamen wir ein eigenes Ruderboot aus Plastik, das man leicht auf den Steg ziehen konnte. Franzi war der geborene Fischer und verbrachte viel Zeit im Boot, wobei er nicht einmal den Regen scheute, weil da angeblich die Fische noch besser anbissen. Mehr als einen ungenießbaren Weißfisch oder eine lebensmüde Aalrutte brachte er meiner Erinnerung nach nie nach Hause. Das Fischen ist das Ziel, nicht der Fisch, lautete einer von Mamas stehenden Sprüchen, ähnlich wie beim Wandern, keine Müdigkeit vorschützen!
Mir imponierte, dass der ganze See in Privatbesitz war und einer Frau gehörte (laut Wikipaedia heute 16 Millionen Euro wert, habe ich gerade gegoogelt). Die Gänge in das Allmeier‘sche Schloss in Mondsee, wo man die Fischereikarten lösen musste, hatten immer etwas von der Andacht einer Wallfahrt.

Wenn ich in die Tiefe der Erinnerungs-Bilder schaue, gefällt mir aber ein anderes noch besser. Wenn man vor Sonnenaufgang aufstand, und ich tat das, weil ich immer nur kurz schlief, konnte man den Fischer in seiner flachen, langgezogenen Zille hinausfahren sehen – hieß sie nicht Plätte? – eine einsame, aufrechtstehende Gestalt, im Morgennebel Netze auswerfend. Ein Bild wie von einer tausendjährigen Steinabreibung vom südchinesischen Meer hat sich eingeprägt. Wenn wir beim Frühstück saßen, bei Milch und Eiern vom Hanslbauer, Joghurt und Käse aus der Mondseer Molkerei und Brot aus der Teufelsmühle, selbst eingekochte Him- oder Heidelbeermarmelade darauf schmierten, dann fuhr er die Saiblinge und Reinanken, Forellen und Hechte ein, die er aus den ausgelegten Netzen und Reusen einsammelte.

Ich kann nicht entscheiden, zu welcher Zeit der See am besten roch. In aller Früh, wenn Fische, Algen und Schilf zusammen ihre Gerüche an Land schickten oder in der prallen Sonne, wenn das Heu duftete, die imprägnierten Holzbalken der Hütte in der Hitze siedeten oder nach dem Regen, wenn die Luft getränkt war mit Erd- und Waldgerüchen.
Obwohl wir oft genug Anlass hatten, über das Salzkammergutwetter, den Schnürlregen, zu jammern, der uns an den Badefreuden hinderte, habe ich auch die Regentage in schöner Erinnerung. Wenn die Tropfen anscheinend endlos an den Fensterscheiben herunterrannen und draußen die putzigen, von uns Duckanterl genannten, Haubentaucher ihre Köpfchen-unter-Wasser-Spiele aufführten, wir die Sekunden zählten und die Meter schätzten, wie lange sie unter Wasser bleiben konnten und wo sie wieder auftauchen würden.
In der Geborgenheit des Dachgiebels, auf den staubigen Strohsäcken liegend, ein Buch auf den Knien, hörten wir dem vielstimmigen Trommeln und Prasseln des Regens zu.

Wir hatten immer viele Bücher dabei und lasen um die Wette, spielten viele Gesellschaftsspiele, Quartette oder Stadt-Land. Das Hüttenbuch lag immer bereit. Alles wurde aufgeschrieben, dieses Buchführen war vor allem Mamas Leidenschaft. Aber wie bei allem, hatten unsere Eltern auch für die Ferien ein Programm, niemand durfte einfach nur so in den Tag hineinleben. Oft wurden wir unter Murren, ausgerechnet bei schönstem Wetter, vom See in die Berge zum Wandern gestampert. In den ersten Jahren noch mit der Bad-Ischlerbahn, später mit dem Postautobus, in den letzten Jahren mit Papas VW-Käfer, klapperten wir Orte und Berge im ganzen Salzkammergut ab.
Wir bevölkerten die Almen, Bergseen, Hütten, Schluchten und Latschenhänge, Adlerhorste und Gipfelkreuze mit ihren Gipfelbüchern und Stempeln. Ich glaube, wenn wir anderen Wanderern begegneten, fragten die sich, ob wir ein Kinderheimausflug waren. Wir hatten genagelte Goiserer an den Füßen, die mit knarrendem Eigensinn Blasen produzierten, Hubertuswetterflecke, die bei Regen schwer wurden als Ziegeldecken, nach Schaf rochen und auch in Tagen nicht trockneten; der Familienrucksack mit den Aluminiumproviantdosen ging zum Tragen reihum. In der am Gürtel baumelnden Feldflasche war nie Kracherl oder Sirupsaft, sondern immer nur reinstes Quellwasser. Auf mancher Almhütte waren wir dem Genusshimmel nahe, wenn wir einen Becher Buttermilch bekamen.

Wenn andere Kinder nach den Ferien von ihren Sommerfrischen am Atter-, Traun-, Hallstätter-, Altausseer oder Wolfgangsee schwärmten, mit ihren viel größeren Flächen, größeren Schiffen, berühmteren Orten, Hotels, Villen und namhaften Gästen, hielten wir dagegen, dass der bescheidene Mondsee das bessere Wasser habe und mehr Fische. Manche verstiegen sich sogar dazu, den Mondsee abschätzig als „Tor zum Salzkammergut“ zu bezeichnen. Was, wir sollten nur Türlsteher sein? Wir waren die Perle! Einmal geriet ich mit einer Freundin in Streit, deren Familie eine Villa à la Habsburg in Steinbach bewohnte, weil sie behauptete, nur die Salzburger und Steirer Gebiete gehörten zum Salzkammergut, nicht aber das ordinäre Oberösterreich.
In gekränktem Lokalstolz hielt ich heftig dagegen: Unser Seewasser ist dafür in Sonnenperioden viel wärmer und weicher. Bis zu 28 Grad, eine Kinderbadewanne, in der man sich stundenlang suhlen kann, ohne blaue Zitterlippen zu bekommen und ohne die Eiseskälte wie in Hallstatt oder Gmunden, mit dem unheimlichen, fast schwarzen Wasser oder gefährlichen Strömungen wie im tiefen Grund des Attersees. Ja, vor allem das weiche Wasser priesen wir, in dem man keine Seife zum Waschen brauchte und keine Geschirrspülmittel. Wir bewiesen immer wieder seine Trinkwasserqualität, indem wir bei unseren Luftmatratzenschlachten literweise Seewasser schluckten.

Wenn wir vom Steg oder Boot ins türkise, kristallklare Wasser schauten, konnten wir metertief auch noch die kleinsten Spennadler erkennen und den weißen Kies am Grund. Während der Blaualgenpest verwandelte sich das türkise Kristallwasser in eine blaue Brühe, unappetitlich anzusehen, aber für die Schwimmer harmlos. Und von gutem Wasser verstehen alle Teile der Familie etwas. Waren doch die Männer der väterlichen Hälfte Bierbrauer und Wirte, die mütterlicherseits Weinbauern bei Baden. Aber es gibt auch wissenschaftliche Beweise für das gute Wasser des Mondsees. Es wird schon kein Zufall oder persönliche Vorliebe von Biologen gewesen sein, dass die Fischzuchtanstalt der Hochschule für Bodenkultur vor vielen Jahrzehnten in unserem Nachbardorf Scharfling eingerichtet wurde. Noch früher hinterlegte Kaiser Maximilian beim Fürsterzbischof seinen Wunsch, lieber in Mondsee begraben zu werden als in Innsbruck, was ihm aber verwehrt wurde.

Abgesehen von messbarer Wasser- und Luftqualität erschien mir alles um den Mondsee sauber, echt, unschuldig und unverdorben. Vielleicht weil noch eingehüllt in das „Jenseits von Gut und Böse“? (Religion: gut ist gleich schön) Vielleicht weil dort die Wurzeln der Eltern zusammenkamen? (Blut & Boden) Vielleicht weil es eine Urlandschaft war, der Prototyp einer Landschaft, in der die Menschen alles fanden, was sie zum Leben brauchten? (Blaue-Blume-Romantik).
Eine Mischung von allem, von allem etwas, was sich zu einem heilen Ganzen fügte. Weil diese Gegend in den überschaubaren Jahrhunderten keinen größeren Schicksalsschlägen ausgesetzt und daher von positiver Energie besetzt war? (Esoterik) Weil sein Name auf die rührende Volkssage vom bayrischen Herzog Odilo zurückging? (Historismus). Mama wusste natürlich, weil sie alles wusste, dass der Name nicht vom Mond herkam, sondern dem alten Adelsgeschlecht der Mann.

Es gab sicher nicht so viele spektakuläre Berge, Gebäude und Menschen wie woanders, alles war lieblich und sanft bis zur Unscheinbarkeit. Zugegeben, unsere Schiffe „Mondsee“, „Helene“ und „Wartenfels“ waren viel bescheidener als die der anderen Seen. Aber wir hatten oft das bessere Wetter, weil der Mondsee nicht von so hohen Bergen umgeben war, an denen die Salzkammergut-Regenwolken leicht hängenblieben. Und schwere Gewitter, die oft Muren und Bergstürze brachten. Wir waren auch besser gefeit gegen die badehungrigen deutschen Touristenhorden, die die anderen Seen regelmäßig überfielen, sodass kein Parkplatz und kein Bett freiblieb, man sich vor zudringlichen Blicken kaum retten konnte, die Grundbesitzer die Buchenhecken übermannshoch wachsen ließen, überall Tafeln mit „Privat – Zutritt verboten“ aufstellten, Ketten spannen oder Felsbrocken in die Einfahrt rollen mussten, die Preise in die Höhe schnellten und auf den Speisekarten so unselige Wörter wie Quark- und Blaubeerkuchen, Brötchen, Frikadellen, Eisbein und Klöße auftauchten, auf den Badeplätzen es nur so von Schippen und Eimern schepperte, von Heinz-Jürgens und Annegrets und, nöö, kuckmal! dröhnte.

Und wer hat – Hallstatt ausgenommen – etwas Ähnliches aufzuweisen wie die Mondseekultur mit Pfahlbauten und Einbäumen aus der Jungsteinzeit? Trotz all der illustren Orte konnte sich keiner mit so einem rätselhaften Namen wie „Schwarzindien“ schmücken. Das brachte einen doch gleich zu Kolumbus und Darwin. In der Kirche von St. Lorenz, mit den uralten Linden vor der barocken Pracht der zwiebeligen Doppeltürme, betete der diensttuende ugandische Priester für gutes Wetter. Weil er einen direkten Draht nach oben und zu den afrikanischen Wettermachern hatte, waren seine Gebete von größerer Wirkung als die Bayerische Wetterumschau.

Das Wort kannten wir wahrscheinlich noch nicht, aber wir fanden unseren See viel romantischer als die großen Nachbarn – wahrscheinlich sagten wir gemütlicher – weil viel mehr „unser eigener“ als die berühmten Touristenattraktionen. Meine altphilologische Mutter wird sicher so etwas wie „Locus amoenus“ von sich gegeben haben, nicht ohne auf die besondere Geschlechtssituation von Locus und Domus zu verweisen. Der Mondsee ist zweifelsfrei lieblich. Außerdem gehörten wir zu den ältesten, stolzen Seegrundbesitzern, wenn auch nur von der Größe eines Tischtuches mit einer Einzimmer-Holzhütte aus groben Balken darauf, mit von Papa selbstgebauten, himmelblau lackierten Möbeln, einem Gaskocher mit erst einer, dann – welch Fortschritt – zwei Flammen und einer Gasflasche, mit vier Strohsäcken im Dachgiebel, einer Hühnerleiter, einem Plumpsklo, das alles ohne Strom und Fließwasser.
An den Abenden saßen wir über Büchern und Schreibheften, wir spielten Städte- oder Blumenquartett, Kennst du Österreich, Mikado ohne Ende, in der Mitte Kerzen, später eine Gaslampe, heftig umflogen von allerhand Insektengetier. Ich kann mich an keine einzige Krankheit oder Krise erinnern, die uns am Mondsee erreicht hätte. Oder doch eine: Der jüngste Bruder Franz produzierte einmal einen Wutanfall, als ihn Papa zwang, den verhältnismäßig großen Weißfisch wieder freizulassen, weil er eh nur aus Gräten bestand.

Aber gab es ein besseres Stroh und Heu aus dem Stadel oder Wasser aus dem Brunnen vom Hanslbauer? Kein Hotel konnte bessere Betten, kein Restaurant frischere Fische haben. Die wirklich großen Katastrophen kannten wir nur aus Erzählungen und kleinen vergilbten Fotos, als etwa beim Jahrhunderthochwasser 1954 der See einen Meter hoch im Hütterl stand, es einzustürzen drohte, und die Familie zum Hanslbauern flüchten musste. Oder als einmal ein Sturm die große Linde fast aufs Hütterldach geworfen hätte; sie wurde gefällt, und nur der abgeschnittene Stumpf vor der Türe erinnerte noch daran.

Wegen seiner schriftstellerischen Tätigkeit bekam Papa oft Gäste aus aller Welt, auch in Plomberg. Die Amerikaner sagten immer lovely, how lovely, und so many children, so sweet and cute und dachten wahrscheinlich, dass unsere Familienhütte für ihren Hund in Kentucky zu klein gewesen wäre.
Ich habe immer viel gelesen, beobachtet, nachgedacht und in den Nachthimmel hinaufgeschaut. Die Sternbilder lernte ich dort kennen und entwickelte eine typisch jugendliche Begeisterung, wenn sich zum ersten Mal die Welt ins Unendliche ausdehnt. Als ich einmal im beginnenden Teenageralter dem Vater vom Kosmos vorzuschwärmen begann, sagte er so etwas Rätselhaftes wie: Verwechsle nie Quantität mit Qualität, Masse und Mensch. Und gab mir Elias Canetti und Ortega y Gasset zu lesen.

Die Luft war sauber und vollkommen dunkel bis hinauf zu ihrem Geblinke. Wenn es unter dem Dach auch in der Nacht noch zu heiß war, durften wir in der Wiese schlafen und wachten taubeschlagen auf. Der Klausbach rauschte damals noch vom Almkogel herunter in einigen Stufen von Wasserfällen, gleich neben uns schüttete er sich in einem kleinen Delta in den Mondsee, ein Sandstrand, wo wir spielten und von dem wir in Kübeln Kies für die Wege um die Hütte holten. Ein tägliches, morgendlich ungeliebtes Ritual für uns Kinder, die langen Fleckerlteppiche auszuschütteln und die Hütte auszukehren. Ordnung muss sein.

Ich hatte damals keine Vergleiche, aber Jesolo (sie sagten Dschesolo), Caorle oder Lignano Sie sagten Liknano), von denen damals schon manche Mitschülerinnen schwärmten, können nicht schöner gewesen sein. Da war ich sicher.
Sie redeten von Gelati und Tutti frutti, ich dagegen war selig, wenn ich in der Mondseer Milchtrinkhalle ein Erdbeer-Frufru bekam. Das Viertelglas war braun, hatte eine Metallkappe und darunter eine zweifingerdicke Schicht von Marmelade. Der Löffel war überlang, damit man sich die Finger nicht ankleckern sollte. So einen Löffel hatten wir bei uns nicht. Aber genau das liebte ich, das Abschlecken der Finger, des Löffels, des Randes und das ewige Auskratzen bis zum letzten Restchen. Auch das ist eine Mondseesymphonie, das helle Klingeln, unser Klingeln mit den Löffeln in den Glasfläschchen.

Einer unserer schönsten Spielplätze war der Klausbach, solange er nicht bei Gewittern wild wurde. Von der Mündung durchs wilde Bachbett sprangen wir rauf oder runter, von Stein zu Stein, in den natürlichen Badewannen dazwischen plantschten wir im eiskalten Wasser und kletterten an der Thekla-Kapelle den Wildsteig an das Steilufer hinauf. Ich müsste jetzt nachschlagen, d.h. googeln, wofür die Heilige Thekla zuständig war, dort und damals. Das Innere der Kapelle war übersät mit Bildchen, Briefen und Devotionalien: Beine, Arme, Herzen und andere unbestimmbare Körperteile, dazu Kerzen, Münzen und Blumen. Die Sträuße in den Vasen, das Tannenreisig und die Farne waren immer frisch, auch die Gaben von Beeren, Äpfeln und Nüssen, also mussten Menschen, Frauen, diesen Ort häufig besuchen.
Ich erinnere mich an die Abbildung der Hl. Thekla mit einem Löwen und anderen wilden Tieren, die in dieser Gegend nicht vorkamen. Der altarähnliche Aufbau über einem weißen Leinentuch mit eingesticktem Kranz von IHS war einem Scheiterhaufen nachgebildet, auf dem die Figur der Märtyrerin stand. Sie war der erste Mensch, den Paulus taufte. Eigentlich war die in Syrien als römische Offizierstochter geborene Thekla nur eine Protomärtyrerin. Denn nach den Paulusakten hatte sich das Feuer geweigert, die als bekennende Christin angeklagte Jungfrau zu verbrennen; die wilden Tiere, die sie im Zirkus eigentlich zerreißen sollten, retteten und versteckten sie in einer Höhle im syrischen Dorf Maalula, wo sie bis ins hohe Alter ein Eremitendasein geführt haben soll.
Ein orientreisender Dichterfreund hat mir erzählt, dass er im dortigen Thekla-Kloster das Vaterunser auf Aramäisch, der Sprache der Bibel, in tiefer Bewegung gehört hat. Die Menschen sprachen den altsemitischen Dialekt, dessen sich auch Christus bedient hat. Das waren die Laute, mit denen Wasser in Wein verwandelt, Fisch und Brot vermehrt, die Bergpredigt gehalten und Lahme gehend gemacht wurden. In ihrer Höhle hat er aus derselben Quelle getrunken wie die Römerin. Thekla war schon im frühen Christentum so populär, dass man ihr schon im 4. Jahrhundert in Mailand eine Kirche widmete, an der Stelle, wo heute der Dom steht und wo man sie noch heute in der Krypta besuchen kann.
Übrigens: Was hat es zu bedeuten, wenn überhaupt, dass ich nun schon seit 42 Jahren in einer Wohnung lebe, die sich genau zwischen Paulaner-Kirche und St. Thekla befindet? Darauf bin ich gerade erst gestoßen, als ich diesen Text verfasst habe.

Unsere Thekla-Kapelle im Plomberger Wald stand auf keiner Lichtung, sondern auf einem von Baumstümpfen und einigen grob gezimmerten Holzbänken umsäumten Platz zwischen Tannenstämmen, so hoch, dass kaum je ein Sonnenstrahl auf den Boden traf, und niemand den Himmel oben sehen konnte. Etwa in einer Erwachsenen-Kopfhöhe, wir waren viel zu klein, um näher daran zu kommen, hingen von den Baumstämmen dunkle, verhutzelte Fetzen herunter. Es hätten Flechten sein können. Hedi und Franzi waren gewiss dabei, weil ich sie immer hüten musste. Ich weiß nicht, ob sie sich daran erinnern. Das waren an die Stämme angenagelte Plazentas, als Fruchtbarkeitskult und zur Abschreckung? Ich habe nie danach gefragt. Eindeutiger waren da schon die Totenbretter, die ebenfalls an die Tannen genagelt waren mit eingeritzten Jahreszahlen. Was sollte die erste christliche Jungfrau aus Kleinasien ausgerechnet mit einem Plazenta-Kult zu tun haben? Heute vermute ich, dass dieser Brauch wahrscheinlich älter als das Christentum ist, wahrscheinlich ein keltischer Kultplatz, der später in die Thekla-Verehrung hineinkulturiert wurde. Die Rundtänze der Feen und wilden Weiber auf diesem Platz malte ich mir besonders gern aus.
Aber unser selbst geschaffenes Zauberreich lag im Wald zwischen den moosüberwachsenen Felsmugeln rechts von der Thekla-Kapelle, oberhalb des Weges, im Geröll des Drachenwandfußes, wo die Farne größer waren als wir.

Die Geschwister werden immer dabei gewesen sein, aber ob sie die gleiche Beziehung zur unsichtbaren Welt hatten, kann ich nicht sagen. Ebensowenig, ob sich die ältere Lisl für unsere Zauberwelt interessiert hat. Ich sehe sie in diesen Zwergenwaldbildern nicht, viel deutlicher den Kopf mit den schönen, dicken Zöpfen über ein Buch auf den Knien gebeugt und dabei strickend. Oder stickend. Kreuzerlstiche in grobes Naturleinen hinein, rot und schwarz. Immer mehr Tischdecken und Polster begannen das Hütterl und das Tullner Haus zu beleben. Sie war in dieser Hinsicht genial, sie konnte beides gleichzeitig.
Wir bauten den Zwergen, Trollen, Feen, Waldschraten und Geistern, von denen wir den Wald so sicher bewohnt glaubten, wie wir an den lieben Gott glaubten, kleine Häuschen, ja ganze Dörfer bauten wir, damit sie nicht immer unter der Erde bleiben müssten. Aus Zweigen, Ästen, Steinen, Tannenzapfen, Bockerln, Gras und Moos legten wir die Anlagen zwischen den Felsblöcken an, bestreuten die Wege mit weißem Kies aus dem Klausbach, pflanzten Bumen, Beeren und Bäume aus Farnen und Fichtenzweigerln, bauten Bankerl und Vordächer, damit auch sie vor Regen geschützt waren. Die Erdgeister erschienen als Feuersalamander, die Feen als Schmetterlinge und die Nymphen als Libellen.

Der Wald war reich an duftenden Zyklamen; dass sie nach unserem Blumenquartett unter Naturschutz standen ebenso wie der Enzian, kümmerte uns nicht, der Zweck heiligt die Mittel. Aus Farnen und Tannenreisig bastelten wir Palmen. Die Fenster legten wir sogar mit von St. Nikola mitgebrachtem Katzensilber aus. Meine Bewunderung für Moose und Flechten geht auf diese Zwergerlarchitektur zurück. Es gab viele Arten mit verschiedenen Farben und Formen. Wir hinterließen auch milde Gaben: Beeren, Nüsse und Brotbrösel. Schließlich könnte es ja auch im Wald noch Hänsel und Gretel, Brüderchen und Schwesterchen, Schneewittchen, Schneeweißchen und Rosenrot geben, vielleicht auch Dornröschen und Rapunzel. Meine Lieblingsfigur war die Schlangenkönigin mit ihrem Krönchen am Kopf, der man, das wusste ich von der Großmutter in St. Nikola, immer ein Schüsselchen mit Milch hinstellen musste.

Wenn wir unsere Bauwerke manchmal zerstört vorfanden, wahrscheinlich von Dorfbuben oder achtlosen Spaziergängern, bauten wir die Dörfer unermüdlich wieder auf, noch reicher und prachtvoller, und sagten uns, die Bewohner seien unzufrieden mit ihren Häusern gewesen. Ich war überzeugt, dass sie, wie im Märchen die sieben Zwerge, im Erdinneren lebten und zur Arbeit ins Bergwerk gingen, während Schneewittchen den Haushalt besorgte. Ich durfte aber nie, um die Existenz von Schneewittchen und den Zwergen zu überprüfen, um Mitternacht in den Wald. Bis heute eine große Erkenntnislücke. Ich fühlte mich als Expertin, schließlich war meine erste Bühnenrolle bei der Katholischen Jungschar der 7. Zwerg, der zwar keinen einzigen Satz allein sagen, aber immerhin im Chor, mit einem angeklebten Bart aus Werg am Kinn, über die Bühne stapfen durfte, wenn wir im Gänsemarsch, mit roter Zwergerlmütze und einer Laterne über der Schulter in den Stollen marschierten. Das Schneewittchen war Hedwig, die Hübscheste, so sicher wie ein Naturgesetz.

Die Hitze liegt noch immer auf dem See und brütet still in den Wiesen, wenn die Sonne langsam hinter der Drachenwand verschwindet und mit den letzten Strahlen die Schafsnase rosa-golden färbt. Zwischen uns und den Bergen macht sich ein Gemisch aus kurz- und kleingehackten Schatten breit. Obwohl der Maler den großen Nachbarsee für seine Sommerfrische bevorzugte, ließ er uns bescheidenen Nachbarn doch genügend klimt‘sches Wiesengrün mit Safrangelb, silbriges Grün mit den dunklen Flecken des Hochwalds übrig. Er hat am Attersee nicht alles weggemalt, er hat dort nur akribisch die Natur als Theorie der Optik untersucht und sich dabei vom zuvielen Wiener Gold erholt. Mit Mohn, Margeriten, Glockenblumen, Wiesenschaumkraut, Zittergras, Arnika, Skabiosen, Thymian, Wermut, Hahnenfuß und Johanniskraut.
Einiges davon sammelten und trockneten wir für Tees. In einer Seitengeschichte gibt es die Erinnerung, dass Mama einmal die ganze Familie fast vergiftet hat. Mit Waldmeistersekt, der in die falsche Richtung aufgegangen war. Auf ein „Komponierhäusel“ wie das des Gustav Mahler, in dem er 1893 in nur wenigen Wochen die 2. Symphonie aufs Papier warf, kann der Mondsee nicht verweisen, auch nicht auf illustre Gäste aus Salzburg, Staatsoper, Burgtheater und Musikverein.

Ich jedenfalls habe nichts vermisst. Für uns waren die Familien der Hanslbauer und Tischler-Ebner mit ihren vielen Kindern, der Fischer, die Kramerin und die Drachenwandwirtin, die geheimnisvolle Seebesitzerin und der Müller in der Teufelsmühle die wahren Hüter meines Kindheitsparadieses. Wenn wir den heißen Zehn-Kilo-Brotlaib im Rucksack nach Hause trugen, brannte die Haut nicht nur vor lauter Erwartung und es duftete, wenn wir von der Verkäuferin in der Mondseer Milchtrinkhalle eine Scheibe Mondseer Käse geschenkt bekamen und die Eltern jedem eine frische Kaisersemmel und ein Flascherl Erdbeer-Frufru kauften und das auf einem Bankerl der Uferpromenade verzehrten, waren wir reich und glücklich.
Vor Mamas Heimatstadt Salzburg hatten wir Respekt, sie zeigte uns ihre Schönheiten, die wir anerkannten, die uns aber nicht zum Verweilen einluden. Niemand von uns hat dort studiert oder sich angesiedelt. Ich glaube, dass sich keines von meinen Geschwistern in die Stadt verliebte. Wir flüchteten jedes Mal in Entsetzen vor der Künstlichkeit der Stadt und den Touristenmassen zurück an unseren See.

Aus der sorgsam gefrästen Seesichel kriecht langsam die abendliche Kühle hervor.
Das letzte Licht, das vom Westen hinter dem Schober auf das Wasser geworfen wird, ist gelb-grün-rosa. Bei leichtem Wellengang tanzen die letzten Lichtsprenkel auch noch ins Türkis-Silbrige. Die Schafsnase zieht sich ins Dunkel zurück. Nacht, gute Nacht.
In so einem Augen-Blick war es wahrscheinlich, dass Mama mit ihrer Zitierfreude an ihrem geliebten Mörike nicht vorbeikam. Wenn Papa sie seine „wandelnde blaue Blume“ nannte, verstanden wir das damals nicht, spürten aber, dass es liebevoll gemeint war.

„Gelassen stieg die Nacht ans Land/Lehnt träumend an der Berge Wand;/Ihr Auge sieht die goldne Waage nun/Der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn;/Und kecker rauschen die Quellen hervor,/Sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr/Vom Tage/vom heute gewesenen Tage.“
(Eduard Mörike: Um Mitternacht, 1828)

Erst viel später stieß ich auf eine weniger romantische, aber umfassendere Definition von Magie, bei Franz Kafka in einem Brief vom 14. Juli 1923 an Robert Klopstock aus dem Ostseeort Müritz: “Ich glaube an die Macht der Orte oder richtiger an die Ohnmacht des Menschen.“

Veronika Seyr
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Das Pack

Kurt konnte nur am Sonntag schreiben. Die anderen sechs Tage der Woche arbeitete er im Herrenmoden-Geschäft seines verstorbenen Onkels. Allzu ernst nahm er sein Schreiben nicht; es war im Grunde nicht mehr als eine Beschäftigungstherapie, die ihm der Arzt wegen seiner angeschlagenen Nerven empfohlen hatte. Er litt an Schlafstörungen, weigerte sich aber, Medikamente zu nehmen. Das Schreiben lag ihm noch am ehesten, im Gegensatz zu Zeichnen, Porzellanmalerei, Origami oder Ikebana, was der Doktor auch noch vorgeschlagen hatte. Immerhin hatte Kurt bis zum Antritt der Onkel-Erbschaft in einem Sachverlag für Ornithologie gearbeitet, wenn auch nur als Buchhalter.

Der Sonntag Mitte Juli war ein heißer Tag. Kurt saß im Unterhemd an seinem Schreibtisch, die Fenster waren geschlossen, die Jalousien halb heruntergelassen. Vor ihm lagen mehrere Schulhefte, die zwanzig Bleistifte parallel ausgerichtet, Radiergummis in verschiedenen Größen und Farben, Spitzer, Büroklammern, Klebstoff und ein Stoß mit einzelnen A4- Blättern, haargenau gestapelt an der rechten, oberen Ecke des Tisches. Er hatte immer schon die Gewohnheit gehabt, auch im Verlag, alles vorzuschreiben. Erst wenn er zufrieden war, übertrug er das Geschriebene in ein Heft. Die verworfenen Zettel verbrannte er sofort im Waschbecken der Küche, damit er es sich nicht anders überlegte und zu tüfteln anfing. Dieses an Sonntagen wiederkehrende Vorgehen beruhigte ihn und gab ihm eine gewisse Sicherheit, dass er mit seiner Schreibtherapie Fortschritte machte. Es war seine Form der Kontingenz, mit der Welt in Verbindung zu stehen. Zwei Vogel-Geschichten hatte ihm sein alter Verlag schon abgenommen.

Er war nun etwa dreißig Minuten an seinem Tisch vor den leeren Blättern gesessen, konzentriert und gerade lange genug, um die Ahnung einer Idee für einen Ansatz zu finden, den er heute bearbeiten wollte: „Die Zugvögel am Schwarzenbach vor dem Aufbruch“, da hörte er die Männer kommen, vier oder fünf. Es war früher Nachmittag. Unter lautem Reden und Lachen bogen sie von der Schwarzenbachstraße mit dem Katzenkopflaster auf den kleinen, asphaltierten Platz der Reihenhaussiedlung ein. Wie das klang, mussten zwei von ihnen genagelte Schuhe anhaben.

Hei Börni, heute bist du dran.
Los, Walter, immer drauf.
Nein, ich will heute nicht ins Tor, soll doch der Karli.
Oida, kannst dich gleich wieder schleichen, wenn du nicht, du A….
Ok, geh ich halt ins Tor.
Maarioo, hier rüber, mach schon, du oida Beidl!

Wumm, plopp, wumm, plopp – schon krachten die Schüsse in unregelmäßigem Stakkato an des metallene Garagentor, das die Männer als Goal benutzen. Der ganze Platz hallte wider, die in einem Halbrund stehenden, zweigeschoßigen Häuser warfen die Geräusche einander zu und vervielfältigten den Lärm zu Dauerexplosionen. Tore schießen, das machten sie die ersten dreißig Minuten immer als Aufwärmübung. Vergeblich hoffte Kurt, dass es nachlassen würde. Er kaute hinten an seinem Faber&Faber-Bleistift Nr. 5, extra hart, und nahm sich zusammen, nicht aufzustehen und beim Fenster hinauszuschauen. Das Gebrüll ging weiter, aber er musste das Treiben auf dem Vorplatz nicht mit eigenen Augen sehen, er hörte alles und hätte ihr Spiel so gut kommentieren können wie der legendäre blinde Sportreporter Stanley Howell von den Chicago Dodgers.

Die Schlacht tobte keine zwanzig Meter von seinen Fenstern entfernt. Sie schrien, grölten, beschimpften und beleidigten einander auf das Unflätigste, wie es echte Sportsfreunde nie gemacht hätten. Aber das war nur Kurts Vermutung, da er seit dem Zwang in der Schule nie freiwillig Sport betrieben hatte.

Wumm, wumm, plopp, plopp, die Treffer knallten ans Garagentor, das auch noch dumpf nachhallte wie eine schlecht gestimmte Glocke. Sie lachten und grölten und feuerten einander an. Sie sprangen herum wie Ziegenböcke ohne Ziel und Spielregeln, sie achteten absichtlich nicht aufeinander, sie tobten mit angezogenen Knien und ruderten mit den Armen in der Luft. Kurt hatte den Eindruck, dass sie gar nicht zusammenspielen wollten, sondern nur Krach schlagen, andere Leute ärgern und Spaß daran haben.

Er meinte, trotz der geschlossenen Fenster, die Schallwellen in seinem Zimmer zu spüren, wenn das Metalltor unter den Balltreffern in Schwingung kam. Aber er hatte ja angeschlagene Nerven, sagte sein Arzt, und sollte sie mit dem Schreiben beruhigen.

„Verdammt, diese blöden Blumen stören mächtig. Ich hab keinen guten Blick aufs Goal. Reiß sie aus.“ Kurt fuhr zusammen, als hätten die Worte ihm gegolten. Erst vor wenigen Wochen hatte er links und rechts von der Garage einige Reihen mit Stiefmütterchen, Lobelien und Hortensien gepflanzt. Eigentlich nur verpflanzt. Denn eines Sonntags an seinem Schreibtisch am Fenster war ihm aufgefallen, dass sie im Schatten der Garage, zwischen den Colonia-Kübeln nicht die geringste Chance zum Überleben hatten. Da kam kein Sonnenstrahl hin, zu keiner Zeit des Tages. Der Hausmeister war ein Faulpelz und Säufer, der nur im Schwarzenbachstüberl herumhing und sich um nichts kümmerte. Außerdem hoffte Kurt, dass durch die höheren Hortensien das fleckige Rosttor bald nicht mehr zu sehen sein würde. Pflanzen, das war eigentlich gar nicht sein Gebiet, wenn überhaupt Natur, dann waren es bei ihm die Vögel. Sie sind unter allen Tieren die unschuldigsten, harmlosesten, die, die keinen Schaden anrichteten, fand er. Auch ihr Fliegen und Flöten gefiel ihm, und am Steyrer Schwarzenbach gab es viele Arten. Aber seit er diesen Schritt gemacht hatte, waren die mickrigen Blümchen und Büsche die Seinen, er pflegte sie und schaute von seinem Fenster mit Wohlgefallen auf sie hinüber, wie sie sich an der sonnigen Vorderseite der Garage zu erholen begannen.

Torwart Börni, der mit den zu langen Sporthosen und dem zu großem Bauch darüber, war im Blumenbeet gestolpert, hatte ein Tor abgekriegt und viele Hohnworte von seinen Kumpels geerntet. Er bekam einen Wutanfall, begann in den Pflanzen zu wühlen und nach ihnen zu treten; er riss die kaum angewachsenen Blumen aus der Erde und schleuderte sie nach allen Seiten.

„Verdammte Scheißblumen, blöde.“
„Gib a Ruh, Börni, reg dich nicht auf, wir machen Pause, ich hol uns was zum Trinken.“

Kurt riss sich, ohne an seinen Vorsatz zu denken, von seinen weißen Blättern los, machte das Fenster auf und rief mit ungeübter, brüchiger Stimme hinunter:
„He, Sie da, lassen Sie meine Blumen in Ruhe!“
Viel zu leise, viel zu höflich, Kurt wusste sofort, dass ihn diese Barbaren überrennen würden.

„Geh Oida, was willst du? Gehört der Platz vielleicht dir? Bist du der Hausmeister oder der Gärtner?“
Die anderen Spieler bogen sich von Lachen, johlten, schlugen sich auf die Schenkel oder einander auf den Rücken und kickten die Blumenstöcke über das Spielfeld. Wenn sie ihnen zwischen die Füße kamen, trampelten sie darauf herum wie kleine Kinder im Schlamm.

„Soll ich dir vielleicht ein Fenster einschlagen, du A…magst du das, ja?“
Mit dieser lustigen Idee erntete er wieder beifälliges Gejohle.
Der große Börni mit dem fetten, mit Sommersprossen gesprenkelten, schweißgebadeten Körper lachte grob und warf ein Stiefmütterchen in die Richtung seines Fensters.

Die Äußerung war ihm gegen jede Gewohnheit entfahren, weil er so zurückgezogen lebte und sich nie um anderer Leute Sachen kümmerte. Zusätzlich zum Herrenmoden-Geschäft im Zentrum der Kleinstadt Steyr hatte Kurt auch noch diese zweigeschossige Haushälfte in der Genossenschaftssiedlung am Schwarzenbach geerbt. Er lebte darin allein im Oberstock, das Erdgeschoß hatte er bei der Gemeinde zur Vermietung an Flüchtlinge angemeldet.

Eigentlich sollten sie schon da sein, sie waren ihm für Anfang des Monats angekündigt worden, ein Mann von der Gemeinde und eine Sozialarbeiterin hatten die Zimmer besichtigt und waren zufrieden. Auch der Hobbykeller, den sie benützen durften, hatte ihr Gefallen gefunden. Fünf junge Burschen aus Eritrea und Somalia sollten hier wohnen, minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, muF hieß das auf der Gemeinde. Kurt wusste nicht, warum sich ihre Ankunft verzögerte. Er wusste auch nicht so genau, ob er sich auf sie freute. Aber weil er sein Geschäft bald verkaufen und sich ganz zurückziehen wollte, hatte er sich nach etwas Neuem umgesehen. Ob das gutgehen würde? Wichtiger war ihm, dass bei ihm, je älter er wurde, das Bedürfnis wuchs, seinem Vater und Rudi etwas von ihren ungelebten Jahren zurückzugeben. Als könnten sie dann weniger tot sein. Seine Mutter hatte zwar überlebt, konnte aber diese Austreibung nie verwinden. Kurt war sich bewusst, dass das ein Teil seiner Todesfresser-Religion war, die er für sich erfunden hatte und allen anderen Religionen mit ihren Paradiesen, Seelenwanderungen und Jüngsten Tagen vorzog.

Kurt hatte sein Testament – und er hatte kein unbeträchtliches Vermögen – so geändert und beim Notar Dr. M. hinterlegt, dass alles eine Stiftung bekommen soll, die unbegleitete Flüchtlinge, junge Steyrer Arbeitslose, oder drogenabhängige Schulabbrecher fördern würde. Da hatte er der Gemeinde ein schönes Kuckucksei ins Nest gelegt. Kurt kicherte vergnügt in sich hinein, wenn er an die betretenen Gesichter der Stadträte bei der Testamentseröffnung dachte, ein Mordsspaß ist das.

Er selbst hatte zu viel Glück gehabt, meinte er, nach diesem schrecklichen Anfang, nach dem Anfang mit Schrecken, und deswegen hat er sich immer geduckt, damit ihn das Leben in Ruhe ließ. Er wollte dem Leben keine Gelegenheit geben, sich an ihm zu rächen für sein Überleben. Dass er als Dreijähriger ganz oben auf den Koffern und Binkeln in dem kleinen Leiterwagen saß, an das erinnerte er sich, wie ein König zog er durch die Landschaften der Märchenbücher. Seine Mutter ging vor ihm und zog den Wagen mit der Hand, auf ihrem gebeugten Rücken trug sie noch einen Rucksack, viele andere Leute waren da, lange Reihen ohne Ende, das sah er noch ganz genau. Er fand das lustig, schrie hü-hott und fuchtelte mit einem Weidenzweig herum. Die Mutter sang immer Hopphopphopp, Pferdchen lauf gallopp, und: Hoch auf dem gelben Waahaagen, sitz ich beim Schwager vorn, schlaf, Kurti, schlaf, was das abgebrannte Pommerland mit dem Vater zu tun hatte, hatte er nicht verstanden. Weiter, immer weiter: Aus grauer Städte Mauauern, zieh‘n wir durch Wald und Feld. Gleich sind wir da, wir machen einen Ausflug zum Onkel, Vater ist auch bald wieder bei uns. Dass sie dabei weinte, konnte er nicht sehen. Mehr eigene Bilder hatte er nicht, die anderen kamen wahrscheinlich von den Erzählungen der Mutter und des Onkels, vom Todesmarsch aus Brünn nach Steyr. Angeblich hatte er einen kleinen Bruder, den Rudi, der die Austreibung aus dem Sudetenland nicht überlebt hatte. Der Vater-Soldat die Ostfront auch nicht. Als das nach dem Krieg feststand, hatte ihn Onkel Heinrich, der reich gewordene Bruder der Mutter, adoptiert. Er bekam von ihm und seiner Frau, der Tante Vroni, auch den schönen deutschen Namen Nemetz.

Die Männer da draußen waren zwischen dreißig und vierzig, zwei waren wirklich sehr groß und sehr dick, der rote Börni und der dunkle Walter, der jetzt, die Arme voller Bierdosen, von der Tankstelle zurückkam. Alle hatten da und dort Tätowierungen, aber Walters Körper hatte keinen Fleck ohne Bilder oder Schriften. Sogar die Glatze war bedeckt von Girlanden mit Stacheldraht, Totenköpfen und runenartigen altdeutschen Buchstaben.

Dieses Pack, der Lärm am Sonntag und nun gegen die Blumen. Seine? Ja, es waren schon seine geworden, irgendwie. Wahrscheinlich wussten sie, dass er sie gepflanzt hatte. Kurt schloss das Fenster, ließ die Jalousien ganz herunter und ging in die Küche, um sich das Gesicht kalt abzuwaschen. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch am Fenster, mit schwachen Knien und rasendem Herzen und streckte die Hände auf den Knien aus, sie zitterten. Der Bleistift rollte kraftlos aus den Fingern und fiel zu Boden. Er hob ihn nicht auf, es war sehr heiß im Zimmer. Wenn ich ein Gewehr hätte, würde ich jetzt schießen, zog es Kurt durch den Kopf, obwohl er noch nie ein Gewehr in Händen gehalten hatte.

Jetzt hörte er, wie im Nachbarhaus ein Fenster geöffnet wurde. Kurt spannte den Rücken, das ist gut, Herr Leitner öffnete sein Fenster, er würde auf seiner Seite sein.
„Hallo, Sie da, wissen Sie nicht, dass man hier nicht Ballspielen darf? In der Einfahrt ist ein Verbotsschild, da steht es drauf. Hier leben arbeitende Menschen, die Menschen wollen schlafen! Ich hol die Polizei, gehen Sie weg.“
Herr Leitner war Nachtportier in der Lokomotiv-Fabrik und wollte am Sonntag ausschlafen.
„Na und, dann schlaf halt, marsch, ins Bett, Opa, und hol ruhig die Polizei!“

Sie kreischten und heulten und hatten einen Mordsspaß miteinander. Walter zielte mit seiner Bierdose auf Leitners Fenster, Kurt spürte, wie sie knapp an ihm vorbeiflog, einen Augenblick in der Luft hängenblieb und dann an der Mauer abprallte. Walter nahm sich eine neue Dose und spuckte zwischen seine gespreizten Beine auf den Boden. Der rote Börni rief etwas Obszönes, wackelte mit dem Becken und griff sich zwischen die fetten Beine. Herr Leitner schüttelte den Kopf, als wollte er sagen: Na so was, und das bei uns. Das gibt’s nicht. Dann schloss er laut krachend die beiden Flügel seines Fensters zusammen und zog die Vorhänge vor die Fenster.

Kurt wusste, dass es keinen Sinn hatte, die Polizei zu rufen. Er war schon auf dem Posten gewesen und hatte von der Belästigung an den Sonntagnachmittagen berichtet. Der Beamte lächelte nur süffisant und meinte: „Naja, wenn die Leute Sport betreiben wollen, soll man sie nicht aufhalten. Ist doch gesund, oder?“ Die anderen Beschwerden hatte er dem Polizisten gar nicht mehr vorgetragen, auch nicht, dass die Genossenschaft eine Verbotstafel aufgestellt hatte. Er wusste, dass der zur selben Sorte Unmensch gehörte wie die Ballspieler, nur dass er eine Uniform trug.
Das Geschrei der fünf da unten nahm an Lautstärke zu, das Bier befeuerte offenbar ihre Stimmung. Sie saßen im Blumenbeet vor der Garage, die Beine weit ausgestreckt und prosteten sich mit den Dosen zu, legten den Kopf weit in den Nacken und tranken in vollen Zügen.

Kurt hielt es nicht mehr aus in seinem Zimmer, das Schreiben konnte er für heute vergessen. Die Bilder von den Zugvögeln, die sich auf den Telegrafendrähten zum Abflug sammelten, waren zerronnen wie Öl in einer Wasserlacke. Er zog sich ein Hemd an, schlich auf den Korridor und durch das Treppenhaus zur Hintertüre hinaus.
Dort lag ein alter Kaiserziegel, den er zum Offenhalten benützte, wenn er den Müll hinaustrug. Normalerweise schob er ihn nur mit dem Fuß hin und her, jetzt nahm er ihn auf und wog ihn in der Hand, vier, fünf Kilo wird der schon haben. Ohne ein Geräusch zu machen, gelangte er unbemerkt durch den kleinen Hinterhof, vorbei an der metallenen Wäschespinne an die Rückseite der Garage. Vorsichtig kletterte er über die Mistkübel auf das nach hinten abgeflachte Dach, legte sich auf den Bauch und atmete einige Male tief durch, um sich zu beruhigen. Dann schob er sich vorsichtig an den Rand des Garagendaches, geräuschlos und millimeterweise, bis er kippte. Er hörte einen dumpfen, ordinären Aufprall und einen hässlichen Fluch.

„Verdammt, was war das? Das war sicher der Kerl da oben.“
Das war Börnis Stimme, die jaulte wie ein getretener Hund.
„Einen Arzt her“, schrie Walter und riss sein Handy aus der Hosentasche.
Auch Karli begann wie wild zu telefonieren, Mario und der fünfte Kerl kümmerten sich um die Wunde. Sie wickelten dem verletzten Börni ein T-Shirt um den Kopf, halfen ihm auf die Beine und schleppten ihn fluchend und Fäuste schüttelnd über den Platz auf die Schwarzenbachstraße. Der letzte nahm noch einen Stein vom Straßenrand und schleuderte ihn auf Kurts Haus. Er krachte gegen die geschlossene Jalousie und fiel polternd zu Boden.

Mit pochendem Herzen lag er ganz flach auf dem Garagendach und lauschte in die Stille. Gleich würden sie kommen, nichts da, sie kehrten nicht zurück. Aus der anderen Haushälfte sah er später die alte Frau Huber herauskommen, die am Abend immer ihren Hund ausführte.

Als sie verschwunden war, kroch Kurt vom Dach und schlich zurück in seine Wohnung. Minutenlang saß er reglos am Küchentisch, hörte dem Pochen des Blutes in seinen Ohren zu, bis sich seine Nerven soweit beruhigt hatten, dass er aufstehen und zum Waschbecken gehen konnte. Er spritze sich Wasser ins Gesicht, goss sich dreimal Wasser ins Glas und trank es in kleinen Schlucken. Langsam beruhigte sich auch sein Atem. Er horchte in das Treppenhaus hinaus und zum Telefon hinüber. Jetzt wird die Polizei kommen, dachte er, in fünf Minuten sind sie da, in zehn. Nichts kam. Es war lange Zeit vollkommen still, bis er die alte Frau Huber zu Herrn Leitner vor der Haustür sagen hörte: „Na, heute haben Sie die Banditen aber schön verjagt.“ Der verschlafene Leitner brummte etwas Unverständliches, und Frau Huber meinte noch, dass es am nächsten Sonntag sicher regnen würde. Ihr alter Spaniel kläffte ein paar Mal zu Herrn Leitner hinauf, der im offenen Fenster lehnte.
Immer noch hörte Kurt den dumpfen, hässlichen Aufprall des Ziegels und malte sich aus, wie er Börnis Schädeldach eingeschlagen und sein Gehirn zerquetscht hatte.
Noch einmal vergingen zehn Minuten, 20, 30, das Pack kam nicht zurück, keine Polizei war zu sehen, und auch das Telefon klingelte nicht.

Die Furcht kroch in ihm hoch. Ob sie unten auf ihn warteten? Sicher war Börni schon im Spital, schwerverletzt, oder war er gar schon gestorben? Man bringt doch keinen Menschen um, nur weil er am Sonntag unter dem Fenster Fußball spielt, auch wenn einem danach zumute wäre. Kurt hielt wieder den Kopf unter das kalte Wasser und wollte sich Kaffee machen, stellte aber fest, dass er gestern vergessen hatte, welchen einzukaufen, weder Kaffee noch Milch waren im Haus. Kurt nahm eine kalte Dusche, zog sich frische Sachen an und wartete bis zum Einbruch der Dunkelheit, dann schlich er über Umwege zur Tankstelle und besorgte Milch und Kaffee. Auf dem Rückweg begegnete er der Frau Leitner, die ein paar Stunden in der Fabrikskantine putzte.
“Grässlich war das heute wieder. Mein Mann muss einmal aufbleiben und sich das anhören, er soll die Polizei holen, damit der Wirbel ein Ende hat. Der Hausmeister ist auch nie da, wenn man ihn bräuchte. Aber wir müssen ihn bezahlen, und zu Weihnachten kriegt er auch noch Mordstrinkgelder.“
„Ja, Sie haben Recht“, antwortete Kurt einsilbig; sie verabschiedeten sich vor dem Haus, und ein jeder ging in seine Hälfte.

Als er sich mit dem frischen Kaffee ins Zimmer setzen wollte, sah er, dass alle Fenster eingeschlagen waren, der Teppich mit Glasscherben übersät war und von den fünf Steinen einer in seinem Bett lag. Dieser war mit einem Stück Papier umwickelt, auf dem Kurt lesen konnte: Kein NEGERPACK in unserem Viertel! DU BIST DER NÄCHSTE! WIR KRIEGEN DICH!

Die Jalousien hingen zerfetzt in den leeren Fensterhöhlen. Kurt holte Besen und Schaufel und machte sich ans Aufräumen. Dann schaltete er das Licht aus, setzte sich im Unterhemd an den Tisch und schaute im Finstern aus dem Fenster. Deutlich konnte er die fünf Gestalten sehen, die unter der Laterne auf der Schwarzenbachstraße an der Einfahrt zum Parkplatz standen und zu seinem Haus herübersahen.
Was wollten sie noch? Glas zum Zerschlagen gab es keines mehr. Feuer legen? Brandbomben werfen? Ihren Kumpan rächen?
Kurt war schwindelig, und er setzte sich auf das Bett: ratlos, verwirrt und plötzlich sehr, sehr müde. Sie waren zu fünft da draußen, das hieß, dass der rote Börni nicht tot war.
Langsam stiegen Freude und Erleichterung in ihm hoch, breiteten sich bis in den Kopf aus und füllten seine Augen mit Tränen. Morgen wollte er die Blumen wieder einpflanzen.

Veronika Seyr
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Liebe und Glamour

Als Ditta das Haus betrat, wusste sie sofort, dass ihr Mann aus der Firma zurück war. Im Vorhaus standen seine Schuhe exakt parallel auf der Matte, der beige Staubmantel und der grüne Schirm hingen in der Garderobe, die dünne schweinslederne Aktentasche und der Schlüsselbund lagen auf dem Board unterhalb des Spiegels. Alles sah aus wie immer, wenn sie aus dem Golfclub, der Sauna oder von der Bridge-Runde zurückkam. Nur sie war eine andere geworden, ganz plötzlich, heute Nachmittag.
Schon an der offenen Türe rief sie ins Haus hinein:
„Ich bin wieder da, Darling! Was machst du, Heinzi?“

Dieselbe Frage wie jeden Tag, obwohl sie wusste, dass er im Wohnzimmer, das er „Office“ nannte, in seinem Ohrensessel saß, in der New York Times Börsenberichte studierte und Kreuzwort- und Sudoku-Rätsel löste. Dazu gönnte er sich die einzige Zigarre des Tages, die sie ihm erlaubte, während er darauf wartete, dass sie das Abendessen servierte.
Ditta war aufgeregt, sie atmete schwer, spürte auf den Wangen rote Flecken aufziehen und zitterte so, dass sie gegen ihre Gewohnheit mit Schuhen, Jacke und Tasche ins Zimmer stürzte. Ihr Mann schaute kurz auf, zuckte mit den Schultern und brummte:
„Nanana, wo brennt`s denn? Was gibt es zu essen?“

Auch diese Frage kam jeden Tag und war so überflüssig wie ihre, weil er sich jeden Abend einen Wurst- und Käseaufschnitt mit Beilagen und ein reichhaltiges Brot- und Gebäckkörbchen wünschte. Obwohl er Knäckebrot verachtete und es noch nie angefasst hatte, musste es immer dabei liegen. Es könnte ja jemand vorbeikommen, der Knäckebrot schätzte. Es war aber noch nie ein Schwede bei ihnen vorbeigekommen. Bei ihnen kam schon lange niemand mehr einfach so vorbei.
„Gleich, ich komme!“
„Stell dir vor, was mir heute passiert ist.“
„Kann das nicht später sein? Ich habe Hunger und bin müde.“

Dass Heinz Hofferer hungrig war, konnte sie nicht ausschließen, denn er machte sich nie selbst etwas zu essen. Dass er heute müde war von einem langen Arbeitstag, war übertrieben, denn er hatte schon vor drei Jahren einen tüchtigen Geschäftsführer in seiner Firma eingestellt. Hofferer ging nur noch ins Büro, weil ihm zu Hause langweilig war. Er hatte als Geschäftsmann über viele Jahre äußerst erfolgreich eine Firma aufgebaut, die Glückskarten und Rubbellose herstellte, also eine Grafikanstalt und eine Spezial-Druckerei betrieb. Zum Verkauf konnte er sich noch immer nicht entschließen, die Firma war ihm ans Herz gewachsen wie ein Kind, sie war sein Kind, das verkauft man doch nicht einfach.

Ihre Tochter Miriam wohnte mit Mann und Enkelkindern in der westlichsten Hauptstadt B., und der Garten interessierte ihn nur so weit, als er jeden Abend Runden durch das weitläufige Gelände unternahm, vom Naturteich im Obstgarten ganz hinten zum künstlich angelegten japanischen vor der Terrasse, immer hin und her. Beim Naturteich stand er auf dem Badesteg und starrte auf die Frösche im Wasser und die Libellen im Schilf, beim Japaner fixierte er von der geschwungenen Brücke aus die Goldfische, so gedankenlos und träge wie sie selbst. Kürzlich hatte er einen Roboter angeschafft, der das Gras mäht, ihr neues Familienmitglied, den sie Butler James nannten. Wenn Heinz sich in der Hollywoodschaukel niederließ, die an einem zentralen Ort aufgestellt war, von dem man fast den ganzen Garten überblicken konnte, sah er James dabei zu, wie er Runde um Runde drehte, an ein Hindernis stieß und danach seine Richtung änderte.
Je nachdem, wie die Uhr gestellt war, steuerte James sich selbst zu einem kleinen Schuppen Mit einem runden Tor ähnlich wie bei einer Hundehütte, parkte sich ein und schaltete sich ab.
Heinz`s Blicke waren dabei gespannt aufmerksam, leicht belustigt und fast liebevoll. Er betrachtete ihn wie ein Tierliebhaber einen spielenden Hund oder ein weidendes Schaf. Oder Kinder.

Ditta war ihr ganzes Leben eine passionierte Gärtnerin gewesen, das sah man ihrem Garten auch an – sie hatte als Auszeichnung eine ovale Plakette bekommen „Traditioneller Naturgarten“, die vorne an der Straße über dem Gartenzaun prangte und auf die sie stolz war wie andere auf den Nobelpreis. Allerdings hatte sie sich seit einiger Zeit einen Helfer genommen, den kräftigen, jungen Asylwerber aus Afghanistan Mahmoud, einen sogenannten umF (unbegleiteten minderjährigen Flüchtling), weil ihre Bandscheiben die meisten Arbeiten nicht mehr zuließen. Nicht schlimm, nur „altersgemäß abgenutzt“, hatte der Orthopäde gesagt. An Alis Seite verbrachte sie mehr Zeit als mit ihrem Mann. Ali lernte gerade die ersten deutschen Worte im Kurs der Kirchengemeinde, aber beim Gärtnern war die gesprochene Sprache ohnehin nicht das Wichtigste. Wegen des Rückens hatte sie auch ihr geliebtes Tennis ganz aufgegeben und beim Golf reduziert, sie machte nicht mehr alle Löcher und saß immer häufiger mit Freunden beim Bridge in der Club-Lounge.
Ditta holte aus der Küche Heinz’s „Vorspeise“, wie sie sein abendliches Glas Bourbon mit Eiswürfeln nannte, zog einen einfachen Stuhl an den Ohrensessel ihres Mann heran und sprudelte nur so über.

„Heinzi-Schatzi, hör zu, heute im Golfclub, wir waren gerade mit dem letzten Rubber fertig, sagt Henriette, die Neue in der Runde, dass sie die berühmte Schriftstellerin Arabell Inenda kennt. Du weißt ja, wie sehr ich sie liebe und verehre. Stell dir vor, das neueste Buch ist gerade heraußen und schon wieder ein Bestseller, ein world bestseller. Das könnte dich auch interessieren, es soll ein Politkrimi sein. Jetzt kommt sie zu einer Lesung nach Wien, und Henriette würde sie zu sich einladen, ein kleine, private Runde, und ich dabei! Ein internationaler Star kommt zu ihr ins Haus, sie hat mich persönlich eingeladen: `Ditta, mein Kleines, komm doch nächsten Donnerstag zum Tee, Arabell wird vorbeischauen.
Vorbeischauen, stell dir vor, ein Star schaut vorbei, einfach so! Henriette ist so cool. Kleines, sagte sie, ich weiß, wie du sie liebst, ihre Bücher, und du kennst sie am besten von uns allen.
Da kannst neben ihr sitzen und sie selbst befragen, alles, was du willst, sie ist ein Superstar, aber auch nur ein Mensch.“

Bei diesem Gedanken erstarrte Ditta, es war für sie unvorstellbar, ihren Körper neben dem ihren zu spüren oder gar Fragen an sie zu stellen und ihr dabei in das Gesicht zu sehen. Was sollte sie sagen, wie sie ansprechen, sehr geehrte Frau Inenda… liebe Arabell… ich, … sie sagt zu mir, liebe Ditta, mein Liebes, … ich sage, höre Henriette, „sei nicht so schüchtern, mein Kleines….“
„Arabell – wer?“
„Heinz, also wirklich, das ist nicht fair, du bist gemein, sie ist doch ein Star!“
Ditta wollte so streng klingen, wie sie nur sein konnte, kein Darling, kein Heinzi oder Schatzi.

Sie hatte das neue Buch über Liebe und Schatten natürlich schon bestellt. Seit dem ersten Roman vom Spukschloss hat sie jede Zeile von ihr gelesen, Artikel und Bilder gesammelt, in Alben eingeklebt wie Teenager das mit Fußball- oder Popstars machen. Ditta genierte sich nicht dafür, auch wenn Heinz sie dafür verspottete. Sie verteidigte ihr Reich. Sie schreibt so schön, einfach und romantisch, sie trifft alle meine Gefühle und Gedanken, als würde sie mich persönlich kennen, man kann alles sofort verstehen, sich die Menschen und Situationen vorstellen, ohne lang nachdenken zu müssen.

Heinz brummt und sagt, ohne von seinem Sudoku aufzuschauen:
„Diese Kitschziege, die kann doch gar nicht schreiben, sie hat ihren Ruhm nur durch den Namen ihres Vaters.“
„Nein, Heinz, das ist ungerecht, sie hat sich ihren Ruhm selbst erschrieben. Jedes Buch wird ein Bestseller, in der ganzen Welt.“
„Ja, die stecken doch alle unter einer Decke, alle schreiben voneinander ab, ich kenne diese Geschäftemacher.“
„Das siehst du nicht richtig, wie bist du denn drauf! Sie ist eine wunderbare Frau, ich war einmal bei einer Lesung von ihr in Wien, weißt du noch, bei der Thalia, so herzlich, so charmant, ganz ohne Arroganz, sie schaut nicht auf ihre Leser herab und erhebt sich nicht über sie. Ich nehme ihr jedes Wort ab und ….“
„Ach, du Armutschkerl, dir kann man jeden Schmus andrehen. Dabei sieht sie aus wie ein aufgetakeltes Hutschpferd mit einem Kilo Schminke und tausend Narben im Gesicht, eine alte Schabracke wie das Biest aus Dynasty, wie hieß die noch?“
„Joan Collins, als würde dir Sophia Loren nicht einfallen.“
„Du bist zu nah ans Wasser gebaut.“ Das sagte er immer, wenn sie sich für etwas begeisterte.
Er konnte mit ihrem Gefühlsüberschwang nichts anfangen, und sie hatte sich schon oft darüber gekränkt. Heinz war ein guter Mensch, aber ins Herz konnte er ihr nicht schauen.

Aber so ist er halt, der Heinz, sie entschuldigte ihn immer, ein Geschäftsmann mit einem kühlen Kopf, sonst wäre er nicht so erfolgreich gewesen.
„Also gut, Heinz, wenn du so bist. Das ist nicht sehr nett, jemandem die Freude zu verderben.
Aber lassen wir das, ich will nicht streiten.“
Im Stillen dachte sie: Er ist hundsgemein, mein Heinz.
Nach solch einer Szene flüchtete sie meistens zu ihrer Tochter und den Enkeln nach B. Dort war es auch nicht das reinste Honiglecken, weil ihre Tochter sich genervt fühlte, wenn sie ihr mit den alten, grindigen Eheproblemen die Ohren volljammerte.
„Hi Mom, der Oberjammergau ist wieder da“, sagte Miriam mit einem Lächeln, aber etwas despektierlich, deutete eine Umarmung an und hauchte Küsse auf die welken Mutter-Wangen.

Sie ließ sie ein, zusammen mit ihrer rot-gelben Hermes-Reisetasche ins bio-ökologische Holzhaus in der typischen Vorarlberger Bauweise. Ihr Mann hatte einen europäischen Preis, viel gute Presse und neue Aufträge bekommen. Immer nahm Ditta Heinz vor der Tochter in Schutz, „er ist dein Vater, er ist, wie er ist, du musst ihn halt so akzeptieren, er kann nicht aus seiner Haut heraus. Er hat uns erhalten, uns ein gutes Leben garantiert und dir viele Möglichkeiten geschaffen…“
„Und wie viele hat er mir verbaut?“ unterbrach sie die Mutter scharf. Ein Wort ergab das andere, sie wurden wütend, steigerten das Gefecht bis zu den Tränen, fielen einander dann unter Liebesschwüren in die Arme und rüsteten wieder ab. Aber in den Seelen erreichen konnten sie einander nicht mehr, auch wenn ihre Hände noch lange verflochten auf dem Küchentisch lagen.

Mit einem Knall ging die Haustür auf, Lacher zerplatzten und herein polterten die neunjährigen Zwillinge Viktoria -Vicky und Valentin – Voiti, mit ihrem Vater Vitus-Veit.
Schultaschen, Jacken, Schuhe, Kulturbeutel und Skateboards flogen mit großem Getöse durch das geräumige Vorhaus und durch das hölzerne Treppenhaus nach unten. Manches blieb an dem geschwungenen Geländer hängen.
Omama, du bist da, great, Grandma is here, sie gingen schließlich schon in eine Englisch-Klasse und Miriam übte ihr New Yorker Englisch ständig mit ihrem alemannischen Ehemann.

Vicky und Voiti flogen ihr in die Arme, Küsse auf die Wangen und in die Haare, aber boshaft, wie Kinder in diesem Alter nun einmal sind, schalteten sie sofort auf ihren Reim um:
Oberjammergau, Obermammagau, Jammergauoma, Grauejammeroma.
Dabei tanzten sie um sie und die hohe Küchentheke mit den hohen Tresen herum.
Wer hatte ihnen das beigebracht?
Sollte sie jetzt die Geschenke herausholen? Vielleicht später, sie musste Miriam fragen.
Veit trudelte herein, küsste sie flüchtig auf die Wangen, hi, Schwiemu, wie geht’s? Dann holte er eine Packung Orangensaft aus dem dreiteiligen, verchromten Kühlschrank, trank sie halb leer und verdrückte sich wie immer, wenn sie da war, schnell in sein Arbeitszimmer, der preisgekrönte Architekt, oder er hatte plötzlich noch einen Termin auswärts. Er schlug das Sakko über die Schulter und Tschüss, Schatz, tschüss Ditta, wir sehen uns, Bussels, Büsseli, Kinder! Die Zwillinge verschwanden in ihren Zimmern, später aßen sie zu Abend eine Pizza, und Miriam verscheuchte die Kinder bald ins Badezimmer und in die Betten.

Mutter und Tochter machten gemeinsam die Küche sauber. Sie ist eine gute Mutter, meine Miriam. Aber warum kamen keine eigenen Kinder? Sie verstand es nicht, wagte aber nicht zu fragen. Vitus hatte ganz in der Nähe seine Eltern, hingebungsvolle Großeltern, die die Enkel vergötterten und umgekehrt, eine Traum-Oma und einen Bilderbuch-Großvater, mit denen sie und Heinz nicht konkurrieren konnten, es erst gar nicht versuchten, Miriam und ihr Mann hatten auch nie etwas Derartiges eingefordert. Das war`s, die Familie.
Ditta übernachtete im Gästezimmer, schlief wenig und unruhig und fuhr nach einem flüchtigen Frühstück wieder nach Hause. Während ihr BMW mit ruhigen 160 km/h summte, gelang es ihr, die Familie in eine abgelegene Gedächtnisecke zu verschieben und zu ihrer Lieblingsbeschäftigung zu kommen: in visionären Bildern über den kommenden Donnerstag zu schwelgen. Würde Arabell sie mit ihrem Vornamen anreden oder Frau Hofferer sagen, Kleines oder Herzchen, so wie Henriette? Heinz hatte sie in ihren jungen Jahren immer das Dittale genannt, mein Dittale, weil sie ihm einmal verraten hatte, dass ihr Vater eigentlich einen Dieter haben wollte, so wurde sie zu Ditta. Dem Vater hat sie noch knapp vor seinem Tod vergeben.

Sie wusste es, auch Heinz hatte sie mit der Geburt einer Tochter enttäuscht. Sein Plan, wenn schon ein Kind, das er eigentlich nicht wollte, oder nicht so wollte wie sie, dann sollte es ein Sohn sein, und wenn der sechs oder sieben war, würde er Interesse an ihm gewinnen und mit ihm zum Football gehen, sie würden einen Lieblingsclub haben, alle Spieler aufzählen können, alle Tore und ihre Vorbereitung kennen, ihre Bilder sammeln, die Kappen und Schals tragen, eine gemeinsame Leidenschaft haben, die nur ihnen gehörte und wo niemand eindringen konnte. Dass Miriam nach ihrem Kunststudium einen jungen Witwer mit zwei Kindern geheiratet hatte und in die entfernteste Stadt des Landes gezogen war, nahm er ihr persönlich übel und entwickelte kein Interesse und Talent als Großvater.

Ditta hatte ihren Fehler zu spät erkannt, sie durfte vor ihrem Mann den Namen Henriette Schrodt nicht aussprechen, er konnte sie nicht ausstehen, Edelschrott nannte er sie, eine Schreckschraube, eine überkandidelte Alte, die sich immer noch wie ein Hippie-Mädchen anzog, echte Blumen ins Haar steckte, an den Ohren Plastikgehänge in grellen Zuckerlfarben baumeln hatte, ständig rauchte und Gipsmodelle von nackten Frauen produzierte, alle waren sie Lilith. Sie wusste alles und kannte alle Leute. Genau diese Henriette war auch der Grund, warum er kaum mehr in den Golf-Club ging. Dabei war er vor vielen Jahren einer seiner Gründer und Förderer gewesen.

Ditta bedauerte das sehr und lag ihm damit in den Ohren. Es war ein ständiges gereiztes Thema zwischen ihnen. Dabei zeigte sie sich gerne mit ihm, sie liebte es, seine Begleiterin zu sein. Am Anfang war er sogar stolz, wenn andere Männer sie anschauten und bewunderten.
Er war nicht eifersüchtig, im Gegenteil, es geilte ihn auf, wenn sie von anderen begehrt wurde. Sie hatten nie darüber geredet, es war nur eine andere Form, in der er sagte:
Ich bin deins, du bist meins. Sie hatten sich in einem Flugzeug nach New York kennengelernt, klassisch, er Geschäftsmann, sie Flugbegleiterin. Er hatte sie gezwungen, ihren Job aufzugeben, soll ich dich etwa nur im Flugzeug sehen, eine Frau gehört ins Haus und an die Seite ihres Mannes. Der Mann macht Karriere und die Frau das Heim. Und als das Kind kam, war ihre Arbeit nicht einmal mehr ein Gedanke. Die ersten zehn Jahre ihrer Ehe hatten sie am Nordrand von New York gelebt, Heinz hatte seine Firma in Downtown, und sie war eine richtige amerikanische Vorstadtfrau. Dann, mit dem Ende des Ostblocks, zogen sie nach P., und Heinz baute seine Firma in den neuen Ländern aus. Alle wollten ihren Anteil am Glück, das ihnen der Sozialismus versagt hatte. Rubbellose und alle Arten von Glückskarten boomten, und Heinz wurde reich.

„Komm mit in den Club, ignoriere sie einfach, sie tut dir doch nichts, sie ist ganz harmlos und will nur ihren Spaß haben wie alle anderen auch. Außerdem sind noch viele andere Leute da, der Max, die Roswitha, die Karoline erzählt so interessante Sachen aus Afrika, den Stefan, ihren Sohn, den magst du doch. Der ist so ein lieber, kluger Mensch und dazu noch ein guter Arzt….“
„Es gibt keinen guten Arzt, es gibt nur mehr oder weniger große Zyniker, sie erfreuen sich daran, dass es ihren Opfern noch schlechter geht als ihnen selbst.“ Ja, Opfer, sagte er. Alle Patienten sind Opfer der Ärzte. Sie hatte ihm durch ihre Unachtsamkeit die Gelegenheit gegeben, dazusitzen und so pikiert und eitel, so verächtlich und triumphierend dreinzuschauen wie ein Porträtfoto von Sigmund Freud persönlich.
„Heinz, früher warst du nicht so. Wir wollen uns nicht über Worte streiten.“
„Früher ist früher. Basta, aus, vorbei. Und merk dir endlich, ich streite nie.“
Das stimmte, er äußerte immer nur fest und frei heraus seine Meinung.
„Heinz, wirklich, das ist nicht fair von dir, einfach nicht fair, dass du mir so die Freude verdirbst, nicht das kleinste Glück willst du mir gönnen.“
„Ich gönn dir alles, aber lass mich in Ruhe damit. Und überhaupt, die Welt ist nicht fair.“

Ditta schmollte und zog sich in die Küche zurück. Sie konnte sich kaum auf das Beladen des Servierwagens mit dem Abendessen konzentrieren, weil sie in Gedanken schon beim Tee mit Henriette und dem Star war. Sie stützte sich auf den Abwaschtisch und schaute durch das große Küchenfenster in den Garten hinaus. Hinten an der Ligusterhecke hüpfte eine Amsel, ein Männchen, dachte Ditta, mit dem dunkelgelben Schnabel, und das Weibchen stöberte im Komposthaufen. So ein Einklang, dachte sie, die haben etwas gemeinsam. Sie würde morgen mit Mahmoud nachschauen, ob sie das Nest im Liguster oder im Flieder gebaut hatten.

Im Speisezimmer deckte Ditta den viel zu großen, ovalen Tisch: Aufschnitt auf Holzbrettern, verschiedene Wurstsorten, Schinken, Speck, Kalbsleberpastete, ein reiches Käsesortiment, Gurkerl, Pfefferoni mild und scharf, Braten- und Grammelschmalz, Weintrauben, Nüsse, Oliven, Radieschen, frische und getrocknete Tomaten – eine Auswahl wie in einem Heurigenbuffet – darauf bestand Heinz, er hielt das für Heimatverbundenheit, sogar in New York hatte er auf dieser Rustikalität bestanden. Sie saßen einander schweigend gegenüber, Ditta brachte kaum einen Bissen hinunter und gab nur vor, etwas zu essen. Dafür nahm sie umso öfter ihr Wasserglas zur Hand und knetete mit den Fingern die Schmolle der Semmel zu Kugeln. Das Gebäckkörbchen wurde auf dem Tisch hin- und her geschoben, manchmal auch die Senftuben und das Mayonnaiseglas, das Knäckebrot blieb unberührt, Blicke huschten knapp unter den Augen vorbei, Heinz räusperte sich mehrmals und rückte seinen Körper im Sessel zurecht, fand aber kein Wort mehr. Heinz aß wie immer viel und mit provokantem Appetit. Ob er ihr das zu Fleiß tat? Zum richtigen Zeitpunkt holte Ditta aus der Küche eine zweite Flasche Bier für ihn, öffnete sie und stellte sie neben das Glas, eingießen wollte er immer selbst, denn das können Frauen nicht.

Eigentlich war auch beim Abendessen alles so wie immer, den Wortwechsel mit ihrem Mann hatte sie schon vergessen und gab sich ihren süßen Träumereien hin. Henriette hatte ihr die Eröffnungsszene eines Films geliefert, den sie in Gedanken ablaufen lassen oder stoppen konnte, sooft sie Lust dazu hatte. Sie würde neben Arabell sitzen, mit ihr reden, ihr sagen, was sie noch nie jemandem sagen hatte können und sonst auch noch alles Mögliche fragen, so vieles hatte sich angesammelt in den Jahren der Anbetung… Das Brötchen nehmen, die Serviette, die Teetasse dazwischen balancieren und etwas fragen, etwas Persönliches, nein, das würde nicht gut gehen, sie würde an der Frage ersticken oder an dem Brötchen oder den

Tee über Arabells Knie gießen, oder alle Damen würden sie schon beim ersten Wort auslachen, sie würde erröten, die Fassung verlieren und zu weinen beginnen … Sie war nicht mehr ganz da, vielleicht war es besser so, oh Gott, was soll ich anziehen? Komm zu dir, beruhige dich, der Tee ist erst nächste Woche. Ich muss Henriette noch einmal sagen, wie dankbar ich ihr bin, dass sie mich zu sich einlädt, wenn Arabell vorbeikommt. Hoffentlich überlebe ich bis zum Donnerstag, Todesursache Glück. Heinz verzog sich auf die Fernsehcouch, während Ditta den Tisch abräumte und die Küche saubermachte.
„So, ich geh jetzt schlafen, ist schon spät, gute Nacht, Schatz.“
Sie ging hinter ihm vorbei, beugte sich in seine Richtung und deutete einen Kuss auf seine Glatze an. Sie wollte sich ihre Donnerstags-Phantasien für später aufbewahren, wenn sie allein war.
Heinz faltete die Zeitung lose zusammen und warf sie auf den Beistelltisch.
„Dir auch gute Nacht, ich schaue noch die Nachrichten an.“

Heinz war depressiv, dessen war sich Ditta sicher, zumindest deprimiert, nein keine richtige Depression, das nicht. Aber sie wagte es nicht, das Gespräch darauf zu bringen, Heinz würde sie fressen, sollte sie das aussprechen und eine Methode dagegen vorschlagen. Alles, was mit Psych- begann, war ihm zuwider, er hielt das für dummen Hokuspokus und ein Ausredespiel für Loser. Ich warne dich, leg mich nicht auf die Couch. Er wollte kein heimtückisches, psychiatrisches Kauderwelsch in seinem Haus, obwohl ihn verschiedene Leute gedrängt hatten, sich „professionelle Hilfe“ zu holen.
Wenn er schon nicht mehr zum Golf gehen wollte, dann doch zum Tennis, seine Bandscheiben gaben ihm noch Ruhe, obwohl er fünf Jahre älter war als sie. Oder angeln.

Früher war er ein leidenschaftlicher Fliegenfischer gewesen, er hatte sogar seine Geschäftsfreunde aus aller Welt zum Fischen eingeladen. Welche schönen Erlebnisse hatten sie gehabt, herrliche Forellen aus der Schwarza, Salza, Triesting, Piesting, Krems und Traisen. Die Lagerfeuer am Ufer oder auf einer Flussinsel, diese wunderbaren Abende, die Sonnenuntergänge und dann die Sterne, manchmal sah man bei klarem Himmel den ganzen Bogen der Milchstraße. Wie weggewischt, als hätte es das alles nie gegeben. Er sitzt in einem tiefen, dunklen Loch und lässt sich nicht rauslocken. Stefan, Karolines Sohn, meint, das könne nur er selbst, also Selbsteinsicht und Selbstheilung. Der Arbeitsalltag eines Firmenchefs fand unter ständiger Hochspannung statt, auf der Überholspur, die Jagd von einem Termin zum anderen, immer im Bewusstsein seiner eigenen Bedeutung – und dann plötzlich eine Vollbremsung, Stillstand und Sturz ins Bodenlose. Als Chef war die Fallhöhe besonders groß. Und Geld über eine bestimmte Menge hinaus machte auch nicht glücklicher und zufriedener.

Allein das Wort Hobby machte ihn wütend. Das ist etwas was für Kinder und Schwachköpfe.
Deswegen traute sie sich nicht, ihm den Kulturclub von P. anzuraten, wo die Leute Karten spielten oder Schach, Mikado oder Puzzle legten, manche hatten sich fürs Stricken, Sticken, Aquarellieren oder Porzellanmalen entschieden, wieder andere für die japanischen Künste des Ikebana und Origami. Flugzeugmodellbau, Laubsägearbeiten, eine Schreib- und eine Filmgruppe wurden noch angeboten, sogar Lesungen und Konzerte. Das Bridge vermiesten ihm die alten Weiber, Dittas Freundinnen. Ditta hatte noch an Bienenzucht und Honigproduktion gedacht, an Goldfische oder Koi, an Bingo, Bowling oder Poker.
Sogar einen Hund würde sie akzeptieren, was er aber empört zurückwies; ein Hund ist keine Lebensaufgabe für einen Mann, sagte Heinz. Ja, das war die Antwort auf sein Leiden, die Lebensaufgabe. Die Seele ist ein Schloss mit vielen Räumen, die von Heinz waren leer. Ditta hatte tiefes Mitleid, kam aber nicht mehr an ihn heran.
„Dann musst du dir ein Laster suchen, Fressen, Saufen, Koksen, Huren“, das war ihre Schlussfolgerung. Da musste sogar Heinz grinsen:
„Na wart nur, wenn ich einmal Blut geleckt habe…“

Als endlich der nächste Donnerstag kam, spürte sie beim Aufwachen, dass Heinz schon das Haus verlassen hatte. Ihr war nicht ganz wohl dabei, weil das praktisch nie vorkam, aber sie hatte jetzt andere Sorgen und vergaß ihren Mann. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit der Auswahl ihrer Garderobe. Wie sollte sie ihr gegenübertreten? Sicher, ein Tee bei Henriette war kein Staatsbesuch, wie Präsidenten und ihre Gattinnen aus dem Flugzeug heraustreten, den Hut halten, winken, lächeln, Küsschen werfen, die Gangway herunterschreiten, Hände schütteln, küssen, umarmen und Blumensträuße entgegennehmen. Aber das war sie ja nicht, sie sollte nur ein wenig neben Arabell Inenda sitzen und mit ihr plaudern. Nein, sie würde nichts sagen und nichts fragen, nur zuhören und anbeten. Denn wer war sie schon, ein Niemand.

Recht schnell stand für sie fest, dass sie ihr Kleid aus gelbem Crêpe de Chine mit den schwarzen Krausen an Hals und Ärmeln anziehen würde. Dafür bekam sie immer Komplimente, es machte sie so jugendlich, vielleicht sogar mädchenhaft. Aber sowohl Arabell als auch Henriette waren älter als sie, da durfte sie auch aussehen wie ihr Kleines.
Dazu ihre schwarzen Lackpumps mit den kleinen Absätzen und eine zierliche Clutch von Dior. Ditta drehte sich vor ihrem Spiegel hin und her und war zufrieden mit ihrem Bild. Fast hatte sie schon vergessen, dass sie sich in ihren Träumen so blamiert hatte.

Kurz vor fünf Uhr machte sich Ditta in fast trunkener Verwirrung auf den Weg zu Henriettes Haus. Sie und Heinz wohnten etwas abseits zwischen dem Fluss und der Lindenallee mit den gepflegten Villen der Wiener Sommerfrischler. Sie kannte den Weg so gut, dass sie ihn blind hätte gehen können. Ein Stück den Fluss entlang über die Brücke, durch die Lindenalle mit dem plätschernden Springbrunnen, vorbei am Gemeindeamt, dem Supermarkt zum Hauptplatz von P., der eigentlich nur eine mit Rosen bepflanzte Verkehrsinsel auf einer Kreuzung von drei Straßen war, an der einen Seite der Traditions-Gasthof Markwart mit einem schönen Garten, auf der gegenüberliegenden ein geschlossener Drogeriemarkt und an der kurzen dritten ein verstaubtes Haushaltswarengeschäft. Henriettes Haus war ein unscheinbarer Mehrparteienbau, darin waren untergebracht: der Versicherungsmakler Travner, der früher Travnicek hieß, der Rauchfangkehrermeister Brandeis, im Ort Brandeins genannt, zwei Arztpraxen, gegen deren Kunden Henriette einen Kleinkrieg führte, weil sie ihren Privatparkplatz benützten.
Alles war gleichzeitig da und glitt wie in einer 3-D-Animation an ihr vorbei. Oder war es umgekehrt? Die ständig wachsende Erwartung drückten ihr auf Herz und Atmung. Der Eingang, eine Glastüre, daneben in einem trostlosen Holzkübel eine fast immer ausgetrocknete Kaktuspflanze, drinnen ein viel zu enges Treppenhaus mit braun gesprenkeltem Kunststein. Aber dann, wenn sich bei ihr oben im zweiten Stock die Türe öffnete, da zeigten sich Henriettes Klasse, ihr Stil und ihre Persönlichkeit.
Weiß in Weiß der Boden mit kühlen Kacheln und die Wände, beige die Seidenvorhänge, weiße Orchideen und kleine Vogelskulpturen auf den Fensterbrettern. Auf einem Treppenabsatz in einer Nische stand eine spätbarocke Schnitzfigur, mein Paulchen, sagte Henriette und streichelte ihm immer zärtlich über den Kopf, obwohl er für Ditta eher wie ein Florian aussah. Aber bei den Heiligen war sie nicht firm. „In Kärnten, wo ich herkomme, da gibt es 44 Kirchen mit dem Paul.“
So überzeugend, man vergaß sofort ihre klimpernden Plastikohrgehänge, ihre schillernden Wallekleider im Hippie-Look, die lächerliche Blume über der linken Schläfe im ausgebleichten Löckchenhaar, die qualmende, an der Unterlippe klebende Zigarette, vielleicht sogar die untalentiert geschaffenen Liliths. Aber darüber wollte sich Ditta kein Urteil erlauben, von darstellender Kunst verstand sie nichts.

Sie läutete, und das philippinische Hausmädchen, meine kleine Maid Lily, nannte sie Henriette, öffnete die Tür so schnell, als wäre sie direkt an der Klingel gestanden. Henriette liebte das Bunte und Grelle an sich selbst, aber die Wohnung hielt sie in Weiß, mit einigen geschickt angebrachten Farbtupfern wie Bilder, Blumen und Kissen. Ansonsten weiße Bodenfliesen, durchgehend einheitlich durch den ganzen Raum, eine riesige weiße Ledergarnitur mit weißen Korbstühlen, lange, fließende cremefarbene Seidenvorhänge in verchromten Haltern vor den Fenstern und im Hallendurchgang, gegenüber eine Glaswand zu einer Terrasse, die auch weiß ausgelegt und mit einer stattlichen Anzahl von Blumentöpfen bestückt war, weiße Rosen, weißer Oleander und weiße Kletterpflanzen.
Henriettes Wohnzimmer war weit und groß wie ein Fußballfeld, oben allerdings von einigen Spitzwinkeln und Schrägen des Daches in der Höhe eingeschränkt. Dafür waren in der Decke viereckige Bullaugen eingelassen, die einem das Gefühl gaben, auf einem Schiff zu sein. Ditta atmete auf, sie war zum Glück nicht die Erste, soweit sie sah, waren da schon Karoline, ihr Fels in der Brandung, Stefan, deren Sohn, und seine schwedische Model-Frau Linda. Die halbwüchsigen, wohlerzogenen, der Literatur aufgeschlossenen Kinder Jan-Philip und Bridget-Marie hatten mitkommen dürfen, um den Star zu treffen, da war auch Roswitha, ihre Partnerin aus dem Bridge-Club, und Marion, eine pensionierte Diplomatin aus der OSZE, deren lauter Mann Tim, ein riesenhafter, rotgesichtiger, immer besoffener Finne, der in der ganzen ehemaligen Sowjetunion mit Medizin-Geräten handelte und später als österreichischer Ehrenkonsul in St. Petersburg seine dunklen Geschäfte machte, dann noch der mächtige Max, Heinz`s früherer engster Freund, der Papierfabriksbesitzer.
Heinz, er fehlte er ihr jetzt so sehr, als sei sie einseitig nackt. Aber ihr Kleid kam an, alle lobten es als jugendlich, na, eben wie du bist, schaut sie an, wie dreißig und kein Jahr mehr! Henriette küsste sie auf beide Wangen und war offensichtlich schon in Fahrt. Ditta, mein Kleines, hello, sagte die Gastgeberin bedeutungsvoll mit tiefer Stimme. Ditta nahm sich ein Glas Orangensaft vom Tablett der Maid, weil sie absolut nichts vertrug und daher nie Alkohol trank. Immer noch die Flugbegleiterin mit ihrer Disziplin.

Henriette beherrschte die Szene wie eine Königin, sie unterhielt die Gäste mit amüsanten Geschichten aus alten Zeiten und mit neuen Plänen. Sie wollte eine Ausstellung in der Schlosskirche machen, ausschließlich mit ihren nackten Liliths. Noch war der Stadtpfarrer dagegen, zu wenig religiöse Konnotation, fanden er und der Kirchenrat, aber die Unterstützung des Kulturvereins hatte sie schon, zumindest der Obmann Thomas war für sie, selbst ein Künstler und Kunsterzieher im Gymnasium. Neuerdings betätigte er sich auch als Truthahnzüchter. Sein Hobby war aber umstritten, weil seine Truthähne inzwischen lauter waren als die berühmten Glocken, die zu jeder vollen Stunde vom Berg auf den Ort herunter schallten.

Thomas saß an Henriettes Seite auf der weißen Lederbank, auf die andere wies sie jetzt Ditta mit einer bestimmten Geste.
„Hierher, komm zu mir, mein Liebes“, und klopfte mit der Hand auf den Sitz, dass Ringe und Armreifen klimperten.
„Oh Gott, Henriette, bin ich aufgeregt“, sagte Ditta und wischte sich heimlich hinter dem Glas mit der Serviette die Schweißperlchen von der Oberlippe.
„Mach dir nichts draus, ich bin auch völlig fertig, habe fast nichts geschlafen, eine Figur wollte und wollte einfach nicht kommen, es war wie verhext.“
„Probierst du etwas Neues?“
Thomas neigte sein junges, hübsches Gesicht vertraulich Henriette zu.
„Wissen Sie, die Skulpturen, die haben etwas von….“ Er suchte nach einem möglichst originellen Wort. Sie brauchten einander, mussten zusammenhalten, die Künstler in so einem kleinen Ort.

Wo war SIE denn nur? Wer würde als Erstes die Nerven verlieren und fragen, warum Arabell noch immer nicht da war? Henriette, die Gastgeberin, oder Max, der ungeduldige Unternehmer, Thomas, der Künstler, ein Kind oder die immer vorlaute Roswitha? Karoline sicher nicht, und Ditta selbst noch weniger als die Maid.
Sie glättete ihren Rock und sah von den auf der Clutch gefalteten Händen auf ihre Lackschuhe hinunter. In den leise rauschenden Small-Talk platzte Henriette.
„Mein Gott, die Arme, was sie alles erlebt hat. Und jetzt die Scheidung, nach 27 Jahren, alles hat er ihr genommen, dieses Schwein..“
Henriette sog an der Zigarette und wedelte mit ihrem chinesischen Fächer den Rauch durch den Raum.
„Ich verstehe es nicht, wo sie bleibt, sie wollte als Erste kommen, hat sie am Telefon gesagt.

Vielleicht gibt es Probleme im Verlag oder mit ihrem Agenten. Ihr habt ja keine Vorstellung, welche Sorgen so ein Star hat. Da geht nicht alles glatt, immer muss sie kämpfen, noch immer, obwohl sie schon lange weltberühmt ist. Alle wollen etwas von ihr, alle wollen sich in ihrem Licht sonnen und sie bestehlen. Sie verschenkt ihr Geld mit beiden Händen. Die Männer, die Ärmste, ihre Männer, nur Schweine um sie herum.
Sie nehmen sie aus und bringen das Geld dann durch mit ihren Hürchen. Und sie merkt es nicht. Nicht einmal ich kann ihr in dieser Sache Vernunft beibringen. Mein Gott, was muss die gute Bella alles aushalten.“
Henriette durfte sie so abkürzen, Bella oder Ara, meine Bella, Bellissima.
Niemand in der Runde verstand sie genau, und die Gäste schauten einander fragend an.

Henriette schüttelte ungefähr fünfmal ihren Lockenkopf, zog die Mundwinkel herunter und die Augenbrauen hoch, strich ihre weiten indischen Ärmel zurück und zündete sich eine neue Zigarette an. Alle Gäste richteten sich auf sie aus, in Erwartung der Lösung des Rätsels.
Neinneinnein, das kann nicht sein. Ditta hielt sich mit einer Hand an der Clutch auf ihrem Schoß fest, mit der anderen an ihrem Saftglas. Sie war verwirrt, musste sich sammeln und grübelte: Die großartige Arabell Inenda soll Probleme, Sorgen haben wie wir, wie ich, eine gewöhnliche Sterbliche, ein Niemand. Haushypothek, Rechnungen, Ehemann, Schwiegereltern, Kinder, Enkel, Nachbarn mit Kampfhunden, Schnellstraßen vor dem Haus, Fluglinien über dem Kopf und Luftverschmutzung durch die Papierfabrik? Nein, das konnte nicht ihre Welt sein. Sie hatte Henriette wahrscheinlich nicht richtig verstanden. Ein großer Star, diese in aller Welt verehrte Schriftstellerin, die alle ihre Leser verzauberte, einfach nur durch das, was sie schrieb, welch wunderbaren Helden sie schuf und welche Welten sie eröffnete. Selbst schreiben. Nein. Sie hatte nichts zu sagen. Was gab es da schon? Heinz, das Haus, der Garten, Golf, Bridge, Miriam, Butler James, Mahmoud, Frösche, Libellen und Goldfische. Ich und….…, das passte gar nicht. Schnell scheuchte sie den Gedanken weg.

Als es läutete, ging Lily ins Vorzimmer, und Henriette bewegte sich leichtfüßig durch den Salon. Im Vorbeigehen griff sie Ditta unter das Kinn und hauchte ihr ins Ohr:
„Kleines, bitte, sag`s nicht der Bella.“
Sie war verwirrt, was sollte sie Arabell nicht sagen? Wie konnte sie denken, sie würde die eben vernommenen Vertraulichkeiten weitererzählen? Aber es blieb keine Zeit mehr zum Grübeln. Arabell Inenda stand im Bogen des Durchgangs, und zwischen den Seidenstores sah sie aus, als würde sie eine Bühne betreten und auf den Auftrittsapplaus warten. Sie knickte die Hüfte leicht ein und stellte gleichzeitig ein Bein vor das andere, dabei hob sie eine Hand zu einem leichten Winken, während die andere in die Hüfte gestützt war. Einfach göttlich, Ditta schmolz dahin. Genau das war es, wofür sie lebte.

Arabell trägt ein veilchenblaues Dior-Kostüm mit einem zu kurzen Rock, der die spitzen Kniescheiben etwas zu sehr betonte, fand Ditta, aber sie hatte wirklich schöne Beine, lang und schmal wie die einer Tänzerin, sie steckten in hochhackigen rosafarbenen Lackpumps, die von einer großen, gleichfarbigen Seidenrose am Jackettaufschlag gematcht wurden. Den über die linke Schulter baumelnden Silberzobel fand die größte Anbeterin très chic, aber angesichts des heißen Wetters an einem hellen Nachmittag im Juni etwas unzeitgemäß.
Obwohl, sie wollte den Star keineswegs kritisieren und ihn sich madig machen. Sie trug ihre dicken, kastanienbraunen Locken hoch aufgesteckt, die von einigen rosaroten Klipsen so unterstützt wurden, dass sie sich zu einem Krönchen türmten wie zu einem zweiten Kopf. Das machte sie größer, jünger und streckte ihren Hals. Aber im Juni-Licht sah sie doch etwas fülliger aus, als Ditta sie von ihren Fotos kannte. Als sie sich vom Torbogen und den Stores löste und sich auf die Sitzgruppe zubewegte, kam es Ditta vor, als würde sie nicht gehen, sondern schweben. Schweben, sicher, nicht schwanken. Henriette bot ihr den thronartigen indischen Schnitzstuhl an, auf dem sie sich einigermaßen graziös niederließ, Beine und Kostüm ordnete und mit der Zigarette fuchtelte.

Ihr schön geschnittenes Gesicht wurde belebt von den großen, dunklen Augen, die wie Kohlestückchen in einem Teig steckten. Aber darunter hingen faltige Hautsäcke wie kleine Hängematten, die sich auch am Hals fortsetzten. Diese waren natürlich auf den ihr bekannten Fotos nicht zu sehen und auch nicht, dass das Weiße um ihre Iris von kleinen, roten Äderchen durchzogen war.
`Wahrscheinlich strengt sie das Schreiben so an, sie muss Tag und Nacht an ihrem Schreibtisch sitzen. Und wenn nicht, dann ist sie in der ganzen Welt auf Lesereisen und Buchpräsentationen unterwegs, Autogramme und Interviews geben.` Sie macht alles für ihre Fans, ihre Leserinnen, ihre Anbeterinnen. Sie opfert sich auf. Auch für mich. Vor lauter Dankbarkeit und Mitgefühl spürte Ditta einen Stich im Herzen.

Arabell war wie Henriette eine starke Raucherin, nur zelebrierte sie diese Gewohnheit noch theatralischer, indem sie aus einer elfenbeinernen Spitze rauchte. Diese hielt sie ganz hinten mit in weißen Handschuhen steckenden Fingern. Aber wenn sie nicht irrte, meinte Ditta, in den Falten des brüchigen Satins unregelmäßige Flecken und abgelagerte Staubstreifen zu entdecken, vielleicht waren es auch Brösel oder Bröckchen von etwas vor langer Zeit Genossenem. Nein, sie sah sicher nicht richtig, böse Ditta, schäm dich, du bist eine Verräterin. Wie konnte sie nur so etwas denken. Sie krümmte ihren Rücken, damit niemand ihr Herz klopfen sah. Sie starrte in ihr Glas, wo sich die schmelzenden Eiswürfel im Orangensaft in trüben Schlieren kringelten.

„Liebling“, rief Henriette.
„Engel“, flötete Arabell, „mein Süßes“.
Mein Gott, diese Stimme, das war die Stimme, an der sie sie endgültig erkannte. Ja, das war sie, die echte, leibhaftige Arabell Inenda. Ditta spürte, dass sie in den Boden versank. Dieser tiefe Samt, dieses sanfte Glühen, in irgendeinem Artikel hatte jemand einmal „Purpur-Samt“ geschrieben.
„Engelchen, was gibt es zu trinken, was trinken die Leute?“
„Alles gibt es, Tee, Kaffee, Saft, Wasser….“
„Pfft, Wasser, bist du mein Feind, willst du mich vernichten?“
Henriette warf sich herum, fuchtelte mit ihrem Fächer wie mit einem Generalstab und deutete auf ihre Gesellschaft.
„Bella-Darling, du weißt, ich passe auf dich auf, immer, du hast heute Abend noch eine Lesung.“
„Musst nicht aufpassen, ich bin schon ein großes Mädchen.“
Der Purpur-Samt kicherte und rutschte leicht ab in ein spitzes, ungeputztes Blech.
„Engelchen, du hast doch deinen köstlichen Wodka.“
„Darling, ich sag nicht nein, zu dir nie, aber denk an die Lesung, an deinen neuen Bestseller.“
Trotzdem rief sie nach Lily und dem Wodka.
„Lily-Schätzchen, keinen Fingerhut, die Flasche!“

Ditta bemühte sich, an etwas anderes zu denken, als sie eben gehört und gesehen hatte.
Aber es nutzte nichts.
„Engel, Henry, wer ist denn das? Was hast du denn da Niedliches bei dir?“
„Ist das mein Kleines, das du mir versprochen hast?“
„Was für ein süßes, kluges Gesicht, und das gelbe Kleidchen, ein wunder-wunderschönes Stück, schaut mal, sehen alle, was ich sehe?“
Lily näherte sich mit einem fünfeckigen Tablett, auf dem ein tiefes Glas, eine Wasserkaraffe, eine kaum angebrochene Wodka-Flasche und ein Eiskübel mit Zange standen. Lily stellte alles am Beitisch ab und machte sich daran, ihr einzuschenken.
„Schätzchen, lass das, das bleibt hier bei mir, nicht wahr.“

Arabell schlug den Zobel um ihren Hals herum, befreite sich von ihrer Zigarette und schenkte sich selbst bis zum Rand ein.
Ditta war nicht mehr ganz sie selbst, als sie im Pelz einige Bewegungen zu sehen glaubte, die nicht von der Trägerin selbst ausgingen.
„Wollt ihr etwas hören aus meinem letzten Roman, schon wieder ein Bestseller, diese Idioten fressen doch alles, diese …. Aber was haben wir denn da? Henry, wen hast du mir denn da angeschleppt, so ein Sweetheart, dieses süße Gesichtchen, süß, süß, süß, ein Herzchen, ein Herzgesicht. Was machen Sie noch mal?“

Arabell klopfte ihr mit der Zigarettenspitze auf die Schulter, als sei sie ein Aschenbecher, den sie übrigens nie benutzte, sondern selbstverständlich auf Henriettes weiße Marmorkacheln aschte. Die kleine Lily huschte unbemerkt um sie herum und wischte den Boden auf.
„Ach, Sie schreiben auch? Wie schön, eine Kollegin, eine Herzensfreundin, was schreiben Sie?“
„Ich, ähm, ich schreibe nie…. Nichts, ich lese…. Ich lese Ihre Bücher, manchmal auch andere, aber Ihre sind mir die liebsten, ich…. weil…. mein Mann….“
Ditta wusste nicht, was sie davon halten sollte, es hatte etwas Unbefriedigendes, das sie nicht so richtig in den Blick bekam.
„Wie süß, hallo Leute, Henriette hat mir heute…..“
Arabell griff wieder zur Flasche, goss das Glas randvoll und zündete sich die nächste Zigarette an, ein tiefer Zug von da und dort. Alle wurden Zeugen, wie der Wodka in ihrem Blut und ihrem Gehirn seine wunderbare Arbeit verrichtete.

„Henry, mein Engelchen, was wolltest du mir sagen, Jugend, ja Jugend, wir waren auch einmal….. Sie hat einen Mann, ist das nicht entzückend, und sie liebt ihn auch noch, sagt sie, einen einzigen Mann, ihren Mann. Synopsis oder ein Skript zuschicken, an meinen Verlag, ich bin wahnsinnig interessiert, ich nehme neue Ideen auf, Sie wissen, ich bin immer in Verbindung, Verbindung mit, mit….., ja, mit wem, Henry, sag mir‘s.“
Ihre Augen schienen aus den Hängematten herausspringen zu wollen, die Kohlestücke zerbröselten im Gesichtsteig, das Haarkrönchen neigte sich bedenklich zur Seite, die Seidenblume wurde welk, und aus dem Zobel begannen kleine Tierchen über Hals und Gesicht zu krabbeln.

Ditta sah es mit ihren eigenen Augen, wollte das nicht sehen und errötete so stark, dass ihr ganzer Körper schmerzte.
Sie nahm all ihren Mut zusammen, griff nach ihrer Clutch und stand mit steifen Beinen auf:
„Vielen Dank, ich muss jetzt wirklich…..Henriette, Frau Inenda, entschuldigen Sie mich, ich muss jetzt wirklich, mein Mann, die Katze, der Garten, ich habe noch…“
„SchschreibenSie, Goethe hat auch, war …. Sie sind eine Heilige“, rief Arabell ihr nach, „sie hat einen Mann, einen, und liebt ihn auch noch, sagt sie, so eine süße Idiotin, und mich auch, nochmal Idiotiiin.“
Dabei lachte sie schrill auf, ließ sich in ihren Sessel zurückfallen und fing unmittelbar zu schnarchen an.
Henriette flüsterte Ditta ins Ohr: „Du verstehst ja, Kleines, dass sie sich vor ihrem Abend noch ausruhen muss.“

Lily begleitete sie an die Tür. Obwohl die Maid von Henriette zur ultimativen Zurückhaltung erzogen worden war, meinte Ditta ein mitleidiges Lächeln zu entdecken, oder war es Schadenfreude?
Wie sie durch das steile Treppenhaus hinunter auf die Straße kam, erinnert sie nicht mehr. Draußen war es noch nicht ganz dunkel, eine schwüle, wattige Dämmerung. Ditta schleppte sich über den Hauptplatz vor Henriettes Haus, durch die alte Lindenallee, vorbei am Rosengarten des Klosters bis zur Schwarza. Es war die Jahreszeit, die sie sonst über alles liebte, wenn sich die Düfte der Linden mit Flieder und Rosen mischten. Jetzt war ihr die süße Luft unangenehm und sogar peinlich. Ihr wäre ein Geruch von Jauche lieber gewesen.
Einige Zeit stand sie auf der Brücke ans Geländer gelehnt, aber das Wasser war zu seicht, als dass es sich ausgezahlt hätte. Menschen haben manchmal Gedanken, die sie besser nicht hätten. Manches, was man tat im Leben, war bereuenswert, anderes nicht.
Aus allen Gärten drangen die Amsel-Flöten, die Nacht war so klar, dass sich der Bogen der Milchstraße deutlich abzeichnete. Sie dachte an vieles, an die Sterne, an Heinz, James, Mahmoud, die Frösche, Libellen, Goldfische und an das Amsel-Pärchen und an alles andere, nur nicht an Arabell. Immer glaubt man, man könnte sich mit einer Art Schild dagegen schützen, aber die Erinnerung kommt nie von vorne auf dich zu, sondern seitlich um die Ecke. Mit einem Schwung warf sie die Clutch über die Brücke. Nur ein schwaches Klatschen kam vom Wasser. Sie zog ihre Lieblingsschuhe aus und schleuderte sie in die ausgetrocknete Schwarza, zweimal ein höhnisches Klacken auf den Kieseln ohne Echo, nur noch Schotter, Edelschrott.
„Wider-hallende Leere“, diese zwei Wörter drehten sich unter ihrer harten Schädeldecke, immer und immer wieder, bis sie zu Hause ankam.

Sie schloss die Türe auf und rief mit gebrochener Stimme, fast nicht mehr als ein Krächzen, ins Haus hinein:
„Bist du da, Darl, ich bin‘s.“
Er saß wie immer im Office, aber nicht in seinem Ohrensessel und nicht von Börsenberichten und Sudokus umgeben, sondern am Schreibtisch. Den hatte er seit seiner Pensionierung vor drei Jahren nicht mehr aufgesucht. Jetzt war er überhäuft mit Bauanleitungen für Laubsägearbeiten, Plänen für Häuser, Kirchen, Pfarrhaus, Schulen, Geschäfte, Bäckerei, Fleischerei, Brauerei, Sportplatz, Brunnen, Feuerwehrhaus und allem, was ein Dorf ausmacht. Zu seinen Füßen sah sie ein Laubsägeset und einige Packungen mit Brettern. Sein Mund stand halboffen, die Zunge lag leicht vorgestreckt im linken Mundwinkel, die Lesebrille saß ihm auf der Nasenspitze, sein Gesicht glühte, die Zigarre qualmte ungeraucht neben ihm im Aschenbecher, am Beitisch ein Tablett mit dem Abendessen: Aufschnitt am Holzbrett, das Brotkörbchen, eine ungeöffnete Bierflasche und die Vorspeise, in der die Eiswürfel längst zerschmolzen waren.

Ditta blieb wie angewurzelt in der Türe stehen.
„Um Gottes Willen, Heinz, was soll das werden?“
„Siehst du‘s nicht, ich baue dem James ein Dorf. Und bei dir, wie war`s?“
„Sehr interessant, wirklich, alle waren da, nur du hast gefehlt. Und sie hat auch vorbeigeschaut.“
„Wer hat vorbeigeschaut?“
„Na, wer schon, Heinz, wirklich, du bist unmöglich.“
Am liebsten hätte sie mit den Füßen aufgestampft und ihren Tränen freien Lauf gelassen.
„Ach, die alte Schabracke meinst du. Worüber habt ihr geredet?“
Mit letzter Beherrschung hauchte sie:
„Über…. Goethe.“
„Du – und – Goethe?“

Er hackte die Wörter scharf auseinander, zog das U und das Ö so in die Länge und in die Höhe, dass das dreifache Fragezeichen fast sichtbar in der Luft stand. Er nahm die Brille ab, leckte sich mit der Zunge über die Lippen und schaute sie mit so jungen, frisch-funkelnden Augen an, seit langem zum ersten Mal direkt in die Augen, ein Blinken und Blitzen, wie sie es schon lange nicht mehr bei ihm bemerkt und schon vergessen hatte, dass es das bei ihnen einmal gegeben hatte. Eine Mischung aus Mitleid, zärtlicher Neckerei und Liebesbereitschaft. Sogar sein schwerer Körper schien ihr für einen Augenblick leichter, hatte irgendeinen jungen Schwung, eine neue Streckung. Wenn James Dean nicht so früh gestorben wäre, hätte er vielleicht ausgesehen wie Heinz jetzt. Ditta hatte mit der Geduld der Liebenden gelernt, auf solche Augenblicke zu warten, und wenn sie kamen, sie auch zu genießen. Wenn er sie länger angesehen hätte, würde er festgestellt haben, dass ihr zittriges Lächeln jetzt aussah wie ein verlorenes Blatt. Es sollte vermutlich mädchenhaft und entwaffnend aussehen, doch es hätte die Aufmerksamkeit nur auf die schlaffe Leere ihres Gesichts gelenkt, ein erschauernder Clown.

„Ja, Goethe, sie hat mit mir über Goethe geredet.“
„Wirklich? Na, dann gute Nacht. Ich bleib, hab noch zu tun.“
„Das sehe ich, dir auch gute Nacht.“

Epilog: Während sich Ditta in ihrem Zimmer auszog, im Finstern wohlweislich, damit sie nicht in Gefahr geriet, sich im Spiegel zu sehen, hörte sie vom Garten herauf einen lauten Knall. Als sie den Vorhang vom Fenster wegzog, sah sie James` rauchende Trümmer über den Rasen verstreut liegen. Wahrscheinlich hatte er sich heute nicht selbst abgeschaltet, und der Akku war viele Stunden lang heiß gelaufen, bis er explodierte. Die Gebrauchsanweisung hatte vor diesem, als unwahrscheinlich eingestuften Fall gewarnt. Durch die Rauchwolken hindurch sah Ditta Heinz am Rande des japanischen Teiches stehen, gebeugt und den Kopf tief auf die Brust gesenkt – der Inbegriff eines gebrochenen Mannes.
Sie befürchtete das Schlimmste: Ob er sich wohl je an James II. gewöhnen würde?

Veronika Seyr
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Zwei Fremde im Bus: Von Aleppo nach Laaanderthaya

Am 27. August 2015 stieg der Mann in den weißen Bus mit drei grünen Rebstöcken an der Seite, bezahlte beim Fahrer 15 Euro: „Laa- an- der-Thaya, please“, ging die Reihen entlang und wählte einen der hinteren Plätze. Den kleinen Koffer legte er ins Gepäckfach, auf den leeren Sitz neben sich stellte er die Papiertasche mit den goldenen Bögen einer großen Kette. Hinter ihm lagen viele große und kleine Städte, und seine Reise aus dem Osten in den Norden dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Er war an vielen Orten gestrandet, länger oder kürzer. Von Aleppo weg ein Jahr in Beirut und Istanbul, dann eine griechische Insel, in Athen ein ganzes Jahr Tellerwäscher bei Nikolas, dem Tavernenwirt, der wollte wirklich helfen, obwohl es ihm selbst gar nicht gut ging. Später kurz Skopje, Belgrad und Budapest, die ganze schreckliche Balkanroute samt ungarischem Mörderdraht, schließlich Hauptbahnhof Wien. Die Hauptstadt von Austria ist etwas größer als Aleppo einmal war. Vienna war ihm in der alten Heimat schon ein Begriff gewesen, weil er etwas von Sigmund Freud gelesen hatte. Laaanderthaya kannte er natürlich nicht, und er wiederholte dieses schwierige Wort immer wieder – sollte das vielleicht einmal seine neue Heimat werden?
Er versuchte, Assoziationen zu seiner Muttersprache zu finden: La-andertaya. Er drehte das Wort um: Al-redna Ayat, das klang ja fast Arabisch, freute sich der Mann und lächelte auf den Notizzettel im Schoß hinunter: Wien-Hauptbahnhof – U1 bis Stephansplatz- U3 – Landstraße-Waldviertel-Bus Laa-an-der-Thaya – Kirche-Pfarrhof-Seniorenheim-Caritas. Hau-ptb-ahnhof, das ging gar nicht – ptb, das war unmöglich auszusprechen, genauso wie das -ldv- und das -pf-, für ihn waren das keine erkennbaren Laute, und seine Sprechwerkzeuge sträubten sich dagegen wie gegen eine tote Maus. Am Hauptbahnhof hatte eine junge Frau mit Kopftuch, eine „helping hand“ – so stand es in mehreren Sprachen auf dem Klebeschild ihrer grünen Weste – schon ein bisschen mit ihm geübt. Die offizielle Zuweisung der Caritas an das „Seniorenheim“ trug er tief in der linken Innentasche des neuen Sakkos, dort, wo er auch das Foto seiner Frau und der zwei Töchter aufbewahrte. Kein aktuelles Foto, weil seine ältere Tochter schon früher aus Aleppo weggegangen war.

Der Syrer, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mittelgroß und hager, mit Hornbrille, blauen Augen und Halbglatze, ist auf seinen vielen Stationen seit Aleppo ein geduldiger Reisender geworden. Es war überhaupt seine erste Reise außerhalb Syriens, sogar in der Hauptstadt Damaskus ist er nur einmal gewesen. Und auch diese Reise hätte er nicht angetreten, wenn ihn der Krieg nicht dazu gezwungen hätte. Davor war es ihm und seiner Familie gut gegangen in Aleppo, seiner Frau Rikhiel und den beiden Töchtern Daliah und Myrnah. Schweiß trat auf seine Stirn, als ihn die Erinnerungen ohne Schutz überfielen.
Er stöhnte lautlos, senkte den Kopf tief über die Knie und rieb sich die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben. Es war nicht heiß im Bus, aber er zog das Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne. Die schwarze Hose war ihm viel zu weit und zu lang, er zupfte immer wieder vorsorglich die scharfe Bügelfalte hoch, wenn er seine Beinstellung änderte. Es war ein feiner, glatter, angenehm kühler Stoff. Mit einem weißen, zusammengefalteten Stofftaschentuch wischte er über die Oberschenkel, als ob er unsichtbare Tabakkrümel, Asche oder Staub beseitigen wollte. Er nestelte mit leichten Gesten an der Hemdbrust und klopfte mit so beweglichen Fingern auf den Knien herum, als hätte er sein Leben am Klavier verbracht. Aber er war kein Pianist, sondern nur Masseur, ein Handaufleger und Wunderheiler. In Aleppo hatte er einen guten Ruf genossen, er galt als ein Meister, als Künstler, manche sagten sogar Magier, seine Praxis war überlaufen, sogar Ausländer kamen zu ihm und die Herren und Damen des innersten Machtzirkels der Stadt durfte er von ihren Leiden erlösen.
Er saß allein in seiner Reihe mit den blau-rot-gemusterten Sitzen, mit einer Fußstütze, einem aufklappbaren Tischchen und einem Netz an der Rückseite des vorderen Sitzes, ein Luxus, wie er ihn noch in keinem Bus erlebt hatte. Die ehemaligen Aschenbecher in den Sessellehnen waren verklebt. Aha, es hatte auch hier andere Zeiten für Raucher gegeben. Aus den Lautsprechern drang leise Musik, vielleicht klang so Wiener Walzer. Ihm gefiel es, und es überkam ihn kurz ein behagliches Gefühl. So ging also Reisen, so sollte es immer sein.

Die Kleidersachen hatte er heute am Morgen am Hauptbahnhof bekommen. „Train of Hope“ (ToH) nannten die Leute ihre Hilfsaktion. Er kam so früh aus der Caritas-Notunterkunft zum ToH, dass die Schlange vor dem Zelt mit Männerbekleidung noch relativ kurz war. Er staunte, so vieles war da, häufte sich in Stößen und Schachteln und quoll aus den Regalen, von allem genug und in großer Auswahl, vor allem jugendliche Sportbekleidung, Anoraks, Schuhzeug, Wäsche, Mützen, Rucksäcke und Taschen aller Art. Als Erstes hatte er seinen Plastiksack von Billa-Budapest gegen einen kleinen, aber seriösen Koffer eingetauscht.
Es entsprach ihm, David Al-Bahri, dem Juden aus Aleppo, dass er sich für diesen altmodischen Anzug entschied, dazu ein blass-blaugestreiftes Hemd und eine orientalisch gemusterte Seidenkrawatte. Wahrscheinlich war sie an allem Schuld, erinnerte sie ihn doch an Ornamente der Umayyaden-Moschee, oder waren es die Stoffe im Basar oder ein Mosaikfries der frühbyzantinischen Helena-Kathedrale von Aleppo? In seinem Leben hatte er so etwas noch nicht getragen, aber ihm kamen diese fremden Kleidungsstücke auf geheimnisvolle Weise vertraut vor. Irgendwann, irgendwo wollte er jemanden fragen, was die in die Krägen und Stulpen eingenähten Bändchen „KNIZE“ bedeuteten.
Dem Anzug entsprechendes Schuhzeug hatte er im Gedränge nicht finden können. Deswegen trug er jetzt schwarz-weiße, etwas zu große Sportschuhe an den Füßen mit dem eigenartig arabisch klingenden Namen Adi-das. Er genierte sich, wenn er an seinen Beinen hinuntersah, wie sich die weiten Hosenröhren in mehreren Lagen über den Turnschuhen wölbten. Er war in löchrigen Straßenschuhen und mit abgelaufenen Badeschlapfen in Wien angekommen, lächerlich, wofür sollte er sich noch schämen.

Im spärlich besetzten Weinviertel-Bus merkt niemand, wie er zu kämpfen hat, dass er nicht rauchen darf, wie ihm der Schweiß auf dem Gesicht steht und über Hals und Nacken läuft. Er öffnet das Hemd und wischt mit dem Taschentuch über die Brust, nimmt die Seidenkrawatte ab, kaut an einem Zündholz und schiebt es mit der Zunge ständig von einem Mundwinkel in den anderen. Für einen starken Raucher wie ihn war das Rauchverbot eine Qual, noch eine zu den vielen der Flucht. Aber David Al-Bahri ist ein geduldiger Fahrgast. Und ein aufmerksamer. Als sie aus der Stadt heraus waren, stiegen immer wieder Menschen vorne ein und hinten aus, sehr diszipliniert, langsam und immer in Reih und Glied, fast alle Passagiere waren älter als er, alt oder sehr alt, aber rosig und gut gelaunt.
Wo war die Jugend dieses Landes, wunderte er sich. Zwei Frauen in der Reihe vor ihm hatten bunte Taschen mit Einkäufen bei sich, redeten laut, lachten und schwatzten wie Junge, offenbar miteinander vertraut, obwohl sie an verschiedenen Stationen eingestiegen waren. Alle sprachen den Fahrer an, als wäre er ein Familienmitglied. Am rechten Vordersitz unterhielt sich ein schwerhöriger Mann lautstark und gestenreich mit sich selbst und legte immer wieder die linke Hand ans Ohr, als wollte er sich selbst zuhören.
An einem Halt – er konnte die Ortstafel nicht so schnell entziffern – beobachtete er eine Szene: Der Fahrer bekam ein zwitscherndes Lautsignal, ähnlich einem Vogelruf, da stieg er aus, kam zur Mitteltür und klappte eine Plattform so exakt aus dem Boden des Busses, dass eine einzige Rollstuhlfahrerin, grotesk deformiert an Gesicht und Körper, fast ebenerdig hereinrollen konnte; sie war in Begleitung einer jungen Frau, die den Rollstuhl an dem vorgesehenen Platz in einer leeren Ecke mit einem Riemen befestigte. Gab es irgendetwas, was sie nicht vorhersahen? So viel Aufwand für eine einzige Invalide. Nach nur zwei Stationen stiegen sie genauso wieder aus.
An einem anderen Ort – Ober- oder Unter-Hollabrunn? – schwang sich ein lauter Schwarm von bunten Teenagern in den Bus, Schüler und Schülerinnen mit Rucksäcken. Sie besetzten die hinterste Sitzreihe und wälzten sich so hungrig und durstig über ihre elektronischen Geräte, als seien sie gerade mit dem letzten Wasserschluck der Wüste entkommen. In einem größeren Ort mit zwei Kirchtürmen stiegen sie genauso lärmend wieder aus.

Ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine 25, mit einem nagelneuen Seesack über der Schulter stieg zu. Der schaute sich suchend um, ging in den hinteren Teil des Busses und setzte sich genau hinter David. Die lächelnden Augen in dem jungenhaften, rotbackigen Gesicht grüßten ihn beim Vorbeigehen stumm, und David nickte zurück. Als sich der junge Mann auf seinem Platz eingerichtet hatte, griff David neben sich und wandte sich mit dem geöffneten Sack nach hinten. „Please, take some.“ Der junge Mann errötete tief und sagte: „Danke, thank you, very nice, sehr freundlich. My name is August.“ „David, very pleased.“

Der Junge schämte sich ein bisschen dafür, dass er nichts anzubieten hatte, und wurde noch röter. Aber er fuhr ja nur 85 Kilometer bis nach Hause.
Am Bahnhof hatten David ein paar freundliche Jugendliche zwei gigantische, in Stanniol verpackte Veggy-Burger, zwei Apfeltaschen, zwei Bananen und zwei Wasserflaschen „Vöslauer mild“ überreicht. Sie trugen den Proviant in großen Plastikboxen durch die Menge und lächelten jeden an. Bitte, please, bitte please und das noch in Arabisch und rund zwanzig östlichen Sprachen, die an den Plastik-Aufklebern ihrer Westen angeschrieben waren. David kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer waren diese Jugendlichen, warum waren sie nicht in der Schule oder in der Arbeit? Was war das hier überhaupt, wohin war er geraten?

Bahnhofshallen und ein Vorplatz, Fahnen mit OeBB, auf einem Container eine Regenbogenfahne, über anderen Containern wehte eine mit dem Roten Kreuz und „Arbeitersamariterbund“, ein schon etwas vergilbtes Transparent mit der Aufschrift „Refugees WELCOME“, daneben ein großes, weißes Zelt mit aufgedruckten Äskulapnattern, „First Aid“ und vielen in Arabisch geschriebenen Zetteln mit hingekritzelten Notizen und Telefonnummern, davor einfache Holzbänke, alle vollbesetzt mit Wartenden. Die meisten hatten offenbar Fußprobleme, sah er mit einem schnellen Blick.
David war gut davongekommen, er musste damals, vor einem Jahr, nur auf seiner ersten griechischen Insel dreißig Kilometer gehen, um in die Hauptstadt Mytilini zu kommen und auf eine Fähre nach Athen gebracht zu werden. Aber er war ja schon vor einem Jahr aus Aleppo aufgebrochen und hatte in Athen bei Nikolas gearbeitet, gehofft, dass er seine Familie zumindest bis Athen nachholen könnte. Die Neuankömmlinge dieses Sommers haben es viel schwerer als er.

Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofshalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und jene mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit T-Shirts und Socken.
Am lautesten und engsten war es bei der Handy-Ladestation in einer Ecke beim Eingang. Jeder wollte nur seine Verbindungen herstellen, dorthin, wohin sie wollten und woher sie kamen. David hatte kein Handy und kein iPhone. Als er am Stand der LAWYERS an die Reihe kam, stellte sich heraus, dass er eine Erstzuweisung entweder nach Traiskirchen oder nach Laa an der Thaya bekommen könnte; er entschied sich für das unaussprechliche Laaanderthaya. Im Treck von Athen nach Wien hatte er aufgeschnappt, dass in Austria Traiskirchen zu vermeiden sei, es sei ein Lager, ein Camp. Camp klang nicht gut in Davids Ohren. Dort sei es nicht gut, und von dort komme man schwer wieder weg, lautete das Gerücht. Hinter dem Tisch der lawyers saß eine ältere Frau, zu der er sagte: „Please, Laanderthaya, please.“
Sie gratulierte ihm mit einer vorgestreckten Hand, die er nicht annehmen konnte, aber sie lachte und überreichte ihm ein dickes, abgenutztes rotes Buch in der Größe eines Ziegels, das Cassels-Wörterbuch Classical Oxford Dictionary, Deutsch-Englisch/Englisch-Deutsch. „It could be useful to you, maybe.“ Und lächelte. David nahm den Schatz an sich, er war glücklich, wollte er doch so schnell und so gut wie möglich die Landessprache erlernen, damit er sich selbst erhalten und seine Familie nachholen konnte. Die österreichischen lawyers erklärten ihm, wie das ging, der Arabisch-Dolmetsch, ein junger Syrer, der neben Deutsch auch noch Englisch, Kurdisch und Türkisch sprach, übersetzte so, dass er meinte, alles verstanden zu haben.
Er würde in einem „Seniorenheim“ der Caritas ein Zimmer bekommen, als Pfleger und vielleicht später in seinem Beruf arbeiten dürfen, aber außer einem kleinen Taschengeld noch nichts verdienen, solange er keinen positiven Asylbescheid hatte. Dass das schnell ging, diesbezüglich hatten sie ihm keine großen Hoffnungen gemacht. Warten, Monate, vielleicht Jahre, aber für einen Juden aus Syrien wahrscheinlich mit positivem Ausgang – „eine gute Bleibeperspektive“ hatte er. Was sie ihm in der Kürze nicht vollständig erklären konnten, war der Begriff „Seniorenresidenz, Altenheim“.
Bei ihm zu Hause blieben die Alten in der Familie, wurden von allen gemeinsam gepflegt bis zum Ende. Niemand wurde in ein Heim oder eine Residenz gebracht. Wohin sollte er also kommen, was sollte er dort machen, und was war eine „Caritas“? Oh Gott, wie viel hatte er noch zu lernen. Aber David dachte an seine Wunderheilerhände, breitete sie vor sich im Schoß aus und schaute zuversichtlich auf sie herab. Hatte er seine Gabe mitnehmen können in die unbekannte Zukunft?

Der junge Mann griff in den angebotenen Sack mit dem goldenen M und nahm sich von allem die Hälfte, nur die Banane ließ er liegen. Er strahlte ihn mit einem Dankedanke, thank you! an. So aßen und tranken sie schweigend, bis der Junge seine Finger an den Jeans abwischte, und der Fremde Hosenbeine, Lippen und Fingerspitzen mit dem Taschentuch abtupfte. David schaute aus dem Fenster und hätte gerne gewusst, was das für Pflanzen waren, lange Reihen von blattreichen, niedrigen Büschen mit weißen und rosa-bläulichen Blüten. Schnell blätterte er im Wörterbuch und deutete mit dem Kinn auf die Felder hinaus: „What is that?“ Der junge Mann strengte seine Augen an und verstand nicht. Was wollte der Mann, da war nichts, Felder eben. „Tobacco?“, versuchte es David, der leidenschaftliche Raucher. Jetzt fiel der Groschen, und der junge Mann lachte herzlich: „Nein, nein, Tabak wächst hier nicht, nicht bei uns! Das sind Erdäpfel, potatoes, patates, pommes.“
Der junge Mann konnte ein wenig Englisch und einige Bruchstücke von anderen Sprachen. Er hatte Kellner gelernt und war mehrere Jahre auf einem deutschen Frachtschiff als Küchengehilfe zur See gefahren. Seine Kollegen waren meist Asiaten, und ihre gemeinsame Sprache war das Kitchen-English. Jetzt kehrte er nach Hause zurück, in seine Heimat Gnadendorf bei Laa an der Thaya, zu seiner schwangeren Schwester, und der Schwager konnte vielleicht Hilfe auf dem kleinen Hof gebrauchen.

Es war auch sein Heimatort gewesen, so lange die Eltern gelebt hatten. Schön ist es dort, ruhig und viel Grün, es gab viele potatoes dort und trees, Bäume, viel Wald. Er würde sich im Dorf ein hübsches, tüchtiges Mädchen suchen, heiraten, eine Familie gründen und ein Haus bauen. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Da musste David so herzlich lachen, dass sich sein Gesicht völlig veränderte. Der Junge lachte mit, obwohl der Spaß auf seine Kosten ging. Dann spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte, schnalzte mit der Zunge und schmatzte mit den Lippen.
Sie verstanden einander und lachten gemeinsam mit zurückgeworfenen Köpfen. Dann beugte er sich zwischen den Sitzen wieder zu dem Mann vor und machte noch einen Versuch, diesmal mit tiefer, verstellter Stimme, um höflich zu wirken: „Sie sind Ausländer – Araber, Muslim?“ David zuckte zusammen. Ja und nein, wie sollte er es diesem jungen Mann aus der Provinz erklären – ein syrischer Jude aus Aleppo, das war schon in Syrien schwer zu verstehen. Und was und wer war er überhaupt, seit er ohne seine Familie auf der Flucht war? Ein Syrer, aber kein Araber, seit zwei Jahren auf einer Odyssee und nun auf dem Weg zu einem Caritas-Heim Sancta Monica in Laa an der Thaya, Weinviertel, Niederösterreich. Sicher kein Araber, aber was für ein Jude war er, der noch nie in einer Synagoge gewesen war und dessen Vorfahren aus Marrakesch stammten?
Der junge Mann seufzte, gab aber noch nicht auf, sondern versuchte eine doch ziemlich peinliche Frage zu formulieren: „Wo sind Sie daheim?“ Auch diese Frage war schwer zu beantworten. David stach mit dem Zeigefinger auf seine Brust und sagte: “I am from Syria, I am jewish, I am a masseur, now in Laa- an- der-Thaya“ – das ging ihm schon ganz gut von den Lippen. Es entstand eine längere Pause, und beide Männer wandten ihre Blicke aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft, auf saubere Dörfer, Kirchtürme, Hügel, Wälder und grüne Wiesen, soweit das Auge reichte, und die weiß-rosa-lila blühenden Stauden. Es gab auch noch andere Felder, Getreide und Pflanzen mit runden Kapselköpfen, die kannte er aus seiner Heimat, aber er wunderte sich, dass Mohn hier abwechselnd mit potatoes wuchs.

Er wird diesem freundlichen, neugierigen Provinzjungen jetzt noch nicht erklären können, was es bedeutete, kein gewöhnlicher Reisender zu sein so wie er, auf einem Handelsschiff in der Ostsee oder wie jetzt auf dem Weg zur Schwester in Gnadendorf.
Er war ein Flüchtling auf Reisen. Dass seine Reise nicht nach Stunden gemessen wurde, sondern nach Jahren, nicht nach Hunderten von Kilometern, sondern nach Tausenden. Die Reise des Flüchtlings glich eher einem Geisteszustand als einem Reisestadium, das sich mit Landkarten und Fahrplänen errechnen lässt. Laa an der Thaya-Caritas. Und wieder seine Marotte, die Worte umzudrehen, Satirac, um vielleicht eine Sprachverwandtschaft zu finden. „Do you have family? Where are they?“ Der Junge steckte wieder den Kopf zwischen die Sitze nach vorne. David atmete tief durch, als müsste er einen Anlauf nehmen, setzte seine Hornbrille ab und wischte mit dem Taschentuch daran herum.
Er nickte: „Yes, over there, back in Turkey“, und holte das Foto aus der Tasche. Der Junge fand seine Frau und die Töchter nice, very nice. David betrachtete lange das Bild und steckte es wieder zurück. Das hätte er nicht tun sollen, sein Herz schien doppelt so schnell zu schlagen und wollte das Jackett sprengen, so sehr regte es ihn auf, direkt in ihre Gesichter zu sehen. Als sei sie ein Rettungsring, hielt er sich mit beiden Händen an der Wasserflasche fest, dass die Sehnen an den Händen hervortraten. Mehrmals schlug er die Beine in den schwarzen Knize-Hosen übereinander, zupfte die Bügelfalte sorgfältig zurecht und betrachtete seine lächerlichen schwarz-weißen Sportschuhe.

Seine Frau Rikhiel und die kleine Daliah würden früher oder später nachkommen, darüber sorgte er sich weniger. Aber seine Große, die jetzt zwanzigjährige Myrnah, war schon vor drei Jahren weggegangen, sie wollte nach Israel und Schauspielerin werden. Ich bin Jüdin, hatte sie selbstbewusst gesagt, sie müssen mich reinlassen. Ja, hübsch und klug war Myrnah auch noch, aber von allem zu viel, für diese Zeiten. Diese alten, düsteren Sorgen. Zuletzt hatte er von ihr in einem abgebrochenen Telefonat aus Kairo gehört. Später viele Anrufversuche mit Krachen und Rauschen, ohne dass eine Verbindung zustande kam. Er wollte glauben, dass diese schon aus Israel kamen. Wann und wo würden sie noch einmal zu viert zusammenkommen? Er würde mit Rikhiel und Daliah seinen Weg machen, ob in Laa an der Thaya oder anderswo, wenn ihn seine Zauberhände nicht im Stich ließen, wenn sie auch hier ihre Kraft entfalten würden, so wie in seinem früheren Leben.
Der Junge hinter ihm schien zufrieden zu sein, er hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wenn der Bus rüttelte oder in eine Kurve ging, fiel ihm der Kopf auf die Brust. Sie hatten zusammen gegessen, getrunken, geredet und gelacht. David breitete das Taschentuch zwischen die Kopfstütze und das Fenster und spürte, wie sich zum ersten Mal seine Beine entspannten und unter dem Vordersitz ausstreckten. Als der Bus an der Endstation hielt, legte er dem schlafenden Jungen die Hand auf die Schulter, und sie stiegen gemeinsam aus.

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung im Standard im November 2015

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