Der Anfang der Welt

Das Erzählen dieser Geschichte hat einen großen Vorteil. Es kann mir niemand widersprechen. Wer von Ihnen war schon auf den Kurilen oder kennt jemanden, der diese Inselgruppe bereist hat?

Nein, ich selbst war auch noch nie auf den Kurilen, dafür aber mein russischer Freund Lew Nikolajewitsch G. Er war von Beruf Pilot beim sowjetischen Atomministerium, er transportierte aber keine Passagiere, sondern die geheimsten Frachten für die Atomindustrie quer durch die Sowjetunion, von Uranbergwerken, Uranlagern, Aufbereitungsanlagen zu den verschiedenen Anwendungsorten. Von dieser ministeriumseigenen Fluglinie wusste niemand im Land, die Angestellten durften nicht einmal zu ihren Familien über ihren Arbeitsplatz und die Einsätze reden, auch nicht von den Orten, die sie anflogen. Diese lagen prinzipiell in geschlossenen Regionen, die keine Namen hatten, nur Nummern. Und selbst die Piloten hatten nur eine Ahnung, was sie in ihren Flugzeugen transportierten. Lew flog die größten Transportmaschinen von Tupolew kreuz und quer über dieses Sechstel der Erdoberfläche, vom Baltikum nach Wladiwostok, vom Eismeer in den Kaukasus. Sie flogen noch ohne Radar, und außer dem Kopiloten waren noch vier Techniker an Bord.

Lew war ein zweifach höchstausgezeichneter Pilot, er war „Held der sowjetischen Arbeit“ und hatte den Lenin-Orden bekommen, zweimal hatte er durch seine Reaktion eine Katastrophe verhindert; einmal einen Zusammenstoß mit einem Wetterflugzeug über Moskau, einmal über dem Ural eine Kollision mit einem Verkehrsflugzeug. Niemand will sich vorstellen, was passiert wäre mit dem radioaktiven Material an Bord.

Lew war ein leidenschaftlicher Pilot und erzählte gerne über seine Erlebnisse. Ich weiß nicht, ob er das durfte, aber er tat es, nachdem mit der Wende das Atomministerium aufgelöst und er in Pension geschickt worden war. Zu seinen schönsten Erinnerungen gehörten seine Reisen auf Kamtschatka, Sachalin und die Kurilen. Er war sehr oft dort, denn im Fernen Osten befanden sich besonders viele Geheimorte.
Es nützte nichts, noch weiter in ihn zu dringen, er wusste es einfach nicht, ob er Atomraketen oder Uranstäbe an Bord hatte.

Während man Kamtschatka und Sachalin bereisen konnte, waren die Kurilen absolut geschlossene Territorien und sind es bis zum heutigen Tag.
Wenig bekannt ist, dass Stalin 1941 mit Japan einen Neutralitätspakt schloss, den er am 8. August 1945 aufkündigte, wenige Tage vor der Kapitulation, und umgehend mit der Eroberung der Kurileninseln begann.
Es besteht bis zum heutigen Tag kein Friedensvertrag zwischen Russland und Japan, das nach wie vor die Rückgabe seiner „Nordterritorien“ fordert.

Zu den fast vergessenen Kapiteln des 2. Weltkrieges gehört, dass die Sowjetunion keinen einzigen Schuss gegen Japan abgegeben hat und nur den USA im Rahmen des sogenannten „Hula-Projekts“ den Kampf gegen den japanischen Faschismus erlaubte.
Die 17.300 japanischen Bewohner wurden in verschiedene sibirische GULAGS transportiert, wo alle umkamen.
Aber mein Freund Lew hat die Kurilen gesehen, er konnte lebhaft davon erzählen und endlos schwärmen. Einmal hatte er zwischen Ankunft und Rückflug so viel Zeit, dass er von einem Stützpunkt auf der Hauptinsel Iturup einen Ausflug nach Shikotan machen konnte, angeblich die schönste der vier großen Inseln. Ich brauchte einige Zeit, um ihm zu glauben, dass die Kurilen das Paradies auf Erden seien. Ich nahm ihm seine Schwärmerei einfach nicht ab, hatte er als Sowjetmensch doch bis zur Wende nie einen Schritt aus dem Arbeiterparadies heraus gemacht.

Was wusste so einer schon von irdischen Paradiesen?
Er war doch mit mir im Jahre 1999 zum ersten Mal im Bolshoi-Theater, im Tschaikowski-Konservatorium, in der Eremitage und kannte Tschechows „Dame mit dem Hündchen“ nicht. Er war zwar oft in den Hohen Norden geflogen, wusste aber nie, ob es Nowaja Zemlja war, die Halbinsel Kola oder Tschukotka.
Einmal war er sich sicher, dass er sich am Nordende des Ural befand, weil es noch Wald gab und er und seine Mannschaft sich für Neujahr – Väterchen Frost  – mit kleinen Fichten eindeckten. Auf diesem Flug kannte er die ganze Fracht, sechs Fichtenbäumchen und eine Gruppe von Polarforschern, die er zurück nach Moskau bringen sollte.

Als die ersten russischen Forschungsreisenden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts den Fernen Osten und die 1200 Kilometer lange Inselkette erreichten, nannten sie sie Kurilen, vom russischen kuritj, rauchen. Auf den 40 Inseln befinden sich 68 Vulkane, 36 davon aktiv und fast 100 submarine Vulkane. Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es eine derartige Dichte an rauchenden Bergen und Meeren. Mit 10.542 Metern unter dem Meeresspiegel liegt auch der tiefste Punkt der Erde in dieser Region.

Was macht die Kurilen so besonders, fragte ich immer und immer wieder. Es ist die vom Vulkanismus beeinflusste Vegetation, meinte Lew. Shikotan zeichnet sich durch eine Küste aus leuchtend weißen Kreidefelsen mit bizarren Formen aus, hunderte Meter hoch und steil wie ein gestärktes Tischtuch, nirgendwo auf der Welt gibt es so viele Magnolienbäume und undurchdringlich dichte Wälder aus Kurilenkirschen, die weiten Wiesen sind mit hüfthohem, metallisch glänzenden Gras bedeckt, mit wilden rosa Wicken und gelber Schafgarbe, und über allem liegen Wolken von Wermutsduft. Wenn nicht plötzlich Nebel einfällt, kann sich das Auge an dem tief azurblauen Ozean weiden. Die unterirdischen Vulkane spucken ohne Ende Wasserfontänen und Rauch aus.
Eine Besonderheit sind die kreisrunden, mehrfach gestaffelten Wolkenreifen über den Köpfen der Vulkane, wie riesige weiße Pudelhauben.

Was den praktischen Lew aber am meisten beeindruckte, waren die fischreichen Flüsse, von denen Shikotan durchzogen ist.
„Stell dir vor, du stehst mit den Füßen im seichten Fluss und um dich brodelt und kocht es vor lauter Fischen, Lachsen und Dorschen. Du kannst sie mit den Händen fangen. Sie kommen von der ganzen östlichen Halbkugel zum Laichen auf die Kurilen. Kübelweise haben wir sie zum Flugzeug geschleppt. Es wimmelt auch von Riesenkrabben und Hanasaki-Krebsen.“

Lew war davon überzeugt, dass sich dort der Nabel der Welt befindet, der Anfang oder das Ende der Welt.
Warum, was machte ihn so sicher?
„Einmal fiel Nebel ein, wir waren gerade mit einem Schiff zwischen Shikotan und Iturup unterwegs, da wurde der Himmel immer niedriger, bis er schließlich steil ins Meer abfiel, wie eine riesige, grünliche Wand aus dickem Glas. Es vermischten sich Nebel und Feuer, Tag und Nacht, Meer und Himmel. In diesem Augenblick wussten wir, dass wir das Ende der Welt gesehen haben, oder den Anfang. Wir waren bis zu diesem Punkt gelangt, wo sich die Wellen an dieser Glaswand brachen, und dahinter war nichts, nur Leere.
Wir hielten mit dem Schiff unmittelbar an dieser Wand und berührten sie mit den Händen. Das Grauen vor dieser letzten Grenze schüttelte uns so, dass wir kein Wort sagten. Die Wand stand über uns in einer endlosen Wölbung und reichte in die Tiefe des Meeres, so weit man sehen konnte, und da ...“

Lew hielt inne, er konnte lange nicht weitersprechen, er sah mich seltsam an, als überlegte er, ob ich ihm glauben oder wenigstens sein Geheimnis hüten würde.

„Und da?“, fragte ich ungeduldig und spürte einen kalten Schauder, ohne zu wissen, warum.
„Da sah ich ganz eindeutig, wenn auch wegen der Dicke der Wand und der Lichtbrechung etwas verschwommen, hinter dem Glas ein gewaltiges Menschenantlitz. Es war so groß wie die Hälfte unserer Kimmung, seine Augen wie zwei riesige untergehende Monde.“
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, sah es jemandem ähnlich?“
„Am ehesten hätte man es neugierig nennen können“, meinte Lew sich erinnern zu können, so wie ein Kind Ameisen beobachtet. Aber darin kann man sich leicht täuschen. Das Einzige, was ich sofort folgerte und ich zuverlässig wusste, dass das nur das Antlitz Gottes sein konnte ...“
„Lew, jetzt mach aber einen Schlusspunkt! Warum denn Gott?“
„Wer sonst kann am Anfang oder am Ende der Welt sein außer Gott?“
„Was hast du gemacht, als du die Grenzen des Gefängnisses entdeckt hast?“
„Ich habe gebetet“, sagte er so kurz und einfach, als wollte er nicht mehr weitererzählen, als hätte ihn meine Ungläubigkeit gekränkt.

Ich wollte es wiedergutmachen und fragte noch einmal:
„Wie sah es aus, dieses Gesicht, wie war es? Sah es jemandem ähnlich, würdest du es wiedererkennen?“
Er musterte mich lange, schweigend, plötzlich greisenhaft blicklos: „Wenn du mich schon fragst“, sagte er und wog jedes Wort, „am ehesten sah es meinem Gesicht ähnlich.“ Und seine Stimme war getränkt von Traurigkeit, als bedauere er, mir sein Geheimnis anvertraut zu haben.

1.12.16

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
http://veronikaseyr.blogspot.co.at/

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16167

 

 

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert