Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Juniorchef

Im Sommer 1989 absolvierte ich ein Praktikum in einer kleinen Feuerfestfirma in Gijón, in der Provinz Asturien, an der nordspanischen Atlantikküste. Ich arbeitete meistens im Labor. Am Anfang machte der Juniorchef mit mir eine Führung durch die Werkhalle. Die Firma war wirklich sehr klein, nur eine Handvoll Leute arbeiteten an den Maschinen, nicht mehr als fünfzehn. Zwischendurch sagte der Juniorchef, der Anfang dreißig war und ganz nett, zumindest zu mir: „They hate me.“ Er meinte die Beschäftigten. Üblicherweise sprachen wir spanisch, aber er sagte den Satz auf Englisch, da er annahm, keiner der, „seiner“ Arbeiter würde ihn verstehen.

Nachdem er das gesagt hatte, achtete ich natürlich auf die Leute. Sie sahen wirklich sehr missmutig drein, niemand grüßte, nicht einmal durch ein Kopfnicken. Andererseits stellte der Juniorchef auch keinen Arbeiter vor, sagte zum Beispiel nicht: „Das ist Miguel, er bedient die kleine Doppeldruckpresse.“ Er sprach nur über die Presse. Es kann durchaus sein, dass er manche Namen der Beschäftigten gar nicht kannte.

Drei Jahre später war diese Feuerfestfirma pleite, weil sie viel zu klein war, um kostengünstig produzieren zu können. Der Juniorchef war dann kein Juniorchef mehr, sondern jemand, der durch Beziehungen einen schlechtbezahlten Job als kleiner Angestellter ergattern konnte.

Chefpathologe Bill

Chefpathologe Bill

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24153

kassiopeia.

kassiopeia. ein vogel dessen flügel ich bewohn.
sei mir ein schiff durch den himmel.
küsse die gipfel [schneebenäht] von oben.
ein gleiten durch wolkenköpfe.
der wind umgreift meinen körper im ganzen.
luft schmeckt nach sommer und berührt mir die haut.
bildgeschenke im herzen und seelen auf reisen.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24152

Pretty Good Privacy

Er war sehr um Privatheit bemüht,
Geheimnummer, keine öffentlichen Daten.
Er wusste schon, warum.

Plötzlich stand seine Adresse im Internet.
Irgendein Sicherheitsleck, keine Ahnung wieso.
Kann man nichts machen, dachte er, war halt so.

Dann kamen die Briefe,
rosa, hellblau, parfümiert,
in verschlungener Leidenschaftsschrift.

„Du hast Post bekommen“,
sagte seine Frau,
„Schatz!“

Außenbriefkästen

Außenbriefkästen

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24151

Vögel

Aha, das ist also die Erde, überlegt einer der beiden Außerirdischen nach der Landung. Schon so viel habe ich über sie gelesen, und jetzt sind wir wirklich hier, denkt der andere. Sie verstecken ihr Raumschiff unter Zweigen. Dann verwandeln sie sich in Katzen und laufen herum. im Dorf begegnen sie Menschen, die gehen. Interessant, denkt der erste Außerirdische, das sind also die berühmten Menschen. Der zweite beobachtet Vögel. „Du Knorrrxxx“, sagt er als sprechende Katze zu seinem Kollegen, „schau mal, da in der Luft, das müssen die Wesen sein, die man „Vögel“ nennt.“ „Ja, Fliiimmm“, sagt der andere Außerirdische, „sie können fliegen, sie unterhalten sich mittels Lauten, die sie formen. Keine Frage, das ist die am höchsten entwickelte Spezies auf diesem Planeten. Sollten wir mit Erdlingen verhandeln, dann mit diesen Vögeln.“

Die Blaumeise und das Vogelhaus

Die Blaumeise und das Vogelhaus

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24150

Cirrus

Über den Tisch verstreut liegen Fotos. Ich nehme eines nach dem anderen in die Hand und betrachte sie. Schließlich entscheide ich mich für einen Schnappschuss, den meine Tochter wenige Tage bevor sie nach Berlin umgesiedelt ist, gemacht hat. Auf dem Foto sitzt Cirrus, mein wunderschöner Kater, aufrecht auf seinem Lieblingsplatz, der Fensterbank. Er blickt aus smaragdgrüntiefen Augen direkt in die Kamera. Die Abendsonne hinter ihm lässt sein weißes Fell schimmern und glänzen. Ich klebe das Foto auf ein großes Blatt Papier und schreibe darunter sorgfältig seine Vermisstenanzeige, lasse es dann später im Kopierladen vervielfältigen und verbringe den ganzen restlichen Tag damit, die Plakate auf sämtliche Litfaßsäulen, Baumstämme und Mauern meiner Umgebung zu kleben.

­– Zutraulicher weißer Maine-Coon-Kater namens Cirrus seit 5.5. vermisst. Freigänger, sieben Jahre alt, gechipt. Bitte melden Sie sich, wenn Sie ihn gesehen haben! Finderlohn! –

Diese Wortfolge samt meinem Vornamen und meiner Handynummer habe ich nicht nur auf das Papier geschrieben, ich habe sie verinnerlicht, da ich sie an diesem Tag wie ein Mantra ständig lautlos wiederholt habe.

Cirrus’ Verschwinden ist ein zusätzliches Glied meiner Unglückskette, die sich, chronologisch aufgezählt, aus Folgendem zusammensetzt: meine Scheidung nach beinahe drei Jahrzehnten Ehe. Meine Pensionierung nach über vierzig Jahren Büro. Der Tod meiner Eltern, die kurz hintereinander an Krebs starben. Der Auszug meiner Tochter in ihre Berliner WG. Der Abschied von meiner einzigen Freundin, die nun mit ihrem neuen Lebensgefährten in Neuseeland lebt. – Dies alles geschieht innerhalb von elf Monaten, eine Zeitstrecke, in der mich zunehmend das Gefühl beschleicht, dass dicht über mir eine dunkle, bedrohliche Wolke hängt, eine düstere Wolke, die mich überallhin begleitet, eine Wolke, die immer tiefer zu mir sinkt, immer schwerer auf mir lastet.

Es melden sich fünf Menschen, die Cirrus gesehen haben wollen. Vier der Anrufe stellen sich als Fehlanzeige heraus. Der fünfte Anruf aber bringt Gewissheit. Cirrus, mein wundervoller, geliebter Kater, ist überfahren worden. Wie versteinert stehe ich vor dem reglosen, kleinen Körper, der im Straßengraben neben der Landstraße liegt. Das junge Mädchen, das mich angerufen hat, meint mitleidig: „Da hilft nur eines, glauben Sie mir, eine neue Katze …“, und verstummt, als ich den Kopf schüttle.

Nein, das kommt für mich nicht in Frage. Cirrus, der mir seit sieben Jahren jeden einzelnen Tag durch seine sanfte, weiche Anwesenheit verschönt hat, ist nicht ersetzbar. Die schwere Wolke über mir senkt sich mehr und mehr, droht mich zu erdrücken. Es gibt nun Tage, da schaffe ich es nicht, unter ihrer Last aufzustehen. In dem Zustand, in dem ich mich nun befinde und aus dem ich nicht herausfinde, ergibt nichts mehr Sinn für mich. Ich isoliere mich, gehe kaum mehr außer Haus.

Es ist ein Sonntagvormittag, als mein Handy klingelt. Abgesehen von den Freitagabenden, an denen meine Tochter anzurufen pflegt, ist das Klingeln des Handys inzwischen ein äußerst seltenes Geräusch geworden. Unbekannte Nummer, blinkt es am Display. Ich habe nicht vor, den Anruf anzunehmen. Es läutet jedoch dreimal hintereinander, sodass ich schließlich doch widerwillig annehme. Eine freundliche Frauenstimme antwortet auf mein etwas Schroffes:
„Ja, Anja spricht. Wer ist denn da?“

„Guten Tag, mein Name ist Carmen. Ich rufe wegen des Plakates an.“

„Das ist längst hinfällig, danke, mein Kater ist gefunden worden“, will ich mich rasch verabschieden.

„Nein, nein, bitte warten Sie, Anja“, sagt sie. „Es geht um etwas anderes. Eine Frage, ist das Ihre Schrift auf dem Plakat?“

„Ja“, antworte ich irritiert. „Aber ich verstehe nicht, warum wollen Sie das wissen?“
„Ich bin Grafologin. Und, kurz gesagt, ich finde Ihr Schriftbild sehr interessant. Darum habe ich gedacht, ich rufe Sie einfach mal an und frage Sie, ob Sie vielleicht Zeit für ein Treffen haben. Ich würde nämlich zu gerne persönlich mit Ihnen besprechen, was an Ihrer Schrift so bemerkenswert ist.“

Überrumpelt schweige ich einen Moment und überlege. Die Stimme der Anruferin ist freundlich und angenehm, sie ist mühelos durch die dunkle Wolke zu mir durchgedrungen.
„Zeit hätte ich schon“, sage ich zögernd. „Und neugierig haben Sie mich auch gemacht. Es ist nur so, ich befinde mich derzeit in keiner guten Verfassung.“

„Ja, das kann ich verstehen“, sagt sie ruhig. „Ich würde mich dennoch sehr über ein Treffen freuen.“

Ich hole tief Atem und sage – mich damit selbst überraschend – einem Treffen zu.
Zwei Tage später sitzen wir uns tatsächlich in einem Gastgarten gegenüber. Wir trinken Weißwein. Carmen ist so, wie ihre Stimme am Telefon auf mich gewirkt hat: ein zugewandter, freundlicher Mensch. Sie bemüht sich, mir mein Schriftbild zu erklären, und ich höre zu und versuche, zu verstehen. Ich höre grafologische Ausdrücke wie Girlanden, Schlingen, Arkaden, finde diese komplexe Welt der Schrift interessant, fühle mich aber etwas überfordert. Auch erschließt sich mir nicht wirklich, was denn nun der eigentliche Grund von Carmens Anruf war.

Carmen meint, dass meine Girlanden den ihren ähneln, und dass sie eine Übereinstimmung in unserer Lebensanschauung vermute. Sie legt ein von ihr vollgeschriebenes A4-Blatt neben mein Cirrus-Plakat, das sie von einem Baumstamm genommen hatte. Ich entdecke allerdings keine Spur von Ähnlichkeit unserer Handschriften und schüttle ratlos den Kopf, was Carmen zum Lachen bringt. Sie lacht so herzlich, dass ich mitlachen muss.

Den wesentlichen Punkt für Carmens Anruf erfahre ich nicht bei diesem ersten, sondern bei einem unserer nächsten Treffen: Als sie meine Vermisstenanzeige beim Spazierengehen gesehen hat, ist sie erschrocken über die großen, die viel zu großen Abstände zwischen meinen Wörtern, sie erkannte in diesen mich gefährdende Abgründe der Isolation.

Als mir klar wird, dass sie mich angerufen hat, weil sie sich um mich sorgte, bin ich berührt von der Tatsache, dass sich ein Mensch über eine ihm völlig fremde Person Gedanken macht.
Bei diesem ersten Treffen aber streift Carmen dieses Thema nur kurz. Sie bemerkt natürlich, wie schlecht es mir geht, sieht meine Hände zittern, spürt meine Anspannung.

„Wie kam es eigentlich zu dem Namen Cirrus?“, fragt sie bei einem zweiten Glas Weißwein. „Das hatte doch bestimmt seinen Grund.“

„Ja“, antworte ich nach kurzem Zögern, „mein Kater kam zu seinem Namen, weil mich sein Fell, sein seidiges, weißes Fell, an Federwolken, an Cirrus-Wolken eben, denken ließ.“

„Cirrus-Wolken“, wiederholt Carmen. „Federwolken. Schön klingt das.“

Sie lächelt mich ermutigend an, berührt mich kurz am Oberarm, und sagt dann leise:
„Erzähle mir bitte, erzähle mir von dir.“

Und während mir noch die Frage auf der Zunge liegt: ‚Aber, was denn – was soll ich denn von mir erzählen?‘, steigen plötzlich Erinnerungen in mir hoch, Bilder von früher, an die ich lange Zeit nicht gedacht habe, und ich beginne tatsächlich zu erzählen.

„Ich denke gerade daran“, sage ich, „dass ich als Kind am liebsten stundenlang auf der Wiese lag und in den Himmel zu den Wolken sah. Wolken faszinierten mich. Irgendwann sah ich zufällig in einer Ausstellung Ölbilder und Aquarelle eines Wolkenmalers. Es waren beeindruckende Werke. Ich war derart begeistert davon, dass ich ebenfalls Wolken malen wollte. Tatsächlich bin ich in meiner Jugendzeit sehr oft mit meiner Staffelei auf einer Anhöhe, im Garten, auf einer Wiese gesessen und habe unzählige Wolkenbilder gemalt …“
„Das ist es“, nickt Carmen zufrieden. „Ich wusste es. Es ist in deiner Schrift sichtbar: Du trägst eine starke Leidenschaft in dir, so wie auch ich, du für das Wolkenmalen, ich für die Grafologie.“

„Na ja, ehrlich gesagt, war das wohl früher bei mir der Fall, aber das liegt lange zurück. Das letzte Bild, das ich gemalt habe – ich weiß nicht mehr, wann das war, bestimmt vor der Geburt meiner Tochter.“

„Oh, wie schade!“ Carmen schaut mich betroffen an. „Das muss dir doch schrecklich fehlen. Was ist passiert, dass du damit aufgehört hast?“

Ich zucke die Schultern, denke nach. „So genau kann ich das nicht sagen, es gab keinen bestimmten Auslöser. Ich hatte wohl keine Zeit mehr dafür, hatte anderes, hatte viel zu tun. Meine Familie, die Arbeit. Vielleicht war ein weiterer Grund, dass das Wolkenmalen schon vor Jahrzehnten etwas Veraltetes war, nichts, was andere interessierte. Es fand keine sonderliche Beachtung. Tja, niemand malte Wolken. Niemand außer mir.“

„So ähnlich ist es auch mit der Grafologie. Früher bekam ich viele Aufträge, doch das hat sich mit den Jahren geändert. Ich hoffe, dass die Schriftenkunde nicht völlig ausstirbt. Das wäre traurig, ist sie doch ein Spiegelbild unseres Selbst. Mich persönlich wird sie immer beschäftigen. Das macht mir unglaublich viel Freude.“

Carmen sieht mich an.

„Denkst du daran, wieder mit dem Malen zu beginnen?“

„Ach, das habe ich bestimmt verlernt, befürchte ich“, weiche ich aus.

„Dann erlerne es doch wieder. Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig. Mache dir doch dieses Geschenk.“

Ich schweige.

„Jeder Mensch, der das Glück hat, seine Passion gefunden zu haben, sollte diese ausüben, wenn es möglich ist. Findest du nicht auch, Anja? Was man liebt, das soll man tun.“

Sie sieht mich an, sieht meine Betroffenheit, wechselt feinfühlig das Thema.

Als ich eine Stunde später nach Hause gehe, spüre ich so etwas wie Zuversicht in mir, und ich freue mich darüber, dass Carmen und ich bereits ein weiteres Treffen vereinbart haben. Die dunkle Wolke über mir erscheint mir weniger düster, weniger schwer. Die nächsten Tage fühle ich mich unruhig, ich gehe viel spazieren. An einem sonnigen Nachmittag lege ich mich auf eine Decke in eine Wiese, sehe nach oben in den Himmel zu den Wolken.

Am Morgen darauf stelle ich meine Staffelei im Wohnzimmer auf. Ich öffne sperrangelweit das große Fenster, rücke die Staffelei davor, mische die Farben, hole tief Atem und sehe hinaus, zum Himmel empor. Ich konzentriere mich und beginne damit, den Himmelsausschnitt, den ich sehe, auf die Leinwand zu malen. Schon bei den ersten Pinselstrichen fühle ich mich wunderbar lebendig – und ich bin bestürzt darüber, so lange Zeit auf das Malen verzichtet zu haben. Nicht alles gelingt mir so, wie ich es gerne haben will, aber ich denke an Carmens Worte: ‚Sei nachsichtig mit dir, sei geduldig.‘

Ich strenge mich an, bin mal unzufrieden, dann wieder einverstanden mit dem, was entsteht: ein Wolkenbild, das ich Carmen schenken werde, mein erstes Wolkenbild seit Jahrzehnten.
Ich schließe kurz die Augen, und spüre, dass eindeutig keine schwere, dunkle Wolke mehr über mir ist. Und als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich weiße Wölkchen, Cirrus-Wolken, auf meiner Leinwand und am Himmel dahinter schweben.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 24149

 

In dem gelben Haus

Ich bin in dem gelben Haus und sehe mich selbst mit dieser hübschen blonden Frau in dem Haus gegenüber. Aber ich selbst in dem anderen Haus kann mich in dem gelben Haus nicht sehen, denn die hübsche blonde Frau und ich waren dort vor neunzehn Jahren und sechs Monaten, und in dem gelben Haus bin ich in der Gegenwart.

Das gelbe Haus im Herbst

Das gelbe Haus im Herbst

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 24148

Lichtspiele

Gelöscht die Sonne für heute.
Der Tag sucht sein Ende, die Nacht findet ihren Anfang.
Eine Kerze entzündet.
Warmer Schein zeichnet weich das Gesicht deiner Frau.
Schön ist sie wie flüchtiger Tau.

Menschen als kleine Pappkameraden

Menschen als kleine Pappkameraden

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Kleinode – nicht nur an die Freude | Inventarnummer: 24147

Wahrscheinlichkeiten

7 ist die Zahl, die mit der höchsten Wahrscheinlichkeit von zwei Würfeln geworfen wird. Sie beträgt 1/6. Dann kommen 6 und 8 mit einer Wahrscheinlichkeit von 5/36. Dann folgen 5 und 9 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/9. Danach kommen 4 und 10 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/12. Danach folgen 3 und 11 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/18. Und schließlich kommen 2 und 12 mit einer Wahrscheinlichkeit von 1/36.

Diese Wahrscheinlichkeiten sollte man im Auge behalten, wenn man um Geld Würfel spielt.

Ein oranger Würfel und zwei pinke Würfel

Ein oranger Würfel und zwei pinke Würfel

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 24145

Quarkscomputer

Heute saß ich mit meinem Sohn und seinem Freund Klaus im Park Café zusammen. Klaus studiert in Graz Mathematik. Leider fragte ich ihn, was er später gern arbeiten würde. Als Kryptologe, erklärte er mir, dann führte er etwas angeberisch verschiedene Verschlüsselungsmethoden aus. Er merkte, dass ich ihm nicht folgen konnte. Das freute ihn. Am besten sei, sagte er, eine Verschlüsselung mittels Primzahlen.

Da fiel mir etwas ein. „Du Klaus“, begann ich, „hast du von diesem chinesischen Satelliten gehört, der vor ein paar Tagen in die Erdumlaufbahn geschossen wurde, in dem ein Quantencomputer arbeitet, der unter Mithilfe vom österreichischen Physiker und Nobelpreisträger Zeilinger gebaut wurde?“ Klaus schüttelte den Kopf, nein, kenne er nicht. „Weißt du, wie das mit den Quanten funktioniert?“, fragte ich weiter. Klaus schüttelte wieder den Kopf. „Jeder Quant soll einen Zwilling haben“, setzte ich fort, „Beide Zwillinge tun genau dasselbe, egal wo sie sich befinden, das nennt man verschränkt. Das ist die hundertprozentig sichere Verschlüsselung, denn sollte jemand in diese Verschränkung eindringen, verhalten sich die Zwillinge plötzlich unterschiedlich, wodurch man den Angriff sofort bemerkt.“
Leider habe ich jedes Mal Quarks statt Quanten gesagt.

Fuck, was bin ich doch für ein Idiot!

Der Quantencomputer

Der Quantencomputer

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 24146

Halo

Halo braucht einen neuen Körper. Dazu wird er ein neues Arbeitsprogramm erhalten. Es ist das Jahr 2394. Halo ist drei Sternenjahre und siebenundvierzig normale Jahre alt. Ein Sternenjahr entspricht hundert normalen Jahren. Zum Glück ist Halo Geistesarbeiter. Er muss nicht im Schmutz arbeiten und keine besonders anstrengenden oder gefährlichen Tätigkeiten verrichten. Das Problem mit steigendem Alter ist das Gehirn. Verkalkungen passieren dann häufig. Man kann alle Körperteile ersetzen, aber nicht das Gehirn. Meist unterzieht man diesen Menschen einer Stromtherapie. Gleich wie ein Nierenkranker dreimal die Woche zur Dialyse muss, geht der Mensch mit verhärteten Gehirnteilen zur Stromtherapie. Dort wird das Gehirn angeregt, schnell und mit wenigen Fehlern zu funktionieren. Dadurch bleibt dieser Mensch arbeitsfähig. Das ist auch bei Halo der Fall. Montag, Mittwoch und Freitag ist er für je zweieinhalb Stunden bei der Stromtherapie. Ohne dieser Stromtherapie würde er verblödet im Altersheim sitzen. Nein, würde er gar nicht, da Altersheime viel zu teuer sind, als dass Halo dort für einen Platz bezahlen könnte.

Der biologische neue Körper würde übermorgen kommen, erhielt Halo als Nachricht. Er solle sich um 10:30 Uhr bei der Rezeption von OmniData melden. Nachdem ihm der Körper transferiert worden sein wird, wird das Arbeitsprogramm auf Halo überspielt werden. Dafür hat Halo eine Buchse unter dem linken Ohr.

Wieder etwas zu tun nach drei Monaten Ruhepause, überlegt Halo, der in Wirklichkeit anders heißt. Den Namen Halo gab ihm eine Freundin, als er noch ein sehr junger Mann war. Die Sonne stieg hinter seinem Kopf auf, da sagte das Mädchen: „Du bist für mich jetzt Halo.“ Halo gefiel dieser Name. „Okay, Halo klingt gut“, sagte er.

„Aber müsste ich nicht eigentlich seit zweihundertzweiundachtzig Jahren in Rente sein?“, fragte sich Halo. Eine rhetorische Frage, denn seit mehr als drei Sternenjahren wird niemand mehr in Rente geschickt. Kein Staat dieser Welt könnte sich das bei der exorbitant hohen Zahl an alten Menschen leisten. Jemand, der nicht mehr arbeitsfähig ist, ganz egal warum, und kein Vermögen hat, von dem er zehren kann, muss es aus eigener Kraft bewältigen, weiter leben zu können.

Halo musste diese drei Monate auch durch seine Ersparnisse finanzieren. Er ist nicht reich. Es ist für ihn notwendig, dass er bei seiner neuen Arbeit wieder etwas zur Seite legen kann. Egal wie wenig jemand hat, der Staat unterstützt ihn niemals. Dann muss er hungern. Theoretisch könnten ihn seine Eltern, seine Kinder oder sonst jemand aus der Verwandtschaft unterstützen, was praktisch allerdings nur selten passiert. Nicht dass es illegal wäre, etwas Materielles abzugeben, aber es ist verpönt. Diese Gesellschaft beruht auf völligem Egoismus. Wer sich selbst nicht helfen kann, dem soll niemand helfen. Der ist verloren.

Irgendwann lassen sich die Schäden am Gehirn nicht mehr überbrücken, weiß Halo. Dann ist es aus. Würde er, nur hypothetisch, bei einer seiner Töchter oder einem seiner Söhne wohnen, würde er Schande über sie bringen. Das ist eine der letzten Sachen, die ein guter Vater seinen Kindern zumuten will. Das kommt absolut nicht infrage.

Bin ich also auf mich allein gestellt, denkt Halo. Wie immer schon, mein ganzes Leben muss ich auf eigenen Füßen stehen. Mir wurde nie etwas geschenkt. Aber ich will nicht jammern. Auf die alten Tagen noch anfangen zu jammern! Nein, das ist wirklich nichts. Auch wenn ich über keine besonderen Anlagen verfüge und als Arbeitskraft nur durchschnittlich bin, lebe ich noch. Das ist nicht selbstverständlich. Ich könnte schon seit zweieinhalb Sternenjahren tot sein.

Bei den letzten Stromtherapien ist mir schon eingefallen, dass ich manchmal nicht mehr weiß, ob etwas gestern, vorgestern oder heute passiert ist. Andererseits verliefen meine Tage während der Ruhepause sehr ähnlich. Weshalb soll man sich auch etwas merken, wenn es belanglos ist? Ist da nicht sogar ein wichtiger Filter aktiv?, denkt Halo.

Dieser mein gegenwärtiger Körper ist schon ziemlich abgetragen, spinnt Halo den Faden weiter. Ich habe ihn seit zweiundsechzig Jahren. Verschlechtert sich das Wetter, tut mir manchmal der linke Oberarmknochen weh. Der linke Oberarmknochen? Ja genau, doch dafür leide ich weder unter Gicht noch Arthritis oder Zucker. Meine Augen und Ohren könnten besser sein. Aber mit meinem neuen Körper werden all diese Zipperlein in der Vergangenheit liegen. Ich freue mich auf meinen neuen Körper. Ich würde auch sagen, dass ich ihn mir verdient habe. Jeden Arbeitseinsatz habe ich bewältigt. Wenn viel zu tun war, leistete ich Überstunden, ohne dass sie mir verrechnet wurden. Ich bin ja der Halo-mittleres-Management. Der Staat teilt einem ja auch nur einen neuen Körper mit einem neuen Arbeitsprogramm zu, damit diese Person mit viel Einsatz arbeitet. Jemand, der zu nichts mehr zu gebrauchen und zudem lebensüberdrüssig ist, kann sich in einem staatlichen Verbrennungszentrum einschreiben. Das ist ein Krematorium für Lebende. Gnadenhalber muss man nicht selbst in den Verbrennungsraum gehen, sondern man wird vorher betäubt.

Darüber darf allerdings nicht gesprochen werden, streng genommen darf auch nicht daran gedacht werden. Zum Glück ist die Gedankenkontrolle noch mit vielen Fehlern behaftet. Praktisch bedeutet das, dass man niemanden aufgrund seiner vermeintlichen Gedanken gerichtlich belangen kann, eben weil diese Gedanken nicht eindeutig nachgewiesen werden können. Doch in zwanzig Jahren wird man Gedanken genauso lesen können, wie man Sprache versteht. Alles ist nur eine Frage der Zeit. Und diese Zeit bewegt sich in eine sehr unangenehme Richtung.

Es ist erst knapp nach 16 Uhr. Halo braucht noch ein paar Lebensmittel. Er macht sich auf den Weg in den NP-Supermarkt. NP steht für Niedrig-Preis. Schon seit einiger Zeit kann Halo essen, was er will, ohne dass ihm etwas schmeckt. Daher isst er wenig und kauft auch wenig.

Er kehrt mit einem Sackerl, das vielleicht fünf Kilo wiegt, zurück. Das sollte mindestens für die nächsten vier Tage reichen. Halos Wohnung liegt ebenerdig, seinem vorgerückten Alter geschuldet, eigentlich müsste er schlechter zu Fuß sein, das ist er jedoch nicht. Er spricht aber nicht darüber, damit man ihm nicht eine Wohnung im fünften Stock in einem Haus ohne Fahrstuhl zuteilt. Es ist stets besser, nicht allzu viel zu sprechen. Weiß man etwas, ist es vorzuziehen, das für sich zu behalten. Halo lebt auf siebenunddreißig Quadratmetern. Da es heute kaum noch Freundschaften gibt und man dadurch äußert selten, falls überhaupt, jemanden zu sich einlädt, reicht ein großes Zimmer mit einer Küchenzeile und einem recht geräumigen Bad.

Halo setzt sich vor sein Infosystem. Damit ist er mit der ganzen Welt verbunden. Das Infosystem kennt Halo wahrscheinlich besser, als er sich selbst kennt. Im Jahr 2394 herrscht strenge Zensur. Halo bekommt nur zu sehen und zu hören, was nicht anrüchig ist, nicht gesundheitsschädlich sein kann und natürlich innerhalb aller Gesetze liegt. Gerät man in eine elektronische Unterhaltung, darf man sich selbstverständlich nicht abfällig gegenüber dem Staat äußern.

Nach fünfzehn Minuten wurde Halo dreimal „Unzulässige Frage“ und fünfmal ein schwarzer Bildschirm angezeigt. „Was tue ich eigentlich hier?“, fragt sich nun Halo selbst. „Das ist doch völlig sinnlos. Nicht dass ich vielen anderen Beschäftigungen nachgehen könnte, aber das hier ist nichts außer ärgerlich.“

Als die Sonne untergegangen war, abends, trank Halo ein wenig Wein. Den hat er sich aus Vorfreude auf seinen neuen Körper gekauft.

Am nächsten Tag hat Halo Stromtherapie. Die ist schon sehr nutzbringend. Nach den zweieinhalb Stunden merkt er, dass er schneller kombinieren kann, sich klarer erinnern. „Es funktioniert sehr gut, nicht?“, sagt Halo zum Mediziner, der vor dem Bildschirm mit seinen Gehirnströmen sitzt. Der Mediziner blickt über seine schwarze Brille Halo an und sagt: „Tendenziell verschlechtert sich Ihre Gehirnaktivität. Es wird die Zeit kommen, wo die Stromtherapie nicht mehr ausreicht. Derzeit können wir dann nichts mehr tun.“ Halo sieht den Mediziner ganz kurz an, dann sieht er zu Boden und daraufhin geradeaus. Keine Regung und keine Schwäche zeigen, das hat Halo gelernt.

Wieder zuhause setzt er sich auf sein grünes Sofa. Er ist allein, es gibt niemanden, was ja gar nicht stimmt, doch jeder lebt, als wäre er völlig allein. Dieses Misstrauen ist wahrhaft zersetzend.

Heute ist der 15. Mai. Ein Frühlingstag, der schon beinahe in einen Sommertag übergeht. Halo geht ins Freie, er spaziert umher. Er erinnert sich, dass, als er noch ein Kind war, es überall Bäume gab, viele verschiedene Bäume, am Land traten sie gesammelt als Wald auf. Heute ist ein Baum ein Luxus.

Halo denkt nach, wie es morgen werden wird. Er hat schon so viele Arbeitseinsätze hinter sich gebracht. Manchmal mit einem neuen Körper, immer mit einem Arbeitsprogramm. Heutzutage ist es nicht mehr notwendig, über viele Jahre etwas zu lernen. Das Programm wird ins Gehirn gespielt, und fertig.

Er schläft unruhig. Klarerweise wird die Arbeit mit vorgerücktem Alter schwieriger. Jedes Mal geht es um sehr viel für Halo. Bislang hat es immer funktioniert. Hätte das aber nur einmal nicht, wäre Halo zumindest nicht hier, ziemlich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.

Um dreiviertel acht steht er auf. Er isst zwei weiche Eier, Schinken, Schwarzbrot, und dann je eine Semmel mit Honig und Erdbeermarmelade. Er visualisiert das kommende Gespräch. Er nimmt ein Spacecar der dritten Ebene zu OmniData. Je höher das Spacecar fliegt, desto weniger Verkehr gibt es und desto teurer ist die Beförderung. Die dritte Ebene ist schon recht flott. Heute ist es wichtig, denkt Halo.

Um 10:15 Uhr ist er dort vor dem Eingang. Er betritt die Firma. Er meldet sich bei der Rezeptionistin. „Wenn Sie bitte kurz Platz nehmen würden, Herr Küster. Ich rufe Frau Meining an. Sie ist für Sie zuständig.“

Halo, also Herr Küster, setzt sich auf einen der weißen Kunststoffstühle. Das wirkt alles sehr stark nach einer Schickifirma, denkt er. Na ja, da kann ich nichts machen. Nicht ich habe mir diese Firma ausgesucht, sondern diese Firma mich. Nehme ich an. Oder der Staat hat diesen Arbeitseinsatz organisiert.

Nach ein paar Minuten taucht Frau Meining auf. Sie steht vor Halo. „Haben Sie gut hergefunden?“, fragt sie. Man kann diese Frage fast nur bejahen, denn wenn man hier ist, hat man auch hergefunden. Das „gut“ steht dabei ein bisschen verloren im Raum. „Ja natürlich, danke der Nachfrage“, sagt Halo. Er steht auf. Frau Meining und er schütteln Hände. „Gehen wir in den Konferenzraum“, sagt sie. „Folgen Sie mir bitte.“

Halo setzt sich gegenüber von Frau Meining an den großen, ovalen Tisch. „Es freut mich, dass ich hier sein kann“, sagt er, und dann „Fräulein Meining.“ Die junge Frau sieht Halo verdutzt an, dann dreht sie sich demonstrativ nach links und nach rechts. „Fräulein Meining?“, fragt sie, „Ich kenne hier kein Fräulein Meining.“ Halo hat noch nicht begriffen. Er ist ganz begeistert von der strahlend schönen Frau. „Sie sind noch ganz frisch, nicht?“, fragt er. „Sie tragen noch Ihren ursprünglichen Körper, ja?“

„Ich arbeite nicht hier, um mir so etwas sagen lassen zu müssen“, sagt Frau Meining. „Das ist eine schwer sexistische Anmache. Die soll es seit fast vier Sternenjahren nicht mehr geben. Meiner Meinung nach sind Sie ganz bestimmt nicht geeignet, hier zu arbeiten. Ich werde mich wegen Ihres Falles an meinen Vorgesetzten wenden. Üblicherweise aber folgt er meiner Empfehlung.“

„Aber mein Körper, mein Programm?“, sagt Halo. „Nicht hier, wenn es nach mir geht“, sagt Frau Meining. Sie schiebt ihren Stuhl nach hinten, steht auf und verlässt den Raum.

Frau Meining verträgt absolut keinen Spaß.

Der Oberkörper der Schaufensterpuppe auf dem Stuhl mit dem nachdenklichen Gesicht in der Galerie M am 29. Mai 2024

Der Oberkörper der Schaufensterpuppe auf dem Stuhl mit dem nachdenklichen Gesicht in der Galerie M am 29. Mai 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 24144