Archiv des Autors: Redaktion verdichtet.at

Schmetterling

Ich jage das Glück schon mein ganzes Leben,
manchmal war ich ihm nah,
doch erreicht habe ich es nie.

Und nach 37 Jahren und 229 Tagen sitze ich tatenlos da,
ich denke an nichts, an überhaupt nichts,
und plötzlich setzt sich das Glück ganz sanft auf meinen linken Handrücken.

Der kleine weiß-braun-schwarze Schmetterling nimmt Kontakt zur kleinen weiß-braunen Schnecke im Juli 2021 auf

Der kleine weiß-braun-schwarze Schmetterling nimmt Kontakt zur kleinen weiß-braunen Schnecke im Juli 2021 auf

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 25028

Meerrettich

„Ja, isst Er denn keinen Meerrettich?“
Ein Dienstbote in buntem Gewand sieht mich an.
Was ist da los, wo bin ich gelandet, bei Maria Theresia?
So oder so ähnlich muss es sein.
Die Devise ist: Das Beste draus machen.
Also sage ich: „Er isst sehr gerne Meerrettich.“

Maria Theresia in der Nacht

Maria Theresia in der Nacht

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: dada & gaga | Inventarnummer: 25027

Rosarot ist seine Lieblingsfarbe

                 Ich laufe. Auf dem Gehsteig der anderen Seite steht ein Kleinkind mit rosaroter Hose
und Haube. Es ist Winter. Es sieht mir zu. Dann läuft es ein paar Meter, bleibt stehen
und sieht mir wieder zu. Es grinst breit.

Ich:          Ja hallo, du bist aber ein sehr lustiges Mädchen.

Mutter:    Er ist ein Bub. Lustig ist er, das stimmt.

Ich:          Aha, ich dachte nur wegen Rosarot.

Mutter:    Rosarot ist seine Lieblingsfarbe, deswegen.

Ich:          Na, das macht ja nichts. Interessiert er sich für Bagger oder Fußball?

Mutter:    Nein, er spielt gerne mit Puppen und macht ihnen schöne Frisuren.

Ich:          Ich verstehe, dann passt Rosarot doch gut zu ihm.

Mutter:    Ganz bestimmt ist das so.

Ich:          Er kann ja Pfarrer werden.

Mutter:    Er kann alles werden.

Die rosarote Maus, zusammengebundene Stäbe und die große Kluppe

Die rosarote Maus, zusammengebundene Stäbe und die große Kluppe

Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow | Inventarnummer: 25004

Geschenk

Du bist da,
wenn ich nichts will als bei mir sein.
Lässt meine Hand auf deiner warmen Haut verweilen,
wenn ich nichts will als in ihr sein
genau auf deines Körpers Oberfläche.
Bist still und da,
während die Schönheit dieses Augenblicks
die größten Wellen in mir macht.

Du bist da,
wenn meine Hand noch länger bleibt,
weil ich mich ihrer Weisheit hingegeben hab.
Spürst du, was sie alles spürt?
Dass sie frei ist zuzuhören,
zu pfeifen auf das Tun aus Kalkül,
zu überraschen.
Schöpferin zu sein.

Du bist da,
bis deine nackte Haut mein Herz berührt.
Bleib,
dann wird auf dich mein Innerstes sich legen,
von meiner Hand getragen in die Welt.

Sonja Steingreß
aus dem Gedichtband „Ich will bloß sein“, ISBN 978-3-200-09899-2
Erhältlich per E-Mail-Bestellung bei der Autorin unter so@steingress.net
und bei „Bücher & mehr“ in Linz (Klosterstraße 12)

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24183

Heilig

Hinter seinem Rücken
fügen meine Füße sich zusammen.
Sohle an Sohle, wie zum Gebet.
Meine Beine ziehen uns
in die Tiefe der Umarmung.
Wo Worte und Bewegungen enden.

Ich darf ihn halten und mich halten,
seinen Schultern dankend.
Darf mich hineinlegen in das Bett,
zu dem sie sich mit seinem Hals vereinen.
Aus … ein …
In meinen Atem.
In die Stille.

Darin geht mein Lächeln auf.
In die unendliche Weite öffnet sich mein Herz.
Ich erstrahle.
Alles ist synchron.
Jede Sekunde fühl ich mich neu
und bin mir doch vertrauter als je zuvor.

Sonja Steingreß
aus dem Gedichtband „Ich will bloß sein“, ISBN 978-3-200-09899-2
Erhältlich per E-Mail-Bestellung bei der Autorin unter so@steingress.net
und bei „Bücher & mehr“ in Linz (Klosterstraße 12)

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 24182

Tiger

Erstaunlich, wie schnell manchmal alles geht. Erst vorgestern habe ich auf die Anzeige „Villenhaushalt sucht Kindermädchen, Erfahrung erwünscht, zwei bis drei Abende pro Woche, tierlieb, gute Bezahlung“ reagiert, und schon lausche ich den Anweisungen der Inserenten, Herrn und Frau Panthera, die im Begriff sind, auszugehen. Etwas überheblich sind die beiden, zwar freundlich, aber reserviert. Die Achtjährige, auf die ich aufzupassen habe, hat diese Haltung übernommen, hat mir vorhin kühl die Hand gereicht, mir prüfend in die Augen gesehen und ernst gelächelt. Sie hat sich brav von ihren Eltern verabschiedet und ist in ihrem Zimmer verschwunden.

„Sie brauchen das Abendessen für Desiree nur aufzuwärmen. Auch für Sie ist reichlich da“, sagt Herr Panthera. Er verstaut bedächtig sein Smartphone und sein Portemonnaie in den Innentaschen seines Sakkos. „Bitte kein Fernsehen. Es gibt genügend interessante Spiele und Bücher.“
„Desiree wird Ihnen alles zeigen. Um neun Uhr wird sie schlafen gehen. Unsere Tochter ist sehr selbstständig“, sagt Frau Panthera. Sie zieht sich eine gestreifte Jacke an, betrachtet sich im goldumrahmten Vorraumspiegel.
„Eines jedoch“, räuspert sich Herr Panthera, schon einen Schlüsselbund in der Hand. „Eines jedoch bitten wir Sie, ohne Wenn und Aber und ohne es zu hinterfragen, zu respektieren. Uns ist vor einigen Wochen eine Katze zugelaufen. Desiree jedoch sieht in dem Tier einen Tiger. Spielen Sie einfach mit, auch wenn Ihnen das lächerlich erscheinen mag. Tun Sie so, als ob es tatsächlich ein Tiger wäre, dann wird dieser Abend für Sie problemlos verlaufen.“

Gegen Mitternacht würden sie zurück sein, sagen sie noch, wünschen mir einen angenehmen Abend, und dann beobachte ich auch schon erleichtert durch das Fenster, wie die beiden durch den gepflegten Vorgarten schreiten, in ihren grauen Jaguar steigen und wegfahren. Tief ausatmend finde ich, dass ich mir nun wirklich ein Getränk verdient habe, entdecke auch sogleich die unfassbar reichhaltige Hausbar im Wohnzimmer. Ich genehmige mir ein Glas Wodka.
Desiree kommt aus ihrem Zimmer, geht, ohne mich anzusehen, an mir vorbei in die Küche, und mit einem großen, rohen Fleischstück in ihren Händen wieder zurück.
Ich muss lachen. „Das ist wohl für dein Tigerkätzchen“, sage ich.
Das Mädchen antwortet nicht, würdigt mich keines Blickes, verschwindet wieder in ihrem Zimmer.

„Verzogener Fratz“, sage ich leise und amüsiert, mache es mir auf dem weißen, weichen Sofa bequem, schalte den riesigen Fernseher ein.
Nach einer Weile sitzt Desiree plötzlich neben mir.
„Na, schläft dein Tiger nun nach der Fütterung?“, frage ich.
Sie nickt.
„Darf ich deine Raubkatze mal sehen?“
Sie steht auf, öffnet eine Schublade, nimmt ein Foto heraus und reicht es mir. Darauf thront sie, Desiree, strahlend, lächelnd, auf dem weißen Sofa, auf dem ich soeben sitze – ihre rechte Hand ruht liebevoll auf dem riesigen Kopf eines entspannt zu ihren Füßen liegenden, ausgewachsenen Tigers.
„Sehr gut gemachte Fotomontage“, lobe ich.

In diesem Moment höre ich aus Desirees Zimmer lautes, bedrohliches Fauchen. Ich zucke zusammen.
„Tiger träumt nur“, sagt Desiree. „Du brauchst keine Angst zu haben.“
„Ich fürchte mich nicht vor CDs mit Tiergeräuschen“, sage ich und spüre Ärger in mir hochsteigen. „Genug jetzt!“ Gereizt knalle ich das Foto auf den Couchtisch. „Ich habe Hunger. Komm, du Tigermädchen, essen wir etwas.“
Wir schweigen beide, während ich das bereitgestellte Gulasch aufwärme, Brot aufschneide und Desiree den Tisch deckt. Das Essen schmeckt gut. Ich trinke teuren Rotwein, betrachte das stille, schmale Mädchen mir gegenüber.
„Ist das nicht Tierquälerei, einen Tiger im Haus zu halten?“, frage ich provozierend.
Desiree nimmt einen Schluck Wasser, zupft an ihren langen, blonden Zöpfen, schaut an mir vorbei aus dem Fenster.

Als ich keine Antwort mehr erwarte und schon eine scharfe Frage nachschießen will, sagt sie laut und deutlich:
„Erstens: Das ist kein gewöhnlicher Tiger. Zweitens: Ich halte ihn nicht gefangen, er kann gehen, wann immer er will. Fast jede Nacht ist er draußen im Wald hinter unserem Haus und kommt am Morgen wieder. Er ruht sich bei mir aus. Denn drittens: Er ist sehr  gerne bei mir.“
Wut steigt in mir auf. Wie kann ein kleines Kind derartig arrogant und verlogen sein, frage ich mich. Ich trinke den Wein aus, stehe auf, wende Desiree den Rücken zu, spüle den Teller ab und sage:
„Na, du hast ja eine blühende Fantasie. Aber mich interessiert deine ausgedachte Geschichte überhaupt nicht. Hör also bitte auf mit diesen dummen Lügen!“

Ich drehe mich zu Desiree, die jedoch lautlos verschwunden ist.
„Verrücktes Kind!“, schimpfe ich in die leere Küche, schenke mir nochmals großzügig Wein ein, stapfe damit ins Wohnzimmer.
„Eines jedoch …“, äffe ich die Ansprache ihres Vaters nach. „Eines jedoch bitten wir Sie … Respektieren Sie … Tun Sie einfach so, als ob …“
Ich lasse mich wieder auf die weiße Couch vor den Fernseher fallen, rufe laut:
„Ganz sicher nicht, Familie Größenwahn, nicht mit mir!“, und verschütte beim Hinstellen des Glases ein wenig Wein auf das Foto mit Desiree und dem Tiger. Ich zerknülle es und stopfe es in meine Hosentasche.

Aus dem Kinderzimmer dringen gedämpft Geräusche. Ich drehe den Fernseher lauter. Doch Desirees Lachen und eine Art freudiges Winseln lassen sich nicht übertönen. Ich trinke mein Glas aus, stehe auf, lege mein Ohr an die Tür. Es hört sich an, als würden nun in dem Zimmer Möbel geschoben. Wieder lacht Desiree hell auf.
Ich klopfe, und sage, bemüht, meine Stimme nett und klar klingen zu lassen:
„Desiree, es ist Schlafenszeit! Ich komme jetzt rein zum Gute-Nacht-Sagen.“
„Nein! Bitte nicht!“, ruft Desiree.
„Aber warum denn nicht?“, frage ich, so freundlich wie nur möglich, und fühle mich dabei seltsamerweise wie der böse Wolf aus einem Märchen.
Stille. Dann Desirees deutliche Stimme: „Tiger mag dich nicht.“

Ich muss gegen meinen Willen kichern, drücke die Türklinke nieder, kann aber nicht öffnen, spüre Widerstand. Ich schaue durch das Schlüsselloch. Es scheint kein Schlüssel zu stecken, offensichtlich hat Desiree ein Möbelstück vor die Tür geschoben.
‚Mit mir nicht, du Biest‘, denke ich, ‚mich sperrt niemand aus.‘ Wie mich dieses Kind mitsamt seiner Tigergeschichte aufregt, mich immer wütender macht! Um mich zu beruhigen, genehmige ich mir noch ein Gläschen Wodka von der Hausbar. Dann klopfe ich wieder an die Kinderzimmertür und sage ruhig und bestimmt:
„So, Desiree, Schluss jetzt mit dem Theater. Mach bitte die Tür auf. Ich möchte nachsehen, ob alles in Ordnung ist bei dir und deinem Tigerkätzchen.“
Keine Antwort.

Ich drücke wieder die Türklinke nieder, stemme mich mit aller Kraft gegen die Tür, schaffe es tatsächlich, das davorgestellte Möbelstück wegzuschieben. Die Tür ist offen.
„Na bitte“, sage ich zufrieden, betrete das Kinderzimmer.
Es passiert blitzschnell.
„Nicht, Tiger!“, höre ich Desiree schreien. Aus einer Ecke des Raumes springt ein grollendes, pelziges, mächtiges Etwas gegen mich, ein weißes Raubtiergebiss blitzt dicht vor meinem Gesicht auf, und schon schmettert ein wuchtiger Prankenschlag auf meinen Kopf. Dann ist alles dunkel und still.

Claudia Dvoracek-Iby

www.verdichtet.at | Kategorie: Von Mücke zu Elefant | Inventarnummer: 24185

wien

stadt inhaliert herbst. ausstoßen von morgendunst in den straßen.
wild jault sich die straßenbahn an den alten häusergesichtern vorbei.
tuschelnd ist der putz. grauweiß ist die haut.
nacht hatte zuvor regen im leib.
blätterhände, mit brennen im herzen, auf den wegen liegend. schlaf singend.
fliegende gespräche durch die gassen.
vogelstimmen in den kahlkronen. nicht mehr grün atmend.
spürbar: der puls ruft in mir nun wahrlich „wien“.

Tim Tensfeld
https://www.autorenwelt.de/person/tim-tensfeld
https://www.literaturport.de/lexikon/tim-tensfeld

www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 24184

 

 

Dialektik im Trauern

Ein Herbstgedicht

Herbstlaub.
Farbenfroh und leicht, fällt
erstmals
ohne dich auf die Welt.

Nebel.
Grau in Grau und schwer, steigt
empor.
Deckt feig meine Sehnsucht.

Rascheln.
Lautstark und schrill, wenn ich
im Laub
deine Worte finden will.
(… die mir so fehlen.)

Mein Herz.
Schmerzensvoll und leer, schweigt.
Tobt still.
Nur Erinnerung bleibt.

Astwerk.
Melancholisch kahl, friert
schutzlos.
Giert nach deiner Blätterhand.

Ein Lichtstrahl.
Hell, euphorisch, warm. Bricht
tröstend
durchs Himmelsgesicht.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 24181

Beautiful Mind

Er stand auf plumpen Füßen.
Dabei hatte er immer gewünscht, fein zu sein und elegant.
Das war er aber auch, das war er sogar sehr.
Er hatte wahrlich ein beautiful mind.
Doch niemand konnte es sehen, jeder dafür bemerkte seine ungelenke Erscheinung.
Aber wenn er sprach, legten sich seine Zuhörer in die Blumenwiese,
die er beschrieb, oder sie folgten ihm ins Weltall.
Keinen Zweiten in der Gegend gab es, der das vermochte,
nur diesen Tölpel mit dem schönen Geist.

Kontrast

Kontrast
Foto & Copyright: Shyline Aimely Tosin

Johannes Tosin (Text)
Shyline Aimely Tosin (Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 25003