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Ratzenkopf

Im zweiten Semester habe ich mir die Haare ganz kurz abschneiden lassen. Völlig ungeplant habe ich auf der Durchfahrt in Straubing einen Friseur aufgesucht und gesagt: Ganz kurz, bitte! Die Friseuse war etwas älter als ich und fing, ohne nochmals nachzufragen, sofort an, meine Haare zu schneiden. Eine Stunde später verließ ich den Salon als neuer Mensch. Ich fühlte mich richtig gut. Das Gefühl am Kopf war völlig anders. Wenn ich mir mit den Fingern darüber fuhr, war ich überrascht. Es fühlte sich ungewohnt an, aber gut. Meine Freundin Andrea hätte bestimmt klass gesagt, aber Andrea kannte ich damals noch nicht. Mein Spiegelbild im Schaufenster überraschte mich. War das wirklich ich?
Als ich zu Hause ankam, sagte meine Mutter nichts. Das war ihre Art, ihr Missfallen auszudrücken. Sie hatte die Angewohnheit, nichts Unangenehmes sagen zu wollen, deshalb schwieg sie lieber. Anscheinend war ihr meine neue Frisur zu wenig weiblich. Sie konnte es auch überhaupt nicht leiden, wenn ich keinen BH trug. Sie selbst hatte sich während des Krieges von russischen Gefangenen das Nähen eines Büstenhalters zeigen lassen. Erstaunlicherweise konnten die das, obwohl die russische Sprache über kein eigenes Wort für Büstenhalter verfügt. Die gefangenen Frauen waren alle gebildet, hatten eine höhere Schule besucht und verstanden es, den deutschen Mädchen die Anfertigung von so unentbehrlichen Kleidungsstücken beizubringen. Für meine Mutter gehörte das Tragen eines Büstenhalters zur unbedingten Notwendigkeit. Woher hatte sie nur ihre Sicherheit? Für sie stand ohne Zweifel fest, was man tat und was nicht. Sie brauchte keine Zustimmung und revidierte ihre Meinung auch nie, und falls doch, dann nur, weil sie meinem Vater das Gefühl geben wollte, dass sie seine Sicht der Dinge respektierte.
Auf jeden Fall schaute sie mich mit meiner neuen Frisur nur an, wandte sich nach wenigen Sekunden wortlos ab, um den Putzlumpen auszuwringen, ihn schwungvoll um den Schrubber zu legen und energisch den Boden der Stube zu wischen. Ich stand da und mir war klar, dass es höchste Zeit war, mir eine Arbeit zu suchen.

Den bodenlangen Rock, den mir die Tante aus rot-weiß gestreiftem Stoff genäht hat, hat meine Mutter auch nie leiden können. Wenn ich ihn trug, weigerte sie sich, mit mir spazierenzugehen. In ihren Augen gehörte es sich nicht, einen bodenlangen Rock zu tragen. Miniröcke hingegen gefielen ihr. Mit Maxiröcken wollte sie in keinster Weise in Verbindung gebracht werden, selbst wenn ich, ihre Tochter, einen trug. Mir fiel es schwer, an meiner Entscheidung festzuhalten. Ich war mir nicht mehr sicher, ob mir die Frisur und der Rock wirklich gefielen. Auch an der Weigerung, einen Büstenhalter zu tragen, zweifelte ich. In meinem Zimmer fand ich gleich drei Stück vor, die sie extra beim Vertreter für Textilien bestellt hatte. Es waren ausgesprochen modische Modelle, und ich probierte sie der Reihe nach an. Alle drei passten. Dafür hatte meine Mutter einen Blick. Sie drängte mich, alle zu behalten. Das war eine existenzielle Anschaffung, und es war falsch, an Büstenhaltern zu sparen. Noch dazu jetzt, da die Haare abgeschnitten waren.

Am nächsten Tag war die Hochzeit meines Cousins. Es hieß, er müsse heiraten, weil seine Freundin schwanger sei. Wir hatten kaum Kontakt mit der Verwandtschaft, aber ich konnte mir meinen Cousin überhaupt nicht als Ehemann vorstellen. So wenig ihm der Hochzeitsanzug stand, passte die Frau an seiner Seite zu ihm. Auch das Hochzeitsfest sowie das Feiern überhaupt passten zu uns allen nicht.  Meine Familie und Verwandtschaft feierten nie freiwillig. Wir konnten das alle nicht. Wir konnten nie fröhlich und ungezwungen sein. Ich habe keine Erklärung, warum das so war. Trotzdem gehörte es sich, zur Hochzeit zu gehen, und meine Mutter sperrte am Samstagmittag sogar ihren Laden zu. Das musste man ihr hoch anrechnen, weil das ja doch einen beträchtlichen Verdienstausfall  bedeutete. Ich zog das Dirndl an, das ich mir in München gekauft hatte. Auch das mochte meine Mutter nicht. Sie trug nie eine Tracht. Sie war eine Städterin, obwohl sie ihr Lebtag lang auf dem Dorf gewohnt hatte und nie länger als wenige Tage in München oder Regensburg zu Besuch war. Andere Städte hat sie ohnehin nicht bereist. Sie trug einfache, aber elegante Damenmode mit klaren Linien. Ihre Schwester nähte alles nach ihren eigenen Vorstellungen, und es musste passen, sonst zog sie es nie an. Ich frage mich immer wieder, warum sie mir diese Kompromisslosigkeit nicht vererbt hat. Damit könnte ich viel leichter durchs Leben gehen. Aber wahrscheinlich wollte es mir meine Mutter einfach nicht zu leicht machen.

Die Hochzeitsfeier fand bei hochsommerlichen Temperaturen statt. Die Braut mit langen braunen Haaren lächelte in ihrem weißen Brautkleid, das sich für eine Schwangere auch nicht mehr gehörte. Ihr Mann lächelte jenes süffisante Lächeln, das ihm und uns allen so eigen ist. Genauso wenig wie wir feiern können, können wir einfach fröhlich sein und schon gar nicht lachen. Wir können uns lediglich verschreckt, über uns selbst beschämt lächelnd, bedauern. Das tat nun auch mein Cousin an seinem Hochzeitstag, während seine Frau linkisch an seinem Arm hing. Ich ging neben meiner Mutter einher und fühlte mich leidlich wohl in meinem neuen hochgeschlossenen Dirndl mit taubenblauer Schürze und den recht kurz geschnittenen Haaren. An den Ohren und im Nacken fühlte ich mich reichlich nackt und fuhr immer wieder mit den Händen darüber. Ein entfernter Verwandter, der hinter mir ging, sagte beim Überholen zu meiner Mutter: „Aha, das ist deine Tochter! In der Kirche habe ich schon immer überlegt, wer das Mädchen mit dem Ratzenkopf sein könnte.“ Meine Mutter antworte nicht. Das lag zum einen daran, dass sie den Mann verachtete und es ihn auch spüren ließ, und zum anderen lag es daran, dass sie mich vor ihm nicht der Lächerlichkeit preisgeben wollte. Soweit fühlte sie sich mir als Mutter in Solidarität verpflichtet. Ich selbst konnte nicht anders als süffisant zu lächeln. Der Nachmittag verlief total langweilig. Eine Band spielte nicht. Wenn die Braut schwanger war, gehörte sich das nicht. Außerdem war mein Onkel, der Vater des Bräutigams, verstorben. Das war ebenfalls ein Grund, ohne Musik zu heiraten. Wahrscheinlich wären die Ausgaben für eine Kapelle auch zu hoch gewesen. Und an das Fröhlichsein waren wir alle ohnehin nicht gewöhnt, ob mit oder ohne Musik.
Es gab Kaffee und Kuchen. Der ältere Bruder des Bräutigams war Bäcker. Meine Mutter warf einen fachkundigen Blick auf die Gebäckstücke, kostete mit einem Gesichtsausdruck, der dem Prüfungsausschuss der Bäckerinnung bei der Abnahme der Meisterprüfung im Konditorhandwerk gestanden hätte, und sagte vertrauensvoll zu mir: „Alles mit billigem Öl!“ Es war klar, dass wir uns beim Verzehr zurückhielten. Die Verwandtschaft sollte ruhig merken, dass wir die billigen Zutaten aus den Torten herausschmeckten. Niemand konnte uns zwingen, uns den Magen zu verderben. Ich rührte im Kaffee und blickte umher. Das gleiche taten all die anderen. Schließlich bestellte meine Mutter für uns beide einen trockenen Weißwein. Damit signalisierte sie, dass sie Stil hatte.
Ich langweilte mich, kam mit niemandem ins Gespräch. Diejenigen, die sich mit meiner Mutter unterhielten, meinten mit einem schrägen Blick zu mir: „Dir schaut’s aber überhaupt nicht gleich, deine jüngste Tochter!“ –„Ja mei, die schaut auch in die Kramerart. Ich hab mich bei keinem Kind durchgesetzt.“ Und wenig glaubwürdig fügte sie noch hinzu: „Aber meine Schwägerinnen sind ja allesamt so feine und elegante Damen.“ Unschwer war herauszuhören, wie sie sie verachtete. Auch wenn sie teure Seidenstrümpfe mit Naht trugen und mit Stöckelschuhen rumstolzierten, konnten sie nicht im Entferntesten mit ihr mithalten. Dessen war sie sich sicher, obgleich sie das Gegenteil davon in Worte fasste. Meine Mutter hatte von der schweren Arbeit Krampfadern an den Schienbeinen und trug aus Sparsamkeit billige Perlonstrumpfhosen, aber bei ihr stimmte immer das Erscheinungsbild. Keine Ahnung, wie sie das machte. Darum beneide ich sie noch heute.

Ich hatte mir also einen Rattenkopf schneiden lassen, und es würde mindestens bis zum Winter dauern, bis die Haare wieder etwas nachgewachsen wären. Lediglich meine Cousine, die ältere Schwester des Bräutigams, die ich insgeheim bewunderte und die mir immer recht selbstbewusst erschien, obwohl sie ohne abgeschlossenes Grundschullehramtstudium mit fast dreißig Jahren immer noch unverheiratet in München lebte, sagte zu mir: „Coole Frisur, du traust dich!“ Ich lächelte erneut jenes süffisante Lächeln und zuckte mit den Schultern. Antworten brauchte ich nicht, denn sie schickte noch neugierig interessiert die Frage nach: „Hast du einen Freund?“ Auch darauf antwortete ich lediglich mit einem Schließen der Augen und einem Aufeinanderpressen der Lippen, was sie als verschämte Zustimmung auffasste. Mir hingegen war zu Ohren gekommen, dass sie, obwohl sie so gut aussah und die halblangen blonden Haare zu Locken gedreht hatte, an einen verheirateten Mann geraten sei, der sie hinhalte. Sie meinte noch: „Dass du jetzt auch Lehramt studierst, versteh’ ich nicht. Du warst doch immer so gescheit. Warum studierst dann nicht auch was Gescheites?“ Ich wusste nichts zu antworten, und meine Mutter mischte sich in dem Glauben, mir beistehen zu müssen, ein: „Sie braucht einen gescheiten Beruf. Wer weiß, ob sie einen zum Heiraten findet.“ Das war natürlich auf meine Cousine gemünzt, die sich erneut süffisant lächelnd anderen Gästen zuwandte. Schließlich war sie der einzig interessante Hochzeitsgast. Sie hatte zwar nicht einmal das von allen als komplett primitiv eingestufte Pädagogikstudium an der PeHa geschafft, hatte aber während ihres überaus langen Studiums vor allem die ebenfalls langen Semesterferien zum Verreisen genutzt und konnte etwas erzählen. Ihre Eltern schimpften einerseits, weil sie so viel teures Geld vergeudet hatte. Davon hätte man wahrscheinlich locker ein weiteres Haus bauen können, aber irgendwie waren sie dennoch stolz auf ihre unkonventionelle Tochter. Bloß zum Heiraten wär’s halt langsam Zeit geworden.

Das Brautpaar verließ am Spätnachmittag überraschend und wortlos die Hochzeitsgesellschaft. Beinahe hätte es gar niemand mitbekommen, wenn sie sich nicht so unbeholfen in ihren ungewohnten Kleidern bewegt hätten. Jene Cousine verkündete dann, dass das Paar zum Flughafen fahre. Das war nun in der Tat etwas völlig Neues. Keiner der Anwesenden war bestimmt jemals am Flughafen gewesen, geschweige denn mit dem Flugzeug geflogen. Das war also die neue Zeit. Das Brautpaar ging auf Hochzeitsreise. Unvorstellbar. Flitterwochen kannte man lediglich aus den Hollywoodfilmen. Die Cousine meinte: „Die beiden sollten es sich gut gehen lassen. Es geht ja sowieso alles so schnell vorbei.“ Dabei hatte sie etwas Melancholisches in ihrem süffisanten Lächeln, und ich verstand, wie ihr eigentlich zumute war.
Die Hochzeitsreise sollte zu einem jener verführerisch klingenden Orte im Süden gehen, die mir alle gleichsam unbekannt waren. Mallorca, Rimini oder Split. In Gedanken stellte ich mir den Flughafen, den Innenraum des Flugzeugs mit den Stewardessen, die Drinks reichten, vor. Auch vom palmenbestandenen Sandstrand tauchte in meinem Kopf ein Phantasiebild auf, das mir gut gefiel, und das ich in Gedanken ständig weiter ausbaute. Dann wanderten meine Vorstellungen zum Hotel, zur marmornen Eingangshalle, zum Pagen in Uniform, der das Gepäck entgegennahm, zum Lift, der mit Spiegeln ausgestattet war, und zur Hochzeitssuite, in der sich das Brautpaar seiner Leidenschaft hingab. Es erschien mir aber fraglich, ob sie noch leidenschaftlich sein konnten, nachdem die Braut ja bereits schwanger war.
All diese Vorstellungen lebten lange in meinem Kopf und tauchen auch jetzt wieder auf, wenn ich mir jenen fernen Tag in die Erinnerung zurückrufe.

Nachdem sich das Brautpaar so davongestohlen hatte, löste sich auch die Hochzeitsgesellschaft rasch auf. Es hatte sich erneut herausgestellt, dass das Feiern nichts brachte, zumal es meiner Verwandtschaft eigen war, nicht fröhlich, geschweige denn ausgelassen und unbeschwert sein zu können.
Wir gingen heim, saßen in der Stube noch strickend beieinander und waren uns einig, dass diese Hochzeitsfeier nichts Gescheites gewesen war. Daran hat nun auch die schöne Braut mit den langen braunen Haaren nichts ändern können. Mit meinem Ratzenkopf war ohnehin über Jahre hinweg an keine Hochzeit zu denken.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15014

Lob des Zornes

Herrlicher, heilsamer Zorn, wie gut, dass es Dich gibt. Du bläst als reinigender Sturm die dürren Blätter und den fauligen Mief des Lebens fort, Du gibst uns Kraft und Mut, das Notwendige oder Überfällige gleich herzhaft anzupacken und Entscheidungen zu treffen.

Wer sich schon lange Zeit zu nichts aufraffen konnte, wer müde/kraftlos/depressiv ist, dem verhilft der Zorn zu ungeahnter Energie – auf einmal geht einem von der Hand, was man so lange vor sich hergeschoben hat. Es wird etwas erledigt – und zwar gleich! Und siehe da, der Dreck beißt nicht, und die Bugwelle des Zorns schwemmt trübe Wehleidigkeiten und Kannichnicht und Gehtdochnicht glatt hinweg.

Wer sich wie ein Schaf aufführt, wird auch als solches behandelt und provoziert selbst seine Missachtung. Wer immer „JA“ sagt und sich anpasst, alles Unangenehme und Ungerechte hinunterschluckt, bis der Kragen platzt, der sagt im Zorn auch einmal die Wahrheit, brüllt seine Empfindungen hinaus, die von seiner Umwelt bislang nicht wahr – oder ernst genommen wurden, der stellt sich endlich auf die Hinterbeine und ist auf einmal jemand, den man nicht mehr so leicht herumschubsen kann!

Wenn etwas nicht geht, wenn man sich auf etwas verlassen hat und es platzt ohne eigenes Verschulden, was auch immer – wenn man einen Zorn bekommt, beginnt plötzlich ein alternativer Denkprozess zu laufen, da sieht man die Dinge auf einmal auch von anderen Seiten, da gibt es auf einmal auch neue Lösungen oder Wege zum Ziel, an die man vorher nicht gedacht hat, da kann es sein, dass man wie von selbst mit Leuten ins Gespräch kommt, die man vorher nicht wahrgenommen hat, da ist wieder die ganze Welt offen, da löst sich die bisherige Betriebsblindheit in Luft auf und das Problem erscheint gesamtheitlich in neuem Licht.

Und ganz wesentlich: In zorniger Unterhaltung sagt man nicht nur mit wünschenswerter Deutlichkeit etwas, sondern da bekommt man ebenso deutlich Tatsachen und Umstände zu hören, die man bisher nicht wusste, nicht wahrgenommen oder deren Gewicht und Zusammenhang man als unwesentlich weggewischt hat. Da werden auch die eigenen Fehler, Versäumnisse und falschen Einschätzungen besprochen und klargelegt, und dass zu vielen Sachen zwei oder mehr gehören, und dass nicht alles selbstverständlich und ausreichend ist, was man bisher dafür gehalten hat. Und dass man auch die zarten Pflänzchen „Rücksicht, Verständnis und Entgegenkommen“ fallweise zu gießen vergessen hat. Zorn ist oft genug ein heilsamer Tritt in den eigenen Hintern, im wahrsten Sinn des Wortes ein Anstoß nicht nur zum Tun, sondern auch zur eigenen Erkenntnis!

Überdies: Fallweise ein erfrischendes Gewitter ist auch für die Partnerschaft ein Segen – da wird einmal „ausgemistet“, da werden gestaute Missverständnisse aus­geräumt, dann ist die Luft wieder rein, man fühlt sich erleichtert. Und wenn das Blut in Wallung ist und kleine Flämmchen aus den Augen sprühen, wird der/die PartnerIn attraktiver gesehen und intensiver gespürt. Die schönsten Versöhnungen sind doch die im … (oder sonstwo). Und beim vertraulichen Duett danach kann auf einmal ohne Vorbehalte und gutwillig über wirklich alles gesprochen werden.

q.e.d.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15013

Erinnerung

Da ist dieser Geruch in der Luft gelegen, dieser Geruch nach … ? – Dieser Geruch nach … – es war nicht hier, es war irgendwo in Mediterranien, in Griechenland, in Italien oder war’s an der Nordküste Afrikas?
Ja! Ich erinnere mich genau: Der Junge hat so ein Instrument gespielt, was war das noch für eines? – Er war jedenfalls dunkelhäutig, ich glaube: nicht sehr, aber doch. Und sein Instrument? Es muss ein Saiteninstrument gewesen sein – oder ein Rhythmusinstrument. Nein! Es war beides: Da war Melodie und Rhythmus – vielleicht hat er ja auch nur auf ein Saiteninstrument geklopft.

Da war also dieser Geruch und es heißt ja: Gerüche merken wir uns ewig, ja: Wir können uns durch bestimmte Gerüche an Ereignisse erinnern, auch wenn sie in ganz früher Kindheit stattgefunden haben. Ich hab so einen Geruch jetzt fast in meiner Nase, kann mich aber trotzdem nicht daran … – doch! Es war ein Jahrmarkt, irgendwas Außergewöhnliches jedenfalls.
Ja! Es hat ein Ringelspiel gegeben, ein paar Schießbuden und neben dem Jungen viel orientalische Musik, eigentlich viele orientalische Musiken, aus jeder Bude eine andere. Alle haben ähnlich geklungen – vielleicht war es ja auch immer dasselbe Lied, jeweils etwas zeitversetzt aus Kassettenrecordern, deren Lautstärkeregler ganz aufgedreht waren.

Dieser Geruch! Ich hab ihn jetzt genau – kann ihn aber schwer beschreiben. Ich hab ihn in meiner Nase, obwohl ich im Moment ziemlich verschnupft bin. Ich wollte das Ringelspiel mieten – für eine Stunde und ganz für mich alleine. Ich erinnere mich: Es war kurz nach elf Uhr vormittags, eine Zeit, in der es am Rummelplatz ohnehin kaum Besucher gegeben hat.
Ich wollt’ das Ringelspiel einfach für mich ganz allein haben. Das habe ich mir nämlich einmal als vier-, fünfjähriger Bub gewünscht. Aber es hat auch diesmal nicht geklappt und so bleibt das ein Wunsch, den ich nun schon über sechzig Jahre unerfüllt mit mir herumschleppe. Umgerechnet 30 Mark sollte es kosten. Warum war es mir das nicht wert? Welche Währung, wie viele Scheine?
Legen Sie mich nicht fest. Es waren jedenfalls viele Scheine mit großen Zahlen drauf, viele Nullen nach dem Einser. Ja: Zwölf Millionen waren’s. Zwölf Millionen Shertis, Grumlaks, Dinhu-Dollars?

Helfen Sie mir: Riecht das hier nach Mangroven? Was sind überhaupt Mangroven, wie sehen sie aus? Riechen Mangroven? Nein, es riecht nicht nach Mangroven, was immer das auch sein mag.
Und dann wieder die Melodie des Jungen: die Melodie, die in meinen Ohren singt, solange es der Geruch in meiner Nase aushält. Ich kann sie singen: la – lala – la – lalala – lala.
Nein.
Der Rhythmus war etwas anders. Ein unregelmäßiger Rhythmus, der mit der Zeit ins Blut geht – irgendein ungerader, betonter Taktteil ist dabei. Ich spüre diesen Rhythmus fast – es ist der Rhythmus des Lebens, den der Junge klopft, während er sein Gesicht wegdreht, weil wieder eine Böe Sand aufwirbelt.
Ich spüre noch immer den Sand – jedes einzelne Sandkorn, das mir im Gesicht, an Arm und Bein kleine Stiche versetzt. Und ich sehe jetzt alles vor meinem inneren Auge: Da – da links sitzt der Junge mit seinem Instrument, ja: Es ist ein Saiteninstrument und es hat einen Korpus aus einem Schildkrötenpanzer. Ich sehe es ganz genau, als würde ich fernsehen: Er sitzt auf den Stufen des Ringelspiels, und … – Nein. Dieses Bild ist aus einer Werbung. Welcher Werbung? Werbung wofür? Egal.

Aber dieser Geruch. Der Geruch bleibt. Ich kenne diesen Geruch, der in der Luft gelegen ist, ich hab diesen süß-sauren Geruch in der Nase, diesen Geruch nach …… Scheiße.
Oje.
Schwester!!! Schwester Helga!!!

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15008

Vom Brotteig Kneten, Stricken und Schreiben

Es gibt Dinge, die einen prägen. Ich meine keine Prägung im Sinne des Pawlow‘schen Hundes, derartiges finde ich völlig verachtenswert. Absichtlich ein Verhalten hervorrufen zu wollen, ist mir in der Erziehung bei Mensch und Tier gleichermaßen suspekt. Es widerspricht meiner Vorstellung von Freiheit und Schöpfungsauftrag.
Vielmehr denke ich an Lebensumstände und Verhaltensweisen, mit denen man natürlich konfrontiert wird, und die man entweder ablehnen oder annehmen kann. So können Menschen in ein und demselben Umfeld ganz unterschiedliche Prägungen erfahren. Ich beobachte das bei meinen Geschwistern.
Was hat mich also geprägt? Je älter ich werde, umso mehr stelle ich fest, dass es ganz einfache Dinge sind, die sich mir wie Brandzeichen eingeprägt haben. Es ist der Umgang mit Teig und mit Wolle. Traditionell weibliche Refugien, aber das muss ja nicht schlecht sein.
Meine Mutter hatte objektiv betrachtet ein ausgesprochen schweres Leben. Sie hat es aber auch ausgesprochen gut verstanden, innerhalb der eng gesteckten Grenzen ihre Leidenschaften zu pflegen und dadurch innerlich frei zu sein und zu bleiben. So sehe ich das heute.
Sie stammte aus einer Bäckerei und der Umgang mit Brotteig war ihr nicht nur selbstverständlich, sondern sogar lebensnotwendig. Damit meine ich nicht, dass man Brot zum Essen braucht, ich wurde in der Zeit des Wirtschaftswunders groß, sondern dass ihr das Kneten von Brotteig innere Ruhe verschaffte. Immer, wenn sie schlecht drauf war, „rührte sie an“, womit sie die Herstellung des Sauerteigs, des „Uras“, bezeichnete. Dazu musste Wasser mit Roggenmehl vermischt werden. Es entstand ein zäher Baaz, der in einem uralten, braunen und angeschlagenen Tongefäß zur Gärung gegeben wurde. Es dauerte ein paar Tage, der Sauerteig wurde mit einem Holzlöffel immer wieder umgerührt, mit einem Geschirrtuch zugedeckt und entwickelte langsam Bakterien, sodass er immer mehr wurde. Manchmal passierte es über Nacht, dass er aus dem Topf rann. Er wurde lebendig, und es war schwer, den zähen Teig wieder wegzuputzen. Alle Lappen klebten und auch von den Händen bekam man ihn kaum mehr ab. Man muss kaltes Wasser benutzen, mit warmem klebt alles noch besser. Auch so eine Erfahrung. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie sich meine Mutter freute, wenn das Ura ging. Mit Begeisterung begann sie, den Brotteig zu kneten. Ohne irgendetwas abzuwiegen, schaufelte sie das schwarze Roggenmehl, das Gerstenmehl und das weiße Weizenmehl in eine riesige orange Plastikschüssel. Die Gewürze zerkleinerte sie mit dem Nudelholz auf dem Nudelbrett, es waren Koriander und Anis. Die Aniskörner kaue ich auch heute noch gern. Das Kneten ging ruck zuck. Es schaute furchtbar leicht aus, doch wenn ich es selbst probierte, verließen mich bald die Kräfte, und meine Muskeln im rechten Arm stellten sich als hoffnungslos untrainiert heraus. Auch wenn ich mich bemühte, mir meine Schwäche nicht anmerken zu lassen, schaute sie mich voller Verachtung an und meinte, ich solle mich nicht so anstellen. Der Bäckeropa hätte mir schon längst den Teig ins Gesicht geschmissen. Schließlich schubste sie mich weg und griff mit ihrer Rechten in die Masse. Sie wollte es auch selber machen, weil sie diese Arbeit für ihre Seele brauchte. Es herrschte ein intimes Verhältnis zwischen dem Teig und ihr. Mit der Linken hielt sie den Rand der Schüssel fest und drehte sie immer wieder, damit alles gleichmäßig durchgeknetet wurde. Je nach Bedarf kamen noch Mehl und Wasser dazu. Beim Kneten war meine Mutter glücklich. Ich glaube heute sogar, das war das Schönste, was es für sie gab. Sie brauchte alle Kräfte, die in ihr steckten. Sie powerte sich gewissermaßen komplett aus. Sie hatte den Teigklumpen in Händen, an dem sie sich abarbeiten konnte. Wenn sie dann die Laibe formte, war sie so geschickt, dass wenige Handgriffe genügten. Sie sagte, man dürfe nicht zu lange daran rumkneten, sonst verderbe man ihn. Es musste schnell gehen, und sie konnte mir auch dabei nicht zusehen, weil ich viel zu langsam und vorsichtig war, weil ich mich immer bemühte, es möglichst gut zu machen und immer noch nachbesserte. Das konnte sie nicht leiden. Man knetet rasch und legt die Laibe zum Gären unter ein Tuch. Zuletzt wurden noch ganze Gewürze in den Laib gedrückt. Man streute diese aufs Nudelbrett und wiegte das Brot ein-, zweimal darüber. Wenn alles richtig war, klebte es weder an den Fingern noch am Brett.
Leider hatten wir nur einen Küchenherd und keinen Backofen. Meine Mutter musste sich also bescheiden, was das Einschießen betraf. In der Backstube, wo sie die glückliche Kindheit und Jugend verbracht hatte, war das das Größte überhaupt. Die Laibe mit dem flachen Holzbrett am langen Stiel in den Ofen zu schieben und auf die gemauerte Backfläche zu schubsen. Auch das musste unheimlich schnell gehen. Man konnte ja den Ofen nicht lange offen lassen, weil sonst die Hitze entweicht. In unserem Herd war es natürlich wesentlich schwieriger, eine gleichmäßige Hitze zu halten. Manchmal wurden die Brote wunderbar, manchmal sprangen sie oben auf, manchmal rissen sie unten ab, aber sie schmeckten ja trotzdem.
Grundsätzlich hatte meine Mutter den Hang, alles leicht zu verbrennen. Das steckte irgendwie in ihr drin und sie konnte es nicht ablegen, ein Scheit oder eine Schachtel zu viel ins Feuer zu schieben. Aus Sparsamkeit heizten wir hauptsächlich mit Kartonagen, die als Verpackungsmaterial im Laden anfielen. Umweltfreundlich war das natürlich nicht, aber daran dachte man damals noch nicht. Das Brotbacken war eine Sache der Ehre! Sie war stolz auf sich und wir auf sie. Niemand sonst buk in den 70er Jahren Brot. Die Alternativen und Grünen kamen erst zehn Jahre später. So waren wir gewissermaßen der Zeit voraus. Postmodern? Die meisten dachten aber, wir hinkten dem Zeitgeist hinterher. Die Eltern einer Freundin bezeichneten meine Familie sogar als antiquiert und sahen es nicht gern, wenn wir zusammen waren.

Die zweite Sache, die meiner Mutter geholfen hat, die Nerven zu bewahren, war das Stricken. Es hatte therapeutische Bedeutung. Sie strickte jede freie Minute, immer und überall. Sie hatte ein Gestrick für zu Hause, etwas Kompliziertes, und eins für unterwegs, das waren meist Socken. Zu Hause strickte sie in den frühen Morgenstunden, wenn sie die ruhige und freie Zeit noch nützen wollte. Sie strickte während des nachmittäglichen Kaffeetrinkens, das eingeführt wurde, als mein Bruder als Lehrer ans Gymnasium kam. Offensichtlich hat er diese Gepflogenheit beim Studium kennen gelernt. Sie strickte abends, nach Ladenschluss, um 20 Uhr, nachdem sie die Kasse gemacht und alle Einnahmen nebst Ladenschlüssel in eine Plastikgeldtasche mit Reißverschluss gesteckt hatte,  ein Werbegeschenk der Sparkasse. Diese Tasche legte sie, wenn sie ins Bett ging, unter das Kopfkissen. Abends strickte sie am liebsten und erzählte von den Kunden im Laden, wobei wir viel Spaß hatten, Verkaufsgespräche parodistisch nachzuahmen. Die Kunden hatten ja alle so ihre Eigenheiten und man kannte sie ein Leben lang. Das war Theater live und täglich, was aber auch enorm anstrengte, weil ja fast kein Raum für Privatsphäre blieb.
Abends strickte meine Mutter mindestens bis 22 Uhr, manchmal auch länger, wenn sie der Ehrgeiz packte und sie etwas unbedingt fertig bekommen wollte. Im Alter behauptete sie sogar, ganze Nächte durchgestrickt zu haben. Wir hatten Pullover, Kleider, Röcke, Jacken und später sogar Decken und Teppiche. Dann hat sie es echt übertrieben. Ich glaube, sie ist süchtig gewesen. Das Coolste, was sie mir je gestrickt hat, war ein Kleid aus lauter Wollresten. Der Rock war total bunt, immer nur eine Reihe mit einer Farbe. Leider reichten die Reste nur für den Rock. Beim Oberteil sparte sie und nahm eine Farbe, die sich nicht verkaufen ließ, einen Ladenhüter, und zwar in Orange, wie es die Straßenarbeiter trugen. Ich wollte sie noch umstimmen, aber da war nichts zu machen. Die Wolle musste weg und die andere konnte man verkaufen. Ich habe mich geschämt und wurde ausgelacht, aber das war ihr egal, da musste ich durch. Der Rock war aber echt super und auch praktisch. Man konnte immer wieder ein paar Reihen anstricken, wenn ich wuchs und wenn wieder Reste angefallen waren.
Strickend hat sich meine Mutter von der Last des Tages erholt. Sie hat sich gewissermaßen alles von der Seele gestrickt. Voller Stolz hat sie auch erzählt, dass sie sich schon in der dritten Klasse selber einen Pullover gestrickt hat und ihre jüngere Schwester sogar schon zur Einschulung eine Weste, da kam natürlich raus, dass wir sie total enttäuschten. Ich bat sie, mir das Stricken zu lernen, aber dafür hatte sie keine Geduld. Sie wollte auch nicht zu viel Zeit für ihr eigenes Strickwerk verlieren, und ich nervte sie schnell, weil ich mich selten dämlich anstellte. Schließlich sagte sie, sie könne niemandem etwas beibringen. Wenn man etwas lernen will, dann muss man sich selbst anstrengen. Sie hat auch alles von alleine gelernt, es sich abgeschaut. Ihren Bruder durfte sie in der Backstube nicht zweimal nach einem Arbeitsschritt fragen, da sei er gleich grantig geworden. Also hat sie es sich gemerkt oder schnell aufgeschrieben. Man darf die Leute nicht von der Arbeit abhalten.
Bei mir hat das mit dem Abschauen irgendwie nicht so geklappt. Vielleicht hat sie aber auch zu schnell gestrickt, dass ich gar nicht so schnell schauen konnte. Ich musste also warten, bis wir in der Schule das Stricken lernten. Das war in der dritten Klasse. Wir sollten Wolle und Nadeln mitbringen. Und da zeigte meine Mutter nun wieder ihre wenig pädagogische Art. Sie gab mir hellblaue Babywolle mit, superweich und superdünn, mit einer phänomenalen Lauflänge von mehreren hundert Metern, also beste Qualität, aber die Farbe war halt wieder absolut schrecklich, leider wieder ein Ladenhüter. Meine Proteste entkräftete sie, indem sie mir erklärte, dass sie sich früher glücklich geschätzt hätte, wenn sie neue Wolle bekommen hätte. Sie musste immer aufgetrennte verarbeiten. Außerdem müsse ich ja ohnehin erst üben.
Zu der Wolle kamen noch Eineinhalber-Nadeln. Dünnere gab es nicht. Laut meiner Mutter könne man die Qualität von Strickwaren an der feinen Nadelstärke ablesen. Zudem waren sie dreißig Zentimeter lang. Eine ziemliche Herausforderung! Alle anderen Mädchen in der Klasse hatten kurze Nadeln und dickere Wolle in schöneren Farben. Die junge Lehrerin erklärte die hohe Kunst des Strickens nach den vermutlich neuesten pädagogischen Richtlinien an einem gut sichtbaren Schauobjekt und zeichnete auch die Maschen an die Tafel. Es gab Abbildungen, die schrittweise das Fadenholen veranschaulichten. Ich kam ganz gut mit, aber mit der superdünnen Wolle und den superdünnen Nadeln war das nicht so einfach. Ich wickelte den Faden um den Zeigefinger und irgendwie zurrte er sich so fest, dass mir fast der Finger abstarb. Nachdem ich den Anschlag endlich geschafft hatte, strickte ich einige Reihen, wobei auf mysteriöse Weise von Reihe zu Reihe die Maschen weniger wurden. Ich war ehrgeizig und wollte es den anderen zeigen. Schließlich musste mir diese Handarbeit ja irgendwie im Blut liegen. Aber alle schauten mich nur mitleidig an. Es ging überhaupt nicht vorwärts. Die anderen hatten schon ein Riesenstück heruntergenadelt mit ihren dicken Wollen und bei mir sah man noch kaum etwas. Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Auch die Lehrerin konnte nicht helfen. Es mangelte an den Voraussetzungen.
Zu Hause meinte meine Mutter nur lakonisch, dass ich irgendwann schon noch begreifen würde, dass das doch der richtige Weg sei. Nur faule Menschen stricken mit dicker Wolle. Die dicke sei ja auch viel billiger. Damals konnte ich ihr das noch nicht abnehmen. Schließlich habe ich aber doch irgendwann die Technik beherrscht und etliches mit hauchdünner Wolle gestrickt. Da war sie stolz auf mich und hat sogar meine Pullover ins Schaufenster gelegt, aber das war erst fünfzehn Jahre später. Ich lernte geduldig Masche für Masche und Reihe für Reihe zu stricken, bis endlich etwas fertig war. Da hat sie mir sogar ganz feine Angorawolle gekauft, die man weder auftrennen noch waschen konnte. Da musste wirklich jede Masche sitzen. Ich habe mir daraus einen schönen Pullover gestrickt, der im Lesesaal der Uni, wo ich inzwischen meine Tage verbrachte, alle Blicke auf sich zog. Leider wusch ich einmal aus einer Laune heraus völlig unbedacht das gute Stück und verdarb es. Lange verheimlichte ich diese niederträchtige Tat vor meiner Mutter. Einmal erfuhr sie es aber doch und wandte sich wortlos ab. Grenzenlos war ihr Unverständnis, ja ihre Enttäuschung. Ich sah keine Möglichkeit, das je wieder gut zu machen. Dabei verschmerzte ich den Verlust meines  wunderbaren Pullovers leichter als den Kummer, den ich meiner Mutter durch meine blindwütige Waschlust zugefügt hatte.
Zu einer Meisterin auf dem Gebiet der Strickkunst habe ich es nie gebracht. Ich beherrschte schwierigste Muster und Modelle, aber ich nahm mir immer häufiger zu große Projekte vor, die ich dann immer öfter unvollendet liegen ließ.

Und jetzt habe ich mich für die Buchstaben entschieden. Sie sind mir lieber als die Maschen. Ich schreibe Geschichten und werde mich davor hüten, sie zu heiß zu waschen. Ähnlich den Pullovern müssen auch die Geschichten passen. Genauso wie Pullover, die niemand trägt, keinen Sinn ergeben, so sind auch Geschichten wertlos, die niemand hören oder lesen will, die niemanden ansprechen und die nicht unter die Haut gehen, die nicht die Kraft haben, Verbündete zu finden. Geschichten sind ja etwas Lebendiges. Ich erzähle sie so, wie sie in mir wohnen. Doch diejenigen, die davon in irgendeiner Weise betroffen werden, nehmen sie ja wieder in ihr Innerstes auf und dort verändern sie sich, passen sich den neuen Wohnverhältnissen an und entwickeln ein Eigenleben.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 14078

Best Control

Sie trank ihr Glas Milch in einem Zug. Ein Genuss, den nur wenige nachvollziehen konnten, aber was wussten die schon?
Wenn sich diese milchig-schleimige Schicht innen in ihrem Hals anschmiegte, ölig fast, das war es, was sie nach so einem Job dringend brauchte.
Heute war es besonders schlimm gewesen: nächtens auf den Knien herumzukriechen, mit gekrümmtem Rücken, das Gesicht nahe dem Boden nach etwas suchend, von dem sie nicht wusste, wie es aussah, nur allzu oft dem Schmutz und dem Staub dort beinahe schutzlos ausgeliefert.
Die äußerliche Reinigung war ja schnell erledigt, duschen, umziehen, fertig.
Aber innen drin in ihrer Kehle schien es, als habe sich all der Unrat der Orte festgesetzt, an denen sie zu tun hatte.
Und es waren selten die schönen Seiten des Lebens, die sich ihr dort präsentierten.
Heruntergekommenes, der unterste Rand unserer Gesellschaft, so schien es ihr, sehr hart im Urteil, denn sehr oft waren es ganz normale Häuser, die sie aufsuchen musste, mit belanglosen Menschen, die dort wohnten, arbeiteten, schliefen, ja, sogar aßen. Kaum vorstellbar, nach all ihren Entdeckungen dort, aber ihre Maßstäbe an Hygiene waren wohl kaum die üblichen, wie man so sagt.
Das hätte sie sich auch nicht träumen lassen, eine akademische Ausbildung, dann eine Umschulung, und nun musste sie sich, ohne Aufsehen zu erregen (besser, die Nachbarschaft bekam nichts mit, was heißt, besser; unumgänglich, wenn sie länger in diesem Job bestehen wollte, das wurde ihr von Beginn an eingetrichtert …) meist mitten in der Nacht oder zumindest nach Einbruch der Dämmerung zu ihr unbekannten Behausungen kutschieren lassen, in einem unauffälligen Wagen, versteht sich.
Keine Zeit verschwenden, systematisch vorgehen, analytisch denken, auch wenn ihr noch so graute vor dem, was sie fand, jeden Vorgang auch bildlich dokumentieren, bereits Notizen verfassen, diese später ausformulieren, das reichte aber am nächsten Tag.
Wenige waren so gut wie sie, so war sie ausgebucht bis zu ihrem Urlaub. Den verbrachte sie ausschließlich bei ihr zu Hause. Da war alles schön, an seinem Platz, wenig zu befürchten.
So wie jetzt. Alles in Ordnung. Morgen würde sie die Bilder sortieren müssen, sich grausen, stundenlang nichts essen können, vielleicht in einer Arbeitspause Milch kaufen gehen, sie hatte einmal gelesen, dass Milch sehr reinigend wirken soll.

Hatte ihr diese Arbeit jemals wirklich Spaß gemacht? Sie wusste es nicht mehr. Eigentlich war sie prädestiniert dafür, mit ihrem Blick für die noch so kleinsten schmutzigen Details, die nachlässig verwischten Spuren, keine Ahnung hatten sie, die Menschen. Nicht davon, wie man Sachen ordentlich abwischt, wie man Verräterisches endgültig zum Verschwinden bringt, nicht, wie selbst mit freiem Auge sichtbar ganze Geschichten offen da liegen, von Vernachlässigung, von grobem Verschulden, ja, von vorsätzlichem Verbergen, von strafbarem Verhalten. Und dafür war sie zuständig, unbestechlich in ihrem Blick.

Der junge Kollege, der sie zum Essen hatte einladen wollen, wusste nicht, worauf er sich da eingelassen hatte. Ein Flirt, der ihn weiterbringen sollte in seinem Werdegang, könnte nicht schaden, hatte er wohl gedacht. Sie galt als das Mastermind im gesamten Team, und darüber hinaus; und sie war sich dessen bewusst. Aber ein Essen in einem Restaurant, da war sie mal gespannt. Die Auswahl wollte sie sich schon ansehen, denn dass er ihr mehrere Lokalitäten zur Begutachtung anbot, verstand sich wohl von selbst.
Wie erstaunt war sie, als er sich erbot, für sie zu kochen, bei ihm zu Hause. Leichte Panik ergriff sie. Damit hatte sie nun nicht gerechnet. Aber manchmal gibt es selbst bei kontrolliertesten Menschen einen Moment, in dem sie unvorsichtig, ja übermütig werden, und so sagte sie ihm für den nächsten Samstagabend zu. Der Kollege wusste sich vor Freude kaum zu fassen. Sie sah sich gezwungen, ihm aufzuerlegen, dass im Kollegenkreis niemand Wind von ihrem bevorstehenden privaten Treffen bekommen sollte.

Warum diese Aufregung, wozu das Treffen, und wann hatte sie zum letzten Mal etwas gegessen, das nicht sie selbst zubereitet hatte? Das konnte böse enden.
Sie hatte wohl zu lange ihre Freizeit in dieser eigenen, wenn auch großzügigen Wohnung verbracht, sich alle auswärtigen Vergnügungen versagt, und so hatte sie vielleicht einen Lagerkoller oder ähnliches, der sie zu solch gewagtem Tun verleitete.
Außerdem war der Mann immerhin ein ambitionierter Kollege, sie nahm also an, dass vom hygienischen Standpunkt aus alles in Ordnung sein müsste, zumindest eher als beim Rest der arglosen Bevölkerung. Sie wollte sich also überraschen lassen, ganz entgegen ihrer vorsichtigen Natur.

Die Begegnung warf ihre Schatten voraus. Bereits am Donnerstag traf sie den Hoffnungsvollen, als er seine Unterlagen für den nächsten Auftrag im Büro abholte.
Er lächelte sie verschwörerisch an, während sie ihre Dokumentation des letzten Einsatzes der Sekretärin übergab. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Worauf hatte sie sich da bloß eingelassen?
Um Gerüchten keinen Vorschub zu leisten, drehte sie sich abrupt um und verließ das Büro hastig und grußlos.

Der Kollege rief sie am Freitag an, fast flehentlich, um sie zu fragen, ob ihr Treffen aufrecht sei, was sie bejahte. Die Neugierde überwog doch, ein Einblick in seine Wohnung würde ihr viel über seine Person verraten, aus der sie nicht recht schlau wurde. Zur Abwechslung war diese Wissbegier diesmal kein „Fall“, der erledigt gehörte, sondern eine Privatsache.
Sie machte sich am Samstagabend auf den Weg, der Freitag war unerfreulich-unappetitlich zu Ende gegangen, und sie hatte dessen Dokumentation tagsüber erledigt. So war sie froh, diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen, nun Abwechslung zu  haben, Aufregung sogar, und was für eine!

Der Mann war korrekt gekleidet, wie immer. Das sah sie gleich, als er die Tür öffnete, sofort nach ihrem Klingeln, als hätte er die ganze Zeit über auf sie wartend dahinter gestanden. Ein vielversprechender Beginn also.
Er begrüßte sie förmlich, mit entgegengestrecktem rechtem Arm allerdings, das hätte es nun wirklich nicht gebraucht. Als er sie bat, einzutreten und voranzugehen, bewunderte sie den blitzblanken Flur, die gekonnt auf Hochglanz polierte Garderobe und die in Reih und Glied aufgestellten Schuhe. Sie fühlte sich auf Anhieb wohl. Als sie ins Esszimmer trat, stockte ihr der Atem. Ein Luster über einer geschmackvoll gedeckten Tafel verströmte warmes Licht, das eine fast unwirkliche Szene beleuchtete.
Auf dem Tisch schmiegten sich Pipetten an Reagenzgläser, lockte glänzendes Stahlbesteck neben Messinstrumenten jeglicher vorstellbarer Art, lagen dezent Kabel, wo welche für elektronische Vorrichtungen benötigt wurden, in schöner, abgestimmter Ausrichtung, insgesamt ein Bild herrlicher Ordnung, Kontrolle und Messbarkeit. Sie spürte die Lust, zu erforschen, allem auf den Grund zu gehen, was es zu wissen gab. Er strahlte sie an. Ihrem Gesichtsausdruck sah er an, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Ich wusste, Sie würden nichts essen, was Sie nicht genau kennen. Darum darf ich Sie ganz herzlich zur gemeinsamen Analyse einladen. Es freut mich so, dass Sie hier sind, das kann ich Ihnen gar nicht sagen. Freude ist gar kein Ausdruck dafür. Sie sind meine Muse …“
Nur mühsam gelang es ihr, nachdem sie das erste Erstaunen überwunden hatte, ihn zu unterbrechen, mit einem begierigen „Fangen wir an, Herr Kollege! Was wollen Sie uns als erstes auftragen?“
„Wir beginnen mit Paradeiscremesuppe, Sie wissen, worauf das hinausläuft?“ meinte er noch mit einem ausgelassenen Zwinkern, das sie so von ihm nicht kannte.
„Keine Ahnung“, meinte sie unschuldig. „Aber wenn es etwas zu finden gibt, lieber Kollege, so verlassen Sie sich darauf, wird es heute Abend entdeckt.“

Carmen Rosina

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Maggie, die Heizkörperfrau

Schau, da drüben steht sie, die Heizkörperfrau. Weißt du, warum ich sie so nenne? Weil sie genau so ist, wenn sie aufgedreht ist: außen heiß. So schrill, bunt geschminkt, hat einen roten Minirock an, zieht sich an, als ob sie schöne Beine hätte.
Das innen drin will keiner sehen. Die Maggie ist innen drin farblos, uninteressant, so was von öd. Ein Gespräch mit ihr über etwas anderes als Kleidung, Schminke, Schmuck und wie das alles zusammenpasst, wirst du kaum führen können. Sie kennt nichts und niemanden, und ihr Musikgeschmack ist zum Grausen.

Drum wundert es mich ja, dass sie hier ist, die Maggie. Bei diesem Konzert hätte ich sie nie und nimmer erwartet. Jetzt versaut sie mir das auch noch. Drei Jahre meines Lebens und das Konzert, auf das ich mich seit Wochen freue. Lehnt da drüben, bekommt nichts mit, kennt kein einziges Lied von denen und kratzt sich aufreizend am Hintern. Na ja, der ist ja ganz ok, aber sonst? Nichts Besonderes.
Weißt du, das habe ich mir nicht verdient. Hab sie immer zum Urlaub eingeladen, ihr dort Klamotten gekauft, fast alles, was sie haben wollte. Hab versucht, mich vor meinen hochklassigen Freunden nicht allzu sehr zu schämen. Obwohl die schnell gecheckt haben, dass im Oberstübchen der Dame nicht allzu viel los ist. Da habe ich mir einiges anhören müssen, von wegen Gegensätze ziehen sich an  und so. Und ich war eine gute Partie für sie: Einen Magister an Land zu ziehen, das ist ja wohl das erklärte Ziel von Frauen wie Maggie.

Na ja, und als mir die patente Kollegin vom Projektmanagement angeboten hat, gemeinsam abends ein bisschen länger zu arbeiten als die anderen, hat Maggie sich aufgeführt, als ob ich ihr weiß Gott was angetan hätte, nur weil ich ihren Geburtstag vergessen hatte. Kein Wunder, dass mir da die Kollegin von da an besser gefallen hat als die keifende Maggie daheim. Und dass ich der Dame vom Projektmanagement dann mein Leid geklagt habe, der ging es auch gerade nicht so gut mit ihrem Mann, so ein eifersüchtiger Kasperl ist das. Und dass eins zum anderen führt, nun ja, das kann nach drei Jahren schon einmal passieren. Dabei kann die Maggie froh sein, dass ich es ihr erzählt habe. Ich hätte auch alles abstreiten können, geistig kann sie da nicht mithalten, keine Chance.

Aber was macht sie? Zuckt völlig aus, schreit von drei vergeudeten Jahren mit einem egoistischen Schnösel, und dass sie was Besseres verdient hätte. Was Besseres, hallo? Schau dich in den Spiegel, Maggie, du hast noch ein paar gute Jahre, dann ist das Spiel vorbei. Dann kannst du froh sein, wenn du noch jemanden findest. Einen wie mich sowieso nicht mehr.
Für mich ist dieser Heizkörper abgedreht, kalt, eiskalt. Die Frau kann mich nicht mehr aufregen. Und weißt du, was das Schönste ist? Sie wird auch einmal herüberschauen, mich sehen in meinem superscharfen neuen Outfit, und sich leid sehen. Geschieht ihr recht! Die Sachen packen, einfach von einem Tag auf den anderen ausziehen, nicht einmal die Küche hat sie mehr geputzt. Obwohl sie kocht, als ob es kein Morgen gäbe. Da schaut es aus nachher! Aber das Essen war immer gut. Das muss man ihr lassen.

Ah, der Herr Doktor ist auch da, schau an! Das hätte ich gar nicht gedacht, in so gehobener Position, und dann bei einem so coolen Konzert, den hätte ich eher in die Philharmonie gegeben, geistig. Und es scheint ihm zu gefallen, schau, wie er lacht und sich freut. Das ist gut, das habe ich im letzten Manager-Seminar gelernt, Gemeinsamkeiten ansprechen. Das mache ich gleich am Montag, vom Konzert erzählen. Vielleicht ist dann endlich die Gehaltserhöhung drinnen, auf die ich schon so lange warte.

Und was macht die Maggie? Siehst du sie? Ich sehe sie gerade nicht. Ah, weil der Doktor die Sicht verstellt. Und was ist jetzt, kannst du mehr sehen als ich? Was??? Er hat die Hand auf ihrem Arsch??? Das glaube ich nicht!
Unglaublich. Ich bin sprachlos. Jetzt halten sie auch noch Händchen. Also ich hätte das nie gemacht, in der Öffentlichkeit, mit dieser letztklassigen Tussi. Dem ist auch nichts zu blöd. Der muss ja einen ordentlichen Notstand haben. Und jetzt küsst er sie auch noch, ich glaube, ich spinne!

Na gut, näher betrachtet schaut die Maggie doch ganz gut aus. Besonders wenn sie so strahlt wie jetzt. Die ist gut drauf, die Maggie! Und wenn ein so hochklassiger Typ wie der Doktor auf sie abfährt, muss sie doch ihre Qualitäten haben. Der ist ja nicht blöd, könnte ja jede haben, bei dem Gehalt, na sicher. Aber er scheint ein bisschen heikel zu sein. Die toughe Kollegin vom Projektmanagement hat sich da die Zähne ausgebissen bei dem Doktor, davon redet die ganze Abteilung.

Also die Maggie, die hat schon ihre Vorzüge. Und so rein haptisch gibt sie schon was her. Weißt eh, angreifen tut man sie halt gerne, weil sie so eine knackige Karosserie hat. Da versteh ich ihn schon, den Doktor, ist ja auch nur ein Mann. Und gescheit reden, na ja, das ist vielleicht überbewertet, dafür kann man ja auch jemand anderen finden.
Also Heizkörperfrau, das trifft es wirklich genau. Very hot, die Maggie!

Soll ich rüber gehen, was meinst du? Gemeinsamkeiten ansprechen könnte ich ja jetzt, hahaha! „Wissen Sie, Herr Doktor, ich hatte auch schon das Vergnügen mit Ihrer Herzensdame“, könnte ich sagen. Dann sieht er gleich, dass ich auch was drauf habe, so ein Touch Abenteurer, das kommt immer gut, haben sie im Seminar gesagt. Und ich hab ja immer einen guten Spruch auf den Lippen. Aber ich glaube, ich bin heute besser nicht zu aufdringlich, die Führungsetage schätzt das nicht so besonders, in der Freizeit.
Und der Doktor ist da so wie alle Alpha-Männchen, ganz bestimmt. Ich kann mich noch gut an die Sache in der Sauna erinnern, als er zu mir sagte: „Manche Fehler macht man nur einmal, Herr Magister. Haben wir uns verstanden?“
Natürlich habe ich das verstanden, ich bin ja ein cleverer Bursche. Ich kann mich ja gut kontrollieren. Am Montag reicht es auch noch.

Geile Musik, findest du nicht?

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 14060

 

 

 

Irgendwie jedenfalls

Willkommen, der Herr!
Ich hoff’, du findest, was wir alle nur suchen.

Paul sah seinem Liptauerbrot in den Brillengläsern seiner Oma beim Zerkautwerden zu. Er mochte das, wie es ihr davor grauste, wie sich ihr Gesicht dabei beim Wegdrehen die ganzen Falten auszog. Gut fühlte sich das an in den Zehenspitzen, das ganze, und Pauls Füße tanzten dazu unterm Tisch einen Tanz ohne Eins-und-zwei-und-eins-und-zwei, und er lachte mit den Augen. Da drüber, wie seiner Oma die lilanen Haare vor dem zergatschten Liptauerbrotbrot auf seiner Zunge bis nach hinter die Ohren flohen, drüber, wie sich ihre Lippen spitzten zu einem stummen Wäh. Und überhaupt. Wie ihr die Runzeln dann sofort danach gleich wieder von hinter den Ohren zurück um die Nase schnalzten, das war schon einfach lustig zum Anschau’n. Da wackelte davon der Oma ja der ganze Kopf hin und her wie ein Flummi, der zwischen zwei Wänden nicht auskann.
„Mit offenem Mund isst man nicht!“
Es war einfach nur lustig zum Anschau’n.
Und ja.
Und warum da dann niemand mit offenem Mund essen wollte, wenn die Oma dabei so lustig zum Anschau’n war, da konnte sich Paul nur noch wundern. Wahrscheinlich, dachte er, weil die alle schon zu alt waren oder sowas. Zu alt vielleicht schon, um sich noch zu erinnern dran, wie lustig ihre eigene Oma wegen so was Harmlosem wie einem zergatschten Liptauerbrot nur herumtun hat können.
Naja.
Seine Oma war ja auch leider nicht immer dabei beim Heurigen.
Nicht so wie jetzt, wo sie die Zwiebel mit ihren dünnen langen Fingern von ihrem Grammelschmalzbrot runter klaubte, und dann die runter geklaubten Zwiebel dem Opa auf seins oben drauf klatschte, was auch nicht ganz ungrauslich war eigentlich.
Aber ja.

Und Paul hatte ja auch nicht nur gern den Mund offen beim Kauen, er schielte ja auch gern, halt nicht mit so viel Erwachsenen rundherum.  Schielen, das tat er dann nur daheim, halt allein in seinem Zimmer, tief und fest, und so weit es nur ging. Ja, so weit schielte Paul da, dass er sich so oft schon so sicher gewesen war, die Augen wären ihm jetzt sicher schon stecken geblieben, und wie er sich schon darauf freute. Wie lustig das dann ausschau’n würde, so, am Klassenfoto, und keiner hätte ihm dann mehr sagen können, er soll g’fälligst jetzt wieder normal schau’n jetzt, so wie die Frau Lehrerin letztes Jahr. Nein, das passierte ihm nicht noch einmal, aber sicher nicht. Wie blöd er dann erst drein geschaut hat, wie er vor lauter Konzentrieren aufs Normalschauen dann kurz vorm Blitzlicht erst drauf gekommen war, dass er gar nicht wirklich wusste, wie Normalschauen geht überhaupt.
Ganz blöd hatte Paul da drein geschaut deshalb.
Und nie wieder.
Und da schielte Paul ja lieber, für immer und ewig von ihm aus, da kannte er sich dann wenigstens aus wenigstens.
Aber ja.
Seine Augen, die wollten und wollten ihm beim Schielen aber eh nicht und nicht stecken bleiben. Und das, obwohl ihm der Kopf schon manchmal ordentlich weh getan hat vom Schielen dauernd. Aber trotzdem. Egal, wie lang und wie fest und wie ernst er auch seine Nase von beiden Seiten gleichzeitig angeschaut hatte ausführlichst, sobald er dann damit aufhörte, waren seine Augen sofort wieder zurück gehüpft in die Mitte. In die Mitte zurück gehüpft waren die schon, bevor er im Spiegel überhaupt erst wieder irgendwas scharf sehen hat können irgendwie, wie verhext.
Aber ja.
Naja.
Mit dem Spiegel war das ja auch so eine Sache.
Seine Mamma, die sich da grad an ihrem Kümmelbraten verkutzte, die hatte ja behauptet, wenn er zu lang da rein schaut, dann würde der Teufel irgendwann da drin auftauchen, und ihm dann bös’ entgegen schau’n. Mit seinen Hörnern und mit seinem einen Huf, und dem Schwanz auch, aber wie lang wollte der Teufel sich eigentlich dafür genau Zeit lassen genau? So lang wie ein Jahr, oder was? Weil einmal war Paul ja schon fast den halberten Tag vorm Alibert im Badezimmer auf dem rosa Plastikschemel gestanden und hatte auf den Teufel in den zwei Spiegeltüren gewartet, aber er wollte und wollte nicht rauskommen aus seinem Versteck. Paul hatte da ja so einige Fragen. Zum Beispiel, wie er das ganze Jahr lang brav sein sollte, wenn seine Mamma ihm immer das Allerlustigste verbot dauernd. Und er zum Bravsein sich ja da dran halten musste, oder? Oder wie die Belohnung für das ganze nur drei kleine Schoko-Nikolos sein konnten und sonst lauter Mandarinen und Erdnüsse? Oder warum er die alle diesmal auch bekommen hat, obwohl er gar nicht brav gewesen ist das ganze Jahr?
Wie konnte das sein, bitte?
Da stimmte doch etwas nicht.
Und Paul hatte dann ja auch schon angefangen, nach dem Teufel zum Suchen vor lauter Warten. Nach fast dem halberten Tag Reinschau’n dann, im Allibert drinnen, zwischen den ganzen Zahnpastas und Dings und Sprühdingern, aber selbst ein noch so klitzekleines Irgendwas zum Reinkommen in die Spiegel war nirgenst zu finden da hinten. Aber der Teufel, der musste doch aber dort irgendwie rein kommen dort, und später wieder raus dann, nur war da nichts in den zwei Spiegeln drin, das Paul auch nur irgendwie groß genug vorgekommen wäre, damit der Teufel da durchpasste irgendwie. Und der konnte ja auch nicht im Spiegel bleiben, für immer, der Teufel, weil wenn der Nikolo dann wieder kommt im Dezember, da musste der ja mit seiner Rute hinter dem Nikolo dann vor der Haustür steh’n. Wie sollte das dann bitte gehen bitte, wenn der auf ewig im Spiegel da feststeckt und nicht rauskommt, wenn’s dann draußen klingelt an der Tür?
Wie bitte?
Aber ja.
Paul verstand das nicht.
Er verstand auch nicht, warum sein Papa fragte, „Wos is’ da jetz’ mit da Kellnarin?“, weil die eh da drüben war und grad jemand anders bediente.
Naja.

Paul schluckte aber auch gern Kaugummis.
Ja, und seinen Magen verkleben, das wäre doch schon einmal was gewesen, oder? Da würden dann alle schau’n, wenn er mit dem Kaugummi dann Blasen machen könnte, noch mit was anderem als mit dem Mund. Also so stellte Paul sich das halt vor so beim Kaugummischlucken. So in die Hocke gehen und die Hose runter und dann, dann hätte das ja auch was Gutes gehabt dann. Da hätte es dann ja nicht nur mehr gestunken vielleicht, wenn wieder mal hinten was raus muss. Da würde dann allen auch der Bauch vielleicht wehtun vor lauter Lachen, wenn Paul da eine Kaugummiblase von hinten dann raus kommt. Und wenn einem der Bauch wehtut vor lauter Lachen, ja, das war ja dann auch das einzige Wehtun, das sich irgendwie auszahlt, oder?, nur Pauls Magen verklebte und verklebte sich nicht. Nicht bei einem, nicht bei zwei, und auch nicht bei allen Kaugummis da in der Stange drin, und Paul begann dann schon dran zu zweifeln ein bissi, ob das geht überhaupt mit dem Magenverkleben. Wie viel Kaugummis sollte er denn da jetzt noch schlucken dafür genau? Wie viele? Einer sollte doch reichen und schwupps wär’ sein Magen verklebt, hat sein Papa gesagt zumindest mit dem Zeigefinger oben, aber jetzt?
Irgendwas musste Pauls Bauch da wohl nicht richtig verstanden haben irgendwie.
Und nicht nur das mit dem Kaugummischlucken.

Auch das mit den Kirschkernen.
Wenn er die nämlich einfach so schlucken würde anstatt ausspucken, da würde dann ein Kirschbaum aus ihm rauswachsen, hat sein Opa erzählt, und Paul hatte es ja kaum noch erwarten können. Ein Kirschbaum, so aus ihm raus, das wäre ja praktisch gewesen. Da hätte er ja dann ganz umsonst ganz viele Kirschen gehabt, und mit all seinen Freunden dann teilen können. Und Paul hat dann gewartet und gewartet, und jeden Tag in der Früh im Nabel drin nach den Ästen gesucht, aber aus dem Kern in seinem Bauch wollte irgendwie kein Baum werden. Wie konnte das sein überhaupt? In Sachgeschichte hatte Paul ja grad erst lernen müssen, dass so ein Baum aus den Kernen kommt, aber vielleicht war es in seinem Bauch drin ja auch zu gemütlich und zu warm zum Rauskommen. Vielleicht wollte der Baum ja eben nur deshalb nicht aus ihm raus, so wie er normal selbst nicht von unter der Decke raus wollte, wenn seine Mamma ihn aufweckte in der Früh und es war schon wieder Mathematikschularbeit gleich in der ersten Stunde. Aber bei den Kirschkernen, da war für die da ja aber gar kein Grund zum Rechnen, die hätten ja dann auch als Baum niemals zu drei vier dazuzählen können müssen. Die hätten sich ja keine Sorgen machen müssen, dass dann beim Zurückbekommen dann wieder alles ganz rot durchgestrichen daher kommt, die hätten ja nur Kirschen machen müssen, und die hat ja eh jeder gern.
Paul kratzte sich am Kopf.
Naja.
„Ein Acht’l noch!“, sagte sein Papa.
„Für mich auch“, seine Mamma.
„Und für mich“, der Opa.
„Also drei insgesamt?“
Und von der Oma ein „Ja“.
Aber ja.
Vielleicht machte Paul ja auch einfach nur irgendwas falsch.

Wie, wenn er seine Füße nicht g’scheit hob beim Spazierengeh’n. Noch nie war er dabei gestolpert über den Randstein, und noch nie war Paul dabei unabsichtlich plötzlich im Donaukanal, weil er das Ende vom Kai übersehen hatte vom Indieluftschau’n. Paul war ja auch nicht blöd. Er wusste ja immer, dass da links oder rechts dann das Wasser kam, und er konnte ja auch gleichzeitig in die Luft schau’n und gleichzeitig noch wissen, wo er gerade war. Und außerdem: Was wenn da ein Vogel plötzlich da über ihn drüber geflogen wäre und er das nicht mitbekommt? Oder eine Wolke, die nach irgendwas ausschaut? Oder sonst was Wichtiges? Der Beton vom Gehsteig, der war ja eh immer gleich, den kannte Paul ja schon auswendig. Und, ja, und zweitens war ja dann da auch so ein Gefühl immer. So eins, das Paul bis jetzt immer gleich dann verraten hatte, wenn irgendwas komisch war. Wenn er den nächsten Schritt lieber nicht macht, bevor er nicht vorher schaut, ob da überhaupt noch ein Boden war vor ihm da vorn, ob da schon nur noch Luft war, oder nicht.
Also eigentlich ganz einfach alles.
Noch nie war Paul was Schlimmes passiert beim Spazierengeh’n.
Noch nie.

Und auch wenn Paul mit der Schere daheim durch die Wohnung rannte, hatte er sich da noch nie damit aufgespießt, so wie seine Mamma ihm das dann immer gleich nachbrüllte. Noch nicht einmal nur ein bissi geschnitten irgendwo hatte Paul sich dabei, kein einziges Pflaster hatte überhaupt je einmal erst aus der Verpackung kommen müssen wegen dem Herumrennen mit der Schere. Paul rannte ja auch nicht einfach nur mit der Schere herum, weil ihm grad so fad war. Er musste da ja immer schnell irgendwo hin und irgendwas aus- oder abschneiden, und Paul rannte ja nicht wie ein Irrer. Er rannte ja nur so schnell, dass er noch stehen bleiben konnte, falls da ein Hindernis war auf einmal in der Kurve nach der Küche, und selbst wenn. Selbst wenn er über irgendein plötzliches Chaos da drüber geflogen wäre plötzlich, er rannte ja so und so immer mit der Schere nach unten in der Faust. So, dass die Spitze, die ihn ja aufspießen hätte können sollen, einen Polster aus Fingern drumherum hatte, also wenn er sich da so damit aufspießte, dann war da sowieso kein Weg dran vorbei wahrscheinlich. Da hätte er auch in Zeitlupe die Schere irgendwo drin stecken gehabt, und da war ja das Rennen dann ja gar nicht der Grund dann fürs Aufspießen am Schluss.
Daweil aber noch kein Blut und gar nichts.
Naja.
Die Kellnerin machte drei Stricherl dazu auf den Zett’l und steckte ihn zurück in sein Glas und dann „Prost!“.
Aber ja.

Und dasselbe in grün mit dem Nasebohren. Geheißen hatte es ja, dass Paul die Nasenlöcher davon ausleiern würden, ganz groß würden die werden, und er dann auch hässlich. Und Paul hatte gebohrt und gebohrt und gebohrt, aber nichts, trotzdem passte da noch nicht einmal der Mittelfinger noch rein in die Nasenlöcher, egal, wie sehr er ihn auch reindrückte von unten. Und das große Ziel war ja der Daumen eigentlich. Der, der ja noch um einiges größer war als der Mittelfinger, und, weil mit dem Daumen in der Nase bohren, das hatte Paul sich ja auch schon ganz lustig vorgestellt. Vor allem jetzt zum Beispiel, wieder was Neues zum Grausen für die Oma, nur war da noch immer nicht Platz genug in seiner Nase drin, und das wurmte ihn. War da was falsch mit seiner Nase?, so dachte er, und ob da ein Arzt besser reinschaut? Vielleicht war da ja schon was drin in seiner Nase, was, das Paul sich beim Nasebohren langsam immer noch weiter nach oben bohrte, und irgendwann rein in den Kopf von ihm. Vielleicht. Vielleicht ja der eine kleine Lego-Stein von der Ritterburg, den er nirgenst mehr finden konnte. Vielleicht hat sich der ja da in der Nase versteckt in der Nacht irgendwann, und ja, aber im Kopf konnte Paul den ja ganz sicher nicht brauchen, oder? Der war ja für ganz oben, oben am linken Turm von der Ritterburg, und sein Kopf war ja nur fürs Gehirn gedacht. Und wer wusste denn, was da was anderes als ein Gehirn alles anstellen konnte, so in seinem Kopf drinnen, wusste das wer überhaupt?
Wusste das wer?
Wahrscheinlich nur Leute mit Lego-Steinen im Kopf oder sowas.
Naja.
„Und ja. Also ja, und heutzutage. Aber wirklich!“
Sein Opa nickte seinem Rotwein zu, als würde da wer drin ertrinken irgendwo und er wünscht ihm dabei viel Glück.
Aber ja.

Aber Paul schaute ja auch genau so ähnlich, wenn er sich seine Augen eckig machen wollte endlich. Aber die Augen schon wieder. Die, die ihm zuerst beim Schielen nicht und nicht stecken bleiben wollten, und eckig wollten sie auch nicht werden anscheinend. Wie als hätten seine Augen irgendwas gegen alles, wie als würde er sie nicht gut genug füttern oder so. Weil ganz nah, wirklich knapp, fast mit der Nasenspitze ist Paul ja schon angestoßen am Glas vorn am Fernseher, aber egal, wie lang er auch zu nah am Fernseher nichts mehr vom Fernseh’n gesehen hatte, seine Augen, die waren immer noch rund. Ganz rund, und nur in den Ecken spitz, aber die spitzen Ecken waren ja auch vorher schon da immer und da war ja dann nichts allzu viel neu dann an dem. Aber die anderen Ecken. Die anderen Ecken, die wollten und wollten nicht und nicht raus kommen von irgendwo anders aus seinen Augen, auch nach vier Folgen Bravestarr nicht. Dabei wären eckige Augen doch ein bissi einmal was anderes gewesen einmal, aber eh trotzdem immer noch Augen. Und was war denn da überhaupt so schlimm dran eigentlich an so eckigen Augen? Weil rund oder eckig, das war ja nur, wie Sachen nur ausschau’n, und das war ja egal dann, wenn sonst alles gleich war, oder? Über eckige Eier, da würde sich ja auch keiner beschweren kommen, dachte Paul sich mit einem sprudelnden Soletti im Almdudler, und dann ist Schluss endlich mit dem ewigen Davonrollen wegen dem Rundsein. Und, ja, und dann entkommt auch seiner Mamma nie mehr ein Ei vom Schneidbrett und platsch. Weil so ein rohes Ei da zwischen den Fliesen zum Rausbekommen, das war ja auch nichts, was irgendwer gern macht, und sowieso:
Was war da jetzt so schlecht an so eckigen Augen?
Können die sich dann eckig nicht mehr dreh’n, oder was?
Oder gehen die dann nicht mehr so schön zu dann?
Oder nicht mehr so leicht?
Naja.
„Was isn mit da Kellnarin scho wieda?“
Aber ja.

Paul kam da einfach nicht dahinter, wo da genau das Problem sein sollte, aber das war er ja schon gewohnt langsam. Nichts wollte so einfach gehn, wie die ganzen Erwachsenen das dauernd so sagten ganz einfach, und auch das Wetter gehorchte Paul nicht. Und drei Tage, drei ganze lange Tage hintereinander hatte er ja extra deswegen absichtlich beim Essen immer zumindest ein bissi was stehen lassen. Und bei den Erbsen am Montag, da war ja das noch wie bei den Fliegen und dem tapferen Schneiderlein, aber beim Schnitzel gestern, wie er da die drei Pommes, also, und nur damit es morgen dann endlich endlich regnet, und Paul mit seinen neuen Gummistiefeln dann endlich endlich in die erste Lacke reinhüpfen kann. Weil seit über eine Woche sind die ja jetzt schon leer im Vorzimmer herum gestanden und haben sich fadisiert. Die Gummistiefel, schön gelb, und mit Marienkäfern drauf, und noch nie hatte Paul die anziehen dürfen, weil, wie zufleiß, war es seit dem ja schöner als schön gewesen. Und wieder nur Sonne wieder. Und, ehrlich gesagt, hatte Paul sich da schon ein bissi mehr erwartet von seinem Pommes-Opfer da gestern. Weil es war ja fast, dachte er, als gäb’ es da jemand irgendwo, der da dauernd extra-extra-genau seinen Teller abschleckt, weil der vielleicht neue Sandalen bekommen hat, und keine Gummistiefel. Und Sandalen konnte man sich ja nicht anziehen, wenn es Lacken gab draußen, aber irgendwann musste Paul doch auch irgendwann dran sein, oder? Sonst wär’ das ja alles unfair alles, und wie viele Leute konnten sich überhaupt da dauernd neue Sandalen kaufen im Herbst? Oder kurze Hosen. Oder vielleicht gab es da aber ja auch so Regeln dafür, also so, wie er die Erbsen mit der Gabel von sich wegschieben hätte müssen, damit das Stehenlassen fürs Wetter erst gilt vielleicht. Aber wo war dann genau, wo dann drin stand, wie das alles jetzt geht genau? Und warum hatten seine Eltern dann so viel Angst vor dem, dass es morgen schirch wird, wenn Paul von seinem Essen was überlasst, wenn er eh gar nicht wusste, wie man das richtig macht.
Aber ja.
So war das halt.
Nichts wird einem g’scheit erklärt richtig, und seine Oma zeigte auf und rief, „Zahlen bitte!“, obwohl es schon so ausgeschaut hatte, als hätten alle andren viel lieber noch was bestellen wollen.
Naja.

Paul hatte ja auch noch nie herausgefunden, wer da grad an ihn dachte, wenn er grad wieder Schluckauf hat. Und das war gar nicht so schön manchmal. Und er hat ja immer seine große Schwester meistens gleich in Verdacht gehabt, überhaupt, wenn das Schluckauf dann überhaupt nicht mehr weggehen wollte, und sie ihn deswegen auslachte mit ihrer Zahnspange. Da konnte er dann noch so viel die Luft anhalten, und kaum dachte Paul sich, es wäre vorbei endlich, fing alles nur wieder von vorne an. Und das war dann sowas, das irgendwie komisch war. Weil es war ja dann auch so, dass das Schluckauf ja dann das Einzige war, woran Paul überhaupt noch denken konnte, also dass es aufhört endlich. Aber wenn er jetzt an das Schluckauf dachte, bekam ja das Schluckauf dann auch davon Schluckauf, oder nicht? Vielleicht hatte seine Schwester ja schon längst wieder aufgehört, da komisch an ihn zu denken, und sein Schluckauf borgte sich nur seinen Körper aus. Ja, weil ja das Schluckauf ja selbst keinen Körper hat so wirklich, aber Schluckauf haben musste, weil Paul selbst ja wieder nur an sein Schluckauf dachte beim nächsten Versuch mit dem Luftanhalten.
Ihm war das aber alles ja schon viel zu kompliziert schon.
Er hätte das ja auch viel lieber gehabt, wenn das Schluckauf halt einfach da war manchmal, und es niemand geben hätte müssen, der da schuld dran war, nur weil er an irgendwas dachte.
Naja.
Aber ja.
So ging das halt nicht.

Genauso wenig, wie es nicht ging, dass Paul ins Bett machte. Ja, gut, absichtlich wär’ das schon locker gegangen irgendwie, aber ins Bett macht ja niemand einfach so nur zum Spaß, oder? Da wird ja dann alles kalt am Bauch und so unten herum, und wenn seine Mamma dann das Bett abziehen kommen muss mitten in der Nacht dann, da war dann ja sowieso alles, also. Da konnte sich Paul ja noch gut dran erinnern, wie das war damals mit den Blicken und allem, aber jetzt war er ja schon größer als früher, und trotzdem: In die Kerze reinschau’n durfte er immer noch nicht. Weil er dann ja ins Bett machen würde, von seinem Papa aus, was aber nie passierte. Alles trocken beim Aufstehen, da konnte er noch so lang reinschau’n in die Kerze beim Heurigen jetzt, während drum herum sich niemand vom anderen einladen lassen wollte.
„Nein, kommt ja überhaupt nicht in Frage! Komm, Ewald! Wir zahlen!“
„Kommt ja gar nicht in Frage! Da Opa und ich zahlen, und Ende der Diskussion!“
Naja.
Paul trank mit seinem Strohhalm daweil noch den lautesten Rest aus von seinem Almdudler, weil er ja wusste, dass seine Mamma dann nur wieder so tun würde.
„Auf dreihundert!“
Mit Trinkgeld und allem.
Und Paul saß da auf der Heurigenbank und schaukelte mit den Füßen. Hin und her und hin und her, während der Opa der Kellnerin das Geld hinhielt, und seine Mamma dann dasselbe Geld dem Opa dann heimlich in die Jackentasche steckte wie jedes Mal.
Aber ja.

Und er hatte da auch so eine Idee, wie ihm die Luft da so schnell an den Knöcheln vorbei kam.
Weil eines war da ja noch.
Ein so ein Ding, dass er noch gar nicht probiert hatte, weil da hatte er ja schon ein bissi Angst davor.
Vor dem mit den nassen Haaren.
Mit denen durfte er ja nicht ins Bett gehen ohne Föhnen vorher. Da würde er ja davon am Morgen dann mit Gesichtslähmung aufwachen, und das war ja nicht so unbedingt das Idealste so. So, wo das ganze Gesicht sich dann nicht mehr bewegen kann, und Paul dann dalag und ja, sein Gesicht halt gelähmt war. Da konnte er dann ja keine Grimassen mehr schneiden, und um die Wette spucken ja vielleicht auch nicht mehr, oder Schlimmeres. Was ja auch der einzige Grund war, warum er sich von seiner Mamma dann immer doch die Haare föhnen hat lassen, weil das war ja eigentlich nur lang und fad und heiß und blöd.
Aber was, wenn das auch gar nicht stimmte vielleicht?
Das mit der Gesichtslähmung und allem?
Dann war das ja alles umsonst alles, das Haareföhnen, da war dann ja gar nichts, warum das so wichtig war, außer seiner Mamma vielleicht.
Aber die war ja auch seine Mamma.
Und die musste ihn ja lieb haben, auch mit nassen Haaren, und auch mit Gesichtslähmung falls.
Schon oder?
Aber Paul hatte da jedenfalls so eine Idee.
So einen Idee hatte er da, dass er heute nach dem Schlafengeh’n noch einmal aufstand. Ganz leise, und so auf Zehenspitzen, und dann machte er sich die Haare nach dem Föhnen einfach noch einmal nass, und dann würde er ja sehen. Weil, ja, an seiner Mamma, da kam er mit den nassen Haaren ja so und so nicht vorbei ins Bett, aber so? Ja, so machte Paul das, und er ließ das Bussi auf den Mund von seiner Oma brav über sich ergehen, und er winkte ihr und dem Opa aus dem Auto nach, länger als die zwei das überhaupt sehen haben können wahrscheinlich.
Paul mochte das ja.
Er mochte ja seine Oma und seinen Opa.
Und seine Mamma und seinen Papa auch.
Aber ja.
Naja.
Nur das mit den nassen Haaren, das musste er halt ausprobier’n, trotzdem, und die Sonne schien ihm warm auf die Wangen am Morgen dann.
Was Paul auch gleich dann auch sagte, dass sein Gesicht nicht gelähmt war, trotz all der nassen Haare.
Und, dass er nicht alles einfach so glauben durfte auch gleich.
Und, dass alles einfach so glauben vielleicht auch das Einzige war, das er nicht dürfen dürfen sollte eigentlich.
Oder so halt zumindest.
Irgendwie jedenfalls.

Markus Peyerl
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Mein Vater (beim Kübelausleeren)

Der Tag war blau hinten und grün vorne, keine Vögel, ein paar Katzen, ein Pferd. Ein Zaun drumherum, um die Tiere, ein weißer, ohne Bretter, nur die Pfosten, die ganz allein in der Erde steckten, auf einem ein Schmetterling, oben drauf.
Es war ein schöner Tag.
Mein Vater hat schon begonnen damit, die Kohle zum Hacken.

Die großen Stücke in kleinere, damit die dann besser ins Bügeleisen passen, so auf einer Picknickdecke wegen den ganzen Restln, die zu klein sind zum Aufheben. Die sollen ja nicht da liegen bleiben, im Gras, um den Hackstock herum, sagt mein Vater immer, und beim nächsten Regen dann weiter ins Grundwasser. Deswegen auch die Decke. Die, die um die Mitte selbst schon ganz schwarze, in die mein Vater dann die zu kleinen Kohlerestln immer vorsichtig einschlägt, und dann in den Eisenkübel schüttelt, im Schuppen hinten.

Mein Vater sagt immer, wohin denn leicht sonst daweil?, manchmal zuckt er aber nur mit den Schultern.
Das geht aber auch nicht immer.
Manchmal ist der Kübel auch voll.
So wie heute, randvoll voll, und mit Gupf oben drauf, weil der Kübel wird ja nur ausgeleert, wenn überhaupt nichts mehr reingeht schon. Wenn alle neuen Kohlerestln nur noch am Gupf runter rodeln würden und über die Kante vom Kübel, und das geht ja nicht. Da wär’n ja die Kohlerestln dann erst wieder am Boden unten, was ja, sagt mein Vater immer, dann ja alles nichts bringt das Ganze. Da könnte er die Kohlerestln ja gleich auch draußen im Gras liegen lassen, weil so ein richtiges Fundament hat der Schuppen genauso nicht. Und das Dach?, naja, solala, ein Haufen Löcher sind da ja schon drin, schön verteilt über das ganze rostige Wellblech, Tupferln aus Licht von draußen, auf die mir mein Vater dann immer zeigt. Weil der Regen, der da dort dann ja auch durch tröpfeln kann wie die Sonne jetzt, der wascht uns die ganzen Kohlerestln dann erst wieder rein ins Grundwasser, das sagt mein Vater da dann immer dazu und fragt:
Wer trinkt’n das Wasser denn dann?
Na wer?
Na genau.

Aber nächstes Jahr dann aber, dann steigt er dann eh rauf aufs Dach, und stopft die Löcher eh endlich zu mit Stroh. Das hat sich mein Vater fest vorgenommen, seit drei Jahren schon, heuer aber, heuer wird’s halt noch so geh’n müssen einmal, und er legt dann immer die Decke mit den heutigen Kohlerestln behutsam rauf auf die Werkbank, weil er zum Kübelausleeren ja alle zwei Hände braucht. Der Kübel, der ist ja dann schon ein bissi schwer, so bis oben hin voll mit Kohlerestln, und der Gupf, auf den muss mein Vater dabei ja dann immer ganz besonders gut aufpassen. Der ist ja dann immer schon hoch, der Gupf, wenn nichts mehr oben drauf passt, da kommen dann gleich ja ganz leicht gleich Lawinen. Lawinen aus Kohlerestln, vorn oder hinten und seitlich, beim kleinsten Wackler nur, und dann fallen ja erst wieder Kohlerestln am Boden runter und dann erst wieder ins Grundwasser rein. Ganz langsam also, ganz langsam muss das also dann gehen immer, das mit dem Kübelausleeren, auch wenn die Arme bald weh tun und die Oberschenkel. Langsam, mit beiden Händen fest herum um den Griff von dem Henkel, und mein Vater hebt den Kübel dann immer vorsichtig weg vom Boden, und muss mit Luftanhalten da dann immer am allerfestesten drauf achten, was der Gupf gerade macht.
Rodelt da schon was?
Ui, da oder?
Nein, nur Schatten, nein, Licht.
Ein Schritt.
Und jetzt?
Nein.
Oder?
Der nächste Schritt.

Mein Vater kommt da dann ja so immer nur sehr mühsam vorwärts. So vornüber gebeugt, leicht in den Knien, und mit dem Kopf unten, und nicht erst einmal ist er da schon über was drüber geflogen beim Kübelausleeren so. Ein Mal über den Rechen, das war lustig. Auch auf einen angebissenen Apfel, da ist er einmal drauf gestiegen, was aber nicht ganz so lustig war. Einmal abgebissen nur, von ihm selber, und dann weg damit, im hohen Bogen, weil der Apfel doch noch nicht ganz süß genug war, und mein Vater hat sich dann ordentlich in die Zungen gebissen beim Hinfallen, also beim Aufkommen am Boden dann gleich danach.
Sein Gesicht, das ist dann ganz schwarz gewesen.
Das Gras rundherum genau so.
Den Kübel hat mein Vater dabei ja halbert ausgeschüttet dabei.

Und dann halt wieder das Übliche: das Gras drunter weggraben. Mit der Schaufel, mein Vater sagt immer, überhaupt der feine Kohlenstaub, der geht halt nicht mehr so runter zum Wischen vom Gras. Also Weggraben. Ein paar Zentimeter tief, mindestens, schaufelblattbreite Quadrate aus verkohltem Gras, also Gras wo halt Kohlenstaub oben drauf liegt, und die dann rein damit in die Scheibtruhe, die mein Vater erst letztens erst wieder gebraucht hat.
Er hat da nämlich plötzlich niesen müssen, beim Kübelausleeren letztes Mal.
Ein neuer Regenwurmrekord.
Gleich fünf, fünf Regenwürmer hab’ ich da gefunden das Mal, und wieder zurück auf den Boden, hinter dem dann nicht irgendwann nur mehr Luft kommt wie bei den Grasquadraten. Ja. Regenwürmer sind ja auch gut für was, oder?, mein Vater sagt aber immer, „Geh bitte. Was die da herumgraben, davon wachst da ja trotzdem nix mehr“, und sticht ein neues Quadrat aus.

Die Wiese schaut auch schon aus genau deshalb.
Überall Fleckerl, die fehlen, in so eckigen Löchern, so ohne Gras, lehmig, und wenn’s regnet: voll Gatsch. Voller dreckigem Wasser, voll braun und so, besonders tief dort, wo mein Vater immer am öftesten unabsichtlich Kohlerestln ausstreut, früher ja hinter und vor dem Zaun. Früher halt, und der Zaun noch mit Latten drauf, also Drüberheben, weil durchs offene Tor vorn wär’ das ja ein Umweg gewesen, ein ordentlicher. Schon fünfzig Schritte knapp, viel zu weit mit so einem wackligen Gupf zum Schleppen, aber das war natürlich auch nicht so einfach, den Kübel da weit genug hoch zum Heben und dann sanft wieder runter auf der draußeren Seite. Immer ein bissi, ein bissi was von den Kohlerestln ist da dabei dann ja immer dann runter gerodelt, vom Gupf, und weiter auf den Boden, weshalb die ganzen Latten jetzt ja auch weg sind alle. Zuerst ja nur zwei, die im kürzesten Weg rüber aufs Nachbargrundstück, damit das endlich ein Ende hat mit dem Drüberheben über den Zaun, nur ist mein Vater dann aber dann drauf gekommen: „Wie schaut das denn aus, bitte? Als würd’ da was fehlen! Was soll’n sich die Leute da denken?“
Seit dem hat der Zaun nur noch Pfosten.
Ohne Bretter dazwischen überall.
Ja.

Also mein Vater hat die Pfosten dann eben nicht aus der Erde heraus bekommen, wie die ganzen Latten schon unten waren, so tief sind die Pfosten da drin gesteckt, und, ja, aber die Tiere, die sind gar nicht davon gelaufen deswegen. Aber, gut, da waren ja auch nur noch die paar Katzen, für die der Zaun eh nie wirklich gegolten hat, und dann das Pferd, das nur noch zu alt war für alles. Der Rest, die Hühner und die Schweine und alle, die waren da ja lang schon verkauft schon, von damals, wo mein Vater noch den ganzen Tag nur noch Schnaps getrunken hat.
Über ein Jahr hat das gedauert.
Und Viehbauer hat mein Vater dann ohne Vieh ab dann nicht mehr weiter sein können.

Nein, er muss ja jetzt sogar Bügeln für sein Geld, sagt mein Vater immer, wie eine Frau, und am Kübelausleeren führt dann wegen der zu großen Kohlen kein Weg halt vorbei, und er macht auf halbem Weg dann immer seine Rast. Wegen den Armen, weil die schon zu schwach werden, und die Beine, und er muss sich dann immer kurz hinsetzen, immer auf halbem Weg, immer beim Walnussbaum, und mein Vater erzählt mir dann immer dasselbe dort. Wie er als junger Mann da hier immer her gekommen ist mit meiner Mamma, zum Sterneanschaun, damals, wie der Baum noch gelebt hat. Und meine Mamma auch.
„Vorbei“, sagt mein Vater dann immer, niemand mehr da zum Sterneschaun, was aber gar nicht so schlimm wäre, würde der Baum auch endlich komplett verwittert sein. Am besten verschwunden, gleich, jetzt, und mit ihm das Herzerl, das er damals hinein geschnitzt hat in die Rinde. Das mit dem ersten Buchstaben von seinem Vornamen und dann dem ersten Buchstaben vom Vornamen von meiner Mamma drin, und dazwischen ein Plus.
J+S.
Die Schrift ist zwar schon dünkler geworden, und grauer, da aber noch immer.
„Ja, so is’ das halt.“
„Wuascht ob gut oder schlecht.“

Vielleicht hat mein Vater den Baum auch deshalb nie umgeschnitten, und irgendwann geht er dann weiter.
Mit dem Kübel und dem Gupf voller Kohlerestln am Henkel, vornübergebeugt, Schritt für Schritt, und dann kommt dann auch schon nachher der Steg bald.
Da ist nämlich so ein kleiner Bach im Weg dann, und gleichzeitig auch die Grenze.
So ein kleiner Bach mit einem rutschigen Steg drüber, zwischen unserm Grund und dem vom linken Nachbarn, und auch wenn’s lang schon nicht mehr geregnet hat, im Bach drin ist immer Wasser, und der Steg immer rutschig. Wegen dem Holz wahrscheinlich, voller Schimmel, oder Algen, aber grün auf jeden Fall, und rutschig, und das ist dann auch dort, wo mein Vater dann immer, dann immer auch aufhört damit, ganz genau hinzuschauen.

Er gibt’s zwar nicht gern zu, also überhaupt, aber trotzdem: Ich kann das dann ja immer in seinen Augen schon sehen, wenn er dann den ersten Fuß auf den Steg setzt. Mit dem Kübel mit den Kohlerestln und dem wackligen Gupf, und in den Bach sollte davon ja eigentlich schon gar nix reinfallen dürfen, oder? Weil das Grundwasser und so, viel schneller drin dann die Kohle, und da gibt’s ja dann nicht mal ein Weggraben mehr.
Schon, oder?
Also das, was mein Vater nicht wollen hat, von Anfang an.
Weshalb auch das Ganze.
Das, wegen dem, wegen dem Bügeleisen, das kleine Kohlen braucht, und den Restln, und dem Grundwasser vor allem.
Also ja.
Wegen dem allem so.
Bis dahin wenigstens.

„Der erste Fuß zuerst“, sagt mein Vater dann immer, der erste Fuß zuerst, was nicht unbedingt das Einfachste war. Der erste Fuß, ich mein’, das ist dann ja schon wie zum Ausrutschen gedacht. Wie das ist eben, mit einem Fuß am Glitsch, und dem anderen noch am Ufer, also so ohne Glitsch, also mit Halt halt.
Da wird’s dann schon schwierig ohne Ausrutschen.
Also es geht schon, aber die Gefahr is’ schon, also da.
Da halt, und nicht erst einmal, nicht erst einmal ist mein Vater da nass geworden. Nicht erst einmal, und dann lauter Kohlerestln im Bach, noch nie alles zum Glück, aber trotzdem.
„Naja, der Bach, der, der fließt eh schon fast drüben“, sagt mein Vater da immer.
Halb so schlimm also alles.

Und nach dem Bach und dem Steg, da passt mein Vater dann so und so nicht mehr ganz so richtig auf, dass der Gupf oben bleibt am Kübel. Dort rieselt was, und da rieselt was, aber dann sind die Kohlerestln am Boden dann nicht mehr so ganz das Drama, drüben, auf der anderen Seite.
„Ja, ewig hamma auch nicht Zeit, oder?“, fragt mein Vater dann immer, und es geht damit dann dadurch auch wirklich viel schneller weiter. Nicht mehr so Schritt für Schritt, jetzt ohne Pause dazwischen, der Kübel, der schwingt dann schon, zwischen seinen Beinen, wie eine Kuhglocke, halt ohne Läuten halt, und der Gupf, der wird auch dann schnell niedriger und niedriger vom Beeilen.
Niedriger.
Und niedriger.
Aber dann kommt aber da eh schon der Brunnen vom Nachbarn, von dem, der gar nicht mehr da wohnt.
Seit dem Unfall, da hat der es bei uns in Gamsbruck irgendwann nicht mehr ausgehalten.

Sogar einmal in der Kirche, wie da mein Vater noch den ganzen Tag Schnaps getrunken hat, ja, höflich war was mein Vater da geschrien hat eher nicht.
Im Gegenteil.
Und: „So“, sagt er dann immer, „Und das dafür“, und er leert dann die Kohlerestln mit einem komischen Grinsen rein in den Brunnen vom Nachbarn, und klopft den Kübel danach gründlich von außen auch aus.
Und dann wieder zurück wieder.
Halt bis zum nächsten Mal.
Mein Vater sagt immer, „Da schau! Das alles nur wegen dem Grundwasser.“
Nur kann ich’s ihm nur nie so recht glauben.

Markus Peyerl
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Drei, eins, zwei

Die Zigarette war aus. War sie an? Kein Rauch, nein, kein Rauch, ja. Nein, sie war aus. Roter Kreis, Zigarette durchgestrichen, Herr Mauerstahl konnte sich wieder erinnern. Er  rauchte gar nicht, er hatte nie geraucht, er hasste Rauchen. Schon gar nicht drinnen, draußen auch nicht. Dieser Gestank, diese grässlichen Schwaden, die unter dem verschnörkelten Lampenschirm ihre graue Zwischendecke einziehen würden oder die der Wind davonreißen würde am Balkon und hinein in die Statistik, in den Balken für die Feinstaubbelastung, hinein in die Zeit im Bild. Ja, er hatte Wichtigeres mit seinen Lungen anzufangen, ja, genau, Schluss damit. Sauerstoff, mehr Sauerstoff. Schluss damit. Endgültig.
Ein Zweier.
Der Würfel hatte sich kaum überschlagen. Nur ein lächerliches Umkippen und dann war er auf die Seite gefallen, widerwillig, ungelenk, nein, hämisch grinsend. Der Winkel war zu stumpf geraten, ja, das musste es gewesen sein. Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel, federleicht, gleitend, wie ein flacher Stein auf dem Wasser. Drei Mal, vier Mal, sechzehn Mal, bam bam barapapam. Ja, Herr Mauerstahl hätte nur so eine Chance, seinen Rückstand wieder aufzuholen. Eine Chance, dachte er, ja, genau! Chancen hatte jeder, nur: Er hatte ein System. Ein System! Ein ganzes! Auf das eine Sechstel verlassen? Lächerlich, einfach lachhaft!
Konzentration.
Einatmen, Ausatmen.
Den Zweier musste Herr Mauerstahl schnell vergessen.
Langsam und tief, langsam, und bis es brennt.

Dann für die nächste Runde schon einmal gedanklich den Vierer fest in die Lebenslinie drücken, diagonal von links oben nach rechts unten, links oben nach rechts unten, nicht vergessen! Dann die Handfläche wölben für den Unterdruck, leicht nur, nicht zu viel, schwingend ausholen, nicht nur mit dem Handgelenk. Der Ellbogen, der Ellbogen war der Schlüssel. Fünfundvierzig Grad Öffnungswinkel und ein Fünfer zu vierundsiebzig Prozent, zweiunddreißig Grad und ein Dreier in über der Hälfte aller Fälle.
Der Sechser aber war am schwierigsten.
Beinahe neunzig Grad.
Und ganz knapp vor der Tischkante musste er dann loslassen. Zu früh oder zu spät und alles davor war umsonst gewesen. Umsonst! Da ging es um Millisekunden, wenn nicht gar um viel weniger. Und feuchte Hände, oh, das wäre sein Untergang. Unvorhersehbar, alles Zufall sonst. Nein, Herr Mauerstahl glaubte nicht mehr daran, schon lange nicht mehr. In seinem Keller hatte er das Spiel ja studiert, dann, wenn alle anderen schon im Bett waren, wenn sie sich herumwälzten in ihrer Ahnungslosigkeit. Nichts wussten sie über seine Tischtuchtheorie. Nichts wussten sie! Gar nichts.

Die aus Baumwolle, die war die schlimmste.
Zu weich, zu leicht schlug sie Wellen.
Ein Glas Wasser, voll, halb-voll, dreiviertel-voll, leer, mit oder ohne Untersetzer. All das galt es miteinzuberechnen, akribisch auszutesten. Und war es nur eins oder zwei oder vier Gläser und wo stand die Flasche, die in dem wenigen Licht kurze Schatten warf. 150 Gramm Chips, neun Stangen Soletti, dreiunddreißig Gummibären, es war das Gewicht, das den Ausschlag gab. Nein, nicht nur das Gewicht, es war auch die Grundfläche, hohe Physik, dachte Herr Mauerstahl, höchste Physik. Ja, und erst die ganzen Unterarme, die die dazugehörigen Kiefer abstützten, und das Kauen, das Schlucken und die ganze Vibration, die sich fortpflanzte durch die Knochen und hinein in den Stoff, der sich spannte und dehnte, synchron mit dem Mahlgeräusch ihrer Zähne. Mehr Schwung, ein bisschen weniger. Nächtelang hatte Herr Mauerstahl all das im Keller simuliert. A4-Hefte, voll mit Skizzen, bis über den Korrekturrand, ganze Werkzeugschränke bis oben hin voll, von oben bis unten.
Sechs, noch mal würfeln, vier, zehn.
Das Klappern von Plastik auf Karton.
Zehn!
Herr Mauerstahl konnte es kaum fassen.

Und erst diese grauenhafte Zahnlücke in diesem Milchgesicht, das ihm da gegenüber saß und triumphierend die Fäuste ballte. Ekelerregend, einfach ekelhaft. Allein nur wie sich die Mundwinkel nach oben schoben, hinauf zu einem schiefen Lächeln, einer grauenvollen Fratze, einer Verhöhnung all seiner Mühen. Zu einer Kampfansage, die Herrn Mauerstahl das Blut gegen die Stirn schießen ließ, so als wollte es ihm aus dem Schädel fahren wie die Fontänen vom Springbrunnen am Schwarzenbergplatz. Diese Hitze, diese unsägliche Hitze, nein, kalt, nein, Prickeln, nein, Hass, blanker Hass. Was wusste er schon, dachte Herr Mauerstahl, was wusste er schon. Nichts wusste er! Reines Glück, nur Glück und nichts als Glück und erst diese Wurstfinger, nein, mit rechten Dingen konnte das nicht zugehen hier. Nein, der Würfel, der musste es sein. Unregelmäßigkeiten im Material, ja, ein Fabrikationsfehler, mehr nicht. Ja, freu’ dich nur ruhig weiter, dachte Herr Mauerstahl, das kommt alles retour. Alles!
Dann der nächste, eine übelriechende Gestalt, die an einem Stück Plastik kaute.
Eins!
Ha, der war weg, zweifellos, zu hundert Prozent, 99,999 periodisch.
Nur noch einer vor ihm.
Eine!
Eine Frau.
Wurfhand schütteln, auflockern, unter dem Tisch, Schweiß an der Hose abwischen, im Geheimen. Nein, nein, sie brauchte das natürlich nicht. Das geht sicher auch so. Amateurin! Zum Abgewöhnen!
Ein Trauerspiel.
Oh, ja, und erst diese kümmerlichen Fingernägel, dieser geschmacklose rostbraune Lack. Viel zu lang für eine nennenswerte Flugkurve, viel zu lang schon, verachtenswert lang. Herr Mauerstahl sah sich schon im Rücken des Ersten, ein Messer zwischen den Zähnen, drei oder vier. Drei Runden vielleicht noch, vier maximal. Fünfeinhalb Augen pro Wurf, ja, das sollte reichen. Risiko, jawohl, vertretbar ebenfalls. Nur keine Fehler jetzt, nur keinen Fehler.

Fünf!
Um Himmels Willen, dachte Herr Mauerstahl, um Himmels Willen.
Eine Verschwörung, ja, das ganze Universum hatte sich verschworen gegen ihn, anders konnte das gar nicht sein, das ganze Universum! Die Schöpfung selbst vielleicht sogar! Buddha, Jesus und dieser Elefantengott. Ja, das sah ihnen ähnlich. Dabei hatte er ganz genau hingesehen, gesehen, wie ihr der Würfel viel zu spät vom viel zu abrupten Abbremsen ihres Wurfarms von der klebrigen Haut geschält worden war von dessen Trägheit. Mit ihrem Wurfarm, das musste man sich nur einmal vorstellen, dachte Herr Mauerstahl, mit den Fingerkuppen ihres Wurfarms hatte sie davor Schokolade in ihren Mund befördert, Schokolade! Fett und Karamell, geschmolzenes Gift für jeden Versuch einer sinnvollen Herangehensweise. Nein, dachte Herr Mauerstahl, so nicht, nicht mit mir, nein, so ganz sicher nicht!
Er war an der Reihe.
Einatmen, Ausatmen, her mit der inneren Ruhe.
Einatmen, Ausatmen, in langen, tiefen Zügen.
Ja!

Jetzt noch einmal alles durchgehen, nur nicht abschweifen, oh, dieser Bauch mit seinen krampfhaften Nerven. Nur keine falsche Bewegung, nicht einmal ein Zucken mit der Wimper war jetzt noch tolerierbar, bedrohte gar Herr Mauerstahls weitere Existenz, sein Weiterleben und wer weiß was noch über die Hintertür. Aufpassen! Aufgepasst!
Jawohl!
Perfekt!
Was für eine Schönheit!
Noch nie hatte Herr Mauerstahl eine derart makellose Rollphase hinbekommen, ja überhaupt gesehen, ja, sich überhaupt vorstellen können. Bam bam barapapam wippte sein Fuß, bam bam barapapam hüpfte der Würfel, ein herrlicher Purzelbaum nach dem anderen.
Sechs!

Herr Mauerstahls Herz sprang. Er konnte es gerade noch verhindern, dass sich seine Arme von selbst mit nach oben in Siegerpose rissen. Noch war ja noch nichts gewonnen, dachte er, zwar greifbar nah, ja, wirklich greifbar, und außerdem war ja ohnehin festgestanden, dass sein Plan nichts anderes konnte als zu funktionieren. Flüssigkeit in seinen Augenwinkeln, ein undefinierbares Gefühl, das ihm den Nacken hinauf zog.
Noch einmal, dachte Herr Mauerstahl, noch einmal, und alles war wieder offen. Für ihn. Für niemanden sonst. Das war das, was ihm von der Gerechtigkeit her zustand, und worauf er schon viel zu lange hatte warten müssen. Jetzt! Endlich! Erst!
Fünf!
Elf!
Elf!

Jetzt zeigte er es ihnen! Endgültig! Er zeigte es ihnen, so wie er es ihnen immer hatte zeigen wollen, dann aber am Ende wieder nur dagesessen und sich gewundert hatte, warum da jemand vor ihm die vier bunten Kreise voll hatte, der aus seiner Sicht nie hätte auch nur einen Trostpreis gewinnen sollen bei der Technik, bei diesem Wahnsinn, den sie Würfeln nannten. Ja, weit weg von Fairness war das Ganze gewesen, schon lang, so weit weg, dass Herr Mauerstahl nicht einmal mehr hatte verstehen können, warum die Welt noch stand. Nein, jetzt war es aus, dachte er, jetzt war ihr Glück aufgebraucht, herausgekratzt mit einem Dessertlöffel aus der Schräge ihrer einst randvollen Suppenschüssel, der letzte Rest. Die letzten Brösel von ganz hinten aus der Besteckschublade. Ja, genau!
Nein!
Das konnte nicht sein, nein, das durfte nicht, nein, es war unmöglich.
Nein und nochmals nein!

Herr Mauerstahl konnte es beinahe fühlen. Wie ein Schlag in die Magengrube, ja, so fühlte es sich an, als der nächste Wurf der hinter ihm lauernden Zahnlücke als Dreier zum Liegen kam. Asymmetrisch, wabbernd, wobbelnd, wie ein Fahrrad mit Achter vorn und hinten war der Würfel ausgerollt, war er schlenkernd an seinem mangelnden Drehmoment erstickt, war er kampflos an der Kante des Spielfelds qualvoll verreckt. Verreckt war er, ja, mehr war das nicht, dachte Herr Mauerstahl, der seine Zähne fletschte, der sich am liebsten in die Hand gebissen hätte, der Amok lief mit seinen Blicken.
Nein! Nur nichts anmerken lassen. Keine Angst, keinen Groll, kein Gefühl mehr zulassen. Das Gesicht ruhig, nach außen gewölbt wie ein Meer aus Quecksilber, ganz so, als wäre nichts.
Er konnte nicht hinsehen, alles auf Zeitlupe, so langsam, dass Herrn Mauerstahls Ohren selbst den Schall in die Länge zogen zu einem röhrenden Irgendwas, zu einem unaufhörlichen Rütteln an seiner Selbstbeherrschung.
Vielleicht merkt er es ja nicht, vielleicht, ja, vielleicht!
Ja, jeder übersieht einmal, jeder!
Kein Schlagzwang, nein, so spielten sie nicht.
Einatmen, Ausatmen.
Scheißdreck, g’schissener!

Ein Hääääähääääh, und dann ein Zucken mit dem Handgelenk.
Dann ein Kegel aus Plastik, der im seichten Bogen über den Tisch plätscherte, mit dem Kopf aufschlug, dann ein Salto, noch einer und noch einer. Brutal, ja, brutalst.
Niemals hätte das passieren dürfen, ja, niemals und erst recht überhaupt. Man stelle sich das einmal vor, dachte Herr Mauerstahl, kaum auszudenken mit welchen primitiven Mitteln, mit welchen Steinzeitmethoden es hier möglich war, sein sorgfältig ausgeklügeltes Spielkonzept einzustampfen, es zu zerfleddern, in Millionen winzige Fetzen. Aber nicht mit ihm! Alles, aber das nicht. Herrn Mauerstahls Fingernägel krallten sich fest in seinen Oberschenkel, drückten sich hinein in den Stoff, hinunter ins Fleisch, bis das Nagelbett weiß und der Schmerz ihn zurück holte, zurück an den Tisch und gerade rechtzeitig für eine weitere Überdosis Absurdität.

Nicht, dachte Herr Mauerstahl, dass es ausreichend war, ihn fertig zu machen, ihn zu vernichten, nein, es war anscheinend von äußerster Wichtigkeit, ihn dabei auch noch zu verspotten, ihn zu drangsalieren mit einer Unmenschlichkeit, die keine Steigerungsform mehr zuließ. Nicht, dachte er, dass es genug war, dass sein letztes Männchen jetzt wieder in einem der quadratisch angeordneten, runden Startfelder gefangen war und nur mit einem Sechser von dort wieder entkommen würde können, einem Sechser, der wie er wusste am schwierigsten zu bewerkstelligen war, nein, es war auch noch so, dass alle anderen derart viel Spaß dabei hatten. Kein Wunder, dachte Herr Mauerstahl, sonst war ja da nichts. Kein Denken, kein Überlegen, nein, nicht einmal ein Funken Ehrgeiz war deutlich sichtbar auszumachen. Sinnlos wurden da die Würfel in der Handfläche herumgeschwenkt und dann einfach auf den Tisch geschüttet, wie Speisereste in die Klomuschel. Es war so, dachte Herr Mauerstahl, als würden Einzeller, weich und matschig, ohne Gehirn, ja ohne zentrales Nervensystem, ihn, das einzige Lebewesen an diesem Tisch mit bewusstem Verstand, mit einer Ahnung von irgendwas hinunter in die Knie zwingen.
Vier, fünf, eins.
Muahahahahaha.

Herr Mauerstahl hatte das Gefühl, wahnsinnig werden zu müssen, das Spielfeld zu nehmen und es mitsamt der darauf befindlichen apokalyptischen Anordnung farbiger Maxerl gegen die Wand zu schleudern, mit einer solchen Wucht, dass das gesamte Haus in sich zusammen fallen und um sich herum das gesamte Weltall mit in den Abgrund reißen würde, so weit in den Abgrund reißen würde, bis nur noch ein dunkler Teppich aus Nichts alles bis zur Unendlichkeit überzog. Ja, dachte Herr Mauerstahl, und das zu Recht, mit allem Recht das noch übrig war, nach all dem Unrecht, das sich hier auftürmte zu einem spitzen Berg, der wie ein Pfahl durch die Wolken stach und in die Sonne hinein, die aufplatzte, die aufhörte zu scheinen, aus Protest über das, was die Wirklichkeit Herrn Mauerstahl hier antat.
Zwei, zwei, vier.
Zwei, zwei, vier!
Aber nicht ernsthaft!
Hintereinander zwei Zweier, wo war sie da die Wahrscheinlichkeit?
Wo?

Mit aufeinander gepressten Lippen saß Herr Mauerstahl da und musste mitansehen, wie er zerbröselte, in sich versickerte, wie er den Würfel nur noch derart auf dem Tischtuch einschlagen ließ, dass er von dort aus nach oben geschleudert, in der Luft Pirouetten drehte, während alles andere in Weißglut unterging.
Drei, eins, zwei.
Nein, nein und nochmals nein. Herr Mauerstahl hatte sich verabschiedet, von seinen zahllosen Tabellen, von seinen Bleistiften, von all dem, woran er nicht alles gedacht hatte, von all dem, das ihm den Sieg versprochen hatte und nun sein Versprechen brach. Vergessen waren Winkelmaße, vergessen war die Flugbahn, die dann folgte. Verloren in einem Wellenbad aus wogender Verzweiflung, gefangen in einem Pyjama ohne Zipp, ohne Knöpfe, ohne Naht, die hätte auseinander gehen können und ihn retten, in letzter Sekunde. Immer enger, immer enger, kein Platz mehr zum Atmen, kein Platz.

Es kam, wie es kommen musste, wie Herr Mauerstahl sich Schicksal vorstellte.
Baparap bam bam.
Ein Zweier und da standen sie, vier Maxerl in einer Reihe, erneut nicht im Grün von Herrn Mauerstahl. Seine Hände erwürgten sich, ihm wurde schlecht.
Bravo! Und gut hast du das gemacht.
Von überall her diese Stimmen, von überall diese Glückwünsche sabbernden Versager, die Herrn Mauerstahl erneut allein mit bitterer Galle auf der Zunge zurück ließen, sich scharten um den Sieger, einen Sieger, der falscher nicht hätte sein können.

Diese kurzen Finger, diese Lücke in der Reihe aus Zähnen ohne Wurzeln, die nur darauf warteten, mit dem Wackeln zu beginnen, an ihrem letzten fleischigen Faden zu hängen, sich zu sträuben vor dem Unvermeidlichen. Ja, das war es, was da zu ihm herüberschaute und wahrscheinlich noch hoffte, dass Herr Mauerstahl ihm über den Hinterkopf streicheln oder eine sonstige Form von Anerkennung heucheln würde, eine Anerkennung, die er niemals verdient hatte, niemals verdient, die Zahnpasta spritzte. Herr Mauerstahl war es doch, der hätte dort stehen sollen auf dem kleinen Plastikschemel, er hätte es sein sollen, dessen kindliche Freude danach ins Bett verfrachtet worden wäre nach dem Ausspülen. Er hätte es doch sein sollen, dem sein Vater die Decke sorgfältig unter den Körper stopfte, er hätte es sein sollen, dem der Moment ganz allein gehörte.
Er hätte es sein sollen.

Ein Klack und das Licht war an.

Dreißig Schritte, die Stufen hinunter, Herr Mauerstahl setzte sich hin auf seinen Drehsessel, den abgenutzten Drehsessel unten im Keller. Vor ihm der Tisch, zerkratztes Metall.
Irgendwas, dachte er, musste er übersehen haben.
Übersehen haben in diesen ganzen Stapeln aus chlorfrei gebleichtem Papier.
Irgendwas, dachte er, musste fehlen.
Irgendetwas.

Markus Peyerl
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Die Flasche

Es war einmal, um die Ecke, in Frau Malazkas Auslage, hinter der Glasscheibe, hinter dem großen „frisches Obst und Gemüse“-Pickerl von damals, als das frische Obst und Gemüse noch in Steigen am Gehsteig zum Verkauf gestanden war. Vor ihrem Greißlerladen, dort stand er, und dort begab es sich, dass Herbert Kritzendorfer etwas dort in der Auslage stehen sah, das er bislang nur nie bemerkt haben musste. Dort, zwischen den ausgebleichten Reispackerln in ihrer strengen Zweierreihe und der schmalen Pyramide aus Dosensuppen, Dosen mit Grießnockerln drauf, mit Leberknödeln, und mit Altwiener Suppentöpfen, alle, alle von ein und derselben Firma, einer, die es schon seit ewig und drei Tagen nicht mehr gab. Und genau dort, dort dazwischen, zwischen den Reispackerln und den Dosensuppen, dort stand sie, die Flasche, ohne Etikett, ohne Gravur, ohne Relief, ohne Aufschrift, nur mit einem Korken aus Kork im Hals und einer grünlichen Flüssigkeit in ihrem Glasbauch, dem auf den Schultern der Staub lag.
Komisch, komisch.

Noch nie war Herbert Kritzendorfer diese Flasche dort aufgefallen, in all den Malen, die er hier einfach an ihr vorbeigegangen sein musste, unter der rot-weiß gestreiften Markise unten durch, unten vorbei an dem blauen Eskimo-Fahnderl, auch im Winter, zweimal täglich, hin zur Arbeit und zurück. Und, wenn ihm daheim die Wände wieder einmal zu nahe zusammen rückten, auch am Sonntag, oder am Samstag, beim Spazierengehn, wie heute, und gestern auch schon.
Diese Flasche.

Unerklärlich schien Herbert Kritzendorfer diese plötzliche Flasche da drin zu sein, in Frau Malazkas Auslage, und er schaute noch einmal kurz weg, um sich schnell in die Nase zu zwicken, aber beim noch einmal Neuschauen war sie immer noch da. Gespenstisch, und Herbert Kritzendorfer lehnte sich ein Stückerl nach vorn, näher zur Scheibe hin, dorthin, wo sie nicht mehr ganz so blöd spiegelte, stützte seine Hände an seinen Knien ab und er spitzte die Augen. Grün, vielleicht, nein, Kräutersirup konnte es keiner sein, zu flüssig, zu leicht tat sich das Licht dabei, rein und durch und hinten wieder raus zu kommen. Wie Wasser, wie grün gefärbtes, aber geh, bei der Frau Malazka gab es doch sowas doch nicht, nichts mit künstlichen Zusatzstoffen, nichts von der ganzen elendigen Industriepfuscherei, wie sie zu sowas zu sagen pflegte. Auch zu den Dosensuppen, die niemals zum Verkaufen gedacht gewesen waren, sondern nur zum Aufstellen, damit halt was drin steht in der Auslage, und das leicht zum Stapeln geht. Herbert Kritzendorfer wusste das, weil es vor diesem Wissen ja gar kein Entrinnen gab, keins mehr, sobald die Tür aufging und das silberne Glockenspiel Frau Malazka aus ihrem Klappsessel herausscheuchte mit ihrer schlechten Hüfte und sie eilig hindurchhumpelte durch den vergilbten Duschvorhang zwischen ihrem winzigen Hinterkammerl und dem kaum viel größeren Rest ihres kleinen Geschäfts. Dort, wo die Echtholzvitrine stand, und die Registrierkasse, und dort, wo sie drin war, die Frau Malazka, in ihrem Element: sieben Tage die Woche, von fünf bis zwanzig Uhr.

„Grüß Sie Gott! Wartn ’S kurz. Heast! Deppater Duschvorhang! Dauernd bleib ma hängen an dem G’frast! Wenn i no jung wär, i sag ’s Ihnan, der wär so schnell unten, so schnell könnt der gar net schaun. Aba ja: Was brauch ma denn, was hätt ma scho?
Ja, jetzt san ’S halt net wieder so schüchtan.
Sie wern do net imma no so a Angst ham vor mia wie als Kind no?
Vor so ana gebrechlichn, altn Oma, die i jetz ja scho bin?
Oda?“
Ja.

Bei der Frau Malazka fing das Bedientwerden seit je her so an. Das erste, was Herbert Kritzendofer über sie noch und nöcher eingetrichtert bekommen hatte von seiner Mutter damals, vorm ersten Einkaufenmitgehendürfen, war das: So, oder so ähnlich, das erste Wort war immer das von der Frau Malazka, meist mehr als nur das eine, und erst dann war die Kundschaft zum Grüßen und zum Bestellen dran. So war das der Brauch bei ihr, heute, morgen und gestern, und die Frau Malazka begann, nach der zu ihrer Zufriedenheit verlaufenen Anfangszeremonie, gewohnt gelassen damit, die Zeit zu verlängern, die sie brauchte, um die drei Sachen zusammenzusuchen, die Herbert Kritzendorfer diesmal selbst gar nicht brauchte.

Das Brot und die Nudeln und den Reis, die Frau Malazka ging da ganz typisch und taktisch vor.
Und immer, sollte eine der georderten Waren zu weit oben oder zu weit unten in einer der altbaudeckenhohen Regalwände stehen, dort, wo die üblichen Verdächtigen standen, dort, wohin sie sich am wahrscheinlichsten oft und öfter runterbücken oder raufstrecken würde müssen, dort meinte sie nach dem Runterbücken oder dem Raufstrecken, „Werdn ’S ja net alt, hörn ’S! Sie wissen ja no goa net, wos für grausliche Schmerzn Rücknschmerzn san!“, und sie machte zur Kür danach ein gemütliches Hohlkreuz und suderte von Herzen. Das war, wie die Frau Malazka wollte, dass ihr kleiner Feinkostladen funktionierte, sie war ja auch die Besitzerin, und bevor sie nicht hatte, was sie wollte, brauchte Herbert Kritzendorfer gar nicht deppat vorlaut anfangen nach der Flasche in der Auslage zu fragen, erst nach dem Brot und den Nudeln und dem Reis, nichts davon auch nur annähernd leicht zu erreichen für eine Frau ihres Alters. Herbert Kritzendorfer wusste das, und die Frau Malazka zwinkerte kaum merklich scharf mit nur einem Auge und sie beugte sich mit einem leidenschaftlichen „Au weh, au weh, au weh“ zum Brot hinunter, aufbewahrt im hintersten und untersten aller Winkel, richtete sich dramatisch knacksend wieder gradso auf, und dann:

„Ja, grauslich! Grauslich san diese ganzn Wehwehchen de da so komman mit da Zeit! Grad das i da das Brot noch dagleng, bevor i nimma mehr aufkomm! Und wissn ’S? Wissn ’S was der Herr Doktor g’meint hat dazu am Mittwoch? A neues Hüftgelenk bräucht i. A neues! Aus Plastik und mit irgendwelche Robota, die in mia umadumfräsen, damit’s sas reinbringen übahaupt. In meim Alter! I hab’ ma ’dort dacht, ich spinn’! Als würd’ ich ma da jetzt no sowas einsetzn lassn, so a neuartiges Klumpat, so weit kommt’s ma noch. Da werte Herr Doktor, da hat der aba schön g’schaut wie i dem das dort ins G’sicht g’sagt hab und seim Gehilfn da. Aba geh, sagn ’S ma nochamal. Was war das zweite? Was wolltn ’S da für an Reis habn? War das der Natur oder der Langkorn? Scho Natur oda? Geh, san ’S so liab, nehman ’S einfach den. Wei für den Langkorn müsst i nämlich extra die Leita holn.“
Ein lebensfroher Blick ganz kurz.
Von der Frau Malazka.

Ganz kurz nur und es ging los, denn:
Herbert Kritzendorfer hatte sich natürlich für Langkorn entschieden, den schwierigeren der beiden Reise, er wollte schließlich etwas von der Frau Malazka, und sie drehte sich herum, elegant wie jemand Guter beim Eiskunstlaufen, und sie rumpelte fast freudig nach hinten, dorthin, wo die Leiter stand, und sie stocherte sie mühsamst und umständlichst und wiederholt „Deppates G’frast“ keifend am Duschvorhang vorbei nach draußen, wo die Frau Malazka die Leiter dann auf ihre rechte Schulter fädelte und hinter sich herschleifte wie am Kreuzweg. Ein schwacher, kurzer, schmerzverzerrter Schritt nach dem anderen, ganz knapp heran an die Frage, ob man denn nicht vielleicht helfen könnte, so kurz war Herbert Kritzendorfer immer schon davor, aber die Frau Malazka kannte die Grenzen und sie kam wie üblich schon als Erste dort an, vorm Regal mit dem Langkornreis, und sie seufzte.

„Schaun ’S mich amal an jetz! Wie da Herrgott! Aba was bringt’s ma ohne Auferstehung? Ha? A eigane Kirchn wern’s wegen mir jetz net mehr gründn no, oda? Ich sag’s Ihnan: Wenn der Langkornreis nur net imma so weit obn stehn würd! Stelln Sa sich das amal vor, wie einfach des alles wär’. Aba wissn ’S eh: So spät no amal seine eigane Ordnung ändan, da hat ma am End ja bald goa nix mehr. Und, ui, ui, ui, und da Ischias. Jetzt issa wieda beleidigt de ganze Wochn, des Seicherl. Nua da Kunde is halt da König, so lern ma das alle, nur da Körpa net. Ma, nur an Lottosechser oder a g’scheite Pensionserhöhung amal. Dann wär zumindest endlich a bessare Leita drinnen wenigstns.“
So war das.
Ja.
Und die Frau Malazka kippte die noch nicht bessere Leiter dann mit einem abschließenden, heiseren Urschrei scheppernd ans Regal mit dem Langkornreis oben und sie kontrollierte die Festigkeit der ersten Sprosse mit ihrem linken Lederpatschen und einem Teil ihres geringen Gewichts. Misstrauisch, misstrauisch drückte sie ihre geballten Zehen von oben dagegen, gegen die erste Sprosse, immer nur gegen die unterste, gegen die, die sie dann gar nicht benutzen würde, und die Frau Malazka stieg auch schon eckig und ungestüm darüber hinweg und ebenso weiter hinauf. Die Leiter, sie wackelte, es sah aus wie Abstürzen, wie warum jetzt noch nicht, wie der letzte Langkornreis im Leben der Frau Malazka, mit Händen und Füßen wehrte sie sich, dagegen, gegen das Fallen und besonders das Aufkommen, gegen die wacklige Leiter, die sie niemals mit einer anderen tauschen würde, auch mit Doppeljackpot nicht. Ein Kraftakt, ein Kraftakt nach dem anderen, zitternd, vor Anstrengung, und das dritte Mal das Gleichgewicht fast verloren und Herbert Kritzendorfer biss sich von innen die Lippen auf, obwohl die Frau Malazka wie üblich dann schneller und sicherer oben war, als es den Anschein erweckt hatte.

„Da hamman ja endlich, ihrn Langkornreis, da samma ja bald fertig a scho. Ja, aba ob i da je wieda runterkomm zu Lebzeitn? Wissn ’S eh, die Rettung brauchn ’S da nimma rufn, wenn i da untn lieg auf einmal. Des zahlt si dann eh nimma aus. Zahlt si ja eh fast nix mehr aus heutzutage, net amal a Zecknimpfung. So lang, wie die haltet, hab i wahrscheinlich eh nimma. Da stell i mi da doch nimmer deppat an am Gang am Bezirksamt drübn. Der neue Arzt dortn hat eh letztes Mal was zamgstochen, schiach war des, des können ’S ma glaubn. Fast schlimma als damals bei meim Hausarzt no, Gott hab ihn selig.“
Die Frau Malazka nickte.
Zustimmend.
Nach ihr auch Herbert Kritzendorfer und dann die Frau Malazka noch einmal zum Abschluss, und sie schnappte sich dann das Reispackerl, das mit dem Langkornreis drinnen, und sie zwickte es sich unter der Achsel ein und sie kletterte so in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt, schlimmer herumfuhrwerkend als rauf wieder die Leiter nach runter, wo es knapp über der Hälfte ungewohnt ernst wurde. Ernst. Der Ernst, aber, war ohne jahrelanger Erfahrung im normalen Leiterrunterklettern der Frau Malazka zuerst kaum auszumachen, da aber, da war die sie daneben gestiegen, an der nächst unteren Sprosse vorbei, in die Leere darunter, und Herbert Kritzendorfer wurde das Blut warm vom Brustkorb her, als der Langkornreis stumpf unten aufkam. Auch für die Frau Malazka sah es in Zukunft nach Ähnlichem aus, ihre Lederpatschen segelten abwärts, Hektik, sie suchte und suchte und suchte, die Frau Malazka, sie streckte ihre gelben Zehen nach dem verloren Halt aus, aber der, der war weg. Nur noch mit den Fingern, mit den mageren Ärmeln, hing die Frau Malazka an der Leiter fest, und alles weiter unten krachte mit Schwung dagegen, mit der schlechten Hüfte voran, und es war Holz auf Knochen. Holz auf Knochen, es klang wie Brechen, wie viele dünne Stricherl am Röntgenbild, wie Krücken ab jetzt oder Rollstuhl, wie viel zu viel Schmerzen zum Aushalten.

Die Frau Malazka war da altersbedingt aber schon längst anderer Ansicht.
Sie stöhnte, nur kurz, nur einmal, nur erstickt, unabsichtlich, und dann, dann war ihr einer Fuß wieder auf einer der Sprossen oben, auf einmal, beim ersten Versuch, dann gleich der andere, und die Frau Malazka kam unten an, deutlich sanfter als vorher der Langkornreis, den sie ganz ohne Jammern vom Boden aufhob und zum Brot auf die Echtholzvitrine dazustellte.
Sie wollte sich von ihrem Missgeschick vorher zwar nichts anmerken lassen, hatte es aber mit dem fehlenden Jammern nach den Langkornreisaufheben schon getan.
Sie meinte:
„Ja! Da schaun ’S, ha? Ham ’S schon g’laubt, jetz is vorbei mit uns beidn und Sie stehn da gleich allein da nebn ana totn Frau als Hauptvädächtiga. Des wär doch was g’wesn fürn Sonntag am Nachmittag, oda? Schon, gö? Da wär wieda amal was los g’wesn, das ganze G’schäft volla Leute, wie früha. Da hab i ja no was zum tun g’habt andauernd, aba jetz? I glaub ja, es is das ganze Sitzn, warum alles hin wird innen drin bei mia. Und findn ’S amal an g’scheitn Sessl irgendwo! Bei den ganzn modernen, die ham ja alle irgndwelche Orthopädn mitentwicklt, alle san ’s orthopädisch, na was glaubn ’S? Wern si de da alle selbst a Haxl stelln? Ich sag ’s Ihnan, vorige Wochn war i bei da Seniorengymnastik, wie die da alle am Bodn umadumstrampln dortn, die lachn uns aus alle, da bin i ma sicha. Die lachn sich zum Krüppl bei denen ihren dauerndn Orthopädnkongressn da in da UNO-City, Tränen in die Augn ham ’s a Wochn lang! Aba, die Nudln! Die Nudln warn dann aba das letzte dann, oda?“
Ja.
Die Nudeln, die waren das Letzte.

Das Letzte, und Herbert Kritzendorfer wusste, er brauchte noch gar nicht anfangen damit, das Geldbörsl hinten raus aus der Gesäßtasche seiner zu engen Hose zu zwängen, die Frau Malazka hatte die Nudeln ja am besten für sich schlecht erreichbar im Regal liegen, weder unten, noch oben, dazwischen. Dazwischen, auf sinnvoller Höhe, dort, wo sie nur ungeschaut mit der Hand hätte hingreifen müssen, ohne irgendwelche Schwierigkeiten, wären da nicht die vielen uralten Marmeladegläser gewesen, die um die Nudeln herum, bis rauf zum nächsten Regalboden vierstöckig aufgeschlichtet, ihr selbstgemachtes Gefängnis aufzogen. Dort, dahinter, hinter dieser viereckigen, längst abgelaufenen Mauer aus Marmeladegläsern mit ihren hübsch polierten Ziegeln voll geronnenem Dunkelorange und Dunkelbraun und Schwarz, dort lagen sie, die Spaghetti, die Herbert Kritzendorfer bestellt hatte, dort drinnen eingeschlossen, mit den Fleckerln und den Spiralen, alle drei Sorten wie durchgemischt. Herbert Kritzendorfer wusste das, er hatte was jetzt dann folgen würde ja schon öfter mitangesehen, er wusste, dass die Frau Malazka das am Liebsten hatte, wie sie Marmeladeglas für Marmeladeglas vorsichtig würde abräumen müssen, eins nach dem anderen, bis sie irgendwie endlich mit der Hand zu den Nudeln dazukam, durch durch das vier bis sechs Marmeladenglas große Loch oben vorn im Nudelgefängnis und die Frau Malazka dann die richtigen Nudeln mit den Fingerspitzen an der Form ertasten musste, weil vorher hineinschauen tat sie nie.

„Typisch is des! Da stehn ’s herum seit ewige Zeitn, alle mit Liebe g’macht, alle mitananda! Aba keina braucht ’s! Ich sag’s Ihnan, z’Fleiß is des, das meine ganzn Marmeladn ma da bis ins Grab da im Weg umadumstehn. Als hätt i ’s extra nua dafür einkocht und dann abg’füllt und dann in Deckl draufgschraubt und noch a Maschal drumherum bundn. I mein, wer machtn scho sowas? Aba ja, Sie wissn eh, ma muss ja net alles vastehn auf dera Welt, oda? Gö? Scho. I mein, kost ja nix. Die fünfhundat Schilling, gehn ’S bitte, dasselbe Preis seit imma, seit i meine Marmeladn da aufstelln hab müssn um die Nudln herum, weil sonst ja ka Platz is nirgenst. Und fünfhundert Schilling, also ernsthaft jetz, das is ja ka Preis für was Hausg’machtes. Übaall schrein ’s da do danach heutzutage im Fernsehkastl drin, aba da, da schaun ’S: I bring ’s und bring ’s net an, meine Marmeladn. Als wärn ’s aus irgendam deppatn Grund unsinnign unvakäuflich!“
„Unvakäuflich.“
Die Frau Malazka wiederholte ihr letztes Wort konzentriert wie beim Fliegerbombenentschärfen, mit der Zunge im Mundwinkel, mit ihren Unterlippe über der oberen, und da hatte sie das Packerl Spaghetti auch schon routiniert von den Fleckerln und den Spiralen vom Gefühl her an seiner Länge unterschieden, aber dann: Dann wollte die Frau Malazka das halbe Kilo Spaghetti, von dem Herbert Kritzendorfer wieder jedes Mal viel zu viel machen würde aus Angst es könnte zu wenig werden, die Frau Malazka, sie wollte es gerade behutsam herausheben aus dem gerade großgenugen Loch in der Marmeladeglasmauer drumherum, in der ihre Hand fast bis zum Ellbogen drinsteckte, und im dümmsten, im letzten Moment stieß sie an. Ganz leicht nur, mit dem Knorpel außen am Handgelenk, der fast schon draußen war, es war mehr ein Streicheln, ein weiches Anstreifen, kaum dass sich das berührte Marmeladeglas auch nur bewegt hätte, wäre die Frau Malazka nicht davon schon so überrascht gewesen, wie es in ihrem Gesicht geschrieben stand.

Herbert Kritzendorfer hätte sich nie gedacht, dass er das einmal miterleben dürfte.
Wie die Frau Malazka beim Nudelholen die Marmeladen alle runterschmeißt.
Aber da: Ein erschrockenes Ganzkörperzucken, ein Augenaufreißen, und schon ging alles ganz schnell, und ganz abwärts.

Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, immer schneller, die Frau Malazka, sie stand da, ohne Dagegenhalten, ohne Dasschlimmsteverhindern, mit den Augen zu, wie als reichte ihr das Geräusch, mit dem um ihre Füße herum die Marillen und die Brombeeren und der Rhabarber von vor Jahrzehnten nacheinander aufschlugen, wie sie ihre Verglasung klatschend davonsprengten, wie sie viel fester waren als flüssig. Fester, zwischen und in und auf den Scherben, da lagen sie, die Marmeladen, wie dicke, bröcklige Gummiwürstl mit abgehackten Enden, wie jetzt offiziell zum Verzehr ungeeignet, wie Magenauspumpen schon vom Hinschauen, und es roch wie nach gar nichts. Es roch nach nichts, wie als wäre da kein Geruch mehr da, als wäre da nur noch das Ehklar in der Luft, dass das irgendwann passieren hatte müssen, und die Frau Malazka watete mit verkanteten Augenbrauen durch durch das ganze Malheur und legte die Spaghetti oben auf die Echtholzvitrine zum Brot und zum Langkornreis und sie fragte:
„Und? Ham ’S das g’sehn jetz? A Sauarei is des sondagleichn, oda? Da passt amal kurz net auf, und scho is alles weg, als wär net amal aufs Hirn a Verlass mehr. Typisch! Typisch is des, sag ich ihnan, is ja auf nix mehr a Verlass heutzutage. Aba ja, von mia aus, dann halt net, denk ich ma langsam, mach i ma halt a paar neue Marmeladn, is ja ka Hexerei und Zwetschkn san eh in Saison grad, schlepp i mi halt wieder ab damit, ka Problem. Ich mein, sonst liegn die Nudln am End da nur so nackert da herum, das schaut ja dann a nix gleich, oda? Ebn. Und wissn ’S, gestern, wissn ’S, was ich ma da hab anhörn müssn beim Damenkränzchen von da Frau Hofbauer wegn da Optik vor vierzehn Tag? I sollt ma do die Haare färbn, rot oda lila oda sonst was, wegn dem jugendlichn Flär. Gut für’s G’schäft wär das, weil grau is ja net mehr mit der Zeit gehen, hat ’s g’sagt, und i hab ma übalegt, ob i ’s net gleich gach umbring dortn. Warum net, hab i ma da dacht, warum net. Und ma, wie ma da Bauch wehtan hat vor lauter Lachn nur vom Vorstelln her wie i de Guakn dort in da Kloschüssl datrenk, da ham ’s wieda alle deppat g’schaut, die ganzn altn Weiba. Aba ja: Dafür brauch i halt ka Simpl mehr, erspar i ma in Eintritt, is ja a wos. So. Gut. Hätt ma das auch besprochn. Dreißig Schilling und vierzig Groschen wärn das dann.“
Ja, so funktionierte das bei der Frau Malazka.
Deshalb kamen die Leute.
Oder sie kamen nicht.

Und als Herbert Kritzendorfer sein Geldbörsl aufmachte und den genauen Betrag in Münzen zusammensuchte, war er gekommen, der erste und einzige Moment, die Frage zu stellen, für die zu stellen er gerade genug Geld mithatte.
„Flasche? Was meinen ’S für a Flasche? Nochamal? Aso! Aso die, die da draußn in da Auslage. Na, seavas, gehn ’S bitte, fragn ’S mi bitte was Leichtares. Die steht scho so lang dortn, ka Ahnung mea, was da drin is und wo de herkommen is. Vielleicht vom meim Mann no, irgendein Schnaps so wie i den kenn. Aba ja, kommen ’S ma da jetz ja net auf blöde Gedankn, gön ’S. Wegn Ihnan mach i da jetz keine Experimente mea mit da Auslage, also das können ’S gleich amal vagessn. Was liegt, des pickt bei mia, und da fahrt die Eisnbahn drüba. Also wirkli, Herr Kritzendorfer, Sie kennen mi do schon so lang, ham ’S wirklich nix g’lernt von mir? Glauben ’S wirklich i mach ma da das Lebn unnötig schwer, oda was? Also, bitte.“
Die Frau Malazka grinste.
Herbert Kritzendorfer auch.
„Und? Hamma dann alles? Alles? Passt! Na, dann wünsch i Ihnan an schönen Tag heut no. Morgn soll’s eh wieda schirch werdn, ham ’s gestan ang’sagt. Aba wissn ’S eh: Was die imma alles ansagn im Wettabericht! A Wahnsinn is des, was die da dauernd zamspinnen.“
Das silberne Glockenspiel klingelte.
„Auf Wiedaschaun, da Herr! Und passn ’S ma auf, hörn ’S, auf die Stufn!“
Kurze Zeit passierte dann nichts.
Nur die Frau Malazka, die ihre Hände mit den Handflächen aneinander rieb.
„Genau!
Haarefärbn?
Von wegn!
Pffft!
Genau!“, und die Frau Malazka zog dann den alten Teddybär von unter der Echtholzvitrine heraus, und setzte ihn oben hin.
„Stell da vor“, sagte sie, „Na stell da nua amal voa.“
Sie sagte, „Stell da nua amal voa, was die sicha alles für Fragn habn, wenn nächste Wochn du da plötzlich draußn in da Auslage sitzt, hm?“, und sie streichelte dem Teddybär über den Kopf mit der einen Hand, und hob die Faust mit der andren.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 13034