Archiv der Kategorie: Veronika Seyr

My personal Sandler (Die Geschichte geht weiter)

Heute, am 2. Mai 2018, um 11 Uhr 05, trete ich aus meinem Haustor auf die Wiedner Hauptstraße und sehe eine über eine Baumscheibe gebückte Gestalt. Graubraune Schlabberhose und graugrüner Pullover, die dunkelgraue Haarmähne im Nacken gerade geschnitten. Der Oberkörper ist in eindeutiger Pose nach vorne gebeugt, die Hände im Schritt, die Beine gespreizt über der Gehsteigkante und den immergrünen Büschen. Die Lache darunter ist so tief, als hätten die glorreichen Wiener Gärtner eben die Grünflächen geflutet. Zwei Frauen kommen mir entgegen, Ekel deutlich ins Gesicht geschrieben, die Lippen verzogen und die Augen hin- und wegbewegt mit einem Verständnis heischenden Halblächeln mir gegenüber; sie hatten von vorne kommend mehr gesehen als ich.

Eindeutig steht fest, als ich die Plastiklatschen an den dunkelbraunen Füßen sehe – er ist es, wieder aufgetaucht aus seinem unbekannten Winterquartier – mein Sandler. Er hat diesmal keinen Einkaufswagen dabei, sondern einige Taschen von Spar und Billa, die er am Gehsteig abgestellt hat wie andere einen Rollkoffer. Fantastisch finde ich, dass er neben seinen Plastiklatschen auch seiner ursprünglichen Kleidung treu geblieben ist, in der ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte.

Nach einer Stunde beim Orthopäden trete ich wieder auf die Wiedner Hauptstraße; ich bin wegen meiner eben erhaltenen Diagnose etwas unaufmerksam gegen meine Umwelt, da knallen mir einige Ecken und Kanten in die Kniekehlen. Spar- und Billa-Taschen, und darunter graue Plastiklatschen. Sie biegen in das Portal des Spar Gourmet ein.
Mit diesem Blick kommt noch der letzte Gedanke: Werden sie ihn einkaufen lassen?
Einige Zeit warte ich, aber er kommt nicht so schnell wieder heraus.

Vielleicht haben sie ihm etwas verkauft, weil das Personal dort ausschließlich aus Ausländern besteht: Die meisten sind Ex-Jugos, an den Kassen abwechselnd ein Rumäne, eine Tschechin, ein Slowake, eine Kosovarin und eine Sri Lankerin.

Das Vorangegangene finden Sie unter http://www.verdichtet.at/?p=8068

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: spazierensehen | Inventarnummer: 18133

Was Pag mit uns macht

Obwohl die fünftgrößte der Adria-Inseln, ist Pag ähnlich unbekannt wie die Rückseite des Mondes. Und so schaut sie auch aus. Und wenn berühmt, dann nicht für ihren Reichtum, sondern für ihre Kargheit. Und diese karge Schönheit muss man auch noch suchen.
Oder man hat Glück, und sie überfällt einen. Der Mai dieses Jahres machte es mir nicht schwer.

Der Weltuntergang hat hier schon vor langer Zeit stattgefunden, die Abholzung der Bäume für die römischen Galeeren und in Folge das Verschwinden der gesamten Vegetation. Das lässt den Großteil der Insel Pag seit 2000 Jahren wie eine Marslandschaft aussehen. Apokalypse heißt ja auch „Enthüllung“ (hab ich gegoogelt), und enthüllter kann eine Erdoberfläche nicht sein. Aber doch nicht ganz. Ihr nordwestlicher Zipfel mit dichten Steineichenwäldern und den ältesten wilden Olivenbäumen der Welt überrascht und versetzt einen dann in einen Olivenbaum-Wahn. Die wilden Oliven – diesen Unterschied muss man machen, denn die ältesten kultivierten wachsen auf Kreta. Sorry, Pag.

Auf den Hügeln hinter dem kleinen Hafendörfchen Lun erstrecken sich in lichten Wäldern die alten Baumriesen, die die Bewohner seit Generationen veredeln. Knorrig, vielfach in sich selbst verdreht und gewunden, manchmal wie Drachen am Boden geduckt, in alle Richtungen gestreckt und gequält wie Christusse am Kreuz, nehmen sie die Steine in ihre Stämme auf und leben in Harmonie mit ihnen. Offenbar bekommen sie etwas von ihnen. Ihre Früchte trotzen sie dem steinigen Boden ab und kämpfen Jahr für Jahr mit den Stürmen der Bora und des Scirocco, hier Jugo genannt. Auch in der gnadenlosesten Sonne harren sie aus, nichts anderes gewöhnt, die heiteren, silbergrauen Wächter des Paradieses, selig in ihrer Wildnis, von nichts umgeben als von Licht, Luft, Feld und Meer. Schafe, unsichtbar irgendwo hinter Natursteinmauern. In Gigantenarbeit graben die Inselbewohner die Felsblöcke aus der Erde, türmen sie auf und schaffen Reihen von Unendlichkeiten, mäandernde Traumlinien in Weiß, Grau und Rosa durch die Landschaft, dazwischen knallt sich baumhoher, goldgelber Ginster hinein.

Natürlich gedeihen die Oliven auch wegen der Liebe und wegen dem Stolz ihrer Besitzer. So einer ist Edo, unser Gastgeber und jetzt unser Führer.
Mit Ante Gotovina will er nichts zu tun haben. Er schüttelt unwillig den Kopf und macht eine wegwerfende Handbewegung, als ich auf das Denkmal hinweise. Unter einem 1600 Jahre alten Ölbaum haben Kameraden dem verurteilten Kriegsverbrecher des „vaterländischen Krieges in ewiger Liebe und Dankbarkeit“ einen Stein gesetzt.
Weiter oben sitzen wir dann unter dem ältesten mit 2000 Jahren, lange schweigend. Es sind auch einige Baum-Umarmer-Leute dabei.

In keiner Mythologie, in keinem Epos ist von Pag die Rede. Keine Helden sind hier gestrandet, keine Göttinnen an Land gestiegen oder in den Hades gefahren, keine Schlachten wurden geschlagen, es gibt keine Höhlen mit Riesen, auch keine schönen Mädchen am Strand, die die müden Krieger verzaubern oder laben. Auch ist nichts bekannt von Tempeln und Klöstern, in denen weise Männer Visionen hatten und aufschrieben, über die die Menschheit jetzt noch rätselt. Pag ist einfach nie ein Thema in der Weltgeschichte gewesen. Und in der Geografie nur ein unscheinbarer Steinhaufen. Ein zorniger Gott hat seinen Schlatz über diesem Meer hinterlassen, und er wurde zur Insel Pag. In Griechenland habe ich einmal die Geschichte des Schöpfungsmythos gehört, der auch auf diese Adria-Insel zutreffen könnte: Sie sind bei der Länderverteilung zu spät gekommen, da sagte Gott, er hat nur noch ein paar Gebirge und Felseninseln zu vergeben. Aber er schenkt ihnen den Olivenbaum, wenn sie ihn gut behandelten, würden sie nie Mangel leiden.

Noch eine andere Pager Delikatesse verdankt sich der Kargheit, der Schafkäse. Außer im kurzen Frühjahr gibt es kaum grünes Gras, die Tiere ernähren sich hauptsächlich von Strohblumen und Disteln, von Minze, Salbei und Thymian, was den Paski sir so besonders würzig macht. Wenn sie können, knabbern sie auch an Feigenbäumen, Steineichen und Rosen. Wahrscheinlich ist es genauso bei den Schweinen, die den köstlichen Paski prsut, den Pager Schinken, hergeben. Was Schafe und Schweine vielleicht nicht so wahrnehmen wie wir (aber wer weiß das schon so genau?), sind die Gerüche, die von diesen bescheidenen Felsenhaufen ausgehen.

Pag ist eine Duftinsel. Ich gehe die Straße hinunter zum Hafen unter Palmen, Feigenbäumen und Oleander, neben mir eine Hecke aus Rosmarin, höher als ich und dick wie ein Autobus, wuchert sie aus dem Zaun heraus, weiter ein Wäldchen aus hochgewachsenen Ginster- und Lavendelbüschen, ausladend wie Palmenkronen. Das sind nur die sichtbar auffälligsten, aber die vielen ebenso stark duftenden Kräuter und Gräser kann ich nicht beim Namen nennen. Wenn wir am frühen Morgen und am Abend von unseren Übungen zurückkommen, umgibt einen die Luft wie eine Geruchssymphonie, die einhüllt wie ein weicher, wohliger Mantel. Sie schmeichelt und streichelt so zärtlich, dass man sie umarmen und esstrinken möchte. Die Möwen mit ihrem Kampfgeschrei sind immer da.

Auch der dritte Reichtum wird der Natur nur mit Mühe entzogen – das Meersalz in den Salinen von Pag. An manchen Stellen ist die Insel so schmal, dass man glaubt, mit der Hand einmal auf dieser, einmal auf der anderen Seite eintauchen zu können. Überall sieht man übers Meer hinweg. Jenseits des tiefblauen Wassers fallen die schroffen Felswände des Velebit-Gebirges in einer Fülle von wechselnden Farben und Formen in die Fluten. Und auf der anderen Seite, zur offenen Adria hin, reihen sich Inseln an Inselchen, Vorgebirge an Halbinseln und große an kleine Buchten. Manche Landnadeln ragen so schmal und spitz ins Meer hinaus, dass man sich wundert, warum dort keine Schiffe und Segelboote aufgespießt sind wie Schaschlik.

Auf das Festland hinter dem Velebit schaue ich anfangs nur mit Scheu hinüber und schnell wieder weg. Mit Schaudern kommt die Zeit vor 25 Jahren zurück, als dort der jugoslawische Bruderkrieg tobte und ich dabei war. Die Linie von Karlobag bis Karlovac erobern, hieß damals die großserbische Losung. Bei der Bezirkshauptstadt Gospic lag ich anstatt an Adria-Stränden in kroatischen Schützengräben. Die Naturwunder der Plitwitzer Seen waren heftig umkämpft und vier Jahre lang von serbischem Militär besetzt. Als die kroatische Propaganda verbreitete, die barbarischen Tschetniks hätten angeblich den Nationalpark geflutet, zerstört, kämpfte ich mich dorthin durch, um festzustellen, dass das eben nur, wie vermutet, politische Gräuelpropaganda war. Für die Natur ein Glücksfall: Nie konnte sie sich so gut erholen, als damals, als die Touristenpestilenz ausblieb. Nie hab ich eine köstlichere Forelle gegessen, die mir ein illegaler Fischer zugesteckt hatte.

Und um den Vergleich auf die Spitze zu treiben, lassen sich noch die Pager Spitzen anführen. Die Inselfrauen zaubern aus einem dünnen Zwirnsfaden und sonst nichts außer Luft in den langen Wintermonaten Kunstwerke hervor. Die Touristen kaufen die Spitzendeckerl im Sommer gerne und legen sie dann im nördlichen Eigenheim unter ihre mickrigen Gummibäume und Philodendren.

Edo erzählt, dass auf den Inseln kein einziger Schuss gefallen ist, und trotzdem brauchten sie 15 Jahre, um sich zu erholen.
Erinnern, gedenken, nicht vergessen. Noch früher – aber gar nicht so lange her – war Pag die Hölle auf Erden: Das faschistische Ustasha-Regime ließ hier das KZ Slana anlegen und ermordete zwischen Juni und August 1941 tausende Menschen – Serben, Juden, Bulgaren, Armenier, Roma, Sinti und regimekritische Kroaten, Kommunisten und Agrarier. Das Nebenlager Metanja wurde extra für Frauen und Kinder errichtet. Sie ließen sie in den Saline-Feldern verrotten, warfen sie in Bergwerksschächte oder schlachteten sie einfach ab. Die Strände der neuen Party-Destination Novalija sollen meterhoch mit Leichen übersät gewesen sein. Die italienischen Besatzer waren so entsetzt, dass sie die KZs schlossen. Die kroatischen Ustasha-Schergen ließen sie aber zusammen mit ihren Opfern abziehen, die fast alle im innerkroatischen KZ Jasenowac ermordet wurden.

Man sieht es sofort, wenn man ankommt: Diese Insel ist eine Bezwingerin, Überwinderin, Überlebenskünstlerin. Sie hat nichts. Nicht einmal einen Wikipedia-Eintrag von berühmten Söhnen und Töchtern. Sie hat keine berühmte Zauberin aufzubieten, sie ist selbst eine. Sie macht aus dem Mangel eine Fülle, aus Wirrnis Ordnung, aus Eintönigkeit Abwechslung, aus Einfachheit Komplexität, als wäre sie die Inkarnation der dialektischen Philosophie.
Der Mangel schärft die Sinne und macht empfänglich für alles, was möglich ist. Weckt das Schlummernde auf und befördert es ins Leben.

Das müssen die Entdecker und Erfinder der Pager Woche unmittelbar gefühlt haben, als sie sich hier niederließen und ihnen Gleichgesinnte seither freudig folgen. Vom Gefühl zur Erkenntnis und zur Tat, dass Qigong, Taiji und Shaolin besonders gut hierher passen, in eine Abstraktion von Natur, wie das Bild einer chinesischen Steinabreibung. Die Umwandlung von Energien in etwas Neues, Besseres, Reicheres.

Diese Insel strickt wie im Märchen aus leer gedroschenem Stroh Gold. Das macht demütig und dankbar.

Wien, 8.6.2018

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung: Der Standard, 14.7.18, Album, S. A4/5
unter dem Titel: „Eine Insel als Überlebenskünstlerin“

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 18130

Die Ohrfeige der Tante Fritzi

Sie war die älteste Schwester meines Vaters und meine Taufpatin. Eine Auszeichnung für das ganze Leben. Ich war sehr stolz auf sie, weil sie eine von allen hochgeachtete Person war. Sogar mein Vater hörte auf sie. Und ihr Mann, mein Onkel Franz Puchberger, war nicht nur ein Riese von Gestalt mit einem großen, immer roten Kopf, sondern der respektierte und gefürchtete Herr Direktor, Direktor der einklassigen Volksschule von St. Nikola. Er unterrichtete alle Kinder der acht Klassen in allen Gegenständen. Meinen älteren Geschwistern, die noch in seine Fänge gerieten, war er der Albtraum ihrer Kindheit. Aber davon redeten sie erst viel später, als sie schon nicht mehr in seiner Gewalt waren. Es gab nichts, worum wir nicht konkurrierten, vom Kirschkernweitspucken, vom Skabiosen-Köpfe-Abreißen und -Weitschießen bis zum Sauerrampfer- und Brennnesselschlucken, dem Einsammeln von Kartoffelkäfern, Schwammerln und Beeren aller Art bis zu Zwetschkenknödelessen und dem Weitpinkeln – das betraf natürlich nur die Brüder und Cousins.

Aber wichtiger war die Hierarchie der Taufpaten und -patinnen. Hedwig, zum Beispiel, hatte die Tante Sefi, Vaters jüngste Schwester, das Fräulein von der Post, nicht sonderlich hochgestellt in der Hierarchie, weil sie als Jüngste und Unverheiratete die Dienerin und der Blitzableiter der Großmutter war. Die Kinder entwickeln schnell ein gutes Gefühl dafür, was unter den Erwachsenen läuft, von oben nach unten. Liesl hatte Tante Liesl als Taufpatin, die war abenteuerlich und lieb, aber fast immer weit entfernt. Sie lebte in New York und kam nur einmal im Jahr auf Besuch.
Agnes hatte Tante Paula, mir die allerliebste von allen, aber keine richtige Tante, nur eine Freundin der Familie. Und dazu nur im Lehnstuhl, alt und schrullig. Ich mochte Tante Liesl sehr, aber meine Schwester bedauerte ich. Ähnlich gelagert war der Fall des ältesten Bruders Helmut. Er bekam Franz König als Taufpaten, der später Kardinal wurde, einen Jugendfreund meines Vaters, sicher die höchstgestellte Persönlichkeit unter den Taufpaten.
Am meisten beneidete ich Bernhard. Sein Taufpate war Onkel Klaus. Er war der Chef der Großfamilie, in die ich geboren wurde. Alleinerbe des Bräuhauses und Inhaber der Firma, besaß zwei Lastkraftwagen, viel Grund und Wald, hatte zweieinhalb Angestellte und eine strenge Frau, meine Tante Sofie, die später meine Firmpatin wurde. Wen Franzi zum Taufpaten hatte, ist mir nicht in Erinnerung geblieben. Vielleicht den Sohn von Tante Liesl in New York, von dem ich nur wusste, dass er Franz Kuno hieß und als Brother David ins Kloster Mount Savior ging und später als Jesuit und Buddhist sehr berühmt wurde.

Wir hatten nicht nur eine Regierung der Eltern, sondern eine Unterregierung der Taufpaten. Die Firmpaten rangierten etwas weiter dahinter. Weil im Firmungsalter war man entweder schon ein guter Christ oder es waren Hopfen und Malz verloren. Gab es eine Hierarchie der Sakramente? Konkurrenz? Würde mich in dieser Familie nicht wundern.
Mir kommt vor, dass diese Onkel und Tanten mächtiger waren als die Eltern, weil diese sehr vieles, was sie selbst nicht bewältigen konnten, auf Erstere abschoben und sie in die Pflicht nahmen. Sie hatten ja bei der Taufe ein Gelübde abgelegt, darüber zu wachen, dass wir gute Christenkinder wurden.

Von meiner Tante Fritzi habe ich nur Gutes in Erinnerung. Ich fand sie himmlisch schön und elegant. Ich glaube, dass sie mich mochte, obwohl sie sehr streng zu mir war. Ihre beiden Kinder Inge und Wolf waren um vieles älter und schon aus dem Haus. So nahm sie mich wie ein spätes Kind an. Ich habe mehr frühkindliche Erinnerungen an sie als an meine Mutter. Sie war eine richtige Dame, wohnte in ihrem eigenen Haus, hatte einen Garten und bekam viele vornehme Besuche. Tante Fritzi gab Klavier- und Gesangsunterricht. Wenn ich wie ein Mäuschen von der Küche aus ihren Unterrichtsstunden zuhörte, glaubte ich mich im Himmel, so schön waren ihre Stimme und ihr Spiel. Gestorben und im Himmel zu sein, das waren in meiner Kindheit gute Zustände.

Sie leitete den Kirchenchor und war die Organistin der Kirche des Heiligen Nikolaus. Nur die Stimme von der Kranzer Liesi war noch schöner, engelsgleich. Aber die ließ man nicht immer singen, weil sie sich nicht an die Noten hielt und vor lauter Begeisterung über die eigene Stimme zu improvisieren begann und damit nicht mehr aufhörte. Das fanden nicht alle schön und es störte den streng geregelten Ablauf der Messe doch erheblich.
Auch Tante Fritzis Tochter Inge und Tante Sefi waren mit Engelsorganen gesegnet.
Diese vier machten den Großteil des St. Nikolaer Kirchenchores aus. Das Schönste war aber doch die Orgel der Tante Fritzi. Meine Liebe zur Musik geht sicher auf die Kirchenmusik in der Dorfkirche zurück.
Dieses Brausen, diese Fülle, diese Macht, die Lautstärke und dann wieder die Zärtlichkeit wie von einer einzigen Flöte. Ich lernte als erstes Instrument Flöte.
Vor den Hochämtern ging Tante Fritzi im Pfarrhof aus und ein, hatte Gespräche mit dem Pfarrer, Hochwürden, zu denen ich sie begleiten durfte, natürlich nur bis in den Vorraum. Die Pfarrersköchin Nannerl kümmerte sich währenddessen um mich. Ich bekam Himbeersaft und Kekse. Es roch dort immer nach einer Mischung aus Vanillekipferln, Weihrauch und Mottenpulver. So stellte ich mir das Vorzimmer zum Himmel vor.

Für das Glockenläuten waren die Buben zuständig. Die Seile hingen im Vorhaus der Kirche aus dem Turm herunter.
Sie zogen daran, ließen sich hochziehen, baumelten eine Zeitlang an ihnen und kamen wieder auf den Boden. Stießen sich ab und ließen sich wieder nach oben tragen. Das ging so lange, bis draußen das ganze enge Donautal überschallt war und drinnen in der Kirche das Bimmeln der Ministrantenglöckchen erklang. Das Hochamt konnte beginnen. Der Pfarrer kam in vollem Ornat von rechts aus der Sakristei und bezog seine Position vor dem Altar. Vom Chor die Orgel, Vorspiel, schwoll an und breitete sich aus.
Ich mochte alles in der Kirche und an dem Gottesdienst, der Mesner hielt an einer langen Stange den rotsamtenen Klingelbeutel in die Bankreihen hinein und murmelte immer sein Vagösgod, Godvagöds. Lange Zeit glaubte ich, er sei ein Finne oder Ungar, zurückgeblieben vom Krieg, der war ja noch nicht so lang vorbei, weil ich ihn nicht verstand. In den hölzernen Heiligen Nikolaus auf einem Podest links vom Altar war ich verliebt und wollte ihn später heiraten. Weil er doch der beste Mensch war und die Kinder beschenkte.

Wann genau das war, weiß ich nicht mehr: Vielleicht war ich fünf, höchstens sechs Jahre alt. Nach langem Betteln erlaubte mir Tante Fritzi einmal, den Blasbalg zu bedienen. Treten hieß das. Etwas so Feierliches wie das Hochamt am Ostersonntag. Sie intonierte die Intrada der Schubert-Messe.
Die Orgel war sehr alt. Ihr Blasbalg war eine Art von beweglicher Stufe, die je nach Menge der Luft rauf und runter ging. Man musste das gleichmäßig machen, damit die Orgel nicht ins Stottern kam. Rauf ging es von selbst, die Luft hob die Stufe empor, war man aber oben, musste man Druck ausüben, damit sich die Stufe wieder senkte, damit der Blasbalg zusammengedrückt wurde.

Ich liebte dieses Aufwärtsschweben auf der Luft. Zum Runterdrücken stützte ich mich mit beiden Händen am Rahmen ab, ging in die Knie und drückte mit aller Kraft nach unten. Aber es passierte: Ich weiß nicht mehr, warum, ging mir die Kraft aus, war ich abgelenkt vom Hochamt unten? Der Orgel ging die Luft aus, sie schnaufte, röchelte, krächzte, rasselte und versickerte dann in einem quietschenden Seufzer, die Tonleiter abwärts. Eine Art von langgezogenem Furz, Schas, Boller, Pu, wie auch immer, ziemlich unheilig in einem Hochamt. Jeder in der Kirche dachte an das Gleiche, im Hochamt Gehörte. Dann Stille. Drei Sekunden oder drei Ewigkeiten.
Die Gesichter drehten sich zurück und hinauf zum Chor. Stille, nie war sie tiefer. Füßescharren und Räuspern. In diese Stille hinein klatschte eine Ohrfeige. Eindeutig eine Ohrfeige. So kann nur eine Ohrfeige klingen. Hart, kurz, fett und schmatzend, auch sehr körperlich wie auf ein nacktes Hinterteil. Die zarte, sanfte Tante Fritzi hat ungeahnte Kräfte.

Bei mir klingelte es in den Ohren und vor den Augen tanzten die Sternchen. Ist das jetzt der Himmel? In jeder Kirche ist man ihm immer näher, und dann auch noch auf dem Chor neben der göttlichen Orgel. Ich glaube bis heute, dass mir Tante Fritzi nicht wirklich eine Ohrfeige geben, sondern mich nur aus meiner misslichen Lage oben auf dem Blasbalg befreien wollte. Schnell eilte der Mesner Sepp die Stufen herauf auf den Chor, schubste mich vom Blasbalg weg. Mit neuer Luft aus dem Blasbalg setzte Tante Fritzi ihr Orgelspiel fort bis zum feierlichen Brausen des letzten Stücks, das mir so gut gefiel, dass ich immer weinen musste:
Großer Gott, wir lo-o-ben dich! Herr, wir preisen dei-ei-ne Stärke.Vor dir nei-ei-gt die Erde sich und bewundert deine Werke.

Nur wie sich die Erde – eine Kugel – vor Gott verneigt und ihn gleichzeitig bewundert, dieses Bild konnte ich nie zusammenbringen.
Es war übrigens die einzige Ohrfeige meines Lebens. Bis jetzt.

Wien, 24.3.18

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: unerHÖRT! | Inventarnummer: 18129

Die Liebe der Seekuh (Italien 6)

1.
Letztlich bin ich doch noch nach Punto Maria del Leuca gekommen.
Enttäuschung pur. An der Kirche und dem Leuchtturm vorbei. Ist das die einzige hässliche Kirche in Italien? Und der Leutturm passt besser nach Gotland als nach Apulien. Dann die Palmen-Eukalyptus-Oleander-Promenade entlang. Sie stehen stehen still da, zernepft und habtacht wie preußische Feldwebel. Beim Holzkreuz für den Woityla-Papst-Besuch liegt ein verdorrtes Lorbeergebinde mit polnischer Inschrift. Polnische Papst-Touristen. Ansonsten glänzt die Riviera mit verrammelten Pizzarien und Eissalons, die Strandvillen blind und abweisend mit den zugeschlagenen Fensterläden, Boote umgedreht, kieloben am Bauch und in Zeltplanen gewickelt wie Polizeileichen.
Nur wenige Spaziergänger unterwegs, einige mit Hunden, diese scheinen mir alle dreibeinig, vielleicht ziehen sie ein Bein ein wegen der Kälte. Ein dunkler Männerhaufen vor einem Café, ein anderer vor einem Tabacchi an der heute nicht sonnenbeschienenen Häuserfront.

Auf einer Bank sitzt die alte Engländerin vom Vortag und liest in einem Buch – Apulien-Dumont auf Englisch mit bunten Sommerfotos. Sie hat also trotz meiner mangelhaften Auskunft das Meer gefunden. Ich grüße sie, aber sie erkennt mich offensichtlich nicht wieder. Das höfliche, den Briten angeborene Lächeln klebt in ihrem viktorianischen Porzellangesicht. Eine Teekanne mit Schnabeltasse. Wahrscheinlich muss man von den britischen Inseln kommen, um es am Punto lauschig zu finden. Sie kann nichts dafür, ich sehe wirklich sehr anders aus als gestern bei meinem ersten Spaziergang über die Piazza San Rocco. Ich bin fest in meinen violetten Daunenmantel eingemummelt, habe mich mit gleichfarbiger Wollmütze, großem Schal und festem Schuhwerk kälte- und windresistent zu machen versucht. Die komplette Winterausrüstung aus Wien! Nie hätte ich gedacht, dass ich meine Reisegarderobe hier im Süden brauchen würde. Die abgebrochene Sturmwanderung von gestern war mir eine Warnung.

Ich gehe aus dem Ort hinaus zum äußersten Absatz des Stiefels. Von wegen Stiefelabsatz – ich hab ihn eigentlich immer eher als Stöckelschuhspitzel angesehen oder einen Handschuhfinger, in den man hineinschlüpfen muss. So eng ist mit jetzt auch zumute. Gegenüber soll Korfu liegen, das traumhafte Kerkyra mit dem Achilleon. Nicht einmal hundert Kilometer entfernt. Noch viel früher, als ich noch Sisi-Fan war – nicht wegen Romy, sondern weil ich Axel Cäsar Conte-Corti verschlungen habe – bin ich ins Achilleon gepilgert und der Kaiserin bis heute dankbar, dass sie mich mit ihrer großen Liebe, mit Heinrich Heine, angesteckt hat. Genau hier soll sich die Adria mit dem Ionischen Meer vermählen. Wenn man das Tyrrhenische dazunimmt, könnte man von einer Ménage-à-trois reden.

Meine Vermieterin hat mir erzählt, dass die Meere im Sommer einen scharfen Kamm bilden und sich kilometerlang nicht mischen. Was für eine Ehe! Die Liebe der Stachelschweine und der Warane. So eine wie ein Stückchen weiter südlich zwischen Skylla und Charybdis? Nichts davon ist heute mit freiem Auge zu sehen. Das Meer ist einheitlich grau-grün-weißlich wie meine Waschmaschine im letzten Schleudergang, es tobt, brodelt, kocht, braust und zischt, obwohl kein Wind zu spüren ist. Der feuchte Hauch kommt vom Wasserdampf der aufsteigenden Gischt. Die späten Ausläufer des Sturmes der letzten Tage lecken unerbittlich an dem Sand, braun-gelbe Bläschen und Schaumkrönchen an den auslaufenden Enden wie flüssige Babyscheiße. So wie sie aussehen, könnten sie auch riechen. An den Dämmen der Wellenbrecher steigt das Wasser in hohen Fontänen auf, die Bojen drumherum tanzen wie verrückt auf und ab, tauchen unter, einmal rot, einmal blau oben.

Am Ortsrand ziehen sich links von mir flache Sandstände hin, zu denen im Sommer die Menschenmassen strömen. Rechts ins Landesinnere hineingestapelt, abgeschnürt von einer Schnellstraße, häufen sich die geballten Hässlichkeiten des Massentourismus: Die Küstenlinie ist zubetoniert mit Hotels, Pensionen und Appartmenthäusern, mit ihren kleinen, angeklebten Balkonen räudigen Reptilien ähnlich, dazwischen röcheln bröckelnde Ferienvillen aus dem 19. Jahrhundert ihrem Untergang entgegen, eingezwängt zwischen Asphaltwüsten mit Parkplätzen, Supermärkten, Sportparcours, Mac Donalds, FFC und Pizzahuts. Hütten, genau, Barackenlager. Wo habe ich zum letzten Mal so viel Grindigkeit an einem Ort gesehen? Budva in Montenegro mit seinen realsozialistischen Bettenburgen fällt mir ein, die die Schmetterlingsbucht verschandeln. Keine Spur von den sanften Hügeln mit den berühmten Weintrauben und Oliven, Feigen- und Mandelhainen, alles bis weit hinauf von Anti-Architektur verkrätzt.

Die Menschen bauen sich ihr eigenes Krebsgeschwür in die Landschaft.
Mag sein, dass es hier schön aussieht, wenn alles blüht, es warm, grün und bunt ist, wenn Menschen flanieren und sich vielfältig vergnügen. Am Strand brav und faul die brutzelnden Körper dicht an dicht unter färbigen Fransenschirmen und sich wälzen in der trüben Flut, in den Hotels übersichtlich in Pferche geschlichtet, in Appartmentsiedlungen wie in aufgestapelten Schuhkartons, die eigentlich schon längst entsorgt werden müssten. Alles zeigt den Charme eines zerplatzten Mars-Asteroiden. Ist das das nach außen gestülpte Abbild der Mafia und des Berlusconismus?
Wie können die Menschen sich selbst eine solche Hölle ins Paradies hineinbauen? Vielleicht sollte man überhaupt nur im Winter kommen, um sich von der dummen Krankheit Reisesehnsucht heilen zu lassen. Mit Wehmut denke ich an die Gemütlichkeit der Weltreise durch mein Zimmer. Gibt es ein Wort, das alle diese Eindrücke zusammenfasst? Suche und finde es: Lieblosigkeit und Geldgier. Warum – diese Frage kommt erst später, und ich fürchte, die Antwort wird mir versagt bleiben.

Weiter nach Süden, geht der flache Sandstrand allmählich über in steiniges Gelände, anfangs nur Steinbrocken ins Wasser gestreut, dann immer höhere Felsen und ein kleiner Fjord am Ende der Bucht. An der Kante setze ich mich auf einen Stein und schaue hinaus auf das Meer. Finis terrae. Ob man das sehen kann, wann und wie, darüber war nichts zu lesen, ob sie verschiedene Farben haben, verschiedene Wellen und Wirbel, Strömungen und Energien zwischen zwei Vulkanen, ob Ebbe und Flut andere Rhythmen haben? So viele Fragen, vielleicht sollte ich wieder einmal die Odyssee lesen. Keine Ahnung, und die bekomme ich an diesem Tag nicht mehr, denn alles vor mir zerfließt in einem ununterscheidbaren Gischtvorhang ohne Horizont, ein Gefühl wie auf einem sturmumtosten Schiffsbug.
Nicht verwunderlich, ganz natürlich, wie es der geografischen Form und Exponiertheit des Stiefelabsatzes entspricht. Aber warum ich davon etwas so stark spüre, ohne jemals esoterische Mond- oder Sonnenanbeterin gewesen zu sein. Irgendetwas versucht mich zu zerreissen, zerrt an mir. Das kommt nicht von innen, es ist eine äußere Macht, und ich boxe mit meinen Ellbogen um mich wie gegen eine Wattemauer.

Wie ich so da sitze, auf einem flachen Stein und gegen einen Felsen gelehnt, fällt mir auf, dass es nicht einmal nach Meer riecht. Keine der bekannten Würzemischungen aus Jod, Salz und Botanik, Algen und Erde, Fisch und Moder, als sei die Luft geruchsdicht eingeschweißt in Tiefkühlplastiksackerltütenzellophanfoliendosen im untersten Fach. Keine Geruchsspur von Zitronenmelisse, Passionsblume, Baldrian, Mohn, Hopfen, Thymian, Lorbeer, Oregano, Arnika, Wermuth, Klee, Anis, Strohblume oder Kaktus.
So wie das Rauschen des Meeres alle anderen Geräusche geschluckt hat. Sogar das hysterische Geschrei der unvermeidlichen Möwen. Löschtaste. Stummfilm.
Warum mir gerade jetzt Manchester by the Sea einfällt, weiß ich nicht. Zwei Gesichter wenden sich voneinander ab und bleiben eingefroren stehen. Kommen Onkel und Neffe zusammen? Großartiger Film, hat mir sehr gut gefallen, aber ratlos gelassen. Trostlosigkeit? Nein, eher Melancholie. Ein kleiner Lebensausschnitt von wenigen Personen mit wenig Handlung an der Oberfläche, aber großer Tiefe.

2.
Sitze nur und schaue. By the way, by the sea: Ich war hier schon einmal, dieser Sandstreifen, der Buchtabschluss mit der Wand, dieses kreisrunde Loch in dem einzeln stehenden Stockzahn, Emmentalerwand, weiß und rosa vom Tuff, dem typischen Apulien-Gestein. Darauf habe ich schon einmal geschaut, vor wie vielen Jahren? Oder war‘s in Sizilien, auf den Äußeren Hybriden, in Island, am Baikalsee oder bei Wladiwostok? Das hat man nun vom Vielreisen und Vielschauen. Ich kriege die Zeiten und Bilder nicht mehr zusammen. Oder doch? Wie funktioniert Erinnern? Es ist der Süden, definitiv. Es ist warm, wir sitzen nackt am Strand, hier muss es eine Süßwasserquelle geben, das Segelboot ankert weiter draußen vor der Bucht, die „Joy of Freedom“ schaukelt leicht, das kleine Schlauchboot lässt vor uns in der Dünung seine Ruder schleifen. Wir haben Frischwasser getankt und zwischen den Steinen ein Lagerfeuer gemacht. Die Rotweinflasche geht im Kreis – drei Männer und ich.

Da ist es wieder, ich rechne zurück, es kann nur der Sommer von 1984 gewesen sein, meine letzten Schulferien, mein letzter langer Sommer als Lehrerin und Obermaat auf der Joy. Aber es ist anfangs noch ein zerschnipselter Stummfilm, schwarz-weiß, in Fetzen, ein unterbrochene Diaschau mit Schwarzstellen dazwischen, als klemmte der Wagen. Jetzt kommt nichts mehr, der alte Diaapparat bettelt darum, sich im technischen Museum für immer ausrasten zu dürfen. Dafür beginnen Bilder aus der Schwärze aufzuflackern und zu laufen, erst stockend, verklemmt, überlagert, sie stolpern und überholen einander, dann werden sie länger, klarer und zusammenhängend. Einzelne Figuren tauchen auf. Der dicke Christof sitzt im mageren Schatten einer alten Tamariske – oder einer Pinie? – und zeichnet, nein, er aquarelliert, deutlich ist der Pinsel zu sehen, das Brettchen, der Farbkasten und das Wasserglas neben ihm. Die Felsen mit ihren Löchern, weiß-gelblich, an manchen Stellen rosa, pastellig, Tuff wie fast alles alte Gemäuer in Apulien.

Ich habe ein sehr schönes Bild von ihm, der Hafen von Otranto, Theo hat er eines mit dessen afrikanischer Stadtlandschaft geschenkt. Roberts Gestalt taucht auf, wie er robinsonartig auf seinen langen Beinen herumspringt und unter den Pinien/Tamarisken Holz sammelt. Theo ist der gute Freitag, stumm, immer lächelnd und in jeder Lage hilfsbereit. Es sind bewegliche, bewegte und bewegende Bilder, dazu kommen langsam die alten Geräusche und Gerüche herauf, Gespräche und Gefühle. Sägende Zikaden bringen die Luft zum Vibrieren, hysterisches Möwengeschrei. Von diesem Punto Maria del Leuca werden wir nach Korfu und Ithaka hinüberstechen.

3.
Wir sind in Dubrovnik aus verschiedenen Richtungen zusammengetroffen, die jugoslawische Küste hinuntergesegelt, dann steil hinaus auf die Adria hinausgekreuzt, um dem kommunistischen Musterland Albanien auszuweichen. Dessen Soldaten lieben es, vom Land aus auf kapitalistische, imperialistische, ausbeuterische, faschistische und kriegstreiberische Segler zu schießen. Ob als Freizeitvergnügen, Zielscheibenübungen oder auf Befehl, wer weiß das schon. Jedes Jahr gibt es Tote und Verletzte bei dieser besonderen Art von Völkerfreundschaft.

Ziemlich genau in der Mitte der Adria setzt eine vollständige Flaute ein, und als Theo den Motor anwerfen will, streikt dieser. Theo hat Übung im Basteln. Seine „Joy of Freedom“ ist eine britische Rennsportyacht Baujahr 1913, der Volvo jüngeren Datums. Der Halb-Amerikaner Theo spricht sie persönlich mit She an und nennt sie liebevoll My fair Lady oder respektvoll Her Majesty Joy. Der Volvo wird in Einzelteile zerlegt, geschmiert und wieder zusammengesetzt. Zweimal ohne Erfolg, währenddessen die Seglerneulinge an Bord fast verschmachten. Heiß, windstill, das Meer luluwarm und so voller Quallen, dass wir uns durch Schwimmen nicht abkühlen können. Robert und ich holen am Seil Eimer um Eimer herauf, die wir aber erst von den Quallen befreien müssen, bevor wir uns das Wasser übergießen können.

Der Maler Christof ist gegen alle Unbilden gefeit; in seinem Kugelkörper ruhend wie Buddha, hockt er unter einem Sonnensegel am Heck, zeichnet einen Block voll und malt Aquarelle, fifty shades of sea, blau, türkis, grün, grau, weiß untertags, vergoldet, burgunderrot, violett und schwarz bei Sonnenuntergang. Der Maler erklärt uns, dass Wasser und Himmel von allem am schwersten zu malen seien. Ich ergänze – und Kleinkinder. Theo, der Altphilologe, zitiert Homer und beruhigt damit den nervig-nervösen Robert.

Sie diskutieren über Homers Beobachtung, dass das Meer manchmal die Rotweinfarbe von reifem Weizen annimmt. Ja, es ist wahr, wir werden es später einmal erleben. Schlussfolgerung – Homer, oder wer immer der Autor war – muss viel vom Meer und von der Seefahrt verstanden haben, vielleicht selbst Matrose oder Kapitän gewesen sein und doch kein Blinder. Ich koche uns ein feines Essen und produziere zumindest viel zukünftiges Fischfutter. Das macht alle zufrieden und hoffnungsvoll. Zwanzig oder sowas Stunden schaukeln wir sacht inmitten der Adria, auf der Joy of Freedom, in einer Nussschale von einer Yacht. Ich intoniere, nur innerlich: Wir lagen vor Madagaskar/ und hatten die Pest an Bord … Nicht laut, weil ich schon weiß, dass das ein Nazi-Lied war. Als irgendwann der Volvo geruht anzuspringen, steuert Theo das gegenüberliegende Brindisi an.

Bevor er vor Erschöpfung fast vom Steuerruder fällt, springen Robert und Christof – beide das erste Mal auf einer Yacht – ein und steuern die Joy unter Theos Anleitungen in den Hafen von Brindisi. Er ist ein guter Lehrer. Sie kämpfen heldenhaft, angeseilt an die Reling, Theo bedient den Sextanten. Mitternacht ist weit vorbei, wir nehmen nur Wasser und Proviant auf und segeln weiter Richtung Otranto. Das ist die alleinige Entscheidung des Kapitäns, die Landratten wären lieber in einem Hotelbett von Brindisi gelegen. Ich habe schon zwei Jahre unter Theo Borderfahrung und weiß, dass man dem Skipper absolut vertrauen und sich seinem Urteil widerspruchslos unterzuordnen hat. Diesmal führt uns dieses Gesetz aber um ein Haar ins Verderben. Oder Gottes Vorsehung.

Knapp hinter Brindisi bricht ein Sturm los, wie es ihn in der Adria mitten im Sommer selten gibt. Selbst der erfahrene Kapitän gesteht ein, dass er das noch nie erlebt hat. Die Joy of Freedom tut das, was sie gelernt hat, im letzten Friedenssommer von Brighton, sie wirft sich mit sieben Knoten in die Fluten, schneidet in die Wellenberge und -täler, der Bug senkrecht über uns und in rasender Fahrt hinunter in den Schlund. Mahlstrom, oje, das ist nicht gut ausgegangen. Das Glück dabei ist, dass Robert und Christof in der letzten Nacht Erfahrung gesammelt haben und sich als gehorsam und gelehrig erweisen. In Lebensgefahr soll ja so mancher Faule rührig werden. Die Gefahr geht nicht so sehr vom Sturm und seinen Wellen aus, sondern von den zahlreichen Sandbänken, die vor der flachen Küste zwischen Brindisi und Otranto lauern. Auch auf größere Schiffe als unsere Nussschale. Untiefen nennt man das mit diesem schönen, euphemistischen Wort. Ich sehe mich in der Kajüte liegen und zu Poseidon, Neptun und allen Meeresgöttern beten, dass sie mich sterben lassen oder zumindest den Walfisch vorbeischicken.

Kurz nach Sonnenaufgang laufen wir in den Hafen Otranto ein und werden reichlich belohnt für die nächtliche Höllenfahrt. Ein natürliches Rund einer senkrecht aufragenden Felsenbucht aus eierschalenfarbenem Tuff, ein Kratersee, mit einer schmalen Einfahrt wie ein Flaschenhals, auf dem tintenblauen Meer schaukeln weiße Segelboote, darüber flocken Scharen von Möwen, die kubischen Häuser in Weiß und Türkis sitzen auf dem Rand oben wie eine Krone. Der Maler Christof wird fast verrückt vor Freude, eine solche Schönheit haben seine verwöhnten Augen noch nie gesehen. Ob Otranto in das Oeuvre des Dichters eingegangen ist, ist mir nicht bekannt.

Der Kapitän legt vor der Hafenwerkstätte an und will den braven Volvo überprüfen lassen. Christof bleibt an Bord und malt, Robert und ich wandern durch die Stadt. Ich kann ihn damit verblüffen, dass er ausnahmsweise nicht weiß, wer hier seine vielfältigen, stürmischen Karrieren als „Herzog von Otranto“ beenden musste, geächtet und verbannt. Ätsch, ein Punkt für mich in unserem ewigen Literaturwettstreit. (Das politische Chamäleon Joseph Fouchet in Stefan Zweigs Biografie-Roman.) In einem Keramikatelier kaufe ich eine Schüssel, fast so groß wie das Hafenbecken von Otranto. Später motzt Theo über diese übermäßige Beladung der Joy. Er weiß ja nicht, dass ich sie ihm schenken will. Es soll das erste Erinnerungsstück für unseren gemeinsamen Haushalt werden. Ich habe sie noch immer, seither vielfach benützt für große Mengen von Nudeln, Salaten und Suppen, aber bis heute ohne jede Erinnerungsverknüpfung zu dem denkwürdigen Sommer 1984. Verdrängung kann man auch sagen.
Vielleicht musste ich gerade dazu im Februar 2018 dorthin fahren, zurückkehren. Die Erkenntnis – nichts ist ganz vergangen und alles kann zurückkommen. In der einen oder anderen Form.

Weiter, weiter, wieder über die Adria nach Südosten kreuzen, diesmal unter frischem Wind und ohne Pannen, auf Korfu zu, der glücklichen Insel der Nausikaa und Heimat der Phäaken. In Homers Zeiten war sie unter dem Namen Scheria – der Schild oder Drepanon, die Sichel, bekannt, der albanischen Küste zugekehrt mit dem 914 Meter hohen Pandokrator als Buckel des Schildes: „Dunkel erschien ihm das Land, wie ein Schild im Nebel des Meeres …“
So zitiert Theo die Beschreibung der Insel, wie sie Odysseus von seinem Floß aus zuerst erblickt.

Da ist Theo, der Latein- und Griechischlehrer, ganz in seinem Element. Odysseus befindet sich nach Überquerung des Ionischen Meeres etwas nördlich der Insel, als er zum ersten Mal nach dem letzten Schiffbruch wieder Land sichtet. Die Gewässer nördlich von Korfu, die wir gerade friedlich gequert haben, sind höchst tückisch; sie liegen in der Mündung der Adria, und wenn die Bora weht, wälzen sich eine hochgehende See und eine gewaltige Dünung und werfen sich gegen die Insel. Genau unter diesen Umständen wird das Floß des O. zertrümmert und er selber weggeschwemmt, um zuerst auf einer der vielen Klippen zu landen, die die Nordwestküste der Insel umsäumen. Er lässt sich in der starken Strömung nach Süden treiben und kommt nach neunzehn Kilometern zu einer seichten Bucht, in die ein Flüsschen mündet. Auch heute heißt es noch Ormos Eumones. Erschöpft kriecht O. in ein Oliven- und Feigengebüsch und schläft auf dem schönen Strand ein.

Am nächsten Tag wecken ihn Frauenstimmen und Gelächter. Nausikaa und ihre Freundinnen sind gekommen, um zu baden und Kleider zu waschen. Diese breiten sie dann zum Trocknen auf dem Kieselstrand aus und vergnügen sich nach getaner Arbeit mit Ballspiel. O. hat nach seinem letzten Kentern nicht einmal einen Lendenschutz mehr, so schmiert er sich mit dem Flussschlamm den Körper ein, vor das Geschlecht hält er sich ein Feigenblatt. Die Mädchen sind natürlich auch nackt und lachen sich krumm, wie er so vor ihnen steht. Sie haben keine Angst, sondern geleiten den Fremden zwölf Kilometer weiter ins Landesinnere zum Königspalast. Wir gleiten gerade an der Mündung des Flüsschens vorbei, und diese Szene könnte heute noch genauso stattfinden. Theo triumphiert, alles ist da, wie es beschrieben wird, …. und die Odyssee hat doch recht!

Der Fluss, die Bucht, der Strand, die Oliven, die Weinstöcke, die Wasserbecken, wo man Mühlen betreibt, Kanäle in die Pflanzungen leitet und Wäsche wäscht – heute genauso wie damals. Die bezaubernde Nausikaa bringt den Schiffbrüchigen in den Palast ihres Vaters Alkinoos, der ihn freundlich begrüßt, bewirtet, badet und einkleidet. Er hätte ihn gern seiner Tochter zum Mann gegeben, der Held will aber nur eines, nach Hause in sein geliebtes Ithaka!

Im Palast erzählt ihm O. von seinen zehn Jahre dauernden Irrfahrten. Alkinoos hat Einsehen. Nach einer Erholungsnacht gibt ihm der freundliche Alkinoos ein Schiff mit 52 Ruderern, das ihn nach Hause bringen soll.
Mit der Stadt der Phäaken verhält es sich genauso, wie Nasikaa sie dem Odysseus schildert: „An jeglicher Seite ist ein trefflicher Hafen, und die Einfahrt ist schmal.“ Sie liegt etwa zwölf Kilometer entfernt, an der Ostküste Korfus. Dort findet man die zwei natürlichen Häfen beiderseits von Garitsa, der modernen Vorstadt von Korfu. Der eine eignet sich für die Sommermonate, der andere ist das ganze Jahr durch seine günstige Lage geschützt. Korfu ist fruchtbar wie keine andere der Ionischen Inseln, und an der Beschreibung der üppigen Schönheit Scherias ist nichts, was sich nicht auch von dem heutigen Korfu sagen ließe.

Wir kommen an den Mini-Inseln Paxos und Anti-Paxos (heute Paxi) vorbei, zwei grauen Buckeln, auf denen sich die knorrigen Olivenbäume wie Ringkämpfer an den kargen Boden klammern. Wir nähern uns dem weißen Steilufer am äußersten Vorgebirge von Leukas, und dann tut sich die schmale Durchfahrt zwischen Ithaka und Kephallenia vor uns auf. Wir halten nach Backbord, um den Hafen am Ostufer zu erreichen. Von der zerklüfteten Insel her kommt der Duft von Tannen und feuchtem Gras.

„Als nun östlich der Stern mit funkelndem Schimmer emporstieg, welcher das kommende Licht der Morgenröte verkündet“, setzen die Phäaken ihr Schiff in der Bucht des Phorkys ans Ufer.

So wie wir. Maler und Schriftsteller laufen, unterschiedlich tölpelhaft, hinter Theo über die Odysseus-Insel und sind beeindruckt von seinem Homer-Wissen. Durch stachelige Maccia zuerst, unter uralten Olivenbäumen durch, auf einem schmalen Pfad, Fuß für Fuß vorsichtig voreinander. Achtung, Schlangen! Achtung, Ruinen! Hier ist das Haus des treuen Freundes, „des göttlichen Sauhirten Eumaios“, der als einziger Odysseus erkennt und den Homer als einzige Person mit Du anredet – oh du göttlicher Sauhirt! Sein Hund Argos soll ihn auch erkannt haben. Das ist am wenigsten wahrscheinlich, das gibt sogar Theo zu, dass der so alt geworden ist. Zehn Jahre Krieg, zehn Jahre Irrfahrten. Steil bergauf geht es in der Hitze, wir setzen über Mäuerchen, durch Weingärten und unter Obstbäumen durch. Die Asphaltpflanzen aus der Leopoldstadt schwitzen, stöhnen und fluchen, ich mit meinen Genen von Bergziegen und Gämsen nehme es sportlicher.

Auf der höchsten Kuppe stehen noch Mauern: Das ist die Kemenate der treuen Penelope, ein freistehender halber Steinbogen – die Festhalle der Freier, wo sie gefeiert und die Königin bedrängt haben, Grundmauern der Vorratskammern, hier der Stall, wo der Heimkehrer die besiegten Freier den Schweinen zum Fraß vorwirft. Viel Phantasie, Theos Begeisterung und sein Detailwissen machen die alten Geschichten lebendig und sichtbar. Manchmal weitet sich der Steig zu einem Eselspfad in breiten, niedrigen Stufen. Theo redet, zeigt und erklärt –alles in der Gegenwartsform. Die Odyssee ist für ihn keine Erfindung, keine Ausgeburt eines Dichter- oder Chronistenhirns, keine Sagen- oder Fabelsammlung und auch keine Fälschung. Für ihn sind es Fakten. Nicht nur die Ereignisse und Ortsangaben, sondern bis in die Details von Wetter, Seefahrt, Schiffbau, Waffen, Kleidung und Essen und Botanik. Theo ist die Strecken nachgesegelt, hat Zeitangaben nachgemessen und mit den Wetter- und Strömungsbedingungen überprüft.

Ich falle fast von einem Mäuerchen, als ich einer großen Smaragdeidechse nachklettere, sicher ist sie das Einzige, was sein Aussehen seither nicht geändert hat. Theo demonstriert immer mehr Beweise für seine Überzeugung, dass alles so war wie in der Odyssee beschrieben, man sie ernst und wörtlich nehmen müsse. Er habe ihre Orte über zwanzig Jahre lang abgesegelt mit dem Vorteil vor anderen Forschern, dass er des Altgriechischen mächtig ist und die Sprache Homers nicht nur liest, sondern auch versteht. Ich höre Theo wiederholen: Ich glaube an die Magie der Orte.

Den beiden Künstlern erschüttert er ihr bisheriges Weltbild. Gern gemacht! Theo ist in seinem Element, freundlich wie immer und froh, dass er neue Adepten gefunden hat, noch dazu so einfühlsame, produktive und prominente. Ich persönlich mag Theos Erzählungen über die Person Odysseus am liebsten. Er spricht von ihm wie von einem Zeitgenossen, einem Menschen aus Fleisch und Blut mit allen seinen Vorzügen und Mängeln, einem Freund, einem ganz normalen, modernen Menschen.
Er spricht von ihm als einem gerissenen Kerl, von einem griechischen Pantagruel gewissermaßen, schlauen Drückeberger, nicht als einem Helden. In einer romantischen Bucht erzählt er uns die Szene, wie König O., Herrscher über Ithaka, in der Maskerade eines schwachsinnigen Bauern den Sandstrand pflügt und mit Salz düngt, um sich der Einberufung in den Krieg zu entziehen. Die Häscher aber erkennen ihn an seinem Hinken, denn nichts anderes heißt Odysseus, der Humpler.

Dazu kam er, weil er in seiner Jugend auf dem Abhang des Parnass von einem wilden Eber angefallen wurde. Die Narbe am Oberschenkel, Eunaios wird ihn unter anderem daran erkennen. Außerdem war er kurz- und o-beinig, rothaarig, wahrscheinlich auch rotgesichtig und sommersprossig, mit einer lustigen Knollennase wie Clown Enrico oder die Clinis und einem krummen Spitzbart. Also das Gegenteil des klassischen blonden griechischen Helden mit edlen Gesichtszügen. Zu dem haben ihn erst die deutschen Griechensucher und Altphilologen gemacht.

Odysseus hat damals absolut keinen Bock auf Troja; den Kriegsgrund, eine jugendliche Idiotie des Paris, sieht er auch nicht ein. Ihm geht es gerade so prächtig, er hat ein kleines, aber feines Königreich geerbt, eine hübsche, junge Frau, Penelope, die er liebt, das Söhnchen und Thronfolger Telemach ist auch schon da. Mit seinen Kumpels geht er gern jagen, fischen und feiern. Aber Agamemnon und die kriegslüsternen Spartaner schicken Häscher, die ihn mehr oder weniger kidnappen und auf den Kriegszug gegen Troja entführen. Auch vom Herumreisen hat er die Schnauze voll, von all den Poliphems, Sirenen, Kirkes, Kalypsos und Nausikaas. Er wird ein Held wider Willen, genauso war es mit seiner Seefahrerkarriere.
Theo hat nicht nur uns mit seinem Odysseus-Bild angesteckt, ich kann mir vorstellen, auch seine Schüler.

Die Künstlerseelen wälzen sich in Entzücken, dass man die Geschichte auch so lesen kann und geraten in der Folge über ihre Lieblingshelden der Ilias in Streit. Hektor, nein Achill!
Als die Dichter- und Maler-Philosophen in Patras von Bord gehen, sind sie voll Dank und versichern Theo, dass sie von nun an anders schreiben, malen, lesen, denken, schauen und leben würden, müssen. Kein Stein soll auf dem anderen bleiben, wie auf Ithaka im einstigen Königspalast.

Anders leben müssen, das wird auch mein Schicksal, als ich am Ende des langen Lehrer-Sommers nach Wien zurückkehre. Theo war für mich nicht mehr erreichbar, dann ein Anruf von Robert. Theo hat entdeckt, dass er sich in Christof verliebt hat, gemerkt, also schwul ist. Christof ist bi, hast du das nicht gewusst? Nein, gar nichts, und auch nichts gemerkt, nichts gesehen oder gefühlt. Von Blitz und Donner zerschmettert liege ich da in Trümmern wie die Burg von Ithaka und alle anderen Ruinen des Mittelmeeres zusammen. Wo habe ich bisher gelebt? Wenn ich nichts weiß, das weiß ich mit absoluter Sicherheit: Ich habe damals zum ersten Mal das Wort schwul gehört.

Von Menschen, die schwul leben, nicht weil sie es sich ausgesucht haben, sondern es sind. Zuerst war ich sehr verletzt über die abrupte Abwendung, Ablehnung und Theos Rückzug, verwirrt über ein für mich neues Menschenbild. Gerade hatten wir uns noch darüber gestritten, ob wir ein Kind machen sollten. Ich war in Scheidung, er wollte stante pede heiraten und noch mindestens zwei Kinder, ein Haus bauen, ein zweites, größeres, kindersicheres Boot und einen Caravan kaufen. Ich hatte schon eine Tochter und wollte kein Kind mehr. Für mich war das Kapitel Kinderkriegen abgeschlossen. Dieser Segeltörn sollte die Versöhnungs- und Probefahrt werden. Und dann das? So ein Scherbenhaufen, Ithaka nix dagegen.

Eine schwierige Zeit für mich, welche Gefühle da miteinander kämpften. Aber dann auch von mir absolute Funkstille. Ob es etwas zwischen Theo und Christof gegeben hat, weiß ich nicht. Vorstellen mag ich mir das nicht … Nur eine kurze Konfusion? Nicht lange danach, kommt mir zu Ohren, dass Theo eine sehr viel jüngere Frau geheiratet und mit zwei Kindern ein Musterfamilienleben geführt hat, bis ihn ein früher Krebs von allem wegriss. Jaja, Joy of Freedom.

Der Videofilm ist zu Ende. Die Schwarzblende rattert und bleibt dann stehen. Punto. Mir ist kalt geworden, ich bin steif, klopfe mich ab und schüttle die klammen Glieder. Es dämmert, auf dem Meer liegt schon ein silbriger Streifen von einem Halbmond. Gerade als ich mich umwende, um zum Dorf zurückzukehren, sehe ich aus dem letzten Augenwinkel eine leichte Bewegung im Wasser. Ein kleiner Wirbel zwischen zwei Steinen in Ufernähe und aufsteigende Bläschen. Sie blubbern, das heißt Luft, also etwas, das atmet. Zuerst ist es nicht mehr als ein dunkler Schatten wie etwa von einem unter der Oberfläche liegenden Holz. Aber das war vorher nicht da, habe es vorher nicht gesehen, obwohl ich während des Flashback ständig ins Wasser gestarrt habe, wie auf eine Filmleinwand.

Als ich nähertrete, sehe ich zwei große, geradestehende Augen zwischen einer Knollennase, die jetzt aus dem Wasser ragt, schnüffelt. Nein, eher ein etwas breit geratener Rüssel mit Borsten darauf . Das Ding ist halslos, walzenförmig und hat gleich hinter dem Kopf zwei gabelförmige Flossen. Das Ende kann ich nicht erkennen, sehe aber, dass sich etwa drei Meter vom Ufer entfernt das Wasser in Wirbeln dreht. Eine Robbe? In der Adria? Nie gehört, nie gesehen. Das Tier schnaubt und wirbelt mit der Schnauze Sand auf.

Da fällt mir wieder ein, wie uns Theo zwischen Paxi und Antipaxi uns auf eine Höhle aufmerksam machte, von der die Sage geht, dass dort die letzten Seekühe des Mittelmeeres leben sollen. Von den Fischern werden die pflanzenfressenden Säugetiere Seejungfrauen oder Sirenia genannt; noch nie hat sie jemand gesehen, aber die Legende hält sich seit Odysseus hartnäckig in dieser Gegend. Bevor sie ganz ins Meer wandert, war sie im frühen Eozän vor sechzig Millionen Jahren die näheste Verwandte des Elefanten. In der griechischen Mythologie kommen sie in Form der Neiden und Tritonen vor. Die Babylonier kannten die Fischmenschen als Dugongs und bildeten sie ab als einen Gott Oannes und zwei Göttinnen Atagatis und Derketo. Auch Jules Verne ist ihnen auf seiner Reise 20 000 Meilen unter dem Meer begegnet. In der Karibik heißen sie Manati, und 1492 hat Christoph Kolumbus in seinem Logbuch vermerkt, dass die Sirenen im Golf von Mexico weniger schön sind als bei Horaz. Schön ist sie wirklich nicht, aber obwohl es schon dämmert, kann ich wahrnehmen, dass dieses Tier mit seinen frontal stehenden Augen, der Knautschnase, dem Stoppelbart und brustständigen Zitzen menschlich aussieht. Eine große, runde, Schwimmerin. Nicht besonders schön, aber freundlich und absolut friedlich. Als man sie noch nicht zoologisch einordnen konnte, wurde sie von der Wissenschaft so genannt, wie sie aussieht: Pflanzenfressende Borkenrüsslerin.

Ich bin sicher, dass meine Erinnerung an Theo sie hergelockt hat. 34 Jahre habe ich nicht mehr an ihn gedacht. Ich hoffe, dass er in den seligen Gefielden am schönsten Strand der Welt gelandet ist. Bei Rudyard Kipling trifft der Held Kotik auf eine Herde von Seekühen, die ihn an den schönsten Strand der Welt führen. Denn entgegen ihrem Aussehen sind sie Ästheten.
Jetzt macht sie mit ihrem massigen Körper eine elegante Rolle auf den Rücken und scheint, bevor sie abtaucht, mit der Schwanzflosse zu winken. Lächelt sie nicht dabei und zwinkert mir zu? Sie wirkt witzig und gutmütig, gentle giants nennt man sie in Florida, wo man mit ihnen tauchen kann.

Schade, zu einer anderen Jahreszeit wäre ich gern mit ihr mitgeschwommen. Wie soll ich den Besuch der Seekuh verstehen? Ich nehme es persönlich, sie selbst spricht ja nicht zu mir. Aber Bedeutung hat ihr Auftauchen sicher. Sie wollte mir sagen, dass Theo, der Homer-Kenner und Mittelmeer-Segler, mit seiner Überzeugung, dass alle Geschichten über Odysseus wahr sind, Recht hat. Er ist schließlich der einzige Mensch, der je eine Seekuh gesehen hat, zwischen Paxi und Anti-Paxi. Weil ich hier an ihn gedacht habe, ist sie herübergeschwommen. Ihre Art von in memoriam.

Genauso gut kann es viel banaler sein; die Seekuh ist nur auf eines aus, auf das Violett meiner Kleidung. Ihre Lieblingsspeise, die violetten Wasserhyazinthen, hat sie zum Fressen gern.
Ich habe sie Kalina genannt. Ihr Schatten riecht nach Zimt.

Wien, 9. – 12. 3.18

Veronika Seyr
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Die Taube vom Bologna Centrale (Italien 5)

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier, das sagt sich leicht und oft. Aber wenn es einmal ein eindeutiges Beispiel gibt, wird aus dem banalen Satz eine tiefe Wahrheit. Man reagiert nie situationsgenau, sondern ferngesteuert von Erinnerungsfetzen.

Ich steige auf dem Bahnhof Bologna Centrale aus dem Schnellzug von Lecce und steuere ohne Nachdenken das Café Emma B. auf dem Bahnsteig 6 ovest an. Rolltreppe hinunter, ein langer, hell ausgeleuchteter Kachelgang, Rolltreppe hinauf, weiter durch den alten Teil des Bahnhofs, Rolltreppe wieder runter, Gang, Rolltreppe hinauf. Eigentlich liegen auf dem Weg dorthin drei Cafés, aber mein Koffer rollt ganz leicht auf vier Rollen wie von selbst zu Emma B. Das Gehirn-GPS ist auf Emma B. eingestellt, das hat sich eingeprägt.
Vor fünf Tagen habe ich dort schlaftrunken in den frühen Morgenstunden bei einem Zwischenaufenthalt einen köstlichen Cappuccino getrunken, 1,20 Euro, wahrscheinlich woanders auch nicht weniger gut und ebenso günstig. Das Lokal heißt anders, wie richtig, habe ich nicht wahrgenommen oder vergessen. Sicher, da war eine Reklame von Illy-Kaffee.

Aber auf dem Bildschirm im Lokal und draußen vor dem Bahnsteig läuft in Endlosschleife eine Wahlwerbung der Kandidatin Emma Bonino, liberal, für Frauen, für Europa, mehr Europa, das ist alles, was ich verstehe. Noch dazu ein sehr schlecht gemachter Clip. So kann man nicht gewinnen, nirgends. Hat die keine Medienexperten? Emma Bonino ist doch kein Neuling, ein Altgestein in der Politik. War sie nicht einmal eine feministische Führungsfigur? Es klingelt leicht, aber ich weiß nicht, wohin genau ich sie tun soll. Es flimmert alles schnell verzerrt und unscharf über den Bildschirm, durchkreuzt von Werbung für Pasta und Pampers.
Weil ich nach sieben Stunden nikotinfreien Sitzens im Rapido Bianco eine Zigarette rauchen will, stehe ich wie drei andere Gäste vor dem Lokal. Emma Bonino läuft noch immer über die Bildschirme zwischen Reklame für Pasta, Pampers und Kaugummi. Ich wende mich ab und sehe ein reales Bild.

Auf einem der Tische sitzt eine Taube. Was heißt Taube, sie ist der letzte Rest einer Taube, ein Wrack von einer Taube, eine Ruine wie Palmyra. Sie ist nur der Rest einer Form, ein Umfang, kopflos, einbeinig und breit gefiedert. Warum ich sofort annehme, dass es ein Täuberich ist, weiß ich nicht. Er ist Cristoforo Colombo für mich, der Colombo. Das schwarz-weiss-grau gesprenkelte Gefieder ist struppig wie das Fell eines Straßenhundes oder einer Hyäne, was bei Federvögeln eigentlich gar nicht möglich ist. Zausig, verklebt, mit vielen Spitzen nach außen, igelartig. Auf jeden Fall liegen die Federn nicht am Körper an, sondern sind dauernd nach allen Richtungen gesträubt und zucken, obwohl er allein und unbeweglich dasteht, leicht geduckt, an ein braunes Kästchen mit Illy-Servietten gelehnt.

Nach einer Bewegung mit meiner Zigarette hebt der Täuberich den Kopf aus dem Hals – also er hat einen Kopf und rote Augen darin – und trippelt auf einem Bein zwei Schritte aus dem Schatten des Serviettenhalters heraus in meine Richtung. Er flattert kurz auf, als ich aus meinem Rucksack ein Panino herausklaube, es in meiner hohlen Hand in Krümel zerlege und sie auf den Tisch streue. Colombo pickt und pickt und pickt, langsam, alles auf dem einen roten Beinchen, so schnell er kann, bis die Mitstreiter kommen. Einige Krumen fallen durch die Ritzen auf den Boden.
Das muss ein Signal sein, als gäbe es ein unsichtbares Alarmsystem. Aus allen Richtungen kommen im Hoch- und Tiefflug andere Tauben herangeflogen und übernehmen den Kampfplatz. Mein Täuberich versucht, sich hinter den Serviettenhalter zurückzuziehen, aber immer mehr Artgenossen fallen in Sturzflügen über ihn her. Kann man ihn noch mehr zerzausen? Ich leide und brauche eine Pause.

Gehe ins Lokal und hole mir einen becchiere di vino rosso – enorme 3 Euro im Gegensatz zu den 1,20 für den Cappuccino.
Italien, das Land der Weine? Nicht gut, auch nicht ganz schlecht, aber sauer wie ein Brünnerstraßler, immerhin auch auf dem Bahnhof in einem Stielglas und nicht in einem Plastikbecher. Da fallen die Bilder wie Kalenderblätter. Die jüngste Abgeordnete aller Zeiten von der radikalen Partei, Jugoslawien-Tribunal, für Abtreibung, für Drogenbetreuung, gegen Rassentrennung. Skandale überall, immer extrem mutig.

Als ich wieder rauskomme, ist mein Colombo allein, sitzt wieder an den Serviettenständer gelehnt, das Köpfchen mit den roten Augen auf mich gerichtet. Gibt‘s noch was? Ja klar, ich hab noch ein halbes Panino. Es schmeckt ihm, gestern noch aus dem Panificio von maestro Fortunato in Gagliano. Aber sehe ich richtig? Aus dem Bauch kommt langsam der Rest eines zweiten Beinchens hervor, etwas kürzer, unten breit und gelb wie ein Entenfuß. Ich bin so fasziniert, dass ich vergesse zu fotografieren. Tatsächlich, neben den drei roten Krallen hat er einen kleinen, gelben, breiten Entenfuß aus Plastik mit einer Schiene oder einer Stütze wie von einem Leukoplastwickel. Ist das denn möglich? Sehe ich richtig? Der becchiere kann nicht schuld sein, das ist weniger als ein Achtel. Wer hat ihm dieses Ersatzbein gebastelt? Er kann es nicht selbst gemacht haben, auch nicht seine Genossen, also kann es nur ein Mensch gewesen sein. Welcher Mensch? Ein Tierarzt, eine mildtätige Sanitäterin der Bahnhofstaubenmission?

Es erinnert mich an meine Orchidee zu Hause, deren Auswuchs ich kürzlich beim Gießen leicht geknickt und mit Zahnstocher und Bindfaden bandgiert habe – weiß genug, wie schwierig schon bei einer ruhig stehenden Pflanze – und mich daran erfreue, dass sie meine Therapie annimmt, weiter wächst und sogar Knospen ansetzt. Aber bitte, wer um Gottes Willen, hätte diesem grindigen Täuberich sein verletztes Bein schienen sollen? Verletzt in einer zugehenden Schwenktür, mit einem Kabel, durch einen Koffer, ein Kippfenster, einen bösen Menschenmutwillen? Ich paffe kurz und heftig und lasse mich ein in alle möglichen Schicksale des Colombo, während er seine Brösel verteidigt. Er wird immer besser, flinker und wendiger. Er kann den Entenfuß sogar ein bisschen aufstellen und ihn wie einen Schild benützen.

Wieder einige Panini-Krümel gestreut, sie fallen durch die Ritzen des Tisches, er flattert auf den Boden, andere Tauben sind schneller, scheuchen ihn und pecken auf ihn hin. Ist da nicht auch ein Spucken beim Pecken dabei? Warum ist das Gefieder sonst so verklebt? Naja, es gibt noch viel anderen Dreck. Ich versuche, ihn mit meinen Füßen zu schützen und streue ihm die Krumen in eine Ecke zwischen zwei Mistkübeln.
Je mehr er frisst, desto lebendiger wird er, er fängt sogar an, zurückzupecken auf die jungen Eindringlinge. Sie müssen immer alles im Auge haben. Das geschiente Bein mit dem gelben Entenfuß wird immer beweglicher, wie mir scheint, hat er ein Scharnier oder so etwas wie ein Knie an der Schiene? Fast kein Hinken mehr, dafür wird sein Schnabel länger, und er verteidigt seine Brösel immer besser. Den Entenfuß verwendet er als Schild und Waffe. Einmal holt er weit aus und klatscht einer frechen, jungen Taube eine in die Seite rein, dass alle auffliegen. Ha, der wird einmal mein Champion.

Ich bin mitten drin in seinen Revierkämpfen. Hier, du bekommst etwas Besseres aus meinem dick belegten Brot, etwas von der Salami, vom Käse, dem Paradeiser, der Gurke – Cristoforo nimmt alles und erwacht zum Leben. So, mein Lieber, hier noch eine Nachspeise für uns beide, und ich teile mit ihm die letzten zwei Stück Mannerschnitten – mag man eben.
Eigentlich ist er ein imposant großer Täuberich. Vielleicht war er einmal der Padre Padrone vom Bologna Centrale, der Große Gatsby, der Leopard, Gattopardo, der Garibaldi. Ohne ein Wissen zu haben, bin ich überzeugt, dass es unter den Tauben eine Hierarchie gibt.
Bravo, Colombo! Mein Colombo! Ich bin bei dir!

Obwohl ich immer und überall fotografiere, habe ich doch glatt angesichts des Colombo darauf vergessen, so eng fühlte ich mich mit seinem Schicksal verbunden und identifizierte mich mit seinem Überlebenskampf.
Mir ist inzwischen so kalt geworden, dass ich versuche, meine zwei, zweifelsfrei intakten Beine einzuziehen und mit den Füßen aufzustampfen. Natürlich vertreibe ich damit alle Tauben, so schnell, dass ich nicht einmal mitbekomme, wohin sich mein Colombo getrollt hat.

Kaum ist dieser Spuk vorbei, gerate ich in den nächsten.
Im abstoßend hässlichen, kaum geheizten Warteraum komme ich zu einem Sitzplatz gleich neben dem Denkmal für die Opfer des Bombenanschlags am 2. August 1980 – 85 Menschen waren durch den faschistischen Terror ums Leben gekommen. Eine weiße Marmortafel an der Wand, lange Kolonnen mit den Namen der Ermordeten in Goldbuchstaben, auf dem Boden ein Bombenkrater im alten Mosaikboden, in dessen Mitte ein weiße Rose liegt, frisch, von einer Mutter, am Rand ein immergrünes Kranzgebinde, offizell mit Tricolore-Schleife. Mit den Namen der Hunderten von Verletzten könnte man den ganzen Bahnhof austapezieren. Ich studiere die Daten hinter den Namen, sehr viele junge Leute, 18, 19, 24, 29, Schüler, Studenten, Pendler am frühen Morgen des 2. August vor 35 ½ Jahren. Einige Touristen machen vor der Absperrung Selfies. Wenn es nicht Italiener wären, könnte ich selbst zum Terroristen werden.

Die Temperatur liegt um die null Grad, es soll nur ja niemand auf die Idee kommen, das sei eine Wärmestube. Obdachlose, Sandler, einfache Aufwärmer oder Rastende werden nicht hereingelassen, an der Tür kontrollieren zwei bewaffnete Wächter die Tickets – angezogen und ausgerüstet wie Robocops, wenn jemand kein offensichtliches Reisegepäck hat. Trotzdem sitzt in der Reihe mir gegenüber ein alter Mann, der nur einen Krückstock und ein Nylonsackerl bei sich hat, keinen Koffer, keine Reisetasche. Und nach Reise sieht er auch sonst nicht aus.

Eine dünnes Sakko mit Hemd und Pullover darunter, worin man auch an einem Herbsttag frösteln könnte, ausgelatschte Nike-Turnschuhe, eine schlotternde Trainingshose, am Kopf ein buntbesticktes Käppchen, um den Hals geschlungen ein abgenudelter indischer Seidenschal, ehemals vielfärbig. Althippie, Künstler? Er ist offensichtlich kein Reisender, warum lassen ihn die Securities hier in Ruhe sitzen? Aber ein Gesicht, ja Antlitz muss man sagen, edel, ebenmäßig, wie ein altrömischer Senator in weißem Marmor, wie viele Generationen aus dem alten Geschlecht der Auguster oder Julianer.

So kann Marc Aurel ausgesehen haben, als er in Carnuntum in seinem Lager saß und seine Lebensbeichte schrieb. Vielleicht ist der Mann der letzte Stoiker, ein später Verwandter des Seneca oder Epiktet, der als Einziger die Lösung des Welträtsels weiß. Die ganze Zeit sitzt er unbeweglich da in leicht vornübergebeugter Haltung, nicht einmal die Augen bewegt er, eine Skulptur, hager bis zur Magerkeit, aber unter dem fein getrimmten Bart eine gesunde Sonnenbräune. Vom Leben auf der Straße, in den Parks, den Arkaden und an den Uferpromenaden des Reno?

Um Punkt 22 Uhr holen die Robocops dicke Ketten aus einem Schrank hervor, breiten sie aus, zeremoniell und genüsslich schlingen sie sich diese rasselnd um die Schultern. Die Wachablöse schließt zuerst die äußeren, dann die inneren Türen zu. Ich blinzle erst nur schlaftrunken und ungläubig durch die öde Halle. In welcher Hölle bin ich gelandet. Unter dem Klirren der Ketten springen die Menschen im Warteraum auf und lassen sich hinaus in die Kälte scheuchen. Freiwillig, keine großen Gesten, kein Protest, ein eingespieltes Ritual. Danach gibt es auf dem gesamten Bahnhofsareal keine Sitzgelegenheit mehr, nicht oben im alten Teil, nicht unten in den modernen, hell ausgeleuchteten Korridoren, durch die noch einige Passagiere hasten.

Vielleicht ist es dort unten noch grausamer, weil septisch sauber und kachelglatt, grell ausgeleuchtet von Neonlampen an den Decken wie eine ewig lange, nicht enden wollende Verhörzelle oder ein Operationssaal von zynischen Schlächtern, keine einzige Sitzgelegenheit, nicht einmal an den Wänden darf man sich anlehnen, geschweige denn in einen Winkel legen. Ständig wird patroulliert und verscheucht. Sogar das Gepäck hat es besser als die Menschen. In der deposito bagagli ist es bacherlwarm. Ich studiere alle Aufschriften so lange, bis der Diensthabende hinter einem Verschlag hervorkommt und sich nachhaltig räuspert. Es nützt mir zwar nichts, aber für so viel Eleganz liebe ich die Italiener.

Kaum auszudenken, was ich in Wien zu hören hätte bekommen: Schauns weida. Wauns ka Gepäck abzugem haum, schleichns Ihna. Do is ka Wärmestubm.
Da lob ich mir doch die Taubengesellschaft. Geschäfte und Lokale sperren eins nach dem anderen zu, nur noch Putztrupps und Carabinieri sind unterwegs. Die Passagiere verteilen sich auf die Bahnsteige oder verlaufen sich überraschend schnell. Wohin nur? Wie die Tauben finden sie ihre unsichtbaren Mauerritzen, Turmgiebel, Regenrinnen und Kanalschächte. Auch mein alter Römer. Nur wenige Schritte kann ich ihm folgen. Ich hätte ihn gern zu einem Kaffee eingeladen und mehr über ihn erfahren. Weg war er, wie vom Erdboden verschluckt, samt seiner Krücke und dem dünnen Sackerl.

Auf dem Vorplatz eine kurze, ungemütliche Zigarette, der Kaffee in der Thermoskanne ist nur noch lauwarm und bitter-schal, das Wasser fast aus – da gerate ich in Versuchung, ein Zimmer im Hotel „I-PERIALE“ gegenüber zu nehmen, das mit einer Leuchtschrift auf dem Dach lockt. Nein, nur nach Hause! Ich habe eine sauteure Fahrkarte gekauft. Sehnsüchtig sehe ich den niedrig fliegenden Flugzeugen nach. Noch nie habe ich mich so nach einer Nordrichtung gesehnt. Ein Polizeipanzer rollt langsam vorbei und dreht mehrere Runden über den Bahnhofsplatz, während Menschen auf die Autobusse zusteuern. Alles normal, gute Nacht, Europa!

Auf dem Bahnsteig 4 soll um 22 Uhr 57, carozza 410, sed. 95F, der Zug aus Rom nach München/Wien ankommen. Das habe ich seit meiner Ankunft memoriert und mehrmals die Auf- und Abgänge geprobt. Mehr Zigaretten kann ich auf dem Vorplatz nicht mehr rauchen. Die vollbesetzten Polizeipanzer werden auch schon langweilig, vor allem weil nicht zu erkennen ist, wem sie gelten, auch wenn die Außerirdischen manchmal über den leeren Platz stiefeln. Gegen jede Hoffnung schaue ich noch einmal bei Emma B. vorbei, an der Türe schwere Ketten, die Tische davor weggeräumt, kein Colombo mehr und auch keine anderen Tauben. Habe ich je einen unwirtlicheren, unmenschlicheren Bahnhof kennengelernt? Mir kommt keine Erinnerung, aber vielleicht ist auch mein Gehirn schon eingefroren. Ja doch, einmal im olympischen Dorf „Paradiestal“ oberhalb von Sarajewo im Winter 1994. Aber um Gottes Willen, ich bin doch in Bologna! Auch das ist eine Art von Krieg.

Also bleibt nur noch Binario 4, centrale, Zug 22 428 von Rom nach München und Wien Hbhf. Ich übe auswendig carrozza 410, Sitz 95F, gehe dabei auf und ab und starre hinauf auf den Bildschirm. Erst rit,. verspätet 5 Minuten, dann 10, 15, Rit. Kaum wage ich mehr hochzuschauen, da springt es auf 25min. Verzweiflung kommt hoch. Mir ist saukalt. Gegenüber ein Mann auf seiner mächtigen Putzmaschine hat Spaß am Taubenscheuchen. Und hier wieder ein Sandler, halbnackt bis zum Steiß, rührt sich nicht, ich sehe seinen nackten Rücken und frage mich nur kurz, warum ihm nicht kalt ist und ich so friere. Er erregt nur Ekel und Irritation. Zum Glück wird er mich nicht um Zigaretten angehen, er raucht eine nach der anderen. Würde ich mit ihm die Panini teilen, so wie mit Colombo?

Der Bahnsteig ist schlecht beleuchtet von einem einzigen grellen Scheinwerfer über der Rolltreppe. Dort suchen Passagiere ihren Zug nach Milano. Auch verspätet und mehrmals auf verschiedenen Bahnsteigen angezeigt. Sie rasen herum und diskutieren aufgeregt. Vielleicht wird ihnen davon warm? Der Rest des binario 4 centrale liegt im Dunkeln. Auf der Metallbank sitzt noch immer der Mann. Bei meinen Versuchen, mich aufzuwärmen, Koffer schieben und rollen, Knie beugen und Füße auf den Boden stampfen, Beine abwechselnd öffnen und schließen, Arme hochklappen, oben klatschen und runter an die Oberschenkel schlagen, es funktioniert noch, das Aufwärmen wie vor einem Völkerballspiel im Sportverein. Ich bin schon mehrmals an ihm vorbeigekommen.

Ein Sandler. Langes, dichtes, graues Haar, er raucht ohne Unterbrechung, vorne ein Sporthemd, unten wabbelnde Hosen, seine Füße stehen auf dem Asphalt, die Schuhe neben ihm so wie eine halbleere Reisetasche. Für den Täuberich hatte ich schnell einen Namen, das letzte Brötchen, viel Mitgefühl und Anteilnahme an seinem Leben. Für den da gar nichts, nur Momentaufnahmen, klickklickklick, Registrierungen.

Aber auch diese Erkenntnis stammt von später und die Erschütterung. Zu meiner Entschuldigung – drei Stunden davor mit Colombo war mir noch nicht so sterbenskalt.
Ich friere in meinen Daunenklamotten und festen Wildlife-Schuhen so entsetzlich wie nie zuvor, auch nicht in Sibirien oder am Eismeer. Beuge Knie, stampfe die Füße, schmeiße Beine und Arme in die Höhe, trotzdem kommt keine Wärme auf. Die Tafel springt auf Rit. aus Roma 30 Minuten. Nein, das halte ich nicht aus. Gehe ins Hotel. Aber verdammt, ich habe 99 Euro bezahlt, und das nur für einen Sitz. Kofferrollen den Bahnsteig rauf und runter, Achterschleifen um Säulen, Papierkörbe, Metallbänke herum samt Körperübungen an jedem Ende.

Meine in der kalten Mühlviertler Kindheit eingeübte Methode versagt zum ersten Mal: Atem anhalten, alle Körperteile anspannen, loslassen, anspannen, loslassen. Anspannen bis in die Zehen hinein und alle Gesichtsteile. In meiner Kindheit hatte ich die Überzeugung mit dieser Reibungsenergie das kleine Kraftwerk am Gießenbach am Laufen halten zu können. Am Bologna Centale keine Spur von Wärme. Eine junge Italienerin, unterwegs nach Milano, macht es mir nach, wir lächeln einander zu, sie hat kein Feuer, dann rauchen wir eine gemeinsam, obwohl es am Bahnsteig verboten ist.

Bei meinen Kofferwanderungen komme ich einmal zu nahe an dem Menschenwrack vorbei und nehme einen Geruch von Scheiße wahr, frisch, scharf, warm. Gerade den angeschissenen Hosen entströmt. Er aber sitzt völlig ruhig da, pafft eine Zigarette nach der anderen und gräbt mit der anderen Hand in seinem dichten, grauen Haar, die Füße in Socken neben den Schuhen auf dem Boden. Um den linken Knöchel ist lose eine Flasche gewickelt, sie endet irgendwo unter der Bank.

Ich überschlage kurz, was ich noch im Rucksack habe: ein gut belegtes Panino und ein leeres, eine Packung Reiswaffel, eine Orange, eine Schachtel Philadelphia-Streichkäse, ein Eckerl Parmesan, ein hart gekochtes Ei, als Jause für unterwegs; eine Schachtel mit glasiertem Mandelgebäck, je ein Glas Akazienhonig und schwarze Oliven, und eine Riesentafel Mandel-Trauben-Schokolade – Apulien-Mitbringsel für Agnes, meine Katzensitterin. Gar nicht so wenig, das könnte unter anderen Umständen ein kleines Picknick abgeben.
Vielleicht war er der Wunderornithologe, der dem Colombo sein Entenbein gebastelt hat? Es ist schon eher Wahn, richtig denken kann ich nicht mehr. Warum, verdammt nochmal, ist ihm nicht kalt oder zeigt er es nicht? Mich packen Ingrimm und Neid.

Ich trage an meinem Körper eine dicke Daunenjacke, zwei Unterhemden, eine Bluse, eine gesteppte Fleecejacke, einen Wollpullover bis in die Kniekehlen, an den Füßen festes Schuhwerk mit Filzeinlagen und zwei Paar Socken. Oben eine dicke Strickmütze, einen Schal, modisch ausladend wie eine Pferdedecke und natürlich Handschuhe.
Trotzdem friere ich bis zum Erbrechen – oder wird es ein Herzinfarkt oder Schlaganfall? Habe noch nichts davon erlebt. Wie kündigt sich so etwas an? Friert man mehr, wenn man Kälte an einem Ort nicht erwartet, sie einen überfällt wie Wegelagerer? Oder doch noch vor dem Sterben ein böser Anschlag auf die ÖBB und trenitalia. Dieser Gedanke hält bei allen rasenden Rachegelüsten nicht warm.

Als der Zug kurz vor Mitternacht endlich einfährt, wird der Sandler munter; er schlüpft in seine Schuhe, stopft die Fasche in einen Socken und bindet die losen Schnüre zu. Er zieht seine Jacke an, die ich vorher für einen roten Fetzen neben ihm gehalten habe. Er schultert seine Tasche, steht plötzlich aufrecht und hat ein Billett in der Hand, so wie ich auch. Als der Zug einrollt, stehen wir kurz nebeneinander, er genauso suchend wie ich. Oh Gott, denke ich noch, weniger als ein Gedanke, bitte, nicht in mein Abteil.

Ich laufe weiter, suche carrozza 410, noch einmal steht er neben mir, ich rieche Scheiße, komme mit meinem Koffer knapp rauf über die Stufen und finde den Sitz 95F, in einem Sechserabteil, so alt und hässlich, wie ich schon vor vierzig und mehr Jahren mit den ÖBB gereist bin, diese unseligen, in der Mitte zusammenschiebbaren Sitze, die immer auseinanderrutschen. So was gibt‘s noch in Betrieb? Da ist schon ein junger Japaner, der im Abteil residiert wie in einem High-Tech-Studio. Aber er ist höflich, entfernt blitzschnell alle seine ausgebreiteten Geräte und legt sich unter einer Kabeldecke schlafen. Er wird in Bruck an der Mur aussteigen. (Was macht ein Japaner in Bruck an der Mur?)

Wo der Sandler untergekommen ist, kriege ich nicht mehr mit. Von Bologna bis zum Brenner, drei Stunden ohne Halt und Kontrolle in der Wärme eines WC. Oder wo sonst?
Aber das ist eine Frage von sehr viel später, als Herz, Hirn und Gebeine schon wieder etwas aufgetaut waren.
Bis zum Brenner bin ich nicht mehr aufgewacht. Ich habe von Colombo und seinem geheimnisvollen Entenbein geträumt: Hoppauf, Colombo, gib‘s ihnen, das ist dein Brot! Vom Sandler nicht. Das Verschieben der Waggons nach Rosenheim/München/Wien scheint endlos. Als ich kurz aus dem Fenster luge, sehe ich, wie zwischen Schneebergen ein Mann von zwei vermummten Polizisten abgeführt wird. Es ist dunkel, er erscheint mir kleiner, aber das rote Blouson und die dünne Tasche glaube ich schon einmal gesehen zu haben.

Wien, 23./ 24.2.18

Veronika Seyr
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Loblied auf eine Zwergenbahn II (Italien 4)

Abreise 19.2., 10 Uhr 07 zurück nach Lecce,
statt 14 Tage 4 Tage, Flucht in den Norden

Seit ich um 3 Uhr 45 aufwachte, rauscht schwerer Regen nieder, senkrechte Ströme aus Scheffeln, ab und zu weht eine Sturmböe volle Gießkannen waagrecht gegen die Fenster. Unter Heulen, Klappern und Ächzen vom Balkon her bleibt wenig von der Italianita übrig. So geht das schon mit einer Ausnahme den vierten Tag. Der Entschluss ist gefasst, der Koffer gepackt, die Panini-Jause im Rucksack verstaut, die Thermoskanne voll mit Kaffee für die nächsten 24 Stunden auf diversen Bahnhöfen und in trenitalia.

Ich bin anfangs der einzige Passagier im Triebwagen, später steigen zwei junge Afrikaner zu, die Handys halten, laut mit Buon Giorno grüßen und nach einigem Herumspielen einschlafen. Die Wiesen und Ackerfurchen stehen voll Wasser, von der Terracotta rötlich-braun gefärbt. Wintergetreide wächst halbhoch und hellgrün, in langen Reihen Stängelkohl, Brokkoli, Salat, Artischocken und anderes Gemüse, das ich nicht kenne. Frühlingsblumen wie bei uns vielleicht in zwei Monaten, Klatschmohn, Löwenzahn, Hahnenfuß, alles so grün und bunt, wie es die nächsten sieben, acht Monate unter der gnadenlosen Sonne nicht mehr sein würde.

Uralte Olivengiganten so weit das Auge reicht, nicht wenige davon ihrer Kronen beraubt, um zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Das tödliche Bakterium Xylella wütet seit fünf Jahren in Apulien, eingeschleppt mit Kaffeepflanzen aus Mittelamerika. Die Wissenschaft hat bisher keine Rettung gefunden. Braune, dürre Zweige, kaum noch irgendwo ein durchgehendes silbriges Blätterdach, wie es die alten Götter schon kannten. Es sieht aus wie mitten im Krieg, eine Dauerschlacht. Ich habe in Artikeln von der Seuche gelesen, aber dies zu sehen, ist unendlich trauriger und grausiger. Apokalypse.

Ein kluger Freund hat mich vorgewarnt – die ökologische Katastrophe sei ein Abbild der ethischen. Ich habe ihm nicht geglaubt und ihn belächelt. Ach, du alter Schwarzseher! Welch ein böser Fehler. Ich sehe es mit eigenen Augen – keine Zeit, keine Epoche, kein Regime, kein Krieg hat es bisher zustande gebracht, das Land zugrundezurichten. Wer von den Baumriesen noch lebt, den höre ich gleichsam aus den Seen zu ihren Füßen schlürfen, röchelnd in den letzten Zügen. Schreckensgestalten, wie sie dastehen mit den wenigen nach oben gestreckten Ästen, Trauerbilder ihrer selbst, die altehrwürdigen Götter sind gestürzt und zu lächerlichen Schatten verkommen.
Der prophetische Mailänder meinte, das Ende sei nahe, aber der einzige Trost sei, dass wir zwei Alten das Ende nicht mehr erleben werden.

Die Apulier sind wahrlich keine ökologischen Musterschüler. Es liegen sicher noch mehr Abfälle herum als Feldsteine. Sind das die selben Menschen, die seit Jahrhunderten mühsam die Felsbrocken aus der Erde klauben und sie zu Trulli und Mauern aufstapeln, die dann genau hinter diesen Mauern ihren Dreck abladen? Es ist nicht der landwirtschaftliche Abfall, sondern der Industriemüll, der den Anblick so besonders grässlich macht. Alte Autoreifen, Kühlschränke, TV-Antennen, ein verbogener Wäscheständer, Kanister, Plastik in jeder Form und Farbe: Eimer, Stühle, Flaschen, Planen. Am schlimmsten aber sieht es aus, wenn man versucht hat, diese Berge zu verbrennen. Bunt und schwarz gefleckte Narben in der Landschaft.

Wenn man nichts weiß und keinen zum Fragen hat, kann man sich in die wüstesten Vermutungen versteigen. Warum versagt ihr ansonsten untrügliches Talent und Gefühl für Formen und Ästhetik hier so schändlich? Ist den Bauern die Industrieproduktion so fremd, dass sie ihre Überreste abspalten und nicht als solche wahrnehmen? Aber besser so als umgekehrt, sage ich mir zum Trost und lache grimmig über unser zum verinnerlichten moralischen Gesetz gewordenes Umweltbewusstsein. Man sagt der Natur ja eine fast unendliche Anpassungsfähigkeit nach. So entwickle ich die Fantasie, dass die Ohrwaschelkakteen imstande sind, die Industrieabfälle in ihre fleischigen Körper aufzunehmen und zu verarbeiten. Möglich allerdings, dass dann die Kaktusfeigen, die ficcetini, nach Schmieröl und Blech schmecken.

Ich registriere an mir immer noch das selbe alte Entzücken, wenn an Bäumen Orangen und Zitronen wachsen oder die Erde darunter mit Fallobst bedeckt ist. Frisch wie gestern die Erinnerung, als Zitrusfrüchte bei uns selten waren und nur einzeln auftauchten als etwas Aufregendes, Exotisches aus unbekannten, weit entfernten, aber unsagbar schönen Ländern. Sehnsuchtsorte – Kennst du das Land, wo die Zitronen blüh‘n? Geheimnisvolle Boten, geballte Versprechungen, ihnen einmal in den Süden entgegenreisen zu können. Diese unsäglichen Freuden der Kindheit, wenn im Nikolaussackerl neben Kletzen, Affenbrot und Nüssen die erste Orange oder Mandarine auftauchte. Wir, die zur Bescheidenheit erzogenen Nordländler, die sich schon freuten über die sauren Frühäpfel, die Klaräpfel, die Gute Luise, Gravensteiner, Schafsnasen, Renette, Boskoop und vielleicht sogar einen honigsüßen Cox Orange.

In Lecce kaufe ich an einem Straßenstand drei Riesenorangen, fast eineinhalb Kilo schwer, die noch Stängel und Blätter dranhaben. Wortlos erkennt der Verkäufer meine kindliche Freude, steckt extra noch einige glänzende Ästchen ins Sackerl und strahlt mich im Besitzerstolz aus seinen Zahnstummeln an. Warum bekommen wir in unseren Breiten nie solche Köstlichkeiten zu kaufen? Süß, saftig, fleischig, sommerduftgetränkt. Allein vom Riechen könnte man satt und glücklich werden!
Die Italiener haben schon recht, dass sie diese Göttergeschenke für sich behalten und uns nur den Ausschuss schicken. Geschmackssymphonien zerplatzen im Mund, zerstäuben gegen den Gaumen und steigen in die Nase. Eine einzige Orange hält meinen Gaumen von Lecce über Brindisi, Bari, Tarni, Foggia und Termoli, am Gargano vorbei bis nach Pescara in Entzücken, während rechts vor den Fenstern die grau-grüne Adria unter einem Februarsturm kocht und schäumt, Gischtfontänen aufsteigen und gegen die Wellenbrecher toben, bis die Finsternis alles verschluckt. Ciao, bella Italia!

Wien, 22.2.18

Gewidmet Klara Obereder

Veronika Seyr
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Der Korkenzieher – il cavatappi (Italien 3)

Ich glaube an die Magie der Orte.
Franz Kafka über Müritz, Juli 1923

Vom Sonnenschein angelockt, rüstete ich mich gegen Mittag zum ersten Gang durch die Stadt. Die Schrecken der Nacht würden sich unter dem blauen Himmel auflösen, so die Hoffnung. Ein paar Schritte von der Haustüre die enge Gasse hinunter kreuzt sich meine Via Monte Grappa mit der Via Settembrini und der Galileo Galilei – wunderbare Schutzheilige, denke ich mit Befriedigung. Die Kirche San Rocco ist so groß, dass sie auf jedem Platz Mailands stehen könnte, der anschließende Corso Emmanuele I. ebenfalls. Immer wieder diese Freude und Sentimentalität der Alpenländlerin, wenn unter den Kugelbäumen vom Sturm abgeschüttelte Orangen liegen und nicht angefaulte Mostbirnen oder zerdeptschte Zwetschken. Das ist schon mal der Anfang von der Italieneta!

Als Erstes im Tabacchi Zigaretten kaufen, suche nach Schulheften und Kulis, sollten meine mitgeführten Vorräte nicht reichen, Il Giorno von gestern für die Aufbesserung meines eingerosteten Italienisch, Ansichtskarten gibt es keine zu dieser touristenfreien Jahreszeit. Oder ist die freundliche, aber sehr runde Angestellte nur zu bequem, diese aus dem Lager herauszukramen? Wahrscheinlich wirke ich auf sie zu komisch und exotisch, dass sie wie gelähmt ist.
Als ich mit meinen Schätzen wieder auf den Corso heraustrete, steuert eine alte Frau ausgerechnet auf mich zu – eindeutig die einzige Touristin außer mir – und fragt mich – mich? Warum? Schaue ich italienisch aus? – in fünf gebrochenen Italien-Worten nach dem Weg zum Meer. Sie sieht aus wie eine weißhaarige Virginia Woolf, und ich antworte daher auf Englisch, gebe ihr die vage Richtung an, nach Süden, soviel ich vom Balkon aus hatte sehen können.
Sie schenkt mir ein so dankbares Lächeln, als hätte ich sie von irgendetwas erlöst.

Ich will eigentlich auch dorthin, durchquere aber zuerst die Stadt der Länge nach. Erst als sie in Felder überzugehen beginnt, nehme ich die Straße nach Punto Maria della Leuca, das ist dem Führer nach das Kap mit dem Leuchtturm und der Wallfahrtskirche.

Die Ausfahrtsstraße ist gesäumt von verschlossenen Villen, eingewinterten Gärten, zerfressen von Gewerbeparks – Industriekeramik, Teppichland, Fliesenland, Grabsteinland, Autozubehör, Tankstellen. Auch die grindige Pizzaria Vesuvio und eine Bäckerei haben geschlossen. Ich bemühe mich, mir die Schönheit dieser Gegend im Sommer vorzustellen. Das ist gerade schwer. Der Wind stößt mich ruppig vorwärts, manchmal zur Seite. An einer schmalen Stelle des Gehsteiges fegt mich eine Windböe auf die Straße. Zum Glück kommt gerade kein Auto daher, aber der Schock ist so heftig, dass ich in die nächste zur Stadt zurückführende Gasse einbiege und meinen Gang zum Meer auf besseres Wetter verschiebe.

Die Sonne ist da, aber sie ist so kalt, dass ich mir ein warmes Kaffeehaus herbeiwünsche. Nix da, gibt‘s nicht, ein einziges Café am Ende des Corso ist offen, drinnen und davor schwarz vor alten Männern. Also setze ich mich mit einem Fingerhut von Espresso – so schmeckt Kaffee! – an einen der Tische vor dem Lokal, dazu einen unübertroffenen Fruttone, ein mit Mandelcreme und Quittenmarmelade gefülltes Törtchen. Mich umschwirrt ein Männergeschwätz, in dem ich kein einziges italienisches Wort erlauschen kann. Die apulische Sprache soll wie das Sizilianische angeblich durchsetzt sein mit Gaben aus dem Altgriechischen, Albanischen und Arabischen, wer weiß was noch Afrikanisches. Viele Orte sind griechische Gründungen, die Nachkommen nennen sich Greki. Der Sonnenseite des Corso entlang stehen Männer an die Hauswände gelehnt – aha, nicht nur mir ist kalt, auch sie wärmen sich.

Zeit für meinen ersten Großeinkauf, beim ersten Queren bin ich an einem Supermercato Sigma vorbeigekommen. Ich raffe zusammen, was an Italianita ich bei mir in meinem Wohnturm haben will: Kaffee, Tee, Parmesan, Schinken, Gorgonzola, Yoghurt, Gläser mit Carceofini, Sugo, Kapern, Oliven, Mayonnaise, Honig, Marillenmarmelade, eingelegte Tomaten, Paprika und Silberzwieberl, schwarzen Pfeffer unbedingt, weil der wirklich nach Pfeffer schmeckt. Dann Orangen, Mandarinen und frisches Gemüse. Alles etwas teurer als bei uns, wie machen sie das? In einer außertouristischen Saison?
Lange Reihen mit dem üblichen europäischen Schrott von Danone und dänischer Butter, von Schokoriegeln und Katzenfutter. Jetzt noch Wein. Lange suche ich in der großen Auswahl, vergleiche Herkunft und Preise, die einheimischen Marken sagen mir nichts, sie haben aber schöne Namen wie Negroamaro oder Aleatica, und natürlich prüfe ich die Hälse ausgiebig nach Stoppel/Korken und Rillen. Endlich finde ich eine passende weiße und eine rote Flasche mit barbarischem, aber praktischen Schraubverschluss. Ich kaufe einen rosso um sagenhafte 7,90 Euro, einen Sanpietrana aus Brindisi, und einen billigeren bianco aus Tarento.

Jetzt noch schnell beim Panificio vorbei, ein paar Panini und einen kleinen Laib Schwarzbrot, und zurück in den Wohnturm zu meinem ersten italienischen Essen. All das gibt es natürlich auch in Wien zu kaufen, aber hier schmeckt es hundertmal besser. Warum nur? Weil die Sehnsüchte so stark sind. Trotz eines starken Kaffees überkommt mich beim Lesen des Il Giorno schnell der Schlaf – die Nacht hat ja nicht viel davon hergegeben.
Als ich aufwache, ist es schon dämmrig im Zimmer. Die Sonne ist noch nicht untergegangen, aber von grauen Wolkenbänken über dem Meer verdeckt. Schlechte Aussichten für den nächsten Tag. Das Wetter kommt ja immer aus dem Westen. Die Palmen und Eukalyptusbäume im Garten gegenüber werden gebeutelt und neigen sich bedrohlich zu Boden. An den Mauern haben die Rosen und Bougainvilleas noch Blüten, werden aber wie Lorbeer und Feitschi arg durchgeschüttelt. Eine schwarz-weiße Katze schleicht geduckt über eine Steinmauer. Weil es draußen auf dem Balkon zu kalt und windig ist, hole ich den kleinen Tisch ins Zimmer und genieße, geschützt, aber bei offener Türe, Mahl und Aussicht.
Es kann nicht mehr schöner werden, ich habe alles, wovon ich im Wiener Winter geträumt hatte.

Aber oje, die Flasche hat einen Korken, was ich nicht bemerkt habe, weil die Schlaumeier künstlich Rillen in den Plastikbezug des Flaschenhalses gemacht haben. Das kann nicht sein, ein italienischer Haushalt ohne Stoppelzieher? Ich suche die beiden Zimmer systematisch ab, den Geschirrschrank, die Bestecklade im Esstisch, die Küche – vergeblich, bis ich auf dem Sims des offenen Kamins fündig werde. Aber oh Schreck, es ist ein italienischer Korkenzieher, den Kellner so genial einhändig händeln können, aber Laien wie ich nicht beherrschen. Ich kann, wenn überhaupt, nur mit dem zweiarmigen Hebelkorkenzieher umgehen. Ich hole mir Blasen an den Fingern, aber der Korken hält, beste italienische Qualität. Vielleicht der teure Rote? Nix da, der gleiche Trick, wieder künstliche Rillen und ein fest sitzender Korken, in den ich die Spirale zuerst fast nicht hineinkriege, die aber dann auch noch unbeweglich stecken bleibt.

Bevor die Enttäuschung in Verzweiflung umschlägt, laufe ich schnell zum freundlichen Panificio und frage nach einem Geschäft mit Haushaltsgeräten, nicht ohne dass ich zuvor die paar Worte aus dem Wörterbuch herausgesucht und auf einem Zettel notiert hatte. Dove posso trovare cavatappi? Vorrei casalinghi, vorrei cavatappi, ich suche ein Haushaltswarengeschäft, einen Korkenzieher. Der Bäcker ist noch freundlicher und erklärt mir wort- und gestenreich den Weg zu einem Laden mit dem wunderbaren Namen Fortunato. Ich verstehe nur sempre diritto bis zu einem Platz und dann sinistra, gleich an der Ecke ist der negotio von senior Fortunato. Da renne ich also durch die dämmrigen Gassen und finde den Fortunato auch wirklich. Ein Gemischtwarenladen, eine Greißlerei, wie ich sie bei uns schon lange nicht mehr gesehen habe, von allem ein bisschen was. Dove, vorrei, uno cavatappi. Ich habe immer memoriert – cavatappicavatappi mit jedem Schritt – hchhch, das Herz schlägt.
Da ist Fortunatuo! Fortunatus Wurzel, denke ich natürlich. Wo kommt der her? Nestroy oder Raimund? Es ist zu kalt dafür. Er bietet einen Riesen um 8,95 und einen bescheidenen um 3,95 an. Den ich kaufe, dazu noch Zwiebeln, Knoblauch, Ricotta, Eier, Nudeln, Sugo, eine Melone und eine dicke Schnitte Speck. Fortunato schüttelt wortlos den Kopf, weil ich für all das noch zweimal zurückkomme.

Kochen, aufdecken, essen. Ist das ein Fest! Ich habe ein paar Stängel gelber Blumen am Straßenrand gepflückt und in eine Vase gestellt, nehme an, Klee. Hübsch, aber sie knicken sofort ein. Jetzt nur noch der Wein! Aber ich kriege den Stoppelzieher nicht aus der Verpackung, verdammt. Versuche es mit meiner Nagelschere, Feile, mehreren Messern aus der Bestecklade, nichts geht. Er ist atombombenfest in Plastik eingeschweißt – Made in Taiwan. Die Wohnung ist so karg eingerichtet, dass es nichts mehr zu untersuchen gibt. Endlich die Erlösung, im Kamin finde ich eine Axt, die ansonsten sicher nur zum Holzspalten dient. Mit ihr kann ich das Korkenzieher-Gehäuse zertrümmern, aber breche dabei gleich einen Arm ab. Den Sanpietrino kann ich doch noch öffnen.

Ich bin erschöpft, aber Anspannung und Kälte gleiten allmählich in allgemeines Wohlbefinden über. Dann will ich das auf dem großen Holztisch ausgebreitete Stillleben mit meinen Einkäufen fotografieren, die beiden Korkenzieher im Vordergrund und den befreiten Sanpietrino dahinter. Da zeigt meine Kamera blinkend an, dass sie keinen Saft hat. Und das Aufladekabel ist zu Hause geblieben. Wer denkt schon an so was? Wer hat überhaupt noch eine aufladbare Kamera? Also morgen eine neue Suche aufnehmen, beim Bäcker anfangen bis zum Fortunato, vielleicht.

Da höre ich ein Klopfen unten an der Tür, es ist eher ein Donnern, da tief unten eine Eisentür. Rocco fragt, wie es mir geht. Alles in Ordnung? Tutto bene, grazie, vabene. Grazie! Mein Italienisch ist so gut wie bei Donna Leon. Selig, Abreise noch einmal aufgeschoben.

Wien, 7.3.18

Veronika Seyr
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Eine italienische Nacht in der Casa Franca (Italien 2)

Als ich in Gagliano del Punto aus dem Zug steige, bin ich genau 24 Stunden unterwegs gewesen. Rocco, der frühere Besitzer des Hauses, holt mich pünktlich vom Bahnhof ab und fährt mich an die Adresse mit dem schönen Via Monte Grappa gleich hinter dem Dom. Von der Stadt sehe ich fast nichts, es regnet und ist stockfinster. Es geht durch kaum beleuchtete, menschenleere Straßenzüge, glatte, abweisende Mauern ohne Fenster, über einen mit Kugelbäumen gesäumten Boulevard und zwei städtische Plätze, die von Kandelaber-Lampen schwach beleuchtet sind. Menschen sind keine unterwegs, obwohl es erst kurz nach sieben ist.

Rocco weist mich in die Casa Franca ein, zeigt mir alles Nötige, die zwei Zimmer, Heizung, Wasser, Herd, Kühlschrank, Geschirr, Toilette, den Bettzeugkasten, den Ausgang zum kleinen Balkon und den Aufstieg zur Dachterrasse – alles klar, vabene, ich verabschiede ihn schnell und bin allein.

Eine Küche mit offenem Kamin, ein Esszimmer, ein Schlafzimmer mit zwei schmalen Betten. Mehr kann ich vorerst nicht wahrnehmen. Ich bin fast ohnmächtig vor Müdigkeit. Ich habe im Schlafwagen von Wien nach Bologna nicht geschlafen und im Zug nach Lecce nur wenig nachgeholt. Außer dem Mosaikboden nehme ich vorerst keine architektonischen Schönheiten wahr und die bunten Steine nur deswegen, weil es von dort verdammt kalt auf die Füße zieht. Die Schuhe werde ich hier wahrscheinlich höchstens unter der Dusche ausziehen. Zwei Paar Socken, an Hausschuhe habe ich nicht gedacht. Ich packe den Koffer sofort vollständig aus, schlichte die Sachen in den Kasten, richte mich in Bad und Küche ein und stelle einige Stühle um.
Eine Manie von mir, mich sofort häuslich niederzulassen, den Raum besetzen, markieren, wie ein Tier seinen Bau oder sein Terrain.

Dann krame ich aus den Tiefen des Rucksackes den Rest meines Reiseproviants hervor und breite ihn auf den großen Esstisch: ein Weckerl mit Salami, von Mayonnaise, Tomaten- und Zucchinischeiben durchnässt und labbrig, eine Ecke Gouda, zwei Mandarinen, ein Sackerl getrocknete Maroni von „ja! Natürlich“, je eine Packung Mannerschnitten und Reiscracker. Scharfe Fishermans friends Mint-Zuckerl. Nicht gerade üppig, aber ein Genuss ohnegleichen. Seligkeit sickert langsam in den Körper ein, zusammen mit dem Rest von Mineralwasser und lauwarmem Kaffee aus der treuen Thermoskanne. Dieser Platz an dem großen, alten Holztisch unter der Lampe mit einem abstrakten Bild gegenüber, das ich sofort mag – das wird meiner werden für den Rest der dreizehn Tage.

Ohne mich auszuziehen oder zu waschen, schlüpfe ich unter die Decke. Das Licht am Nachtkästchen ist zum Lesen nicht optimal, die Kissen auch nicht. Aus der Mauer strömt Kälte, also binde ich mir mein großes Tuch um die Schultern und knüpfe es auf der Brust fest.
Großmutter, babuschka. Die mitgebrachten Bücher – ein Viertel des Kofferinhalts – staple ich auf dem Nebenbett, griffbereit, auch die Tag- und Nachtbücher, Kulis und Bleistifte ebenfalls.
Verdammt, ich habe in den Vorgesprächen mit der Vermieterin nicht nach Bettlicht und Kissen gefragt, obwohl genau das immer schon und überall die wichtigsten Elemente meiner Nächte sind.
Mein aktuelles Buch „Unter der Drachenwand“ habe ich in der Bahn begonnen und es fasziniert mich von der ersten Zeile an. Irgendwie laufen zwei Filme gleichzeitig ab, in einem zusammengeschmolzen – draußen die Adriaküste von Ancona nach Süden, wenn ich hinausschaue, und im Buch steht das Salzkammergut im Jahr 1944 vor mir. Der Held friert die ganze Zeit in seiner Dachkammer am Mondsee, das Heizen ist eine der wichtigsten Überlebensfragen. Im Rapido war es wohlig warm. Ich suche im Kasten nach einer zweiten Decke, rotes Fleece, jetzt schon schwer wie eine Ziegeldecke, aber ohne echte Wärme. Der Berg um meinen Körper wird größer, ich versuche, nicht in den Spiegel des Schrankes gegenüber zu schauen.

Irgendwann bemerke ich, dass der Regen stärker wird und hart an die Scheiben der Balkontüre schlägt. Irgendwelche Dinge am Balkon klappern ständig aneinander, rasseln und quietschen? Sind das gequälte Katzen unten auf der Straße? Als ich so an die zwei Kissen gegen die Wand gelehnt sitze und in der Drachenwand lese, bemerke ich, dass sich die Buchseiten von selbst bewegen. Die Zugluft kommt von der Balkontüre her. Ich steige auf einen Stuhl und versuche, mit einem Leintuch den fingerbreiten Spalt von oben nach unten auszustopfen. Es rutscht immer wieder herunter, ich bin zu klein für diese italienische Tür, Abendgymnastik hatte ich nicht vorgehabt.

Auf dem Fußbodenmosaik breitet sich eine Wasserlache aus. Ich wische sie auf und klemme einen Stuhl unter die Türklinke. Ok, unten ist es dicht und trocken, oben versuche ich weiter, auf einem Stuhl balancierend, das Leintuch in den klaffenden Spalt zu drängen. Da gibt es einen furchtbaren Knall, und vor Schreck falle ich fast vom Stuhl. Der Regen ist in ein Gewitter mit Donner und Blitz übergegangen. Nachdem ich mich aufgerappelt habe, stopfe ich das Leintuch in den Ritz. Nach einigen Versuchen – erfolgreich. Wieder im Bett, stelle ich fest, dass sich die Buchseiten der Drachenwand nicht mehr eigenwillig bewegen. Aber immer noch Frösteln unter den zwei Decken. Eine dritte aus dem Kasten. Da kommt ein Durcheinander auf. Also löse ich das Bergungetüm auf und ziehe Schicht für Schicht die Decken und Laken von der Matratze ab. Weil ich noch die Lesebrille vor den Augen habe, nehme ich kleine, dunkle Punkte wahr.

Da hätte ich nicht so gut hinschauen sollen. Aber weil ich vom Land bin, erkenne ich sofort, was das ist – Mäusedreck, Bämmerl hieß das in meiner Kindheit. Mir graust nicht wirklich, aber erfreut bin ich auch nicht. Das zweite Bett untersuchen, es ist sauber, trotzdem darunter Besenkehren, alles ab- und frisch überziehen, Unterbett, Leintuch auf der Matratze, Leintuch unter der ersten Decke nach außen umschlagen, vier Fleecedecken drauf und Kissen aufschütteln. Mir ist kalt und gleichzeitig rinnt mir Schweiß über den Rücken und zwischen die Brüste.

Es ist klar, ich werde bestraft, und ich frage mich, wodurch ich den Zorn Gottes auf mich gezogen habe. Eindeutig, ich zähle nach, die Reste der Mäuseinvasion sind die fünfte Plage. Nach der biblischen Erzählung würde es noch fünf brauchen bis zum glücklichen Exodus. Die sechste herrscht ohnedies ständig, die undurchdringliche Finsternis der Nacht. Von nun an bleibt EXODUS an der Wand stehen. Was war geschehen? Wie war ich in diesen göttlichen Rachefeldzug geraten? Ich horche in mich hinein und kann keine Schuld finden.
Im „Falter“ die Annonce gefunden, die Vermieterin Klara kontaktiert – spontane Wärme und Sympathie – und im Reisebüro Ruefa die Bahnreise gebucht, glücklich über die günstige Sparschiene. Alles hat sich so richtig angefühlt. Keine bösen Vorzeichen, Warnungen oder Träume. Ich bleibe uneinsichtig, werde pathetisch, trotzig und wehleidig. Mir fehlt ein Adressat für Schuldzuweisungen. Und noch zeigt nichts auf mich.

Nach der Putzorgie kehre ich unter den Schutz der Drachenwand zurück und gerate wieder in ihren Sog. Der Mondsee ist doch meine zweite Kindheitsheimat, mal sehen, wie der Vorarlberger Arno Geiger mit meinem Lebensjuwel umgeht. Soweit sehr einfühlsam. Ich habe bisher nichts auszusetzen. Fast nichts. Nur, warum erwähnt er das Loch in der Drachenwand nicht? Das hätte er doch leicht verwenden können in seinem Plot, geradezu symbolisch. Immer muss ich die Schriftsteller verbessern, eine unsympathische Lehrer- und Lektoren-Krankheit, aber nicht abzulegen wie der Radiergummibleistift in der Hand beim Lesen.

Während ich überlege, wie er die Sage vom Jungfrauen verschlingenden Drachen verarbeiten hätte können, gibt es in den Tiefen des Gemäuers einen furchtbaren Rums, der mich ich aus dem Bett springen lässt. Eine Explosion? Gas, Wasser, hier, in der Nachbarschaft, Terror? Was habe ich bei Roccos Erklärungen nicht verstanden? Na gar nichts. Ich stehe wie versteinert da und erwarte mein Todesurteil. Danach gibt es ein leichtes Nachtuckern, das zusammengekrampfte Herz erleichtert sich – es war das An- und Abschwellen des Heizungsthermostats, das Geräusch ist mir vertraut. Aber was ist das wieder? Erst nach dem dritten Klogang verstehe ich, dass es für den Wassertransport eine heulende und röchelnde Pumpe gibt. Ich wohne schließlich in einem mittelalterlichen Turm. Irgendetwas klappert noch immer, es kommt vom Balkon, zum Glück, es sind nicht meine Zähne. Ich werde es hoffentlich am Morgen erfahren.

Da durchfährt es mich heißkalt – habe ich hinter Rocco abgeschlossen? Ich kann mich nicht erinnern. Ich wollte ihn nur so schnell wie möglich loswerden und habe immer nur zu allem si, si, vabene, grazie gestammelt.
Sofort springt das rassistische Gedächtnis an. Die Massen von Afrikanern auf den Bahnhöfen von Bologna an allen Stationen bis nach Lecce. Ich tappe die enge, gewundene und steile Treppe nach unten in die Eiseskälte, schlotternd vor Angst und Schlaftrunkenheit. Die eiserne Eingangstüre ist tatsächlich nicht abgesperrt, drehe den Schlüssel zweimal herum und sinke kurz auf die Steinstufe. Durchatmen, aus, ein, aus, ein, Hände aufs Sonnengeflecht.
Als wäre dort wirklich ein schwarzer Mann gestanden, mit üblen Absichten, so sehr klopft das Herz, als ich wieder unter die Decken krieche und mit Hilfe von Lektüre einzuschlafen versuche. Der Dumont-Reiseführer Apulien mit seinen vielen bunten Bildern von sonnigen Stränden, Olivenhainen und Blumenwiesen hilft ungefähr so viel wie ein Märchenbuch als Trost und Wahrheitsquelle.

Lustig war diese Nacht gewiss nicht, trotzdem erwache ich erst mitten am Vormittag, ungewöhnlich erfrischt und fröhlich. Ausnahmsweise ist kein Alptraum in der Erinnerung hängengeblieben. Es gibt kein Aalen und Schlunzen, Herumdrehen im Bett. Die Glocken von San Rocco bimmeln beharrlich, und ihre zwei Uhren schlagen hintereinander jede Viertelstunde zweistimmig, also fast die ganze Stunde hindurch. Ich trete mit dem ersten italienischen Espresso auf den Balkon – ein Hoch auf Klara, sie hat einen Kaffee-Vorrat und fünf verschiedene Größen von Alessi-Maschinen – und stelle fest, dass der Regen aufgehört hat und eine bleiche Sonne durch die Wolkenfetzen scheint.
Allerdings muss ich die Tasse am Tischchen abstellen und mich mit beiden Händen am Geländer festhalten, damit der Sturm mich nicht in die Via Monte Grappa hinunterweht. Rund um mein Haus ein Gewirr von weißen Flachdächern, dazwischen Palmen und Eukalyptusbäume, vom Wind wild gebeutelt. In der Ferne winken das grüne Kap von Maria della Leuca, der weiße Leuchtturm und am Horizont ein blassblauer Streifen, die Adria. Hallo, Italien, ich bin angekommen am finis terrae. Ich schöpfe Hoffnung. Riecht es nicht schon nach dem italienischen Frühling? Und vergesse sofort die nächtliche Wandinschrift. Flucht aufgeschoben. Welch eine Hybris!

Wien, 1./2.März 18

Veronika Seyr
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Loblied auf eine Zwergenbahn I (Italien 1)

Lecce, 14.2.18, 16 Uhr 50, Bahnsteig 6

Jetzt fahre ich also in den Stiefelabsatz hinein, ins äußerste Spitzerl im Südosten. Nicht Fahren, sondern Schlüpfen ist mein Vorgefühl, wie mit den Fingern in einen Handschuh oder mit einem Schuhlöffel. Mühsam. Ich bin aufgeregt und angespannt wie vor einer Himalaya-Expedition, obwohl nichts auf ein Abenteuer hindeutet. Alles spielt sich nur im Kopf ab, in alten Bildern. Der schmale Bahnsteig ist gefüllt mit Schülern und Pendlern, darunter viele Afrikaner. Einer verkauft Regenschirme. Kann man brauchen, es beginnt zu nieseln. Die Bahn besteht aus einem einzigen Waggon, außen blau-grün-türkis gestreift, drinnen 32 abgewetzte Plastiksitze, fast vollbesetzt. Das Bähnlein muss der Traum eines jeden Kleinbahnliebhabers sein, eins zu eins. Der könnte sie in seinem Garten um die Zwerge kreisen lassen.

Außer mir und einem jungen Liebespaar sind alle Passagiere mit ihren Handys beschäftigt. Das Bähnlein fährt im Schritt hinaus aus den öden Vororten von Lecce auf die Halbinsel Salento, in den Stiefelabsatz zwischen Adria und Ionischem Meer. Weißgekalkte Trulli, Masserien und Trockensteinmauern säumen den Weg, Scharen von Elstern flattern darüber, lassen sich auf Oliven- und Feigenbäumen nieder und schrecken ohne sichtbaren Anlass wieder auf. Ohne sie hören zu können, weiß ich, dass sie genauso hysterisch kreischen und in Schwarz-weiß flattern wie ein alter Stummfilm. Viele Olivenbäume sehen krank aus oder sind schon gefällt. Lange Reihen am Boden wie Grabhügel auf einem Friedhof. Das böse Bakterium Xylella hat sie befallen. Obwohl Abgase in den Waggon gelangen, dringt der säuerliche Geruch von den ausgepressten Oliven der jüngsten Ernte herein; sie liegen in dunklen Hügelgebirgen links und rechts der Strecke. Wie heißen Olivenreste, Trester? Die blühenden Mandel- und Pistazienbäume besprenkeln in weißen und rosa Tupfern die Landschaft.

Das Bähnchen tuckert, pfaucht, rattert und stinkt wie ein alter Steyrer Traktor. Aber es ist sehr musikalisch. Wenn es hält, tutet es wie ein Ozeandampfer; solange die Türen offen sind, rasselt und scheppert es wie ein Blechwecker, und wenn es abfährt, ertönt ein Martinshorn. Aber manchmal musiziert sie auch unterwegs, ein lauter Knall – Fehlzündung, langgezogenes Pfeifen – Anfahrt, klingt wie ein Tuberkulosepatient. So klein es ist, will es doch alles gleichzeitig sein.
Es hat sogar einen Schaffner. Der kontrolliert aber nicht die Fahrkarten, sondern schaut ab und zu aus dem Führerhaus bei den Passagieren vorbei, fragt, wie es geht, va bene? und plaudert mit dem einen oder anderen familiär. Nach einer Stunde Fahrt beginnt es zu regnen, und ein dunkler Abend zieht heran. Für die Strecke von 60 Kilometern braucht das Züglein zwei Stunden und zehn Minuten, fährt also mit 30 Stundenkilometern. Da es aber die Hälfte der Zeit steht, in den Stationen, aber auch unterwegs, werden es nur 15 Stundenkilometer sein. Ein Radfahrer könnte daneben mithalten. Und ich mit meinem Notizbuch kann eins zu eins mitschreiben, was ich sehe, höre und rieche. Analoger geht‘s nicht.

Jetzt weiß ich es, es ist ein „Triebwagen“! Ich habe lange nachgesonnen und hineingefühlt, es ist ein Triebwagen wie an der Donauuferbahn meiner Kindheit, dieses Gemisch aus Geräuschen und Gerüchen, das leise Erzittern aus dem tiefen Inneren des Dieselmotors heraus beim Halten und Anfahren in Weißenkirchen oder Spitz, Persenbeug oder Sarmingstein – ein langsamer Express in die Zeit zurück. Wenn man die Farben weglässt – sie verblassen ohnedies immer mehr – kann man die schwarz-weißen Filme des italienischen Verismo hier ansiedeln, im Mezzogiorno. Einige Bahnhofsgebäude sehen so aus, als hätten sie schon im „Leoparden“ mitgespielt.

Zwei Besonderheiten fallen mir auf: In jeder Station stehen Männer herum, die nicht ausgestiegen sind und nicht einsteigen; die winterliche Gegenwart der Dörfer ist so ereignislos, dass die Ankunft des Bähnleins begrüßt wird. Und jedes Mal, bevor das Bähnlein in eine Station einfährt, bleibt es rasselnd stehen, wie um Atem zu holen, putzt seine Kehle durch, um sich dann langsam an den Bahnhof heranzupirschen. Vielleicht spielt es so etwas wie „Räuber und Gendarm“ auf Apulisch? Ich horche ihm ins Herz hinein, ob es sich nicht etwas von der Tarantella angeeignet hat.

Irgendwann muss ich eingenickt sein, der Schaffner hebt mein zu Boden gefallenes Notizbuch auf, ich sitze mit zwei Frauen allein im Abteil, und das Bähnlein lässt ein endloses Martinshorn ertönen – Endstation Gagliano del Punto. Rocco holt mich ab und bringt mich zu Klaras Wohnturm in der Via Monte Grappa. Schöne Adresse, vor dem Haus kreuzen sich die Via Settembrini und die Via Galileo Galilei, stelle ich am nächsten Morgen fest. Was kann da noch schiefgehen?

Veronika Seyr
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My personal Sandler

Die kurze Schlüsselgasse mündet in die untere Wiedner Hauptstraße und bildet auf der rechten Seite des Gehsteiges eine Halbinsel. Die Wiener sagen dazu „Ohrwaschl“. Dort steht vor einem Rabatt mit immergrünen Büschen unter einer Linde eine Bank. Fußgänger rasten dort gerne. Manche machen ein Picknick, andere rauchen eine Zigarette, trinken ein Bier oder schauen in einer Shopping-Pause auf den immer fließenden Verkehr. Zwei Straßenbahnlinien, der 1er und der 62er, die Badner Bahn und der Badner Bus. Der Autostrom sowieso. Ich sitze auch manchmal dort und erfreue mich am meisten an der Lindenallee – der längsten von Wien, wie die Wiedener gern behaupten. Während der Blüte, drei Wochen Ende Mai, Anfang Juni, duften sie so atembetörend stark, dass sie sich sogar gegen den Verkehrsgestank durchsetzen.

Das der Halbinsel am nächsten liegende Geschäft mit dem irreführenden Namen ist das Friendly House. Eine ehemalige Konsum-Filiale. Es verkauft Zubehör für Musiker und DJs. Vor der Tür herrscht immer reges Treiben von Zigaretten rauchenden jungen Männern, die die Kippen noch immer auf den Gehsteig oder in die Büsche werfen. Gleich daneben eine Palmers-Filiale mit ihren ausgestellten Frauen-Verhöhnungen. Dazwischen liegt der Eingang zu meinem Wohnhaus. Von welcher Seite ich auch immer mich nähere, komme ich an dieser Bank vorbei und sehe, wer dort sitzt. Ein neugieriger Augensheriff.

Manchmal lässt sich auf dieser Bank ein Mann nieder, ein Sandler, ein alter Mann mit einem Supermarkt-Wagerl. Dort befindet sich sein Haushalt, fein säuberlich geordnet in verschiedenen Plastiksackerln. Wahrscheinlich ist das seine Wohnungseinteilung: Ein Kleiderzimmer, eine Küche, ein Badezimmer.
Ich habe ihn noch nie anders da sitzen gesehen: der Oberkörper eingeknickt, der Kopf tief auf der Brust und in allen Gliedern völlig bewegungslos. Und das lange Zeit.
Nach oben die Straße zu Bank und Post, dann der Optiker, gegenüber das Haushaltswarengeschäft „Zur goldenen Kugel“, daneben ein kleines Kaffee, der Spar-Gourmet, auf meiner Seite der russische Schuster, die tschechische Kosmetikerin, die albanische Schneiderin, der Bilderrahmenmacher aus Steyr, wieder das Palmers-Geschäft und endlich verschwinde ich in meinem Haustor. Der Sandler bleibt draußen.

Er sitzt noch genau so da wie zuvor, als ich das Haus wieder verlasse.
Er scheint zu schlafen oder zumindest tief zu meditieren. Wäre das nicht die Wiedner Hauptstraße im 4. Wiener Gemeindebezirk, könnte man meinen, einen Säulenheiligen in der leeren Wüste vor sich zu haben. Mit unsichtbaren Erscheinungen und Erkenntnissen, vollkommen nach innen gerichtet. Ich habe ihn noch nie mit jemandem sprechen gesehen oder beobachtet, dass er dem Treiben auf der Wiedner Hauptstraße seine Aufmerksamkeit zugewendet hätte, nie beobachtet, woher er kommt und wohin er geht. Sicher ist, er bettelt nicht, streckt keine Hand vor, hat keine Flasche, keine Bierdose, keinen Becher, keinen Hut und keinen hungrigen Hund bei sich. Bei aller sichtbaren Verkommenheit hat er etwas so Würdiges an sich, dass ich noch nie gewagt habe, ein Wort an ihn zu richten.

Wer und was ist er? Ein ruhender Flaneur? Ein Philosoph, ein Guru? Vielleicht sieht und hört er alles? Vielleicht kennt er die Antworten auf alle Weltfragen?
Oder, schießt es mir durch den Kopf, hat er einmal in seinen besseren Zeiten in einem dieser herrschaftlichen Häuser der unteren Wiedner Hauptstraße gelebt? Würde ich in seiner Situation dorthin zurückkehren oder eher auf dem Verschubbahnhof von Simmering in einem abgesandelten Waggon meine Zeit verbringen? Vielleicht geht sich beides aus?

Die langen, grauen Haare kringeln sich um den Hals, und der weiße Bart bedeckt fast das ganze Gesicht. Was man davon sieht, ist sonnenverbrannt und von tiefen Furchen durchzogen. Er dürfte eine markante Nase haben. Sie hängt noch extra lang über den eingefallenen Brustkorb. Alter – unbestimmbar alt. Seine Kleidung besteht bei jedem Wetter, auch in diesem heißen Sommer, aus einem löchrigen Pullover und einer schlabbrigen, schwarzen Wollhose. Daran ist auf den ersten Blick nichts Außergewöhnliches, ein Obdachloser, wie man ihn an vielen Orten sehen kann. Meine Blicke hat aber sein Schuhwerk angezogen; es sind graue Crocs aus Plastik, groß wie Boote, und zwei Paar dicke Wollsocken.

Die Beine mit diesen Schuhen hat er entspannt vorgestreckt, eine Hand hat er am Griff des Einkaufswagens, neben ihm liegt auf der Bank ein Billa-Sackerl.
Was es genau war, weiß ich nicht mehr. Einmal packte mich irgendetwas an seinem Anblick, wahrscheinlich waren es diese Plastikschinakeln mit den zwei Paar Socken im Sommer bei fast vierzig Grad. Kurz zögerte ich, aber dann konnte ich es nicht lassen: Ich lief ein paar Häuser die Wiedner Hauptstraße hinunter zum Laden der Volkshilfe und kaufte um Euro 12,90 ein Paar Männer-Turnschuhe der Größe 44. Dann sprang ich rüber und raffte beim Spar in einen Sack sechs Semmeln, ein Kranzerl Extrawurst, einen Becher Fruchtjogurt und eine Flasche Mineralwasser zusammen.

Warum hatte ich Herzklopfen, als ich zu ihm zurückkehrte und die Sachen neben ihn auf die Bank stellte? Das ist für Sie. Sprach ich es aus oder dachte ich das nur? Es gab keinerlei Reaktion von der Bank. Die Angst, ihm die Ehre zu nehmen und seinen Stolz zu rauben. Er bettelt ja um nichts, er sitzt einfach nur da, ruht sich aus, von was auch immer, wie jeder andere Passant auch. Auf jeden Fall, er schaute nicht auf und rührte sich in keinem Glied. Ich bekam schwache Knie und einen flauen Magen, flüchtete geradezu in mein Haustor und begann mich zu schämen. Verdammt, das ist nicht gut angekommen. Ich kann‘s aber nicht ändern. Schnell viele Gießkannen schleppen und die Blumen im Hof gießen. Darüber war der Mensch von draußen vor dem Tor wieder weg.

Heute um 18 Uhr 30, gerade als ich von Trafik, BIPA und Spar zurückkomme und auf mein Haustor zustrebe, sehe ich ihn nach langer Zeit wieder. Er sitzt nicht auf der Halbinsel der Schlüsselgassen-Mündung, sondern auf der Bank vor dem Rahmenmacher. Für die Rückkehr in die menschliche Gesellschaft hat er sich einen besonderen Platz erwählt. Trotz des Schattens der Lindenallee erkenne ich ihn sofort, oder das Abbild von ihm.
Aufrecht, der Rücken kerzengerade an der Lehne, ohne Einkaufwagen, kein einziges Plastiksackerl um ihn herum, das Haar halblang geschnitten, der Bart auf Kinnlänge gestutzt, ein Sakko mit einem bunten Hemd darunter, die Kragen über die Revers ausgeschlagen, die Stoffhose irgendwie anders, gerader, weniger wabbelig, vielleicht sogar mit einer Bügelfalte, in der Hand eine Zigarette. Was für ein Gesicht, Antlitz, könnte man sagen, schön, immer noch braungebrannt, am Kinn und den unteren Wangen heller, ein hervorragendes Kinn, mit der langen, runden Nase perfekt harmonierend. Ein Typ wie ein Ozeanforscher oder ein Bergfex. Cousteau und der alte Luis Trenker sind die ersten Assoziationsblitze. Und überrascht, er ist gar nicht so alt.

Ich starre sekundenlang blöd in die Palmers-Auslage, drehe mich doch noch einmal um: Der elegant ausgefahrene Ellbogen und die gespreizten Finger paffen an einer Zigarette in einem stolz erhobenen Gesicht. Ein anderer Mensch und doch derselbe.
Aber an den übereinandergeschlagenen Füßen noch immer die Plastiklatschen. Keine Spur von meinen blauen Turnschuhen mit den dreifachen Streifen aus dem Volksladen. Verkauft oder getauscht auf irgendeinem Sandler-Schwarzmarkt? Oder nur wegen der Hühneraugen und Frostbeulen? Die zu lange nicht gestutzten Nägel eingewachsen? Falsche Größe, falscher Geschmack? Sie können doch alles damit machen, auch sofort im Kanaldeckel, im Müllcontainer versenken oder verbrennen. Geschenkt ist geschenkt.
Keine wirkliche Beruhigung bei den unangenehmen Fragen.

Wie kam er zu dieser festen Persönlichkeit, so wie er jetzt da saß und aussah, ein eleganter Flaneur, solange man nicht auf die Crocs sah. Was war passiert?
Irgendetwas war passiert, aber es waren sicher nicht die Streifenschuhe der Nummer 44. Die Wiedner Hauptstraße hat ein Geheimnis mehr.
Und versteckt es noch immer. Nach den Hitzetagen war er lange verschwunden.

Aber heute gegen Mittag, als der Regen gerade heftiger wurde, schütteten die Linden auf der Wiedner Hauptstraße ihre letzten gelben, grünen und orangen Blätter auf den Gehsteig. Da sah ich ihn wieder, seinen Einkaufswagen sorgfältig mit einer Plane abgedeckt, wie er die Bank am Ohrwaschl der Schlüsselgasse ansteuerte. In seinem altbekannten Pullover, der Bart wieder bis auf die Wangen hinaufgewachsen, die graue Haarsträhne im Nacken, jetzt schon nass. Die Füße in den alten grauen Crocs, die durch die Blätter und Lacken schlapfen. Man verändert sich eben nicht mehr so gern ab einem gewissen Alter.

7.8. und 21.10.17

 

Fortsetzung 1
Mein Sandler auf der Wiedner Hauptstraße

Heute, 18.12., ca. 10 Uhr 30, sonnig und kalt, nach langer Zeit den Mann wieder gesichtet, auf der Wiehau unterhalb der BAWAG, mit seinem Supermarkt-Wagerl, das mit einer grauen Decke bedeckt ist. Was er dort mit sich führt, ist nicht zu sehen. Wahrscheinlich sein gesamter Haushalt, wie im Sommer vor meinem Haus. Auf der Decke oben liegt ein graues, undefinierbares Plastiksackerl. Nicht von Billa, Spar, Hofer oder Lidl. Er kommt von oben und schiebt den Wagen ziemlich schnell die Wiedner Hau hinunter, wirkt zielgerichtet, schreitet weit aus und hält den Wagen fest umklammert. In einem leichten Mantel, nicht gerade winterlich, er schlottert um seinen mageren Körper, ein Rollkragen-Pullover ist im Ausschnitt zu sehen, aber kein Schal, keine Handschuhe, Kappe, Mütze oder Hut. Der faltige Hals so braun. Die zu kurze Hose gibt die Knöchel frei. An den Füßen seine alten, dunkelgrauen Plastiklatschen wie im heißen Sommer, noch dunkler seine Füße, schmutzfleckig, dunkelbraun und NACKT, ohne Socken. Nur die Fersen, die hinten herausschlappen, sind heller, fast weiß-rosa. Die Haarmähne ist kürzer als im Sommer, auch der Bart, fast fassioniert. Schnell erfasst, alles in einem schnellen Blick im Vorübergehen, ein Schnappschuss meiner Augen, aus den Augenwinkeln.

Es hat heute ein Grad über dem Gefrierpunkt. Ich spüre das wie den ersten Frost. Aber die Rosen blühen noch.
Ich friere in meinem Daunenmantel mit dickem Schal und Mohairmütze, Lederhandschuhen und den Waldviertler Schafsocken in den hohen Lederstiefeln.

Ich haste zu meinem Bank-Termin und habe keine Gelegenheit, ihn näher zu betrachten, nicht einmal nach ihm umdrehen kann ich mich. Könnte ich, hätte ich können, wenn ich nicht auf die Bank konzentriert gewesen wäre.
Woher kommt er, wohin geht er? Was hat er vor? Welche „Weihnacht“ steht ihm bevor?
18.12., der Tag der Angelobung der neuen antisozialen Regierung. Will er zum Ballhausplatz? Da käme er nicht durch, nicht einmal ich, wie viele andere auch nicht.
Nur eines ist sicher: Meine Bankprobleme hat er nicht.
Am Rückweg sehe ich ihn nicht mehr.

Veronika Seyr
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