Schlagwort-Archiv: hardly secret diary

Auseinandergelebt

Rissen das Pflaster von unserer Wunde,
es war nur noch ein kleines Stück.
Endlich gehen wir getrennte Wege,
auch das Gefühl kehrt wieder zurück.
Dorthin, wo wir einst zusammengewachsen waren.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18064

 

Heiliges Feuer

Wir tanzten immer am selben dunklen Ort,
Sicher, wir würden uns nie verlieren.
Wir sahen uns,
Im warmen Licht unseres Feuers,
Und konnten nicht aufhören zu jubeln.

Doch im wilden Schwung
Lieߑt du die heilige Fackel fallen.
Und so standen wir in träger Dunkelheit.
Zu zweit,
Und wussten nicht wohin mit uns.
Zu weit weg voneinander, um uns zu ertasten.
Zu einsam, zu stolz,

Hätte ich doch nach dir rufen können,
Doch ich hab dir deine Sünde nie verziehen.

Nives Farrier
aus: Nach Dir.
(TwentySix Verlag, 2018)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18060

 

Geld, das keine Ruhe kennt

Nach Jahren,
eine Zusammenkunft,
er redet über seinen Kummer,
mit Frauen,
sein Geld,
von den großen Männern,
sie haben es gemacht,
vermehrt,

Seine Freude sind die Hunde,
sie laufen für das bare Cash,
1,2,3,4,5,6,
10 € auf 1 und 2,
er glaubt nicht an 1 und 2,
1,2,5,6 verlieren,
3 und 4 gewinnen,
hier kann man nichts gewinnen,
265 € bekommt er für das Fußballspiel,
voller Freude zahlt er die Rechnung

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18051

Xanax

Freude,
in Slo-Mo,
ich denke nicht,
wenn sich Muskeln entspannen,
frei vom Lärm,

Schreibe durch Wolken,
dort hängen die Gepfählten,
mit glasigen Augen,
Musik macht mich frei,
Dort gehe ich vorbei,

Sie nennen dich ein
Nichts,
wer ist hier verkrampft?
ich bin es gerade nicht,
nur die Augenringe erzählen dir etwas,

Korrekturen sind mein Job,
mein einziger,
im Nebel küsse ich uns zwei

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18043

Der Amethyst

Wir sind sechs Jahre, Rupert und ich. Mein Tischnachbar in der Schule, rechts von mir. Links sitzen noch acht Kinder, das Klassenzimmer hat fünf lange Tischreihen und eine Zweierbank ganz hinten. Wir sind 52 Kinder in der ersten Klasse.
Die Lehrerin ist Frau Mitterauer, Käthe Mitterauer, sie ist uralt, noch älter als meine Großmutter scheint sie mir. Wie diese hat sie eine graue Haarwelle vorne, Löckchen an den Seiten und hinten einen mit schwarzen Nadeln festgesteckten Knödel.

Die Tische haben eine einzige lange Platte mit Löchern für Tintenfässer, wir sitzen auf einer durchgehenden Holzbank mit einer steilen Lehne. Frau Mitterauer ruft kaum je ein Kind zur Tafel, da müssten ja neun Kinder aufstehen und heraustreten, um ein Kind rauszulassen. Was für ein Wirbel das ständig wäre.
Rupert und ich sitzen in der ersten Reihe, weil wir zu den Kleinsten gehören.
Auf der Eselsbank ganz hinten sitzen nicht die zwei schlimmsten Schüler, sondern die größten, der riesige Sitzenbleiber Koch Toni und die lattenlange Gitti aus dem Möbelhaus Weisel. Gleich neben der Eingangstür steht ein riesiger Bullerofen mit einer Glastüre, hinter der man die Briketts rot brennen und das Feuer lustig züngeln sieht.

Der Fußboden ist mit schwarzem Öl eingelassen und riecht unangenehm nach Läusevertilgungsmittel. Die Tafel vorne steht auf einem Podest und ist nicht an der Wand festgemacht, sondern balanciert auf drei Beinen. Sie hat zwei Teile, einer ist nur schwarz, der andere weiß liniert. Wir sind ja Taferlklassler.
Rupert ist mein erster Freund, ein richtiger Freund, nicht ein Freund wie mein Cousin Gottfried. Den habe ich heiraten wollen, aber das ging nicht, sagten die Erwachsenen.

Außerdem waren wir übersiedelt, und Gottfried war daheim geblieben. Ja, St. Nikola an der Donau war noch immer das Daheim. Tulln lag zwar auch an der Donau, wir sind nur ein Stück die Donau runtergeschwommen, sagten die Erwachsenen. Aber die war schrecklich weit weg von der Königstetterstraße und nicht zu sehen, so wie in St. Nikola, immer vor Augen, wo immer man hinsah.
Die ganze Stadt lag dazwischen, außerdem war sie flach wie ein Nudelbrett.
Obwohl sie dreimal so breit war, das musste man zugeben, aber keine Berge, keine Tannen, keine Fichten, nur langweilige Aubäume. Alle sahen gleich aus, gleich grün-graue, aufrecht aufgestellte Reisigbesen oder Staubwedel.

Ich war mit Rupert befreundet, nicht weil er neben mir saß, sondern weil wir den gleichen Schulweg hatten. Den Hinweg nahm ich mit meiner älteren Schwester, aber den Rückweg machte ich immer gemeinsam mit Rupert.
Von der Schule durch den Schubertpark, an der Pummerslucken vorbei bis zum Gasthaus Achatz, an der Kreuzung zur Staasdorferstraße trennten wir uns, weil Rupertin die Banatler-Siedlung ging. Einmal habe ich ihn heimlich begleitet und gesehen, dass er in einem winzig kleinen Haus wohnte, ganz am Ende, wo die Äcker anfangen. Auch der Garten war klein, die Fenster und die Tür. Eine Hundehütte auf einem Taschentuch. Es war überhaupt das kleinste von allen kleinen Häusern der Banatler. Klang wie Frittaten, Frittatler? Ich wusste lange nicht, was Banatler waren, bis Mama einmal sagte, das sind Flüchtlinge aus Jugoslawien. Ich durfte Rupert nicht zu Hause besuchen, nicht, weil er ein Banatler war, sondern weil er ein Bub war. Mit denen spielt man nicht, wenn man ein sechsjähriges Mädchen ist. Und meine drei Brüder? Brüder geht, Brüder sind keine Männer. Und die Cousins in St. Nikola? Die sind auch keine. So pragmatisch und programmatisch war meine Mutter immer.

Aber es war auch eine Großfamilie darunter, die Paganis, deren Kinder zum Teil barfuß und in Fetzen herumliefen. Angeblich gingen sie betteln oder was Schlimmeres. Das waren keine richtigen Banatler, hieß es, sie sprachen auch nicht dieses komische Deutsch, sondern etwas ganz anderes. Die Polizei schaute öfter bei den Paganis vorbei.
Rupert war meinen Eltern nicht unsympathisch, hatten sie doch kurz überlegt, den jüngsten Bruder Rupert zu nennen, nach dem Patron von Salzburg. Das sind fleißige Leute, die werden uns eines Tages alle überholen. Was das nun wieder heißen sollte? Zu uns kam eine Banatlerin, Frau Marte, die meiner Mutter beim Putzen half, und ein Walter für den Garten, der eigentlich Eisenbahner war.

Rupert war nicht nur so klein wie ich, er war auch noch dick, kugelrund mit rötlichem Haar und vielen Sommersprossen. Ich mochte ihn. Er war sehr lustig, sprach ein eigenartiges Deutsch, das mich an die Märchen erinnerte, die Papa uns immer am Abend vorlas, oder eine Sprache wie manchmal in der Kirche. Banatler-Deutsch eben, sagte meine Mutter. Er unterhielt mich mit vielen Geschichten, die er sich selbst ausdachte, er beschützte mich, wollte meine Schultasche tragen und brachte mir immer Geschenke mit, einen Apfel, ein Stück Kuchen, ein selbstgeschnitztes Pfeiferl aus Hollerstauden. Wir spielten Flöte darauf. Wenn er keine Löcher hineinmachte, benützten wir sie als Blasrohr. Das weiche Innere der Hollerzweige drehten wir zu Kugerln und bliesen um die Wette weit. Es ging auch mit unreifen Hollerbeeren, aber nicht so gut, weil sie manchmal zu weich waren und das Blasrohr verstopften.

Rupert konnte überhaupt sehr vieles, weil er seinen Eltern helfen musste. Seinem Vater in Haus und Garten, seiner Mutter in der Küche. Banatler sind arme Leute, sagte meine Mutter. Der Vater war Hilfsarbeiter im Krankenhaus, er arbeitete in der Wäscherei. Hauptsache, er hat Arbeit. Sie sind noch nicht lange da, der Tito hat sie rausgeschmissen.
Alle? Ja, alle. Warum? Was haben sie getan? Nichts. Rupert war dort geboren, in einer Ebene so flach wie das Tullnerfeld, nur viel, viel größer. Und die Donau fließt auch dort. Wir sind auch noch nicht lange da. Aber wir sind nicht rausgeschmissen worden.
Das verstand ich damals noch nicht. Aus einem Land „alle rausschmeißen“ ging über meine Begriffe, konnte ich doch nicht einmal verstehen, warum wir aus St. Nikola weg mussten und in das hässliche Tulln übersiedeln mit den vielen Bombenruinen und der faden, flachen Donau. Das war gar keine richtige Donau und auch kein richtiger Wald, diese Pappeln, Weiden, Eschen.

Überhaupt war hier alles hässlich und hielt dem paradiesischen Nikola nicht stand. Dort gab es die Donau vor der Tür mit den Schiffen, nebenan das Bräuhaus mit den Ställen, Stadeln und Gärten, hinter dem Haus die Eisenbahn und darüber die Wiesen mit Obstbäumen hinauf bis zum Wald, voll mit Schwammerln und Beeren. Der Berg hieß sogar nach dem Großvater Seyrberg. Ein Stück weiter waren der Krautberg, der Rodelberg hinter dem Danzer-Wirt, der Strudenbach, die Au, die Teiche im Hössgang, die Insel Wörth, die Ruine mit dem Schusterstein. Das alles haben die Kinder ohne Erwachsene bestreunen, bespielen, besiedeln und erforschen dürfen.
Und welche Wunderwelten erst mit ihnen: die Stillensteinklamm, die Bräuerkogel, den Fischteich beim Bierführer Toni, die Ställe beim Bauern Burner, den Dimbach beim Wagenschmied und beim Müller, beide hatten Wasserräder, und im Bach konnte man Krebse und Forellen fischen, den Förster Kastner auf dem Sattel, dem ein Kind an einem Schlangenbiss gestorben war, die hölzernen Tanzböden und Kegelbahnen bei den Wirtshäusern, die Onkel Klaus mit Seyr- Bier belieferte.

Was hatte Tulln dagegen zu bieten? Nichts bis wenig. Unser Haus in der Königstetterstraße ist zwar größer als die „Villa Seyr“ in St. Nikola und soll den Eltern ganz allein gehören, weil sie es gekauft haben. Mir war es nicht wichtig, wem was gehörte, ob den Eltern, der Omama, dem Onkel Klaus und der Tante Sofie, der Tante Fritzi und dem Onkel Franz. Ich wusste, dass dem Knecht Sepp und der Köchin Nannerl gar nichts gehörte außer ihrem Gebetsbuch und dem Rosenkranz, dem ukrainischen Arbeiter Ivan gehörte nicht einmal das, aber sie gehörten genauso zum Kinderreich wie die falsche Tante Paula oder die zerlumpte und zahnlose Fanny mit ihrer Ziege im Haus an der Eisenbahn.
Ich wusste, dass dem Onkel Klaus sehr viel gehörte, aber nicht deswegen war er mein Lieblingsonkel, sondern weil er sehr kinderlieb und lustig war, mich in seinen Lastkraftwägen mitfahren ließ, vorne im Führerhaus, und ich manchmal sogar auf seinem Schoß sitzend, das Lenkrad angreifen durfte. In den steilsten und spitzesten Kurven hinauf zum Steinbruch von Gloggswald ließ er das Lenkrad los, schloss die Augen und und klatschte ein, zwei, dreimal in die Hände. So spaßig war er, und dazu hatte er noch viele lustige Worte, Sprüche und Scherze auf Lager.

Ich weiß nicht, wie es im Banat aussieht, aber aus all dem rausgeschmissen zu werden wie Rupert und die Banatler, stellte ich mir schrecklich vor. Wir konnten zumindest nach Nikola auf Besuch fahren, oder es kam jemand zu uns.
Die Mama hat erzählt, dass die meisten Banatler in langen Märschen zu Fuß zu uns gekommen sind und nur Binkel oder angefüllte Tuchenten als Gepäck auf dem Rücken schleppten. Wir waren ganz bequem in einem riesigen Saurer von Onkel Klaus übersiedelt. Die Kleineren saßen hinten auf den Tuchenten zwischen den Möbeln. Wir hatten Jausenpackerl, volle Proviantdosen mit Köstlichkeiten aus dem Bräuhaus und Wasserflaschen mit herrlichem Himbeersaft.

Wir sind in ein schönes, altes Haus gezogen mit einem großen Garten, in dem man vieles anbauen konnte. Die Banatler hatten ganz kleine Grundstücke und bauten sich ihre Häuschen selbst, die Familien und Nachbarn halfen sich gegenseitig, einkaufen gehen in die Stadt konnten sie gar nicht, sie waren nur dort anzutreffen, wo es umsonst war, in der Kirche, im Aubad, an der Donaulände oder am Sportplatz.
Rupert und ich gingen gemeinsam von der Schule nach Hause und machten im Schubertpark Station, nur kurz, denn ich musste unbedingt soforrtt!! nach Hause kommen, weil es zum obersten Gesetz gehörte, dass die ganze Familie gemeinsam isst.
Und zwar alle, Ausnahmen gab es nur, wenn jemand länger Schule oder eine sonstige Verpflichtung hatte. Es wurde „zusammengewartet“, auch wenn die Mägen noch so krachten. Die Mädchen mussten auch noch oft genug mithelfen, aufdecken, Knödel drehen, Salat machen. Disziplin und Ordnung, Pünktlichkeit und Sauberkeit, das waren die wichtigsten Prinzipien meiner Mutter, denn sonst würde ihr der ganze Laden um die Ohren fliegen. Rupert war zu Mittag mit seiner Mutter allein, der Herr Hinterleitner war entweder in der Arbeit oder er schlief, nachdem er Nachtschicht gehabt hatte.

Aber manchmal konnte ich mich am Nachmittag davonstehlen und den Rupert im Schubertpark treffen. Das sagte ich nie, immer ging ich natürlich nur zur Hochrieder Christa, zur Sterz Evi, zur Wesel Gitti oder zur Huber Anni. Das Schlimmste war, wenn ich meine kleine Schwester mitnehmen musste, was gar nicht ging, weil sie uns große Schulkinder nur störte. Radfahren üben im Schubertpark, das war das Codewort für die Treffen mit Rupert. Er brachte manchmal andere Banatler-Kinder mit, mit denen wir Verstecken spielten, Räuber und Gendarm, Indianer fingen, in der Schubertlinde kletterten oder die fremden Banatler ärgerten. Das war sehr lustig und aufregend, aber am liebsten war es mir doch, allein mit Rupert zu sein.
Unser Lieblingsspiel war das Prinzessinnen-Spiel. Ich war die Prinzessin, er mein Diener. Auch Pferdeknecht, Vasall, Sänger. Rupert hatte viele Rollen, ich nur eine, die schöne, begehrte Prinzessin. Ich nahm heimlich von zu Hause einen alten Vorhang mit, das war mein Schleier, meine Schleppe, mein Umhang. Rupert baute mir aus Stämmen und Steinen einen Thron, er brachte mir Geschenke, er unterhielt mich, sattelte mein Pferd, trug die Schleppe und beschützte mich vor Feinden. Die Feinde lebten jenseits der Pummerslucke; das war eine Bahnunterführung, ein gekrümmter Tunnel aus Backsteinen, dunkel, stinkig, gruselig, leicht abschüssig, die Eisenbahn donnerte darüber, man konnte beim Betreten nicht ans Ende sehen, jenseits war Feindesland. Wenn man wieder ans Licht kam, breitete sich dort der Friedhof aus und eine kleine Straße, in der auch Banatler wohnten, aber andere als die von Rupert, solche, die aus Rumänien rausgeschmissen worden waren. Wo immer das sein und was immer das heißen sollte. Neben dem Friedhof war ein freies Gelände, eine richtige Gstätt‘n, auch das ein herrliches Spielgelände, wenn dort nicht gerade die anderen Banatler spielten oder jemand gastierte wie in diesem Herbst der Zirkus Belli.

Schuld am Unglück war nicht Rupert und auch ich nicht, sondern der Zirkus Belli. Ich hatte mich in die dortige Zirkusprinzessin verliebt, ein wunderschönes, kleines Mädchen etwa in meinem Alter, das auf einem weißen Pferd ritt und Kunsttücke aufführte, herrlich angezogen und geschminkt war. Sie hatte eine lange, gelockte Mähne aus dunklen Haaren und oben drauf ein Krönchen. Oder war es ein Diadem? Jedenfalls baumelte auf ihrer Stirn ein funkelnder Diamant, der bei jeder Bewegung glitzernde Strahlen in die Manege schickte.
So etwas wollte ich auch haben, schoss es mir durch den Kopf und überlegte, was in unserem Haushalt dafür herhalten konnte. Zuerst dachte ich an das Kranzerl, das meine ältere Schwester zur Erstkommunion getragen hatte und an das der ältesten Schwester als Blumenmädchen hinter dem Himmel bei der Fronleichnamsprozession. Sie lagen in Seidenpapier eingepackt in einem Schuhkarton. Wir Kleinen bekamen dafür immer nur ein Kranzerl aus frischen Margeriten und Gänseblümchen, die schon vor der Prozession welk in den Haaren hingen, so müde wie die mit Zuckerwasser über Papierstreifen steif gedrehten Locken.

Beides wurde verworfen, fiel mir doch Mamas Kette ein, ihr einziger Schmuck von ihrer Mutter, der so wertvoll war, dass sie ihn nie trug. Er lag in einem Porzellanschüsserl in ihrer Nachtkastllade. Ich würde mir die Kette ausborgen, heimlich, und sie wieder zurücklegen. Die Kette war aus Silber und hatte einen taubeneigroßen Anhänger aus Amethyst. Der war an einem silbernen Plättchen an die Kette angehängt, also frei beweglich. Der würde auf meiner Stirn baumeln wie bei der Zirkusprinzessin der Diamant.
Die Operation gelang, ich konnte die Kette aus dem Nachtkastl stiebitzen und in den Schubertpark mitnehmen. So schön war noch nie jemand gewesen, das sagte auch Rupert, obwohl der die Belli-Prinzessin gar nicht gesehen hatte. Banatler hatten kein Geld für so etwas Unnötiges. Ich ritt auf meinem Fahrrad hoch zu Ross, auf der Stirn ruhte der Stein, Rupert trug stolz die Schleppe und diente mir wie immer als Getreuer.
Am Ende des Spiels war der Amethyst verschwunden, an der Kette nur noch das Silberplättchen. Ich versprach dem Rupert eine Eintrittskarte in den Zirkus, wenn er den Anhänger fände. Er kroch auf allen Vieren durch das Gras und durch die Büsche, aber er blieb verschwunden.

Das Donnerwetter, das über mich hereinbrach, war noch schlimmer als erwartet. Zuerst tobte meine Mutter, erließ sofort einen einwöchigen Hausarrest, nichts außer der Schule, sogar die Musikstunde wurde gestrichen. Schlimmer aber war, dass sie plötzlich zu toben aufhörte und in Weinen ausbrach, in ein Schluchzen und Wimmern.
Das Einzige, was mir von meiner Mutter geblieben ist. Nichts habe ich von ihr, nichts, nur diese Kette. Sie war wie ein Häufchen Elend auf ihrem Bett zusammengesunken und schwor, dass sie mich nie wieder ansehen würde, dieses grausliche, undankbare Gfrast.
Ich war mehr als zerknirscht, ich fühlte mich wie ausgelöscht. Da mir der Stein gefiel, aber ich nichts vom Wert eines so großen, geschliffenen und in Silber gefassten Amethysts wusste, konnte ich diesen Ausbruch nicht ganz verstehen.
Außerdem stimmte es gar nicht, sie hatte einen großen silbernen Handspiegel, eine Bürste mit Silberrücken und eine silberne Schale, in der diese Utensilien vor dem Spiegel der dreiteiligen Psyche lagen. Die waren auch Erbstücke von ihrer Mutter. Aber ich wusste damals noch nicht, dass ihre erste Mutter gestorben war, als sie in meinem Alter war, und dass sie eine märchenhaft schreckliche Stiefmutter bekommen hatte.

Ich suchte den Amethyst noch die weiteren zwölf Jahre, die ich in Tulln lebte, die vier in der Volksschule zusammen mit Rupert, später allein, weil Rupert nicht aufs Gymnasium ging.
Während des Hausarrests gelang es mir einmal nach der Schule, mich in den Zirkus Belli einzuschleichen und mich zwischen den Wägen und Käfigen zu verstecken. Ich würde mit ihnen auf Reisen gehen, auch eine Zirkusprinzessin werden und auf einem richtigen weißen Pferd reiten. Familie hatte ich ja ohnedies keine mehr, und um mich Gfrast würde niemand weinen.
Ich blieb nicht lange verborgen, man fand mich noch am selben Abend bei den Zigeunern, und der Hausarrest wurde gemildert, ich durfte in die Musikstunde, zur Jungschar und in den Sportverein gehen, nur mit Rupert durfte ich nie wieder spielen. Mein Vater machte sich auf Geheiß meiner Mutter mit all seiner Autorität in die Banatler-Straße auf und ließ sich das Spielverbot auch von der anderen Seite bestätigen.

Vergessen habe ich den Amethyst nie. Als ich sechzehn Jahre später das erste Mal richtig Geld verdiente, kaufte ich sofort eine Kette aus Amethyststeinen, so lang, dass sie sie dreimal um den Hals schlingen konnte oder lange tragen bis zum Bauch, einen Silberring mit einem Riesenstein und ein Armband aus reinem Amethyst, einen richtigen Protzschmuck, von dem ich wusste, dass meine Mutter nie so etwas trug. Das war einfach nicht ihr Stil.
Sie war zu Tränen gerührt, umarmte mich und meinte:
Dass du dich daran erinnerst?
Aber sie trug tatsächlich den Ring und das Armband, vielleicht extra, nur wenn ich zu Besuch kam, die Kette war und blieb ihr zu prunkvoll. Sie ließ sie beim Juwelier zu drei kurzen umbauen und schenkte sie meinen Schwestern, nicht ohne mich vorher um Erlaubnis gefragt zu haben.

Später, noch viel später erfuhr ich, dass der Amethyst, ein Quarz SiO2, sowohl für den Steinbock, wie meine Mutter einer ist, als auch für den Fisch, der ich bin, bei den Esoterikern als Geburtsstein gilt.

31.8.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 18023

Warum ich keine Putzfrau wurde

„Pensionistin sucht professionelle Hilfe für Haus und Garten. Gutes Zubrot.“
Und eine Festnetznummer.
Zubrot – was für ein herrlich altmodisches Wort! Brot zu was?

Diese Annonce stach mir in die Augen, als ich in der Bezirkszeitung die Kleinanzeigen studierte. Dabei suchte ich nicht wirklich Arbeit, sondern es war nur die alte Gewohnheit, das Kleingedruckte, oft unfreiwillig lustig oder irrwitzig, zu lesen. Vor allem die Kontaktanzeigen haben es mir angetan. Ich stehe zu meiner kleinen Perversion, ich sammle die besten, schneide sie aus und klebe sie in mein Journalheft.

Geile Oma nackt im Kuhstall.
Thai im Vulkan.
Türkin ohne alles.
Tel. Lausch dich geil!
Schülerin, 17, rasiert.
Domina macht alles.
Bussibär für die Ewigkeit.

Die schönsten sind die, die Romantik und Poesie erzeugen wollen, wenn Sterne, Mond und Wolken bemüht werden.
Dein Fels in der Brandung.
Zusammen für immer jung.
Gemeinsam in die Sterne schauen.

Ein Freund von mir war gerade vom Hausmeister zum „Facility Manager“ aufgestiegen.
Ich wollte ein bisschen Wallraff spielen für eine Hintergrund-Recherche. Wie fühlt es sich an, untertan und abhängig zu sein. Ich interessierte mich für die EE, die „Experten für Euphemismus“ in der Werbung, Politik und Wirtschaft. Ich wollte sehen, wer und was hinter der „professionellen Hilfe mit gutem Zubrot“ stand.

Eine Pensionistin sucht eine Putzfrau. Die EE sagen Seniorin und Raumpflegerin. Die sprachlichen Schönfärber und wendigen Wortverdreher sind so alt wie die Mythologie und Religion. Eigenverantwortung heißt mehr zahlen, Müllhalde ist Entsorgungspark, Krankenkasse – Vital- oder Gesundheitskasse, ein Haus mit Ausbaufähigkeit ist eine Bruchbude, ein verwachsener Garten – eine Gstätt‘n, deutsch: Brache. Hauptsache, es klingt gut.

Also rufe ich bei dieser Nummer an. Es meldet sich eine Frau Schmidt, Maria mit Fragezeichen in der Stimme noch aus der Zeit, als man fragte: Wer da? Ich berufe mich auf die Annonce und gebe mich interessiert, Frau Schmidt ebenfalls, schon ohne Fragezeichen. Sie nennt mir ihre Adresse und weist mir den Weg: mit der S-Bahn nach Liesing, dann über den Platz gehen, schräg rüber und am neuen Pensionistenheim in die Theodor-Haeckel-Gasse Nr. 11. Ja, die kenne ich, da komme ich oft vorbei auf dem Weg zu meinem Garten, vom Bus 256 aus, ja der fährt vorbei.

Sie sind Gärtnerin, das ist gut, denn sie braucht auch Hilfe in ihrem Garten. Fein. Ich bin eine begeisterte und geübte Gärtnerin.
Dann weist Frau Schmidt mich noch darauf hin, dass es der Ha-eckel mit ä ist, nicht der mit e, der Theodor und nicht der Erich. Als wären es ihre Verwandten. Ist das die Probe, die Prüfung? Da mache ich den ersten Fehler. Viel zu schnell sage ich, weiß ich.

Wir vereinbaren einen Termin. Am nächsten Mittwoch fahre ich zu Frau Maria Schmidt in die Theodor-Haeckel-Gasse 11. Eine schmale Kastanienallee mit vereinzelten Linden, einigen alten Villen und verunglückten Gemeindebauten. Punkt 17 Uhr läute ich an dem ebenerdigen Haus mit stumpfer Lehmfarbe, fünf Fenster zur Straße hin. Ich habe mich extra gestylt, was ich halt für putzfraumäßig in meinem Kleiderkasten hielt.
Die Gegensprechanlage schnarrt und fragt: Jabitte? Ich nenne meinen falschen Namen, Johanna Friedrich, wir sind verabredet, wegen der Anzeige. Es schnarrt noch einmal, und die kleine Tür in dem großen doppelflügeligen Tor öffnet sich in eine breite, dämmrige Einfahrt. Aha, ein ehemaliges Fuhrwerks- oder Weinhauer-Häuschen wie oft in den Vororten. An der Innentüre erwartet mich eine alte Frau in bunter Küchenschürze, weißhaarig mit kleinem Knoten, das spitze Mäuschengesicht gefältelt wie eine Dörrpflaume. Ich schätze sie auf rüstige achtzig. Bitte, hier herein. Frau Schmidt ist höflich.

Wir kommen in ein angeräumtes Vorzimmer, das rechts als Garderobe dient und ein Fenster zum Garten hat. Der linke Teil ist Küche und Speisekammer. Eine Tür geht in das Wohnzimmer mit zwei Fenstern zur Straße, die Bäume machen es schattig, ich sehe fast nichts, irgendwo flimmert ein TV-Gerät hinter einer Kunstleder-Couch. Skai, modern in den Siebzigern. Zwei Fenster nach hinten, wovon das eine auch Tür ist. Das Schlafzimmer ist beherrscht von einem massiven hölzernen Doppelbett, auf dem aber nur eine Seite aufgebettet ist. Witwe, schließe ich daraus. Darüber kein Hirsch, sondern eine riesige Reproduktion von Botticellis Frühling in einem Goldrahmen aus Gips. Den Luster an der niedrigen Decke aus sechs weit ausgespreizten Lampenschirmen, den kenne ich, weiß nicht woher. Tante Paula? Wir gehen wieder ins Vorzimmer zurück. An einem kleinen Tisch mit buntem Wachstuch nehmen wir auf zwei Sesseln gegenüber Platz.

Eine Limonade ist vorbereitet, zu der sie mich einlädt. Bitte, Holler. Mögen Sie?
Jagerne, danke. Ein Glas nur für mich. Frau Schmidt weiß genau, was sie will und braucht. Zweimal in der Woche vier Stunden, also acht Stunden, wovon zwei Stunden dem Garten gewidmet sein sollen. Den zeigt sie mir auch gleich. Von der Türe im Wohnzimmer führen drei Stufen auf eine Rasenfläche, die an der Rückseite von einem Holzschuppen abgeschlossen ist. Der muss gefegt und abgesaugt werden, damit die Katzen nix reinbringen. Da wird sie emotional. Immer alles sauber absaugen. Nix reinschleppen.

Verstehen Sie? Ich verstehe nichts. Mäuse, Vögel, Spinnen, Igel, hhä? Viel Getier rundumadtum. Und die Vögel werden auch immer frecher. Wie? Die pecken nach den Katzen. Nur zwei Stunden Garten, wundere ich mich kurz, ob sich das ausgeht? Naja, kommt drauf an, was sie alles will. Blumen und Gemüsebeete hat sie nicht. Nur einen kleinen Fleck mit Kräutern neben den Stufen. Der Garten im Stil von Thujen und Veitschi. Im Vorzimmer stellt sie mir ihre Mitbewohner vor, ein Katzenpärchen, das gerade über die Katzenstiege durch das Fenster hereinkommt. In der Küche hinter dem Kühlschrank stehen nicht gezählte Schüsselchen und Tassen auf einem Wachstuch.

Wir sitzen wieder am Esstisch mit dünner Holler-Limonade. Frau Schmidt checkt mich ab, auf Herz und Nieren. Eher schielt sie auf meinen Körperbau, Muskeln und so. Also, Johanna Friedrich, fünfzig plus, geborene Wienerin, Frühpensionistin, wohnhaft in Wien 12. (Von meinem vierten Bezirk verrate ich nichts!) Warum ich den Job machen will, wo und wie ich wohne, wo mein Garten ist und wie groß? Wo bin ich, auf der Polizeiwache?
Von sich verrät sie nur, dass sie eine pensionierte Gemeindebedienstete ist und seit 27 Jahren Witwe. Ob ich nicht selbst genug Arbeit habe? Wie groß meine Pension ist? Na, das geht sie aber wirklich nichts an. Da werde ich konkret und erfahre, was sie mit „gutem Zubrot“ meint. Sechs Euro bietet sie pro Stunde. Ich schlucke und trinke schnell den Hollersaft.
Also, bei acht Stunden wären das 42 Euro in der Woche, 168 Euro im Monat, in etwa so viel, wie ich in meinem Garten für die Miete zahle, rechne ich schnell um. Also, zum Verdienen ist dieser Job nicht. Wer macht so etwas? Eben Zubrot. Ich zahle meiner eigenen Putzfrau/Raumpflegerin, einer slowakischen Studentin, aktuell zwölf Euro pro Stunde. Das kann sich nicht ausgehen. Aber man muss halt seinem Job Opfer bringen.

Da merke ich, dass ich mental nicht perfekt vorbereitet bin und ganz schnell schummeln muss. Der zweite Fehler. Ich beginne schnell, sie zurückzufragen. Wer ihr denn bis jetzt professionelle Hilfe geleistet hat? Das war die Slavica, eine Serbin, eine gute Seele, die ist schon lange bei ihr gewesen, seufzt sie. Aber in letzter Zeit ist sie nachlässig geworden bei der Arbeit, die Katzen hat sie schlecht behandelt, ihr Widerworte gegeben, unpünktlich geworden, aber vor allem hat sie angefangen zu stehlen. Oh Gott, stehlen, Geld? Nein, aber andere Sachen, auch aus dem Kühlschrank. Mundraub. Sie lässt kein gutes Haar an ihrer Slavica, naja, eben doch eine vom Balkan. Und ganz sauber war sie auch nicht, persönlich und so, verstehen Sie.

Na, das geht gar nicht, denke ich, schüttele aber nur mitfühlend den Kopf. Ungemütlich, peinlich, ich lenke ab und bringe die Rede auf Haeckel versus Heckel. Da mache ich den wahrscheinlich entscheidenden Fehler: Ich bin zu gut informiert für eine Putzfrau in spe. Ich kann‘s halt nicht lassen und den Mund nicht halten. Jaja der, wie auf der Tafel. Warum mich das überhaupt interessiert? Schweigen. Nur so. Sie hat ja das ae betont. Oje, Widerworte. Nun hat es Frau Schmidt plötzlich sehr eilig. Sie muss noch einkaufen gehen. Also, Frau Friedrich, ich kommen am nächsten Montag um acht Uhr, kommen, anfangen und dann wieder am Donnerstag kommen. Da hat sie mich mit ihrer Slavica verwechselt. Fein, dachte ich, gelungen, mein Wallraff-Versuch. Mord im Putzfrauen-Milieu.

Aber am Sonntagabend kommt ein Anruf von Frau Schmidt. Sie hat sich‘s anders überlegt, sagt sie resolut, ganz ohne Bedauern oder Entschuldigung. Sie kehrt zu ihrer Slavica zurück, die kennt sie immerhin schon viele Jahre. Und die war immer so dankbar für das Geld, die hat das wirklich gebraucht.
Die serbische Gastarbeiterin wurde mir vorgezogen! Ich begann sie zu hassen, obwohl ich sie gar nicht kannte. Aber es kamen die Bilder von ihrer beider Hassliebe, Maria und Slavica, jahrelang im Kampf zusammengeschweißt.

Was kann ich daraus lernen? Zumindest lernen, wenn schon kein Gehalt, nicht einmal Zubrot, ganz zu schweigen von meiner Recherche. Auch Tarnen und Täuschen will gelernt sein. Frau Schmidt wollte nicht nur die Arbeit ordentlich und billig getan haben, sondern auch ein gutes Gewissen, sie tut auch noch Gutes – Geld nur für den, der es braucht, weil der dann dankbarer ist. Was war‘s? Das Outfit kann‘s nicht sein. Vielleicht meine Sprache? Möglich, obwohl ich mich bemühte, einsilbig zu blieben. Muskelkraft zeigt mein Körper auch noch genug. Daran konnte es nicht liegen.
Der Sonntagabend war voll von tiefschürfenden Gedanken.

Nein, letztendlich bin ich überzeugt, es war der Haeckel mit ä, nicht der Heckel mit e, der Theodor und der Erich, die ich auseinanderhalten konnte. Dabei kam in ihr der Verdacht auf. Wahrscheinlich fühlte sie sich von mir gehäckerlt. (Oder heißt es heckerln oder hekerln?) Eine Putzfrau kann das einfach nicht wissen und wissen wollen. Und so wurde ich keine. Eine niederschmetternde Erfahrung. Ich machte keinen zweiten Versuch. Aber ich schaute noch einmal bei Wikipedia nach und entdeckte einen dritten: den Theodor Heckel. Bin ich froh, dass auch Frau Schmidt den nicht gekannt hat. Da wäre ich noch früher aufgeflogen.

Auflösung: Theodor Haeckel war ein umstrittener Evolutionsbiologe im 19. Jahrhundert, Erich Heckel ein Maler der Künstlergruppe „Die Brücke“ und Theodor Heckel ein protestantischer Bischof in München. Und Frau Schmidt ist bei der Gemeinde wahrscheinlich für die korrekte Schreibung der Wiener Straßentafeln zuständig gewesen.

Wien, 2.10.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17193

Alte Bündnisse

Unvermittelt drückte sie ihr Gesicht in den groben Stoff des ockerfarbenen Mantels, welcher noch den Herbst mit sich hereingetragen hatte, und wollte sterben.
Der Todesmarsch hatte schon begonnen. Das Ziel war in Sicht.
Mit beiden Händen umklammerte sie die Ärmel, vergrub ihr Gesicht noch tiefer in dem Kleidungsstück und füllte ihre Lungen mit dem Geruch von Frost und Eis und noch etwas anderem.
Halb registrierte sie, wie sich langsam ein feuchtwarmer Film auf der Oberfläche des Mantels bildete, und in Zeitlupentempo löste sie ihre Lippen von dem groben Material. Es arbeitete in ihr. Die Zahnräder der Maschine hatten sich in Bewegung gesetzt und mahlten. Mahlten unentwegt.
Ihre Augen dampften, ihr Kopf rauchte. Ihr Magen rumorte, ihr Herz hämmerte. Ich bin ein Stahlwerk, sagte sie sich, ein Stahlwerk. Kurz vor dem Niedergang. Es rette sich, wer kann.
Abrupt ließ sie den Mantel los und rückte ab. Die Arme angewinkelt, die Hände abwehrend vor der Brust, sank sie fröstelnd zu Boden.
Welcher Teufel hatte sie geritten?

Sie hörte, wie er die Tür hinter sich schloss und den schweren Mantel abstreifte. Grußworte aussprach und nach ihr fragte. Sie hörte, wie er leise den Flur entlangschritt, und fühlte, wie er sich unentwegt nach allen Seiten wandte, aufmerksam, nach Kontakt suchend in den alten Gemäuern.

In Panik war sie aufgesprungen. Der Stuhl knallte zu Boden. Und zur Hintertür hinaus, durch den leeren Hof, den leeren Schweinestall, und ins Freie. Über die Felder hin zu den Wäldern. Durchschneidend die Wälder, bis hin zur Lichtung. Im Schock verharrend. Keuchend. Rasselnd in den Lungen, schwerer Atem. Jammernd in den Baumkronen bunte Singvögel. Hochblickend in den Himmel. Verfing sich das Licht der kalten Mittagssonne in der finsteren Iris.
Keine Antworten.
Kein Erinnern.

Die Küche war erfüllt von ihrer Abwesenheit, als er sie betrat. Den Knauf fest umklammernd, öffnete er die Küchentür nur einen Spalt, bevor er einen Fuß hineinsetzte. Es umfing ihn die alte modrige Vertrautheit und plötzlich eine unerklärliche Traurigkeit, als er mitten in der Küche stand. Er blickte hoch zur Decke. Eine nackte Glühbirne brannte in der lampenschirmlosen Halterung. Ein Stuhl war zu Boden geknallt und durch die offene Hoftür blies ein eisiger Wind. Er hörte, wie die Küchentür hinter ihm mit einem leisen Klick ins Schloss fiel. Langsam bückte er sich, ging zu Boden, hob den Stuhl behutsam hoch und stellte ihn zurück an den Tisch, auf dem noch aufgeschlagen ihr Buch lag. Die Seiten stoßweise wild durchkämmt von stürmischen Böen.

Brachland. Stilles, stetes Brachland.
Brich dich auf und frei und nieder.
Brich dich wieder und wieder.
In die alten, warmen Lieder.

Entzifferte er. Die Seiten waren vergilbt und abgegriffen, die Ränder stumpf und ausgefranst. Die Druckerschwärze schien allen Raum für sich einzunehmen. Und die Notizen links, rechts, oben, unten, über den Zeilen, unterhalb der Zeilen. Rufzeichen, Fragezeichen, Kringel, scharfkantige Figuren, Schraffierungen, Schattierungen.

Er klappte das Buch zu.

Er ging zur Hoftür, stellte sich in den Wind und blickte in die kahle Leere.
Ein klagender Schwall fuhr ihm hart ins Gesicht und durch die dunklen Haare. Unwillkürlich trat er ein paar Schritte zurück, zurück in die warm modernde Küche.
Und stemmte sich mit aller Kraft gegen die knarzende Tür, bis auch sie widerwillig ins Schloss fiel.
Unerhört.
Unannehmbar.

Den unheimlichen Pfad des größten Widerstandes hatte sie beschritten. Heim. Begleitet vom Rauschen der Wälder. Dem Schwirren der Blätter und Tiere. Dem Mut der Natur. Oben zogen die Sturmwolken im Zeitraffer dahin, unten wühlten sich Nager durchs Erdreich.
Kein Weg daran vorbei. Kein Weg vorbei.

Sie tritt zur Vordertür ein, schließt diese unhörbar und lauscht den gedämpften Stimmen, die aus der Küche zu ihr durchdringen.

Das liederliche Leben, Bub. In der Stadt.
Was willst du da? Da findest du doch keine Frau.
Überleg dir das noch einmal. Das ist doch keine Arbeit.
Am Hof ist immer Arbeit. Der Vater kann dich brauchen. Gell, Vater.

Kein Mensch weit und breit. Kein Hof im Umkreis von Kilometern. Keine Arbeit weit und breit. Keine Tiere, keine Felder. Nichts zu bestellen, nichts zu empfangen. Nur die unendliche Ödnis.

Sie hört ihn leise antworten. Entgegnen. Sich widersetzen. Ankämpfen.
Sie hört seine leise, warme, dunkle Stimme ankämpfen. Gegen den Moder und Überdruss. Gegen die Muster und Schimäre. Gegen den schleichenden Tod und das aufbrechende Leben.

In der Garderobe hängt sein Mantel.

Benommen erhebt sie sich und geht gemessenen Schrittes den Flur entlang, bemüht um Haltung, bemüht um Fassung. Des Herzens, des Verstandes, des Körpers. Des Körpers, des Körpers, des Körpers.

Die will keinen, die Elisabeth, sagt der Vater.
Alle nicht gut genug. Was die will?!
Wird schon sehen, was die davon hat.
Immer so viel wollen.
Mehr Bescheidenheit tät ihr gut.

Er erwidert nichts.

Sie geht den Flur entlang, majestätisch, erhobenen Hauptes, gemessenen Schrittes, aus den Augenwinkeln die Tapetenwände abgrasend. Ausflüge, Porträts, Hochzeitsfotos, Totenbilder. Das tödliche Übereinkommen. Die Fluchtlinien verengen sich, der Flur kontrahiert, Finsternis.

Er erwidert nichts.

Und blickt zur Tür.
Sie steht im Türrahmen.

Wo warst du denn, die Mutter.
Wir haben dich vermisst.
Komm herein.
Wie du ausschaust.

Er versteift sich unmerklich. Blickt sie an. Lächelt breit.
Vergessen.

Nichts merken, nichts anmerken, gar nichts anmerken lassen. In Mantras sprechend beschwört sie sich, während ihr Blick durch den Raum schweift und hängen bleibt, an der nackten Glühbirne, der geschlossenen Hoftür, dem geschlossenen Buch auf der Anrichte, dem königsblauen Hemd zwischen Vater und Mutter, den hellen Augen.

Sie lächelt, geht zum Tisch und begrüßt ihn. Küsst ihn auf beide Wangen. Er umarmt sie und streicht mit einer Hand leicht über ihren warmen Rücken. Die obersten zwei Knöpfe seines Hemds sind geöffnet.

Jetzt habt ihr euch auch schon lange nicht mehr gesehen, die Mutter. Schön, dass wir alle wieder zusammen sind.

Gut schaust du aus, sagt er.
Du auch. Lächelt. Wie lange bleibst du da?
Nur bis morgen. Dann muss ich wieder arbeiten.

Was für eine Arbeit denn? Der Vater, verächtlich.

Du musst mich bald besuchen kommen.
Wir könnten ins Theater gehen und essen.
Unbedingt.

Er blickt sie an, fast hilfesuchend. Er sucht etwas in ihren Augen. Sie weiß was.
Er riecht nach frischen Laken und noch etwas anderem.

Ich erinnere mich, sagt der Körper. Ich erinnere mich.
Und du dich auch.

Angelika Holl

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17184