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Besuch beim Großvater

„Das nimmst du!“, sagte der Vater und drückte seinem Jüngsten Clemens ein Gesteck aus Tannenzweigen mit einer Kerze darauf in die Hand. Als nächstes holte er zwei Packungen Kekse aus dem Kofferraum und hielt sie seinem zweiten Sohn Thomas entgegen, der eine davon gleich an seine Freundin weitergab. Er selbst nahm einen großen Korb, in dem sich ein Berg frischer Wäsche befand. Schon von außen sahen sie durch das Fenster den Großvater in seinem Sessel sitzen.

„Hallo“, begrüßte Thomas seinen Opa, reichte ihm die Hand und stellte die Kekse wortlos auf den Tisch. Seine Freundin tat es ihm nach. Auch sie stellte die zweite Packung Kekse einfach auf den Tisch und hoffte, dass der Großvater wusste, dass sie für ihn bestimmt waren. Clemens gab das Gesteck verlegen an seinen Bruder weiter und setzte sich auf die Couch. „Begrüßt du mich denn gar nicht?“, fragte der Großvater mürrisch. Clemens lächelte, stand auf, reichte seinem Opa die Hand, murmelte dabei unverständliches Zeugs und setzte sich schließlich wieder.

Jetzt kam auch der Vater ins Zimmer und begann in den verschiedensten Kästen und Schubladen herumzukramen. Im Nebenzimmer wurde er fündig. Er brachte einen in einem Plastiksack verpackten Reindling mit in die Küche. Davon schnitt er mehrere Scheiben ab und legte sie auf einen Teller. Dann stellte er einen Topf Wasser auf den Herd und fragte in die Runde, wer Kaffee wolle. Thomas nickte, der Großvater verneinte.

„Heute hatte sie es besonders eilig“, beklagte sich der Großvater. „Wenn ich gewusst hätte, dass ich nichts mehr zum Essen zuhause habe, hätte ich sie einkaufen schicken können.“ Er ging davon aus, dass alle wussten, dass er von seiner Pflegerin sprach. „Du hast noch genug zu essen“, erwiderte der Vater. Er sprach so leise, dass der Großvater ihn nicht verstand. „Du hast noch genug“, musste er wiederholen. „Ach, was denn?“ „Brot, Krapfen, Kaffee, …“ „Was?“, unterbrach ihn der alte Mann. „Brot und Krapfen, das reicht fürs Frühstück.“ „Das mag ich nicht.“

Der Vater reichte jetzt die Kaffeetassen zum Tisch herüber. Eine davon bot er dem Großvater an. „Ich will keinen. Ich sagte, ich will keinen“, gab dieser von sich. „Außerdem, nimm etwas zum Unterstellen!“ Der Vater holte ein Tablett und stellte darauf die Tassen und den Reindling ab. Er öffnete eine Packung der mitgebrachten Kekse.

„Clemens“, sprach der Großvater und deutete mit seinem Kopf in Richtung der Wandschränke neben der Türe. „Soll ich die Tabletten holen?“, fragte dieser und suchte das Regal danach ab. „Nein, ach Gott.“ Der alte Mann wurde immer unzufriedener. Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel. Aus einer Lade holte er ein Plastiktischtuch. „Ah, das wolltest du! Das haben wir vergessen unterzulegen“, lächelte Clemens verlegen.

„Wieso kommt ihr überhaupt so spät?“, fragte der Großvater wenig später. Der Vater war bereits in die Abrechnungen der Hilfskraft, die er zu dessen Betreuung eingestellt hatte, vertieft. „Ein Ziegel ist kaputt, es tropft direkt vor die Türe. Das hättet ihr reparieren können, wenn ihr früher da gewesen wärt. Jetzt ist es schon Abend, es wird schon dunkel. Ihr hättet am Nachmittag kommen sollen.“
„Es ist erst drei, Opa“, meinte Thomas. „Soll ich mir den Ziegel anschauen?“ „Nein, jetzt ist es zu spät, es ist schon Abend.“ Der Großvater wandte sich wieder seinem Sohn zu. „Sie hatte gar keine Zeit für mich heute. Dabei habe ich nichts zu essen zuhause. Sie hätte einkaufen sollen.“ „Aha“, meinte der Vater verärgert. „Aber wenn es ums Bezahlen geht, dann hat sie immer genügend Zeit.“ Er griff nach einem Stück Reindling. In großen Bissen aß er dieses und zwei weitere. Danach nahm er sich noch ein Keks.
„Wieso esst ihr überhaupt meine Kekse?“, wunderte sich der Großvater.

Der Vater erhob sich und ging hinaus. „Was macht er denn?“, fragte der Großvater jetzt seine Enkelsöhne. „Vielleicht schaut er nach, wo es tropft“, meinte Thomas.
„Das hättet ihr früher machen sollen. Aber ihr kommt mich ja nie besuchen und ruft nie an, um zu fragen, ob es etwas zu tun gibt.“
„Du kannst mich doch jederzeit anrufen, wenn du etwas brauchst“, meinte Thomas. „Hast du einen Zettel, dann schreib ich dir meine Handynummer auf?“ Sein Opa reagierte nicht.
Kurz darauf verschwanden auch Thomas und Clemens nach draußen, um nach dem kaputten Ziegel zu schauen.

„Oh mein Gott“, dachte die Freundin leise bei sich. „Ihr könnt mich doch nicht ganz alleine mit ihm lassen.“ Sie lächelte dem alten Mann zu.
„Meine Heizung funktioniert nicht richtig“, erzählte er ihr jetzt. „In der Nacht ist es immer so heiß, aber untertags eiskalt. Ist der Heizkörper jetzt warm?“
Die Freundin lehnte sich nach hinten und legte ihre Hand auf die Heizung. „Nein“, antwortete sie.
„Immer ist etwas zu tun in diesem Haus. Und wer muss das alles machen? Ich, obwohl ich den kranken Fuß habe. Im Sommer muss ich auch mähen und den Garten machen. Früher, da hatte ich noch die Großmutter. Aber die ist jetzt schon seit vier Jahren tot. – Weißt du vielleicht eine Frau für mich, so um die fünfzig, oder siebzig?“
„Nein, leider. Ich bin ja nicht von hier.“ Schon beim letzten Besuch hatte der Großvater die Freundin nach einer neuen Frau gefragt. Nach dem Tod der Großmutter stellte sich heraus, dass er mit dem Haushalt nicht wirklich zurechtkam.
„Von wo bist du?“, wollte er jetzt wissen.
„Ich komme aus Oberösterreich. Den Thomas habe ich in Wien kennengelernt. Beim Studieren.“ Der Großvater nickte. „Alle gehen nach Wien“, sagte er in einem vorwurfsvollen Ton. Wieder lächelte die Freundin ihn an.

Thomas und Clemens kamen in die Küche zurück. „Man sieht nichts. Im Moment tropft es nicht. Aber es ist auch nicht viel Schnee am Dach.“
„Man sieht nichts“, wiederholte der Großvater. Dann fragte er Clemens: „Wieso kommt sie eigentlich nie mit?“
„Wer denn, Opa?“
„Na sie. Seit dem Tod der Großmutter war sie kein einziges Mal mehr mit. Warum kommt sie nicht mit?“ Offensichtlich meinte der Großvater die zweite Ehefrau seines Sohnes, Clemens’ Mutter.
„Können wir sie fragen“, antwortete der Achtjährige. Der Vater kam zur Tür herein.
„Wieso kommt sie nie mit?“, fragte der Großvater jetzt ihn. Auch er wusste nicht sofort, wer gemeint war.
„Beim nächsten Mal werden wir sie mitnehmen“, versuchte Clemens seinen Opa zu besänftigen.

„Das Dach ist nicht kaputt. Das kommt nicht von oben. Das Wasser wird jemand mit den Schuhen hereintragen“, stellte der Vater fest.
„Die Heizung ist nicht richtig eingestellt. Es ist so kalt“, gab der alte Mann zurück.
„Das passt schon“, meinte der Vater und setzte sich zu seinem Sohn auf die Couch.
„Was?“, fragte der Großvater nach. „Die ist schon ganz richtig eingestellt.“ Der Vater griff nach hinten zum Heizkörper. „Ist er warm?“, wollte der Großvater jetzt von ihm wissen. „Ja“, antwortete dieser.
Der Großvater blickte die Freundin an. Diese wiederum schaute den Vater an. Sie wusste, dass das nicht stimmte. „Nein“, sagte der Vater jetzt. „Aber der Heizkörper ist ganz richtig eingestellt.“ Damit gab sich der Großvater zufrieden.

„Ich hätte sie einkaufen geschickt, aber sie hatte heute so wenig Zeit“, begann er wieder von vorne.
„Heute ist doch Sonntag, Opa. Heute hätte sie nichts kaufen können, da haben die Geschäfte ja zu“, erklärte ihm Thomas.
„Ach, aber ich habe nichts mehr zum Essen zuhause.“
„Morgen wird sie dir neues Essen kaufen.“
„Kommt die denn morgen?“
„Ich glaube schon. Schau, im Kalender steht, dass sie morgen gegen vierzehn Uhr kommt.“ Thomas reichte seinem Opa den Stehkalender.
„Ah, morgen kommt sie“, sagte dieser nun mehr zu sich als zu seinen Gästen.

Der Vater war inzwischen auf der Couch eingeschlafen. Er atmete tief dabei. Clemens machte sich einen großen Spaß daraus, ihn zu sekkieren. Immer wieder erwachte der Vater kurz aus seinem Schlaf und ermahnte seinen Sohn. Clemens fand die Situation nur allzu komisch und begann heftig zu kichern. Es schien, als könne er sich gar nicht mehr einkriegen. Er lachte und lachte, bis der Vater schließlich davon munter wurde.

Aus einer großen Tasche holte dieser jetzt seine Videokamera heraus und begann zu filmen. Er packte sie allerdings nach ein paar Minuten wieder weg und fragte stattdessen den Großvater, wo er die mitgebrachte Wäsche hinräumen solle. Anstatt zu antworten, meinte dieser: „Hast du gesehen, wie viel Wäsche noch zu machen ist?“
„Diese hier ist frisch.“ Der Vater deutete auf den Wäschekorb. „Die dreckige nehme ich dann das nächste Mal mit.“
„Alles muss gewaschen werden“, wiederholte der Großvater.
„Die Wäsche im Korb ist sauber.“
„Ach so, dann stell sie einfach hinüber ins andere Zimmer.“ An seine Enkelsöhne richtete er: „Ihr sitzt da nur herum, ihr könntet abwaschen.“
Die Freundin musste schmunzeln. Thomas übernahm den Abwasch, Clemens trocknete das nasse Geschirr ab. Der Vater packte den Reindling wieder in den Plastiksack.
„Nehmt ihn euch mit“, sagte der Großvater.
„Nein, behalte ihn dir doch. Morgen kannst du ihn zum Frühstück essen“, antwortete sein Sohn.
„Ich mag keinen Reindling. Der Thomas soll ihn mitnehmen. Der freut sich. – Thomas, nimm den Reindling mit.“
„Willst du ihn nicht?“, fragte Thomas.
„Nein, ich habe noch genügend zu essen.“

Schließlich verabschiedete sich einer nach dem anderen beim Großvater. Thomas tat es leid, ihn alleine zurückzulassen. „Ich rufe dich in den nächsten Tagen an“, versicherte er ihm.
„Willst du nicht bei mir übernachten?“, wandte sich der alte Mann an Clemens. Dieser schüttelte wortlos den Kopf.
Der Großvater erhob sich langsam aus seinem Sessel und begleitete seine Gäste nach draußen. Als das Auto losfuhr, winkte er ihnen nach.

Judith Wiesauer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15125

Jäger und Sammler

Herr Seidl hatte braunes, etwas schütteres Haar, war nicht beleibt, aber auch nicht sportlich. Er trug seit gefühlten zwanzig Jahren dieselbe Hornbrille und hatte die Gläser ungefähr ebenso lange nicht mehr gereinigt. Bei den Familien in seinem Wohnhaus war er als Pedant bekannt, die restlichen Nachbarn nahmen kaum Notiz von ihm. Seine Wohnung hätte aus der Kulisse eines Heimatfilms stammen können. Auf der Kommode lag, akribisch drapiert, ein Spitzendeckchen seiner Großmutter, von dem er sich nicht trennen konnte. Auch sonst waren keine Bestrebungen zu erkennen, Farbe, vielleicht sogar ein lebendiges Wesen, oder zumindest eine Pflanze unterzubringen. Auffällig auch die Abwesenheit jeglicher Urlaubserinnerungen: Diejenigen, die Herr Seidl als solche bezeichnen würde, stammten allesamt von Inlandsurlauben. Die weiteste jemals angetretene Reise hatte nach Caorle geführt, und auch das war noch in seiner Kindheit gewesen. Kurz und gut, er war der Stereotyp eines Stereotyps und wahrscheinlich ganz zufrieden damit.

Herr Seidl gehörte nicht zu den Ersten, die das Online-Kleinanzeigenportal benutzten. Er war generell kein großer Freund des Internets. Aber als der alte Sparefroh in mehreren Zeitungsartikeln davon gelesen hatte, setzte er sich eines Tages doch an seinen PC. Dieser reagierte auf das Drücken der Einschalttaste mit so lautem Brummen, dass er sich fragte, warum das Gerät nach wie vor unbeirrbar seinen Dienst versah. Bald schon war das Brummen seines Computers am Abend aber für ihn so selbstverständlich geworden wie früher das Flimmern seines Röhrenfernsehers, und es sollte nicht das Einzige bleiben, was sich innerhalb seiner vier Wände änderte.

Anstatt weiter auf einen Fernsehsessel zu sparen, erstand er einen gebrauchten und kaufte einen schönen Überwurf dazu. Als sein Wasserkocher an einem Samstag den Geist aufgab, hatte er binnen Minuten aus mehreren in seiner Nähe angebotenen einen herausgefiltert, den er noch am selben Abend abholen konnte. Bereits am nächsten Morgen bereitete er damit Tee zu, und das, obwohl er gar kein Teetrinker war. Seine Einkäufe waren aber von Beginn an weniger notwendiger Natur, vielmehr betrachtete er die Habseligkeiten anderer als Freiwild und fand großen Gefallen an seinen Beutezügen. In ihm war eine Leidenschaft geweckt worden, wenn auch eine eigenwillige.

Herr Seidl war in seinem Leben nie sonderlich bestrebt, durch Leistung hervorzustechen, und sah auch keinen Grund dazu. Karriere zu machen lag ihm fern, und so fühlte er sich in seiner Arbeit bei der Behörde äußerst wohl. Sein Tagespensum konnte er dank jahrelanger Erfahrung ohne jegliche Form von Anstrengung erledigen. Die seltenen Fälle, bei denen seine Routine von unvorhergesehenen Vorkommnissen gestört wurde, reichten gerade aus, ihn davor zu bewahren, die Eintönigkeit seiner Tätigkeit wahrzunehmen.

Die Beschäftigung mit dem Kleinanzeigenportal machte Herrn Seidl überraschend aktiv, ein richtiger Trieb war in ihm ausgelöst worden. Zum großen Erstaunen seines Kollegen besuchte er seit Neuestem sogar selbst Unternehmen, anstatt, wie bisher für ihn üblich, darauf zu warten, dass deren Vertreter ihn im Büro besuchten. Natürlich wusste keiner von ihnen, dass nahe der Schokoladefabrik, deren Betriebsleiter dringend eine Genehmigung benötigte, Frau Frick gerade eine Stehlampe verkaufte. Auch Herr Seidl wusste nicht, dass ihr Gatte sich die Lampe eingebildet hatte, und sie, da die lang ersehnte Scheidung bevorstand, die verhasste Lampe nun mit allen Mitteln loswerden wollte und diese wahrscheinlich auch verschenkt hätte.

Herr Seidl erfuhr es auch nicht, denn er fragte nicht nach, warum die Objekte seiner Begierde verkauft wurden. Vielleicht spürte er auch, dass er es manchmal gar nicht wissen wollen würde, und so ruhte er in seinem Fernsehsessel, in dem vor wenigen Wochen noch jemand sanft entschlafen war, und betrachtete zufrieden das Ergebnis seiner urbanen Jagd.

Die Verkäufer waren für Herrn Seidl eine völlig unverständliche Spezies. Insbesondere dann, wenn diese quer durch die Stadt Habseligkeiten zu ihm nach Hause oder ins Büro transportierten, die sie zu einem Preis anboten, der nicht einmal für den Fahrschein in eine Richtung ausgereicht hätte. Und dabei wussten sie noch nicht einmal, ob er ihnen die Waren überhaupt abkaufen würde. Er fand dennoch Gefallen an seinen neuen Geschäftspartnern. Wahrscheinlich, weil er, abgesehen von seiner Arbeit, wenig Kontakt zur Umwelt hatte. Sicher auch, weil die Begegnungen immer von kurzer Dauer und ungezwungen waren.

Bei seinen Streifzügen lernte er die faszinierendsten Charaktere kennen. Wenn er seine Beute auf dem Heimweg in Händen hielt, dachte er oft lange über deren Vorbesitzer nach. Waren sie bedürftig oder vermögend? Was waren sie wohl von Beruf? Waren sie alleinstehend, hatten sie Familie? Herr Seidl war fasziniert, wie viel Interpretationsspielraum ein Blick ins Vorzimmer erlaubte. Manche waren freizügig und ließen ihn bis ins Wohnzimmer, was viel Einblick in die jeweiligen Lebensumstände gewährte. Gerade die seiner Einschätzung nach wohlhabenderen Personen waren aber in der Regel sehr zugeknöpft. Dann war Herrn Seidls Jagdinstinkt am stärksten ausgeprägt. Einmal drehte er sich sogar wortlos um und hatte schon den Liftknopf gedrückt, als der Verkäufer im letzten Moment doch noch einen Preisnachlass anbot. Stolz trug er die „Nachttischlampe antik“ nach Hause und konnte vor Freude ob seines listigen Manövers kaum einschlafen. Einer betagten Frau mit abgetragenen Kleidern in einem wenig einladenden Altbau wiederum gab er aus Absicht einen zu großen Geldschein. Er hatte längst das Stiegenhaus verlassen, als sie aus dem Wohnzimmer zurückkam, um ihm sein Wechselgeld auszuhändigen. Auf dem Heimweg fragte er sich, was ihn zu dieser Handlung bewogen hatte. Das Blättern im soeben erstandenen Buch „Häkeln für Fortgeschrittene“, seiner Ansicht nach das ideale Geburtstagsgeschenk für seine Mutter, lenkte ihn aber schnell von allzu philosophischen Fragen ab.

Als die Einkäufe zahlreicher wurden, beschloss Herr Seidl, das erste Mal selbst etwas über das Kleinanzeigenportal zu verkaufen. Lange haderte er mit dem Entschluss. Der Gedanke, Fremde in seine Wohnung zu lassen, war ihm unangenehm, doch konnte er die Funktion des „Stabmixer gebraucht“, den er loswerden wollte, ohne die Steckdose im Vorzimmer nur schwer demonstrieren. Schlussendlich entschied er sich für einen Verkauf. Jedoch mit einer Anzeige ohne Angabe der Hausnummer, nachdem er sich ausgemalt hatte, wie seine Wohnung ausgeräumt wurde, gleich nachdem er einem vermeintlichen Käufer mitgeteilt hatte, dass er erst am Abend wieder zu Hause anzutreffen sei.

Mehrere Tage musste Herr Seidl ausharren, bis sich erstmals jemand auf sein Inserat meldete. Obwohl er die darauffolgenden Anfragen nach Preisnachlässen verstehen konnte, da er es selbst nicht anders gehandhabt hatte, ärgerte ihn die Unwilligkeit, seinen Vorstellungen entgegenzukommen. Er schrieb mehreren Interessenten, dass das Gerät bereits verkauft sei, und erst nach mehreren Wochen vereinbarte er einen Termin mit Frau Müller. Sie hatte gleich eingangs Bereitschaft kundgetan, den veranschlagten Preis zu zahlen. Als er durch den Türspion Frau Müller dabei zusah, wie sie den Lift verließ und auf seine Wohnungstür zuging, verschlug es ihm die Sprache.

Frau Müllers feuerrote Haare waren das Einzige, was ihn von ihrem farbenfroh überzogenen Mantel ablenkte. Entsetzt betrachtete er sie noch einige Sekunden durch das Schlüsselloch, bevor er die Tür entriegelte und Frau Müller in sein Vorzimmer ließ. Mit einem Lächeln im Gesicht musterte sie den Raum. „Eine sehr schöne Wohnung“, sagte sie, und machte ihn damit noch verlegener als er ohnehin schon war. Mit einem Kompliment hatte er nicht gerechnet und begann hastig, sein Verkaufsobjekt zu demonstrieren. „Ich hätte es Ihnen schon geglaubt, dass das Gerät funktioniert“, entgegnete sie ihm, nachdem er den Mixer etwas ungeschickt durch die Luft schwenkte. Er sah ihr dabei zu, wie sie ihn mit ihren filigranen Händen drehte und von allen Seiten betrachtete. Plötzlich dämmerte ihm, woher seine Nervosität kam. Anders als die Kolleginnen von der Behörde und andere Frauen aus seinem Bekanntenkreis konnte er Frau Müllers Wesen beim besten Willen nicht einschätzen, und es machte ihn – neugierig! Mit einem Moment war sein Jagdtrieb stimuliert. Leicht abwesend entrierte er die finanzielle Seite der Veräußerung, während er seinen tollkühnen Plan schmiedete. Als Frau Müller ihre Jacke anzog, steckte er vor der Übergabe unauffällig die soeben erhaltenen Geldscheine in die Schachtel des Mixers. War sie sonst auch ein wandelndes Mysterium für ihn, eines wusste er: Sie würde das Geld sicher zurückbringen. Mit schweißnassen Händen und klopfendem Herzen versperrte er die Tür hinter ihr. Er wusste, sie würde bald wieder durch diese Tür schreiten. Und diesmal würde sie nicht nur sein Vorzimmer kennenlernen.

Felix Trummer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15090

 

Die Krise 4 – Der Reiz des Geldes

Es ging um einen Arbeiter in Escortins Kieswerk. Man fand heraus, dass jener keine Aufenthaltsbewilligung hatte. Peinlich für Escortin. In Fällen illegaler Beschäftigung wurde hart gestraft. Escortin nahm es gelassen. Man werde sich darum kümmern, versicherte er dem Beamten, dass jener einen Antrag für seinen Aufenthalt hier stellte, dann wäre vorläufig einmal wieder alles im Reinen. Das wäre immer das Gleiche mit den Ausländern, ätzte seine Gattin Anica völlig aufgebracht und blitzte giftig aus ihren Sehschlitzen heraus. Erst geben sie sich als jemand anderer aus, sind im Krankenstand einmal der Mehmed X, vor der Behörde dann wieder der Ali B. Und wer hätte das Nachsehen und die Probleme? Wir!, gab sie sich selbst die Antwort. Die tanzten einem ja doch bloß auf der Nase rum!
Man kriege keine anderen, brummte Escortin grantig und sah von seiner Zeitung kaum dabei auf. Und wenn es schon ein Einheimischer sein müsse, dann wäre der schließlich um einiges teurer als ein Dahergelaufener. Bei den Baggerfahrern sei er ohnehin Patriot. Aber Hilfsarbeiter brauchten nicht so teuer zu sein. Schließlich wolle man selbst auch noch was von dem Kuchen haben. Und einen Unterschied wird´s ja wohl noch geben dürfen, net woa? Wo käme man denn schließlich da noch hin, wenn´s keinen Unterschied mehr gäbe?

Damit schien die Debatte zwischen Anica Escortin und ihrem Gatten erledigt. Sie ging ins Badezimmer, wo sie sich eine Zeit lang aufhielt, um sich zu schminken. Er brütete über seiner Zeitung. Aber Escortin war zu unkonzentriert, um zu lesen. Er musste vielmehr an seine Geschäfte denken. Vor allem aber auch an den Erwerb des neuen Gemeindegrundstückes und die damit verbundene Parteispende, über deren Höhe er sich im Nachhinein dann doch noch geärgert hatte. Unverschämt, dieser Mirando! Und er ärgerte sich über Rembert Mirando, jenen Polit-Parvenü, der noch nie etwas Herzeigbares geleistet hatte und dessen Mundwerk größer war als seine Taten. Und solche Leut´ würden hier bei uns Politik machen, murmelte er vor sich hin.
Natürlich, da war auch noch der Bürgermeister. Bei der Jagd waren Escortin und er die besten Freunde. Aber wenn es um Grund und Boden ging, konnte es zwischen den beiden Männern schon einmal ungemütlich knistern. Mit dem Bürgermeister konnte man über beinahe alles reden, nur nicht über Grunderwerb. Und schon gar nicht, wenn es um die Ausweitung der escortin’schen Schotterpfründe ging. Die meisten Grundstücke waren Bauernland, und die Bauern legten sich schon aus Prinzip quer, wenn der Bürgermeister von ihnen ein Stück Grund brauchte, um da und dort ein Wasserreservoir oder sonst was zu errichten, oder, wie schon so oft, Escortins Schottergruben vergrößern zu helfen.
Doch eine Hand wusch die andere, und diese Maxime war ihnen im Laufe der Jahre zum Prinzip geworden. Aufgrund dieser Tatsache war der Bürgermeister nichts anderes als ein Handlanger Escortins geworden. Und Escortin wollte mehr. Vor allem aber war es seine Gattin, die immer mehr wollte.

Anica Escortin fuhr in ihrem Wagen zum Shoppen. Was hätte sie an so einem langweiligen Tag auch Besseres tun sollen? In der Nähe des Ortes gab es ein großflächiges Outlet, in dem man sich stunden-, ja tagelang aufhalten konnte. Und im Shoppen war sie eine Meisterin. Fünfzig Paar High-Heels, und ebenso viele Taschen. Das sollte ihr einmal jemand nachmachen! Wenn sie einmal die Einsamkeit plagte, setzte sie sich in eine Konditorei oder ein Kaffeehaus, um dort irgendwelche Leute anzuschwatzen und sie davon zu überzeugen, wie sympathisch sie doch eigentlich sei, trotz ihrer schlitzäugigen Visage.
Das tat sie immer, wenn ihr das Selbstbewusstsein auszugehen drohte oder sie ihre Periode hatte, während der sie oft häufig unter heftigen Gefühlsschwankungen litt. Im Verlauf solcher Gespräche wurde sie natürlich gefragt, wer sie sei und woher sie käme. Und Anica Escortin war eine Frau, die gerne konkrete Antworten gab. Sehr konkrete. Dabei ließ sie kaum ein Fettnäpfchen aus, in das sie treten konnte. Wenn man nicht ständig über sich spreche, meinte sie, würden einem eben auch keine Fehler passieren, und dann lachte sie meckernd. Aber es machte ihr nichts aus, wenn man sie hier und dort nicht ganz ernst nahm, sie hatte schließlich nichts zu verlieren.
Auf der Suche nach einem passenden Schal für ihr neues rosa Kostüm waren ihre Gedanken auf Rembert Mirando gekommen. Sie griff nach ihrem Handy und wählte seine Nummer. Rembert Mirando! Was für ein Zufall, dass sie mit einem so gutaussehenden jungen Mann wie ihm ein Verhältnis haben konnte. Dabei kniff sie ihre Sehscharten kühn zusammen.

Mirando, der eben zu diesem Zeitpunkt in einer außerordentlichen Gemeinderatssitzung völlig unbewusst an seinen ureigensten Charaktereigenschaften arbeitete, nämlich andere vom Gegenteil dessen zu überzeugen, was man von ihm so allgemein hielt. Kraft seiner neuen Funktion nahm er für sich in Anspruch, nun einer jener Menschen sein zu dürfen, die sich im Besitz ausgeprägter Tugenden wie auch moralischer Überzeugungen wähnten. Schließlich wurde das von einem erwartet. Und doch blieb es Faktum, sodass man unschwer über ihn hätte sagen dürfen, sein Privatleben, seine Handlungen, Meinungen oder Aussagen widersprächen seinen öffentlichen Äußerungen zutiefst.
Mirando griff zum Handy, als es nun doch schon etwas zu lange geläutet hatte. Früher hätte er es während einer Sitzung abgeschaltet. Aber jetzt, wo er mit einem Male so wichtig geworden war, führte er es mit jener gelangweilten Genugtuung ans Ohr, die signalisieren sollte, wie störend dieser Anruf eigentlich sei, aber man einfach nichts dagegen machen konnte. Ob er für heute Nachmittag frei wäre, flötete Anica Escortin mit Jubelstimme.
Mirando tat vorerst auf „man wüsste nicht, was heute noch auf ihn zukommen würde“. Schließlich war seine Mission erfüllt. Die Gemeinde hatte das Geld. Wozu also brauchte er die Escortin mit ihren Säulenbeinen eigentlich noch, wo es doch wesentlich attraktivere Frauen in seiner nächsten Umgebung gab, ohne Zellulitis und der rieselig bleichen Oberfläche eines kalt gewordenen Grießkochs, die er alle haben konnte, wenn er es nur gewollt hätte. Jedoch auf ihr Drängen gab er sich schließlich doch einen Ruck und stimmte einem kurzen Treffen in der Scheer-Bar zu.
Was hatte er dabei zu verlieren? Anica Escortin war entzückt über die plötzliche Fügung des Schicksals und versah ihn mit Handyküssen. Rembert Mirando hielt die Hand auf den Lautsprecher, um Anica Escortins Schmatzen zu dämpfen. Gleichzeitig fielen seine Blicke auf die Tageszeitung vor ihm auf dem Konferenztisch, da die Sitzung ohnehin schon ins Private entglitten war.
Eine Handvoll vermummter, offensichtlich schwachsinniger Jung-Neos (keine Ähnlichkeiten mit einer bestimmten politischen Partei) hatten ausländische Besucher einer Gedenkstätte mit rüpelhaften Rufen attackiert. Man sollte die Jungen doch lassen, hatte einer der Gemeindegranden vorhin gesagt, sie hätten ein natürliches Gefühl für Gerechtigkeit. Und irgendwer müsste so eine Dreckarbeit wohl auch machen, damit die Erinnerung daran, wer denn nun eigentlich die Guten und wer die Bösen waren, nicht zu sehr verblasste.
Mirando schob seine Lippen nach vorne, um ihm den Blick auf den an seinem Sakko befestigten Button mit dem Landeswappen zu erleichtern, auf den er sehr stolz war. Man hatte es, quasi auf dem Postweg, allen Gemeindebediensteten verliehen, mit einem Begleitschreiben, in dem es hieß, wer stolz auf sein Land und seine Position in der Verwaltung wäre, sollte diesen Button aus Solidarität mit der Regierung an der Kleidung anbringen. Mirando hob wieder den Kopf und brachte seine Lippen in geordnete Normalstellung. Der Bürgermeister war bereits aufgestanden, die Sitzung beendet. Hände wurden geschüttelt.

Mirando eilte die Treppen des Rathauses hinunter, riss die schwere, gusseiserne Eingangstür auf und eilte über den Platz in die Café-Bar Scheer, auf der gegenüberliegenden Seite des Rathauses. Anica Escortin war noch nicht hier. Mirando warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr, dann sah er aus dem Fenster auf die große Rathausuhr. Er überlegte fieberhaft. Nur wenige Schritte trennten ihn von Stefanie Raymundos Geschenkboutique. Sollte er ihr einen kurzen Besuch abstatten, bevor die Escortin hier hereinkam? Rasch kehrte er der Scheer-Bar den Rücken, als er auch schon im Geschäft Raymundos stand.

Die Türglocke war nicht zu überhören gewesen, jedoch niemand außer ihm war hier. Er rief einmal laut ihren Namen. Nichts rührte sich, als die Eingangstüre eben heftig aufgestoßen wurde und sie in der Türe stand, Stefanie, in voller Schönheit und Elegance. Sofort machte ihr Mirando ein paar übertriebene Komplimente, die sie aufs Heftigste zurückwies. Auch, wie sehr ihre engen Jeans die Figur betonen würden, und zu welchen Vorstellungen der gewagte Ausschnitt ihrer Bluse seine Fantasie beflügelte. Stefanie lachte bloß und warf den Kopf in den Nacken. Aber so gleichgültig war ihr gar nicht, was Mirando da vor sich herlaberte. Sie sah ihn von der Seite an.
Mirando schlenderte zwischen den Regalen herum und betrachtete indes scheinbar interessiert die unnötigen Nippes-Sachen, die dort überall auf den Regalen herumstanden. Stefanie ging zur Eingangstür. Sie war sich ziemlich sicher, dass Mirando nichts kaufen wollte und lehnte sich an diese, schloss mit der rechten Hand hinter ihrem Rücken von innen ab und eilte auf ihn zu. Mirando hatte zu schlucken begonnen, seine Kehle war ausgetrocknet wie eine Zisterne in der Wüste Gobi.
Sie umarmte ihn stürmisch. Er erwiderte ihre Umarmung und fasste sie unmittelbar darauf mit beiden Händen an ihrem ziemlich harten Hintern. Mit starkem Druck presste er ihr Becken an seines, an dem sich bereits eine ziemliche Beule abzuzeichnen begonnen hatte. Stefanie stöhnte leise in Erwartung, was denn nun kommen würde. Mirando schob sie vor sich her hinter das Verkaufspult und von dort hinter den Vorhang einer Umkleidekabine, die sich hier befand, obwohl es keine Kleidung zu kaufen gab. Seine Hand tastete nach dem Vorhang, hinter dem sie Schutz für ihr Treiben suchend verschwunden waren, und zog ihn völlig zu.

Inzwischen war Anica Escortin in der Scheer-Bar eingetroffen und kontrollierte ebenso nervös wie Rembert Mirando vorhin die Zeit auf ihrer goldenen Armbanduhr. Barkeeper Ferry deutete wortlos mit dem Kopf in Richtung Raymundos Boutique. Er sei eh schon da gewesen, aber jetzt sei er da drüben. Anica Escortin bestellte einen kleinen Braunen. Ihre kurzen, fetten, weißen Finger trommelten ohne Unterlass auf die Glasplatte des kleinen runden Tischchens vor ihr. Ihr hohler Blick, nach draußen auf den leeren Platz gerichtet, verriet, dass sie sich ärgerte.
Nach einer Viertelstunde betrat Mirando atemlos das Lokal und gab sich übertrieben überrascht, Anica Escortin jetzt schon vorzufinden. Das konnte er wirklich überzeugend. Sie feuerte giftige Blitze aus engen Sehöffnungen gegen ihn. Ob er nicht wüsste, wie spät es wäre? Doch, schon, aber … Sie schnitt ihm das Wort ab und begann zuckersüß zu lächeln. Rembert war verunsichert. Ob sie was ahnte? Was denn nun mit dem Hausbau sei?, fragte er rasch, um abzulenken. Das habe Zeit, meinte die Escortin gähnend, schließlich sei man ja nicht obdachlos. Und sie lachte scheppernd. Ob er nicht kurz Zeit habe für sie?
Rembert Mirando litt noch von vorhin an einem starken Brennen zwischen seinen Beinen und konnte sich alles vorstellen, alles, nur das jetzt nicht! Er habe noch einen dringenden Weg, flüchtete er sich in eine Ausrede. Sie sagte, er solle sich genau überlegen, ob es nicht besser sei, anders zu disponieren, man wisse schließlich nicht, ob man sich nicht noch gegenseitig brauchen werde. Dieser Satz machte ihn nachdenklich und er überlegte die Möglichkeit, wenn er eine gehörige Portion Vaseline auftrüge, ihrem Drängen besser nachzukommen, denn wer wüsste wirklich schon, wozu es gut sein würde? Mirando, der noch immer eine trockene Kehle hatte, hatte noch nichts bestellt, als Anica Escortin ihren Kaffee bezahlte und aufstand, um zu gehen.

Gegenüber aber, in der kleinen Boutique von Stefanie Raymundo, wurde heftig diskutiert. Es wurde gesagt, eine Person, die vorgab, über diverse Tugenden, fundierte moralische oder religiöse Überzeugungen sowie unumstößliche Grundsätze zu verfügen, Eigenschaften also, die sie in Wirklichkeit nicht besaß, seien bloß eine Maske, um vorzutäuschen, sie selbst sei so eine Person also, deren Handlungen ihrer Überzeugung jedoch widersprächen. Und eine solche Person wäre ganz einfach ein Hypokrit, ein Heuchler.
Mit dieser Erklärung versuchte Eva Vanin verzweifelt, ihrer intimsten Freundin Stefanie Raymundo klarzumachen, was für einer dieser Rembert Mirando wäre. Und Stefanie stand da, in ihrer Wohnküche in ihrem kleinen Laden, mit gesenktem Kopf, und rauchte eine Zigarette nach der anderen, während Eva langsam und umständlich den obersten Knopf ihrer Jeans aus seinem Knopfloch zu lösen begonnen hatte.
Im Gegensatz zu Mirando wäre sogar ein Paul Pedasoli zu ertragen, den sie, wenn auch ungern, hin und wieder an der Seite Stefanies gerade noch duldete.
Inzwischen hatte Rembert Mirando, seit dem erfolgreichen Coup mit Escortin und dem Grundstücksdeal sowie der Parteispende an die führende Partei der Gemeinde, seinen Karriere-Claim ein wenig weiter abgesteckt. Als er herausgefunden hatte, dass das Geld einmal erst auf einem Privatkonto zwischengelagert werden sollte, hatte er sich großzügig dafür zur Verfügung gestellt, auch auf die Gefahr hin, dass diese plötzliche und noch dazu so ungewöhnlich hohe Summe auf seinem eigenen Konto zu einer außerordentlichen Prüfung durch die Finanzbehörde führen könnte. Mirando wähnte sich in Sicherheit. Vor allem aber dachte er an die anfallenden Zinsen, die er, ohne mit der Wimper zu zucken, für sich in Anspruch zu nehmen gedachte, als kleine Entschädigung für seine Dienstleistung quasi. Und schließlich, würde er ja auch noch Mandatar, wäre er politisch immun und geschützt vor ungerechtfertigten Schnüffeleien seitens der Behörden, wie er sich zusammenreimte. Vielleicht könnte er es schaffen, das Geld ein Jahr lang auf seinem Konto zu belassen, erst dann würde man weitersehen. Je länger, desto mehr würde er davon profitieren. Und die Wahl lag noch in weiter Ferne, wie auch die Begleichung der Rechnungen für Plakate, Werbung und was sonst noch alles dazugehörte, wohl noch länger. Schließlich müsste man auch nicht sofort bezahlen. Also könnte er gar noch über ein zweites Jahr an dieser Summe partizipieren, bis zur Umbuchung eben.
Von dem Zeitpunkt an, an dem Mirando Escortins Parteispende auf seinem Konto wusste, ging er täglich zur Bank, um den unglaublichen Kontostand am Bankomaten abzulesen. Oftmals stand er sogar des Nachts zu diesem Zweck auf, und schlich unbemerkt in die Bankfiliale, um sich zu vergewissern, dass er nicht geträumt hatte. Dieses Geld war gewissermaßen sein Baby, und er wachte darüber, ob es auch ordentlich schlief. Seine Frau hingegen wusste von alldem nichts. Alles geschah heimlich. Dadurch ungemein beruhigt, manifestierte sich in ihm die Vorstellung, sich von diesem Geld unter keinen Umständen mehr trennen zu wollen. Ja, er hatte es richtig zu lieben begonnen, und überlegte fieberhaft, wie er es durch komplizierte Transaktionen auch in Zukunft würde behalten können.

Dieser Tage hatte er sich wenig um Anica Escortin gekümmert und war auch nicht bei Stefanie Raymundo gewesen, so sehr vereinnahmte ihn seine neue Aufgabe, sich seinem unerwarteten Reichtum zu widmen. Geld, dachte er, wäre ihm noch wichtiger als Frauen. Und er schloss leise die Tür zum Sekretariat wegen der permanenten Ablenkung, Fräulein Mileva nicht ständig unter den Rock schauen zu müssen, wenn sie mit leicht geöffneten Beinen hinter ihrem Schreibtisch saß.
Jeden anderen hätte das Gewissen geplagt. Aber nicht einen Rembert Mirando! Man hätte ihn allein wegen seiner Absichten schon als Wirtschaftskriminellen abtun können, etwa wegen Verdachts der Geldwäsche oder der Bestechung. Man würde sagen, er hätte Millionen bekommen und unterschlagen, aus Schmiergeldern oder Parteienfinanzierung oder untitulierten Zahlungen an Dritte. Man hätte ihm vorwerfen können, er, der Verdächtige, habe gefälschte Belege vorgelegt, was zur Festnahme geführt habe, vielleicht wegen Verdunkelungsgefahr und wegen weiterer Tatbegehungsgefahr? Das Geld sollte möglicherweise in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit der ursprünglichen Bestimmung gar nichts zu tun gehabt hätten?
Man musste schon ein ausgekochter Bursche sein, um sich nicht von einem mehr als lästigen Gewissen dreinpfuschen zu lassen. Und Mirando ließ sich nicht dreinpfuschen. Mehr noch. Er betonte bei jeder sich bietenden Gelegenheit, dass er einer sei, der nicht gleich den Schwanz einziehen, sondern Stehvermögen beweisen würde, wenn einmal etwas schiefging. Er wäre keiner, der gleich zurücktreten würde. Schließlich hatte man ihn hereingeholt, um sein Können unter Beweis zu stellen. Er könne seine Förderer und Gönner schließlich doch nicht mit einem Rücktritt vor den Kopf stoßen?

In dieser Situation empfand er es als ungeheuren Vorteil, sich in einem geschützten Bereich verbergen zu können. Einem Bereich, der ihn vor den Blicken der Neider und Intriganten bewahrte. Seine nunmehrige Stellung erlaubte ihm die nötige Deckung, hinter der man ungestört agieren konnte. Man musste bloß unauffällig genug sein, nur nicht auffallen war seine Devise. Die Öffentlichkeit täuschen, uninformiert zu lassen, sie nur mit Worthülsen bedienen, ihr gerade das Notwendigste mitteilen, so wie es alle immer schon gemacht hatten. Und Rembert Mirando kostete diese Situation genussvoll aus.
Einer Beschwerde über einen Mitarbeiter aus den unteren eigenen Reihen begegnete er derart, dass er diesen zu sich rufen ließ, ihn eine halbe Stunde vor seinem Büro warten ließ, um vorerst ein privates Telefonat zu erledigen, um ihn dann vor dem Personalchef nach allen Regeln der Kunst zur Sau zu machen. Was er denn schon sei. Arbeitnehmer. Und also solcher ohnehin bloß Bittsteller. Ferner sprach er eine Verwarnung aus, dessen Dienstvertrag bei nächster Gelegenheit kürzen zu lassen, eine Bedrohung, die angesichts der prekären Wirtschaftslage und Arbeitsmarktsituation mehr als eine gefährliche Drohung war.
Das sprach sich rasch herum in der Gemeinde und die Leute hatten Angst vor Mirando, Angst vor seinem Einfluss, und auch vor dem Bisschen Macht, das er repräsentierte. Im Laufe der Wochen und Monate wurden Mirandos Anzüge immer schwärzer, straffer, strenger. Sein Gang immer steifer, der Klang seiner mit Metall beschlagenen Absätze beim Gehen immer lauter. Ansuchen, die über sein Büro liefen, blieben immer länger liegen oder wurden negativ beschieden.
Einmal bat eine Mitarbeiterin um einen Gehaltsvorschuss. Schließlich war die Krise bis in alle sozialen Schichten vorgedrungen und viele hatten bereits nicht mehr das notwendige Geld für die Dinge des täglichen Gebrauchs. Was sie sich einbilde!, entgegnete ihr Mirando forsch. In Zeiten wie diesen gäbe es für niemanden einen Gehaltsvorschuss!, donnerte er. Sie sollte sich doch umhören. Selbst die Banken würden die Kreditklemme nur schwer lösen wollen. Man wusste schließlich nicht, was kommen würde. Und überdies müsse sie es hinnehmen wie andere auch, dass die Gemeinde kein Kreditinstitut sei. Sie erwiderte, das Verhalten ihrer Hausbank habe sich ihr gegenüber seit der Krise zum Schlechteren gewandt.
Da lachte Mirando nur und meinte, dann müsse sie eben den Gürtel enger schnallen. Sie alle, auch er, müssten das. Und das sei nichts Außergewöhnliches, fügte er hinzu und wies sie an, die Türe seines Büros von außen zu schließen.

Der Glaube der Bürger an das tatsächliche Vermögen einer funktionierenden Kommunalpolitik schien unerschütterlich, wenngleich man sich in Zwicklingsau bewusst war, oder Hintertupfing, richtig, was sich gleich blieb, dass die großen Dinge dieser Welt ohnehin nur global oder EU-weit erfüllt werden konnten. Umso mehr setzte man auf die Hoffnung lokalpolitischer Potenz, mit der in gewissen Bereichen noch dies und das erreicht werden könnte, was im großen Rahmen der Zulässigkeiten sonst nicht möglich gewesen wäre.
Nach einer eingehenden Analyse der kleinbürgerlichen Seele dieses Ortes konnte man aber feststellen, dass sich allgemein sehr starke Gegenreaktionen gegen den Fortschritt abzeichneten. Dies zeigte sich in der Permanenz der Ablehnung um die Neugestaltung des Hauptplatzes ebenso wie im trotzigen Beharren gegenüber jeder Art von innerer Veränderung und manifestierte sich in pathologischen Ängsten vor dem Neuen, dem Unbekannten, dem Fremden. Immer dann aber, wenn vom langsamen aber sicher abbröckelnden Glanz längst vergangener Ehren die Rede war, setzte sich auf den unhörbaren Einsatz hin ein hervorragend eingeübter Chor kollektiver Verdrängung in Gang, einem Sangeswettbewerb gleich, als ob es darum ginge, die glücklosen Taten irritierter Väter und Väterväter vor einem unsichtbaren Tribunal immer wieder aufs Neue bejubeln zu müssen.
Die Rede ist von jenen Ehren, von denen man besser schweigen sollte, weil sie, von Blut besudelt und durch Diebstahl erworben, nicht mit denen in fairen Wettbewerben erkämpften zu vergleichen sind. Am meisten aber fürchtete man den das Leben so unflätig verachtenden Tod, der Tag und Nacht dazu imstande war, die schrecklichsten Bilder in den Köpfen der vorwiegend daseinsorientierten Zwicklingsauer (oder Hintertupfinger) entstehen zu lassen. Die unumstößliche Tatsache, nichts davon mitnehmen zu können, was man zu Lebzeiten mühsam erworben hatte und vor den neidvollen Blicken anderer zu verbergen suchte. Der Tod hatte daher, ganz abgesehen von seiner Endgültigkeit, auch etwas Entmündigendes und Enteignendes an sich.
Umso mehr ließen sich die Zwicklingsauer (wie auch die Hintertupfinger) nicht davon abhalten, wenigstens im Diesseits dynamisch, ehrgeizig und konsequent zu sein, wie es auch zum guten Ton gehörte, unbequeme Entscheidungen treffen zu müssen, natürlich für andere, versteht sich. Man durfte kein Intrigant sein, zumindest nicht nach außen, und musste wissen, woran man mit jemandem war, um sich dort, wo es die Notwendigkeit verlangte, mit den Lorbeeren anderer zu schmücken.

Eines Tages luden der Bürgermeister und die Honoratioren der Stadt zu einem Fest im Garten des Bürgermeisters. Jeder im Ort war eingeladen. Aber nur wenige kamen, weil sie wussten, dass sie unerwünscht gewesen wären. Also blieb man unter sich. Rembert Mirando hatte sich mit einigen Kanzleileitern und Wichtigen aus dem Finanzressort an einem von der Gattin des Bürgermeisters liebevoll dekorierten Gartentisch verbarrikadiert.
Hin und wieder verirrten sich ein paar verschreckte Gäste dorthin in der Meinung, sich an diesem Tisch zuallererst vorstellen zu müssen, und traten, völlig verstört, unverzüglich den Rückzug an, nachdem sie feststellen mussten, dass niemand hier ihre artig entgegengereichten Hände schütteln wollte, und jene, die eben erst Angekommenen, nicht nur keines Blickes würdigten, sondern sich in ihren Gesprächen durch lästiges Begrüßen auch nicht stören lassen wollten.
Zumindest aber Mirando holte eine ausstehende Begrüßung erst viel später durch ein „Ach, Sie wären auch da“ nach, aber auch nur, weil es sich dabei um einen kleinen Angestellten mit seiner äußerst attraktiven Gattin im Schlepptau handelte, die ihn irgendwann einmal im Amt besonders nett und ehrfürchtig gegrüßt hatte. Den übrigen Tischgesellen war der Pöbel egal. Sie nahmen ganz einfach keine Notiz von den kleinen Leuten, die sie nicht kannten, und die sich rund ums Buffet wie die Schmeißfliegen tummelten, um noch rasch ein Häppchen von dem feudalen Hummeraufstrich, der Fasanenpastete, den Garnelen in Marinade, dem Avokadoaufstrich sowie Unmengen süßer Melonen, Mehlspeisen und Torten aller Art zu ergattern. Denn wo sonst, wenn nicht hier, hätten sie noch die seltene Gelegenheit, sich gratis den Bauch mit so köstlichen Dingen vollzuschlagen?

Unter der illustren Tischrunde, der Rembert Mirando angehörte, befand sich ein gleichermaßen aalglatter geschniegelter Finanzbarrakuda, der in ausschweifender Form von mysteriösen Beteiligungen an einer Ostfirma faselte und allen, die über die Höhe der Investitionen und die zu erwartenden Renditen staunten und ihre Münder darüber nicht mehr schließen konnten, den Mund wässrig machte, sich in dieser Sache einzukaufen. In Mirando arbeitete es fieberhaft. Wenn er das Geld, das man ihm kurzfristig anvertraut hatte, hier investierte, könnte er ein Vielfaches dessen lukrieren, was ihm ohne dieses Kapital in seinem Leben allein durch Sparsamkeit nicht gelänge, und was ihm überdies gestatten würde, den geliehenen Betrag mit Leichtigkeit wieder an den eigentlichen Besitzer, die Partei, zurückzuzahlen.
Er brauchte also nur einen günstigen Moment abzuwarten, in dem er mit diesem Mann allein sein konnte, um ihm sein Interesse an der Sache darzulegen. Alles andere würde sich finden. Schließlich herrschte die Krise. Und wenn man es jetzt zu nichts brachte, wie sollte es hernach weitergehen? Und wenn es schiefginge? Wenn schon! Die Frage danach, ob man ein guter Verlierer wäre, konnte in Zeiten wie diesen an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie dank ihres Humors sogar noch dann zu lachen pflegten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Und Mirando wollte nur zu gerne einer von dieser Sorte sein.
Es gab ja schließlich genügend Vorbilder, da draußen. Solchen Menschen, die es nicht nötig hatten, ums Überleben zu kämpfen, war doch bloß am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfanden. Derartige Menschen konnten schließlich aber auch nicht immer nur gewinnen. Daher konnten jene, die stets gewannen, es sich mitnichten leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.
Der Finanzmensch trank. Er trank viel, und zwar nur Sekt, und das war gut so, dachte Mirando. Denn auch ein Finanzmensch hat nun einmal eine menschliche Blase, und die würde sehr bald zum Überlaufen voll sein, wenn er so weitertrank. Dann müsste man ihm an jenen Ort hin folgen, wo für Erleichterung gesorgt wurde. Überdies musste man ja nicht gleich die kompletten Hundertfünfzigtausend riskieren. Ein geringerer Betrag, vielleicht fünfzigtausend, würde vielleicht für den Anfang schon reichen? Wer konnte es wissen? Nur reden müsste man mit dem Menschen können. Man müsste an ihn rankommen, ihm nähere Informationen entlocken, sie ihm aus der Nase ziehen wie die Amsel den fetten Regenwurm aus dem taufeuchten Boden.

Stefanie Raymundo hatte ihren Paul mitgebracht. Mirando beobachtete die beiden schon seit Längerem. Sie naschte einmal da dann dort vom üppigen Buffet, hüpfte um ihren Lover zickig herum und zog ihn am Ärmel mal hierhin und dorthin. Eva Vanin war nicht zu sehen. Sie hatte wohl heute Stefanie-frei. Pedasoli begnügte sich mit Zigaretten und einem Glas Wein in der Hand, unberührt von der Aufgekratztheit Stefanies.
Paul Pedasoli ließ seine von den Butterseiten des Lebens verwöhnten Blicke über die Anwesenden streifen. Sie fielen auf den Bürgermeister, dessen Gattin, auf die Tischgesellschaft, der Mirando angehörte, und sie blieben schließlich an der unübersehbaren Person des auffällig mit den Armen fuchtelnden Finanzmenschen hängen. Sein untrüglicher Sinn für leicht zu erbeutendes Kapital durfte ihn nicht täuschen. Er löste sich langsam, in immer länger werdenden Intervallen von Stefanie, die inzwischen vergnügt mit Frau Bürgermeister plauderte, und näherte sich scheinbar absichtslos und sehr unauffällig dem Tisch der aufrechten Wichtigen.
Mirando behielt Pedasoli vorsichtshalber im Augenwinkel, allein schon deshalb, weil er sich ein Bild von dem Kerl machen wollte, der Stefanie Raymundo bumsen konnte, ohne offensichtlich irgendeine Gegenleistung erbringen zu müssen, und einer Frau wie Stefanie dürfte bloßes Porsche-Fahren ja doch ziemlich egal sein. Er musste irgendetwas an sich haben, sagte sich Mirando, was sie so sehr an dessen Stange hielt, und während er dies dachte, hob er langsam sein Weinglas, führte es bedächtig zum Munde, so, als täte er einen längeren Schluck daraus nehmen, während seine Augen jede Bewegung Pedasolis verfolgten.

Da plötzlich, es musste in einem von Rembert Mirando unbemerkten Augenblick geschehen sein, stand Pedasoli bereits abseits der laut diskutierenden Tischgenossen neben dem geldigen Ostinvestor. Beide machten sehr auf „am anderen interessiert“. Jetzt nahm Pedasoli den Kerl an der Schulter und schob ihn behutsam hinüber zu einer kleinen Baumgruppe einiger mit Früchten überladener Marillenbäume.
Rembert Mirando wurde unruhig, sehr unruhig und er stand auf, um seine Chancen nicht noch mehr zu verschlechtern. Man musste handeln, jetzt, sonst würde es zu spät sein! Er sei hier ganz zufällig auf Pedasoli und den Kapitalhai gestoßen, entschuldigte er sich rasch dafür, die beiden im Dickicht der Obstbäume plötzlich überrascht zu haben. Aus dieser einmaligen Situation heraus ergab es sich, dass Mirando dem Investor seine Absichten mitteilte, etwas Kapital in die vorhin von ihm erwähnte Gesellschaft zu investieren. Und wie er es anstellen sollte?, fragte er naiv. Pedasoli und der Finanzmensch schienen erheitert.
Mirando fühlte, dass er einen roten Kopf bekommen hatte. Aber der Ostinvestor überging die Sache diplomatisch und fragte Mirando nach der Summe, die er anlegen wollte. Als dieser eher fragend antwortete, so an die fünzigtausend, wurde der Kapitalmensch plötzlich ernst. Paul Pedasoli pfiff leise durch die Zähne.
Wann und wo man sich treffen könnte, fragte dieser und Mirando erfasste ein Gefühl, welches sich nur Siegern zu bemächtigen beliebte, oder solchen, die mit einem Male aus nichts etwas geschaffen hatten. Was er davon hielte, wenn er, Pedasoli, gleichfalls mit einer solchen Summe einstiege?, fragte jener den Finanzmenschen. Der Ostinvestor war sofort in seinem Element. Die drei mochten eine gute Stunde im Schutz der Marillenbäume gestanden haben, als sie mit zufriedenen Gesichtern wieder an den Tisch der wichtigen noch Aufrechten, denn der Sekt floss in Strömen, zurückgekehrt waren.
Ob sie sich gut unterhalten hätten, stürmte der Bürgermeister sogleich auf sie ein und warf Rembert Mirando einen fragenden Blick zu, dem dieser mit erhobenem Haupt standhielt. Er war sich seiner Sache ziemlich sicher, und überhaupt hatte Rembert Mirando schon sehr früh herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Umso mehr schien es ihm legitim, aus seiner Situation das Beste zu machen. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er seit Längerem für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen mäßigen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.
Darüber hinaus beanspruchte er für sich die gängige Meinung, welche über Leute aus dem Arbeitermilieu besagte, dass sie durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg nach oben unbedingt dienlich wären. Und jetzt böte sich ihm eine günstige Gelegenheit dorthin. Alles, was man dazu brachte, waren günstige Karten, Stress- und Konfliktresistenz, Selbstständigkeit und ein gesundes Selbstbewusstsein. Wer über diese Eigenschaften verfügte, besaß erfahrungsgemäß die notwendigen Grundlagen eines bestimmten Anforderungsprofiles, spezifische Machtpositionen einnehmen zu können.

Nach und nach erhoben sich die Wichtigen nicht mehr ganz so Aufrechten vom großen Gartentisch, unter ihnen auch Mirando, um vereint noch einmal über das Buffet herzufallen, welches mittlerweile neu bestückt worden war, weil es der Pöbel bereits leergefressen hatte. Ein neues Fass Bier wurde angeschlagen, neue Sektflaschen eindrucksvoll, einem Flakgewitter gleich, knallend entkorkt. Ströme schäumenden Perlweines ergossen sich schwungvoll in bereitgestellte Gläser. Das gemeine Volk wagte sich nun nicht mehr näher heran und verharrte mit teilweise leeren Bechern unter fruchtschwangeren Marillenbäumen, bis wieder Entwarnung gegeben werden konnte. Dahinter leuchtete die Sonne schon tief am Horizont, unsichtbar beinah, durch die grünblättrigen Mauern dicht belaubter Obstbäume.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15076

Die Krise 5 – Innere Zweifel

Allen am Gesellschaftsleben Teilnehmenden, die hier in Zwicklingsau (gleichwie Hintertupfing) lebten, war längstens klar, dass der ortsbekannte Lebemann und Nichtsnutz, Porsche 911-Fahrer von Gnaden, Paul Pedasoli, ein bereits längeres Verhältnis mit der attraktiven Geschenkboutiquebesitzerin Stefanie Raymundo aufrechthielt, trotz deren gespaltener Zuneigung zur lokalprominenten Künstlerin Eva Vanin.
Pedasoli mochte an die fünfzig sein, und war sicherlich nicht mittellos, wie man an seiner Kleidung oder seinem fahrbaren Untersatz feststellen konnte. Am hiesigen Meldeamt schien er nicht auf im Register. Unklar hingegen war auch, woher die Mittel für seinen luxuriösen Lebenswandel stammten. Klar hingegen war, dass die vereinigte Liga der Kirchenbankreserviererinnen Stefanie Raymundo zutiefst beneidete und sie längst auf die Titelseite ihrer Klatsch- und Tratschgeschichten gehievt hatte. Den Anlass für die allgemeine Ächtung bot ein sich bereits öfter wiederholendes merkwürdiges Ritual um die Geschäftszeiten von Raymundos Boutique, welches Rembert Mirando neulich bereits um eine Facette bereichert hatte.
Immer dann aber, wenn der schwarze Porsche Pedasolis vor Raymundos Geschäft parkte, hing ein kleines Kartonschild an der Eingangstüre, auf dem geschrieben stand: Komme gleich, bitte warten! Aufgeklebte Gänseblümchen und Veilchen verzierten dieses Schild rund um das Geschriebene zusätzlich. Und es hatte sich längst herumgesprochen, dass es meist den ganzen Nachmittag dort hängen blieb.
Insider wussten es besser, nämlich, dass das Geschäft in dieser Zeit stets geschlossen war. Im ersten Stock des Hauses aber, den Stefanie alleine bewohnte, waren die Gardinen am helllichten Tage zugezogen. So auch an jenem Tag, nachdem der schwarze Porsche 911 wieder einmal vor Stefanies Geschäft geparkt hatte, diesmal allerdings völlig überraschend, und das nicht nur für die Leute hinter den Gardinen gegenüber.

Paul hatte einen zweiten Schlüssel und ging erst gar nicht durchs Geschäft, sondern verschaffte sich durch die Hintertür Zutritt zum Eingang von Stefanies Refugium. Er stieg die Treppen hoch bis zu Raymundos Wohnung, steckte den Schlüssel an und wollte aufsperren, als er sofort merkte, die Türe stand ohnehin schon offen, leicht angelehnt. Paul rieb sich die Hände, wollte er doch Stefanie auf seine unvergleichlich urureigenste Art überraschen. Aber er kam nicht weiter, bloß bis vor die Küchentür, als er lautes Stöhnen zweier weiblicher Stimmen vernahm. Vorsichtig trat er hinzu und spähte durch den Spalt, den die halb offene Türe hinterlassen hatte. Eva Vanin, an die Spüle gelehnt, die Jeans hinabgelassen, das Höschen verrutscht, von Stefanie liebkost und geknetet, hielt ihre erhitzten Wangen an jene Stefanies und wiegte sich im Takte unhörbarer Melodienreigen. Pedasoli fuhr zurück. Hier war das Vieh schon an der Tränke!, durchzuckte es ihn.

Insgeheim hatte er irgendwie Kenntnis von Stefanies geheimer Neigung gehabt. Bestätigung dafür hatte es bis jetzt keine gegeben. Vibrierende Neugierde trieb ihn dennoch einmal dazu, die Beobachtung fortzusetzen. Seine Fantasie geriet in Wallung, bis er ihr durch den Entschluss ein Ende setzte, leise den Rückzug anzutreten und unauffällig, wie er gekommen war, das Haus zu verlassen.
Davor jedoch verschaffte er sich über die rückwärtige Treppe des Flurs Zutritt zum Verkaufsraum. Den Nachschlüssel hatte er sich längst besorgt. Der kluge Mann baut vor. Ein kurzer Blick über die Regale fand seine Ruhestätte an einer offenen Schatulle, der Ladenkasse, welche nahe der Eingangstür auf dem Pult stand. Pedasoli trat rasch hinzu, entnahm ihr einige kleinere Scheine, eben kurz einmal illiquid, wie er war, würde er Stefanie das Geld später selbstverständlich zurückgeben, schließlich war man Ehrenmann, und verschwand unbeobachtet zur Hintertür hinaus. Er bestieg seinen Wagen und entfernte sich ohne jedes Aufsehen. In den der Boutique gegenüberliegenden Wohnungen glitten die vorsichtig beiseitegeschobenen Gardinen wieder unauffällig in ihre gewohnte Position zurück.

Durchtauchen, durchfuhr es Rembert Mirando unterdessen, geheimer Mandatar zuletzt, bis die Turbulenzen vorbei wären. Er müsste nur durchhalten, die Krise auf seine Art bewältigen. Experten und Laien rätselten gemeinsam ja längst über die Dauer derselben. Das war immer so. Zuerst war der Finanzmarkt, dann die Industrie betroffen, und dann erst der kleine Mann. In Krisenzeiten musste man einfach flexibel sein, sich auf neue Gegebenheiten einstellen können.
Seelische Gleichgewichte konnten dabei leicht ins Trudeln kommen. Er aber würde nicht in die Opferrolle fallen, hatte er sich vorgenommen. Er selbst würde nichts persönlich nehmen. Man könnte ja Mut und Rat aus der Umwelt ziehen, und dabei ausstrahlen, wie wichtig man war. Dabei konzentrierte sich die übrige Welt hoffentlich auf die Umstände, wie und wodurch alles zu guter Letzt derart zustandegekommen war, jedoch nicht auf ihn und seine geheime Transaktion.

Eines Tages erschienen in einem kurzen Artikel der regionalen Presse einige Zeilen über den Grundstückskauf der Escortins auf naturgeschütztem Gelände. Dieser Artikel rief allgemeine Empörung hervor. Die Opposition, sonst lediglich unauffällig vor sich hin schwächelnd, plusterte sich ungewöhnlich heftig auf und tat dabei, als hätte sie von der ganzen Schweinerei nichts gewusst, obwohl ihre Unterschrift ebenso auf dem Kaufvertrag prangte wie jene des Bürgermeisters, des Amtmannes und Mirandos, Finanzbeauftragter und Kulturguru.
Ganz besonders aber regte ein kurzer Nachsatz in dem Artikel auf, nämlich der, dass Geld geflossen sei in dieser Sache. An wen, stand nicht dabei. Das war wiederum Wasser auf die Mühlen der Klatsch- und Tratschgesellschaft und es wuchsen die verschiedensten Gerüchte, Wolkenkratzern gleich, bis hoch in den Himmel. Unter ihnen auch solche, in denen behauptet wurde, Rembert Mirando wäre in die Sache involviert, einer, den mittlerweile niemand so richtig leiden mochte, seit er seine Position im Gemeinderat dazu benutzte, sich unangenehm hervorzutun und Bürgerwünsche abschmetterte.

Da war plötzlich auch von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Dutzende Geldgeber wären ohne deren Wissen zu Komplizen gemacht worden. Das Gerede um geheime Transaktionen nährte Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein weiteres, schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Gang gesetzt worden, um zu vertuschen, wo der ganze Zaster tatsächlich geblieben sei.
Das Volk war irritiert und erregt zugleich. Der Klerus donnerte sonntags von der Kanzel herunter, der seelische Müll müsse zuerst beseitigt werden! Die geistige Umweltverschmutzung sei verantwortlich für die Wirtschaftskrise. Gier und Materialismus zerstörten ihre Umwelt. Wo der Mensch nicht mehr zählte, würden fundamentale Werte schwinden. Das klang alles sehr ernst und es war keine Rede mehr davon, dass Gleichgeschlechtlichkeit heilbar wäre.

Mirando hatte den Zeitungsartikel immer wieder gelesen und er musste sich eingestehen, dieser hatte ihn, ganz gegen seine Gewohnheiten, irgendwie peinlich berührt. Schon malte er sich aus, wie bösartig die Lokalpresse reagieren würde, wenn‘s endlich einen Prominenten erwischt hätte. Und in gewisser Weise war er ein Prominenter. Zumindest hier in Zwicklingsau. (Es wäre wahrscheinlich auch in Hintertupfing nicht anders gewesen.) Vielleicht nahm man ihn in Untersuchungshaft? Sein Privatleben würde verglichen werden mit dem des angehenden Mandatars Rembert Mirando, und ob sich darin Widersinniges fände. Auch könnte man danach nicht so einfach zur Tagesordnung über- und er nicht mehr ganz einfach so zum Fleischhauer hinübergehen und sich von dessen entzückender Tochter bedienen lassen. Vielmehr bestand die Wahrscheinlichkeit, dass man ihn dort überhaupt nicht mehr bediente.
Vielleicht aber gäbe es „Wurschtbrot“ im Gefängnis, anstatt Wildbret, sicherlich. Dort würde er einen Raum mit einem Fremden teilen müssen. Und er könnte nicht in der Nacht aufstehen und zum Kühlschrank gehen, um Schinken und ein kaltes Bier herauszunehmen oder sich einen Whisky einschenken, wenn ihn die Sorgen nicht schlafen ließen. Und mit seinen Kurzbesuchen bei Stefanie wäre es auch vorbei. Und seine Gattin würde sich scheiden lassen. Mit Sicherheit!

Das alles erschreckte ihn ungemein, wie auch die Vision, den ganzen Tag über von irgendeinem kleinen Gauner oder Fixer oder Kiffer oder Wichser oder sonst irgendeinem Untermenschen, gar einem Ausländer, einem muslimischen Fanatiker oder einem vorbestraften Messerstecher beobachtet zu werden! Bestenfalls würde es ein erfahrener Mithäftling sein, der ihn in den ersten Tagen unterweisen würde, und ihm helfen sollte, den Gefängnisschock zu überwinden. Undenkbar das alles! Vielleicht könnte ihn die Escortin protegieren, wenn es so weit wäre? Dieser Mithäftling also würde auf ihn aufpassen, damit ihm nichts passierte. Dass er sich nicht am Schnürsenkel erhängte oder sich in der Klospüle ertränkte oder so ähnlich.
Denn wenn einer so in der Öffentlichkeit stand wie Mirando, dann würde man ihm eben helfen, den Haftschock zu überwinden. Mirando, der stets gerne in der Natur war, und wenn es nur der Gang zur Bank war, dürfte von nun an bloß eine Stunde im Innenhof der Justizanstalt seine Runden drehen. Einziger Luxus wäre, sein Essen aufs Zimmer serviert zu bekommen. Mirando lachte bitter. Allerdings bekäme er hier keine Gourmetmenüs! Aber was man bekam, würde zumindest in anderer Form gebracht werden als in der gewohnten, nämlich im Blechnapf mit dazupassendem Becher. Und glasierten Kalbsbraten gäbe ist es sicher auch nicht. Rehrücken schon gar nicht. Am Abend Brot und Wurst.
Zwei Mal die Woche dürfte er Besuch empfangen, der vorher angemeldet zu sein hätte. Wer würde ihn schon besuchen kommen? Seine Gattin? Nein. Stefanie? Wohl kaum. Die Escortin? Auch nicht. Sie würde sich wahrscheinlich hüten, mit ihm Kontakt zu halten, jetzt, wo er quasi ein Krimineller war, schon aus Rücksicht auf ihren Mann. Wenn das ihr Hase erfahren würde! Nicht auszudenken!
Rembert kniff die Augen zu. Er könnte sie auf der schmalen Gefängnisbank flachlegen, überlegte er. Das intakte Intimleben der Häftlinge wäre neuerdings angeblich ein wichtiges Anliegen der Gefängnisverwaltung. Rembert versuchte, seine destruktiven Gedanken zu verscheuchen, indem er einen Besuch bei der Bank machte, um einen Blick auf sein Konto zu werfen. Noch war nichts verloren! Man musste nur durchtauchen, bis das Schlimmste vorüber war.

Dann aber geschah das Unglaubliche. Der glatte Ostfinanzfisch war verhaftet worden. Es war von gewaltigen Pyramidenspielen mit Steuergeldern die Rede. Von Dutzenden Geldgebern, ohne deren Wissen Gutgläubige zu Komplizen gemacht worden wären. Das Gerede um geheime Transaktionen von Beteiligten aus dem Ort nährte zusehends die Fantasien von gewinnbringenden Projekten, in die zu investieren es sich gelohnt hätte. Ein drittes schmuckloses Schreiben war aufgetaucht mit der Botschaft, ein weiteres schwindelerregendes Geldkarussell wäre in Umlauf gewesen, um zu vertuschen, wo denn das viele Geld eigentlich geblieben sei. Ja, ja, das Volk, sowohl in Zwicklingsau als auch in Hintertupfing war wie immer irritiert und erregt zugleich und man flüsterte auf Gängen und in Hauseinfahrten nur mehr über einen – über Rembert Mirando.
Mirando war nicht entgangen, was hinter seinem Rücken vorging, wenn er durch die leeren Korridore des Gemeindeamtes fegte, um nur ja von niemandem aufgehalten zu werden, um sogleich rasch in seinem Zimmer zu verschwinden. Er hielt die Türe zu seiner Sekretärin geschlossen und wollte überhaupt nicht wissen, ob sie es mit ihren Beinen unter dem Schreibtisch ebenso hielt. Auch die Farbe ihres Höschens interessierte ihn mit einem Male überhaupt nicht mehr. Das hatte es noch nie gegeben und konnte als Zeichen totaler Desorientierung gewertet werden.
Von diesem Zeitpunkt an hatte Mirando sein Element verlassen, Hände zu schütteln, auf Schultern zu klopfen und Schmäh zu führen. Er versteckte sich hinter seinem Schreibtisch, ließ niemanden zu sich vordringen, erledigte alles via e-Mail und verließ das Gemeindeamt stets als Letzter, im dunklen Staubmantel, den Kragen hochgeschlagen. Seine geheimsten Befürchtungen schienen eingetreten zu sein. Er war unter den Verdacht der Geldwäsche wie auch der Bestechung geraten und dafür bekannt geworden, Millionen bekommen zu haben, für dubiose Beratungsgespräche oder so ähnlich.
Untitulierte Zahlungen wären getätigt, und, wie man festgestellt hatte, gefälschte Belege vorgelegt worden, was schließlich zur Festnahme des Finanzfisches geführt hatte, den Mirando in seiner Bedrängnis vor dem Untersuchungsrichter schwer belastete. Dem Barrakuda wurde Verdunkelungsgefahr vorgeworfen und Tatbegehungsgefahr. Geld, von dem keiner wusste, woher es stammte, soll in höchst dubiose Geschäfte geflossen sein, die mit ihrer ursprünglichen Bestimmung herzlich wenig zu tun gehabt hätten.

Das Ortsblatt berichtete von einem Unternehmer, drei Teilhabern und einem ungeschickten Anleger, der seinen Mund nicht hatte halten können, beinahe politischer Mandatar obendrein, sowie einer Firmengruppe, die aus zahlreichen Untergruppen bestünde, mit dem vielversprechenden Namen East-Finance-Cooperation Unlimited, mit Sitz in einer bis dato unbekannten südosteuropäischen Hauptstadt. Ebenso war von einer Main-Consulting GmbH zu lesen, an der jener Ostfinanzmensch mit 65 % beteiligt gewesen wäre.
Was Mirando nicht wissen konnte, dass der angebliche Finanzberater längst die Aufmerksamkeit der Staatsanwaltschaft erregt hatte. Die Rede war auch von Schmiergeldzahlungen an Politiker, mit dem Ziel, Grundstückskäufe zu ermöglichen. Dabei sollen gewaltige Summen hin- und hergeschoben worden sein. Der Name Escortin kam in dem Artikel nicht vor. Allerdings ließ der Begriff „Baumafia“ die Leser aufhorchen. Sechzehn Millionen Umsatz hätte allein die Main-Consulting gemacht, und das mit einer Firma, die lediglich aus zwei Personen bestanden hatte.

In einem Nachsatz wurde quasi nur so nebenbei angemerkt, dass Escortin auf Gemeindegrund, der im Naturschutzgebiet gelegen hätte, mit Bauarbeiten eines Hauses begonnen hätte. Dieser winzige Nachsatz regte riesig auf. Nicht nur, dass man üblicherweise monate-, wenn nicht jahrelanges Warten auf die Behörden in Kauf nehmen musste, bis die Übermittlung des Flächenwidmungsplanes an das zuständige übergeordnete Amt vorgenommen wurde. Ein Akt wurde angelegt, von einem Sachbearbeiter, wenn Zeit dazu war. Das dauerte meist drei bis sechs Monate. Dann wurde der Plan überprüft. Auch das konnte dauern! Ein Antrag musste gestellt werden, was wiederum sechs bis acht Monate in Anspruch nahm, und wenn man Glück hatte, wurde dieser in einer Sitzung nach zwei bis drei Monaten verabschiedet und schließlich dem Gemeinderat vorgelegt.
Nicht so im Falle Escortins: Beschließung der Änderung eines Flächenwidmungsplanes am Montag. Drei Tage später lag der Gemeinderatsbeschluss vor. Am Donnerstag trat die übergeordnete Behörde zusammen. Die Umwidmung wurde genehmigt und bereits am Freitag war der Bescheid an Escortin ergangen. Die Naturschutzbehörde war geschickt ausgeschaltet worden. Escortin war ein reicher Mann. Der Kaufpreis von üblicherweise 30 bis 35 Euro wurde bei diesem Kauf dabei noch unterschritten und Escortin zahlte lediglich 24 Euro pro Quadratmeter.
Das alles hatte die Zwicklingsauer Seele aufs Äußerste irritiert und sie geriet ins Trudeln. (Der hintertupfingerischen erginge es wohl nicht anders.) Die Zwicklingsauer verfluchten Rembert Mirando, den politischen „Beinahe-Mandatar“, als sie davon erfuhren, dass in der Grundstückssache mit Escortin Geld geflossen war, welches er selbst noch obendrein veruntreut hatte. Details über dieses Vermögen und woher es stammte, waren nicht bekannt.

Dabei hatten die meisten gedacht, dass ihr Mirando verlässlich wäre, konservativ, seriös. Im Grunde aber wäre er bloß ein Weiberheld, der den Umgang mit dubiosen Frauen wie dieser Stefanie Raymundo pflegte, und gleichzeitig sogar ein Verhältnis mit Anica Escortin hatte. Ein frecher Maulheld wäre er, sagten sie und ein Weiberer obendrein, der sich überall durchboxte. Wie das seine Frau aushielte, fragte man sich und man bedauerte die Arme.
Überall sei er präsent, um da und dort seine Ellbogen auszufahren, anderen Leuten unaufgefordert den Taktstock zu entreißen, sich bei höherrangigen Politkolleginnen und -kollegen einzuschleimen, immer auf Ausschau nach nützlichen Freunden, die er irgendwie um etwas bitten konnte, nach Partys, auf denen er fürs Fressen und Saufen keinen Groschen bezahlen musste oder Autos mit Prozenten einkaufte, mitschnitt, wann und wo immer es ging.
Obendrein wäre er ein arroganter, stets mit dreckigen Witzen bewaffneter Komiker, der es immer schaffte, mit seinen derben Zoten irgendwo im Mittelpunkt zu stehen und selbstzufrieden zu grinsen, wie ein satter Säugling. Die Leute sagten, man müsse als Politiker sein Publikum unterhalten, auch wenn es nur darum ginge, es mit endlosem, wiederholten Pointendreschen zu langweilen, was einerseits dazu diente, dem eigenen unbeugsamen Willen den notwendigen Nachdruck zu verleihen, andererseits um damit die eigene schwammige Unentschlossenheit zu kaschieren.

Die Leute sagten auch, Rembert Mirando gehöre zu jenen Typen, die in öffentlichen Reden Dinge versprächen, die sie gar nicht halten könnten, aber hinterher sogar noch wissen wollten, ob sie gut gewesen wären. Nun sei er endlich einmal aufs Maul gefallen, freuten sich die Zwicklingsauer und appellierten an die Gerechtigkeit und den langen Arm der Justiz. (Die Hintertupfinger täten es ihnen sicherlich gleich.)
Im Zweifel säße man hierzulande Probleme aus, meinte der Bürgermeister lakonisch, als er auf offener Straße auf seinen sogenannten besten Mann angesprochen worden war. Man folge damit lediglich den Gesetzmäßigkeiten einer Soap-Opera, und dabei lachte er hinterfotzig. Immerhin galten kleine Scherze generell stets als willkommene Interjektion in hilflosen Situationen, rettender Ausdruck aus dem Reich des Unbewussten. Damit ließen sich Konflikte verkleinern und sie lächerlicher erscheinen als sie waren. Nicht zuletzt erzeugten sie für die nähere Umgebung zusätzlich eine gewisse Sicherheit, den Fakten ihre tödliche Ausweglosigkeit zu nehmen. Auf diese Weise konnte man sich dahinter leichter vor seinem eigenen dunklen Schatten verbergen. Man würde dadurch in gewissem Sinne unverletzlicher, für einen Augenblick sogar Sieger, auch wenn man sich gerade auf Talfahrt der eigenen Karriereleiter befand. Wurde darüber gelacht, erfuhr man eine Art Seelentrost und konnte wenigstens für einen Moment die Tatsache verdrängen, in welch einer beschissenen Lage man sich eigentlich befand.

Und Mirando? Mirando dachte zunächst an Flucht. Es würde etwas weiter sein müssen, um den Auslieferungsforderungen innerhalb der EU-Länder entfliehen zu können, überlegte er fieberhaft. Die Escortin müsste her. Mochte sein, dass sie augenblicklich bitterböse auf ihn wäre. Noch lief er frei herum. Auch war noch nicht das ganze Kapital verloren. In letzter Zeit scheute Mirando davor zurück, sich allzu oft in seiner Bankfiliale sehen zu lassen. Der Wahlkampf war bereits im Gange und zeitgleich mit diesem setzten die Auseinandersetzungen mit den politischen Gegnern ein, sich mittels Plakaten auf die Führungspartei einzuschießen. Die Befürchtungen aus den Reihen von Mirandos Parteifreunden waren eingetroffen, denn nach Mirandos Nominierung zum Mandatar wurde zu Recht große Sorge geäußert, er könnte sich in dieser Finanzsache verheddern und dadurch alles in der Partei zu Fall bringen.
Mirando hatte alle Hände voll zu tun, unangenehmen Fragen auszuweichen, einerseits solchen vom Parteivorsitzenden und dem Bürgermeister, andererseits denen der Lokalpresse, die sehr bemüht war, ein möglichst konkretes Bild aller Beteiligten in dieser Sache um den Grundstückskauf der Escortins zu zeichnen.
Und immer wieder wurde in den Kolumnen der Name Rembert Mirandos genannt. Er wäre einer der Hauptbeteiligten, hieß es, obwohl jeder wusste, dass er nur ein kleiner Schleimer war und für solche Geschäfte gar keine Kompetenzen besessen hätte.
Mirando reagierte cholerisch. Im Amt fuhr er die Leute grob an, die etwas von ihm wollten. Privat lief nichts mehr. Seine Gattin hatte von den Kirchenbänklerinnen alles erfahren und sprach kein Wort mehr mit ihm. Stefanie Raymundo hatte ihren Laden geschlossen und der schwarze Porsche Pedasolis parkte schon lange nicht mehr vor ihrem Haus. Es hieß, sie wäre weggezogen und hätte in der Stadt ein neues Geschäft eröffnet. Die Parteifreunde begannen, sich an Mirando abzuputzen. Zuallererst der Bürgermeister, dann der Parteivorsitzende und dann die übrigen. Sie sagten, er würde schon allein durch seine Präsenz alles verderben, was sie aufgebaut hätten, und sie legten ihm nahe, den Abschied zu nehmen.
Es schien, als wäre Rembert Mirandos Schicksal in eine länger andauernde Pechsträhne geraten und es ärgerte ihn maßlos, dass das Glück nicht mehr an seine Tür klopfte. Aber eher würde er sich die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, auch wenn es ihm diesmal nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Und Schuld an dem Schlamassel hätte einzig und allein der Ostfinanzfisch. Was aber erst, wenn man dahinter käme, dass es sich beim verlorenen Coup nicht zuletzt auch um die zwischengelagerte Parteienspende Escortins gehandelt hatte? Mirando wurde heiß bei dem Gedanken.

Von den hundertfünfzigtausend waren immerhin noch siebzigtausend übrig. Sollte er es jetzt noch eingestehen? Dem Bürgermeister gestehen, er hätte das Geld dringend für eine private Angelegenheit gebraucht? Zu spät! Zwei Tage später lag auf seinem Schreibtisch eine Nachricht, er möchte doch jetzt, wo ohnehin alles herauskommen würde, gleich die gesamte Summe auf das Konto der Partei überweisen. Es könnte nicht schlimmer kommen, als es schon wäre, stand zu lesen. Besser, man lege die Karten offen, als wenn die Herrschaften von der Opposition dahinterkämen, von wem das Geld geflossen wäre, obwohl das allen bekannt war, nur selbst wollte man es nicht glauben.
Mirando erstarrte. Er lief in seinem Büro hin und her wie ein gereizter Tiger. Alles schien ausweglos. Er würde zu Kreuze kriechen müssen. Dann wäre alles hin. Sein Job, seine politische Karriere, einfach alles! Mirando fuhr mit zwei Fingern zwischen Hals und Hemdkragen. Der Knopf hielt der Spannung nicht stand und sprang ab. Also doch die Escortin. Er griff zum Telefon. Nein, Schwachsinn. Sie könnte ihm nicht helfen. Niemand konnte helfen. Oder wenigstens mit ihr reden, jetzt, in dieser schweren, existenzbedrohenden Situation? Vielleicht um des Gefühls Willen, als Mensch behandelt zu werden, abgeholt zu werden, wo er gerade stünde? War nicht immer auch eine Botschaft in so einer Situation versteckt? Es führte kein Weg daran vorbei. Wie an einer schweren, ja tödlichen Krankheit.

Rembert Mirando war in einer großen psychischen Not. Er, der immer so elegant über das Parkett des Lebens getänzelt war, war an seiner eigenen Gier gestrauchelt. Möglicherweise könnte er mit Anica Escortin Strategien zur Rettung seines Ansehens und Weiterkommens entwickeln? Sie war eine kluge Frau, gewiss.
Ein Balkantief sandte weiterhin feuchte und schwülwarme Luft von Osten nach Zwicklingsau, und Gewitter waren nicht ausgeschlossen. (Hintertupfing schien diesmal davon nicht betroffen.) Ob sie ihm die verlorenen achtzigtausend liehe, die Escortin? Vielleicht verfügte sie gar nicht über eine solche Summe? Von ihrem Hasen würde sie diese wohl kaum bekommen. Wenn der ahnte, für wen das Geld bestimmt wäre, kriegte er mit Sicherheit einen Herzinfarkt! Mirando kam zu keiner Lösung. Er schloss seine Schreibtischlade ab.

Es war gerade vor Geschäftsschluss. Der Bankdirektor staunte nicht schlecht, als Rembert Mirando die restlichen Siebzigtausend von seinem Konto abheben wollte, einfach so, in bar, und das Geld in einem schwarzen Kunstlederkoffer verstaute, den er wohlweislich mitgebracht hatte. Nachdem dieser sich mit dem Geld im Koffer freundlich verabschiedet hatte, eilte der Direktor in sein Büro, um den Bürgermeister anzurufen. Aber es war schon nach vier, und niemand mehr im Gemeindeamt. Der Bürgermeister hatte bereits sein Handy abgeschaltet. Der Bankdirektor schrieb ihm eine SMS, in der Hoffnung, dieser würde sofort zurückrufen, wenn er sie gelesen hatte.
Tags darauf überbrachte der Bote einer privaten Geld-Zustellfirma hundertfünfzigtausend Euro, ließ sich die Übergabe vom mehr als erstaunten Bankdirektor mit dem Hinweis bestätigen, die Summe auf das Konto der Gemeindekasse zu verbuchen und fügte hinzu, er dürfe den Absender aus Gründen des Datenschutzes nicht nennen, punktum! Ja, geht denn das?

An diesem Tag saß Rembert Mirando wie immer in seinem Büro. Es war der Tag, an dem er selbst Parteienverkehr abzuwickeln hatte. Die Warteschlange vor seiner Türe hielt sich in Grenzen. Die Leute, die er rascher als sonst abgefertigt hatte, tuschelten hinter vorgehaltener Hand darüber, dass er ihre Angelegenheiten diesmal zumeist wortlos erledigt hätte, ohne den geringsten, sonst üblichen Zynismus, ohne jegliches cholerisches Getue, wenn einmal ein Papier fehlte, und ohne auch nur den leisesten Anflug eines unanständigen Witzes. Ja, manche hätten sogar ein leises Lächeln auf seinen Lippen bemerkt.
Am gleichen Tag wollten auch einige Dorfbewohner einen Rettungswagen mit Blaulicht und Folgetonhorn zur Villa der Escortins hochfahren gesehen haben, und tags darauf stand im Zwicklingsauer Tagblatt (davon wusste man nichts in Hintertupfing) zu lesen, dass der bekannte Bauunternehmer Denis Escortin einem Schlaganfall erlegen wäre. Die Beerdigung würde am Freitag um vierzehn Uhr am hiesigen Friedhof stattfinden. Mit zahlreichen Trauergästen sei zu rechnen.

Norbert Johannes Prenner

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Die Krise 3 – Der Deal

Wer den Ort kannte, Zwicklingsau oder Hintertupfing, das blieb sich gleich, Kaffs wie diese gleichen einander wie ein Ei dem anderen, mochte unschwer feststellen, wie sich in den letzten Jahren eine zunehmende Rechtslastigkeit und Ausländerfeindlichkeit zu etablieren begonnen hatte. Man zeigte sich ängstlich gegenüber den wenigen muslimischen Gemeindearbeitern und gewissen unberechenbaren Einflüssen von außen.
In der Kommunalpolitik transformierten notwendige Entscheidungen oftmals zugunsten schwammiger Unentschlossenheit. Im Zweifel saß man Probleme eben aus.
Gesetzmäßigkeiten einer Soap-Opera hielten Einzug in viele Bereiche des politischen und alltäglichen Lebens. Die Grundhaltung blieb ernst. Seltene Scherze galten mitunter als rettender Ausbruch allgemeiner Bedrücktheit, häufig bemühtes geistiges Relikt aus dem Reich des Unbewussten.
Man versuchte damit, Konflikte zu verkleinern und lächerlich zu machen, um sie mit Hilfe der Zeit aus dem Gedächtnis bewusster Wahrnehmung zu drängen. Nicht zuletzt erzeugten sie nebenher einen gewissen Lustgewinn. Auf diese Weise konnte man sich auch leichter über seine eigene dunkle Vergangenheit hinwegsetzen. Man wurde dadurch sozusagen unverletzlich, in gewisser Weise auch für einen Augenblick zum Gewinner, wenn man auch sonst eine Niete war. Und wenn dann gelacht wurde, widerfuhr einem eine Art Seelentrost, über den man für einen Moment lang die Tatsache vergessen konnte, in was für einer beschissenen kleinen Welt man eigentlich lebte.

Vor allem aber durfte man hier eines nicht, nämlich leidenschaftlich und mit Hirn politisieren. Diese Tatsache war Rembert Mirando bekannt, ebenso wie ihm auch bewusst war, dass seine berufliche Doppelaktion dem Neid der Bürgerinnen und Bürger in diesem kleinen Ort ausreichend Nahrung geben würde. Aber er würde sich nicht darum kümmern, hatte er beschlossen, obwohl der Gemeinderat der Meinung war, dass Doppeleinkommen, egal welcher Art, in Krisenzeiten für den sozialen Frieden des Ortes längerfristig nicht zuträglich sein würden. Aber was für den Bürgermeister recht und billig war, schließlich saß dieser in zahllosen Aufsichtsräten und hatte mehr als vier Einkommen, sollte es doch immerhin auch für ihn sein, denn er hatte ja bloß zwei.

Ein Gespräch Rembert Mirandos mit dem Bürgermeister war relativ glimpflich, wenn auch nicht ohne dessen gewohnte Cholerik verlaufen. Wie weit er mit Escortin sei, wollte dieser wissen und wann man mit dem Geld rechnen könne? Mirando musste die ganze Zeit über an Anica Escortin denken und daran, was letzte Nacht zwischen ihr und ihm passiert war. Das stärkte ihm den Rücken, indem er den Bürgermeister zunächst ein wenig zappeln ließ, ehe er ihm eine Antwort auf seine Frage gab, dass es eben noch ein wenig Diplomatie erfordern würde, bis es so weit wäre, die Sache aber kurz vor dem Abschluss stünde.

Ob er sich nicht vorstellen könne, dass es pressierte, fragte ihn der Bürgermeister. Schließlich ginge es derzeit um jeden Cent und vor allen Dingen auch um seine Karriere, Remberts Karriere, fügte er hinzu, wenn dieser jemals Mandatar werden wolle. Niemand in der Gemeinde könne einsehen, warum man noch mehr Schulden machen solle, um eine Krise zu bekämpfen. Man müsse die Bautätigkeit ankurbeln, und zwar jetzt, wo die Auftragsvergabe erleichtert werde und die Grenzen für die freie Vergabe von Bau- und Infrastrukturaufträgen angehoben würden.
Und man müsse die Arbeitslosen endlich aus den Wirtshäusern und Deutschkursen holen. Und schließlich müsse man den einzigen Autohändler im Ort unterstützen. Daher bräuchte die Partei schließlich einen Haufen Geld, um das alles umzusetzen. Und das würde ohne einen Zuschuss so nicht gehen. Und dafür wäre Escortin eben unentbehrlich.
Rembert hob den Kopf. Den Autohändler?, fragte er. Natürlich, oder ob er wolle, dass der Betrieb zusperren solle? Rembert schüttelte den Kopf. Er, der Ortschef, könne schließlich nichts dafür, dass niemand ein neues Auto kaufe. Man könne es in Zeiten wie diesen auch niemandem übel nehmen, sein sauer verdientes Geld in ein Auto zu stecken, nicht wahr? Das sah auch Rembert ein. Er fürchte, dass niemand so recht wisse, was derzeit die richtige Wirtschaftspolitik sei, sagte dieser. Ein selten kluger Satz. Da habe er auch wieder Recht, bestätigte der Bürgermeister.

Aber wenn man schon den Autohändler unterstütze, warum nicht auch den einzigen Metzger, dem jetzt das Aus drohe, wo doch im Ort erst vor Kurzem drei Supermärkte eröffnet hatten, die so zentral lagen, dass sie von allen Bewohnern zu Fuß in der gleichen kurzen Zeit zu erreichen waren.
Und Rembert dachte an die entzückende Tochter des Metzgers, die ihn immer so freundlich bediente, auch wenn er bloß rasch nach einer Wurstsemmel verlangt hatte. Erfreuen würde man sich an ihrem Anblick wohl noch dürfen, nicht mehr. Schließlich war er verheiratet und seine Gattin im Ort wohlangesehen, nicht nur als Pädagogin. Aber die Tochter des Metzgers legte ihm auch immer, wenn er darum gebeten hatte, gerne einen Kranz Blutwurst zurück, wenn frisch geschlachtet worden war. Und dieses Privileg hatte nicht ein jeder.
Und wenn er ihr einen Witz erzählte, meist einen unanständigen, dann lachte sie ganz besonders laut und das gefiel Rembert Mirando sehr und hob sein Selbstwertgefühl. Vielleicht konnte er ja eines Tages doch noch geheim bei ihr landen? Wer konnte es wissen? Es würde ja niemand erfahren. Wenn er schon zwei Jobs hätte, warum nicht auch zwei Frauen? Alle VIPs lebten so, dachte Mirando insgeheim.

Wenn er den Metzger unterstützte, schwächte er die Fleischhändler in den Supermärkten, entgegnete der Bürgermeister heftig, wobei er im Gesicht rot anlief, als er an die hohen Schmiergelder dachte, die er damals von den Eigentümern erhalten hatte, um die geeigneten Gemeindegründe für die Flächenwidmung zu organisieren.

Dass der Autohändler im Ort bliebe, hätte Symbolcharakter, sagte er dann. An dem Zustand, wie schlecht oder gut es diesem ginge, könne die Bevölkerung die Gesundheit der heimischen Wirtschaft ablesen und würde weniger hysterisch reagieren, wenn schon der eine oder andere zusperren müsse, was ja auch bereits der Fall war. Es bliebe ihnen gar nichts anderes übrig, als so wie bisher weiterzuwursteln, das sei ihm doch klar, sagte er, und sah Mirando prüfend an. Selbstverständlich, bestätigte dieser, konnte er doch nicht anderer Meinung sein als sein Dienstgeber.

Und was er ihm schon längst sagen wollte, ganz nebenbei, dass Frauen, in der Wirtschaft oder gar Politik, zu schade wären für so einen Job. Der Bürgermeister grinste, als er das sagte. Und Mirando solle sich das merken. Führungspositionen wären ganz einfach nicht für Frauen geschaffen. Im Übrigen würde er ihm verzeihen, dass er damals Fräulein Mileva so vehement für sein eigenes Büro begehrt hatte. Der wahre Grund, warum er sich anfangs so sehr gegen diese Veränderung im Gemeindeamt ausgesprochen hatte, sei der gewesen, dass er sie gerne für sich selbst beansprucht hätte, ihres Äußeren wegen, betonte er und grinste.
Niemand würde das besser verstehen als er, meinte Mirando rasch, und er dachte an die stets leicht geöffneten Schenkel Charlotte Milevas unter ihrem Schreibtisch, obwohl man wegen ihrer stärkeren Oberschenkel eben sonst nichts zu sehen bekam. Nicht einmal die Farbe ihrer Höschen hatte er bisher erkennen können.

Damit schien das Gespräch zwischen Mirando und dem Bürgermeister beendet. Bevor dieser jedoch gehen wollte, fragte ihn der Ortschef plötzlich, ob er auch zu denen gehörte, die sich gegen eine Adaptierung des alten Gutshofes für die Sozialfälle des Ortes aussprechen werde? Gegen das Projekt gäbe es ja bereits massiven Widerstand seitens der Bevölkerung.

Mirando überlegte eine Weile. Bei so einer Frage hieß es vorsichtig sein, weil man nie wissen konnte, auf welcher Seite man sich befand, wenn man einmal seine Meinung gesagt hatte. Daher richtete er eine Gegenfrage an den Bürgermeister, ob dieser glaube, was sinnvoller sei, nämlich die ortsbekannten Alkoholiker jede Nacht aufsammeln zu lassen, oder sie sozusagen in sicherem Gewahrsam zu wissen? Und dafür wäre der Gutshof nicht nur wegen seiner strategischen Lage, er befand sich gegenüber der hiesigen Polizeistation, sondern auch wegen der geeigneten Bausubstanz ein echt großartiger Wurf. Der Bürgermeister hustete vernehmlich, gab sich aber mit einem kurzen Nicken zufrieden, ohne weitere Worte darüber zu verlieren.

In der Stadt hätten sie ganz andere Probleme, nutzte Mirando rasch die Gelegenheit, sich beim Bürgermeister Respekt für sein Wissen zu verschaffen. Was wären die paar Trunkenbolde und Inzüchtler hier schon gegen die Radler-Rowdys, die rücksichtslosen Autofahrer und Fußgänger, die stets ohne links und rechts zu schauen, plötzlich die Fahrbahnen unsicher machten? Gott sei Dank habe man hier keine U-Bahn und damit auch nicht die ganze Beschwerdeflut wegen des verbotenen Verzehrs stinkender Kebabs oder Pizzas und ständigem Handygequatsche im Personenverkehr. Und die Horden undisziplinierter Jugendlicher, die obendrein noch dazu die Füße auf den Sitzbänken hätten! So weit wäre man hier noch lange nicht und im Übrigen würde es hier nie so weit kommen.
Der Bürgermeister aber sagte nur, ja ja ja und das wäre alles für heute. Rembert hatte verstanden und verabschiedete sich.

An einem dieser zahllosen grauen Morgen, welche sich seit vergangenem Oktober beharrlich weigerten, um keinen Preis auch nur einem einzigen, wenn auch bloß zwielichtigen Sonnentag zu weichen, machte sich Rembert Mirando daran, einen unaufschiebbaren Termin mit Denis Escortin in dessen unaufhörlich florierendem Imperium wahrzunehmen. Mirando fürchtete diesen Tag, seit ihn der Bürgermeister eigens für ihn erfunden zu haben schien.
Vor allem aber fürchtete er, mit seinem Angebot bei Escortin abzublitzen, trotz seiner positiven Andeutungen damals bei der Vernissage. Und dies wäre sein eigenes politisches Ende gewesen. Jedoch so leicht gab er sich nicht geschlagen. Hatte ihm nicht dessen Gattin Anica nach einer Nacht voller Freudenspenden auf den Kopf zugesagt, sie werde die Sache mit ihrem Hasen schon für ihn einfädeln?
Schließlich hatten sie seine treuherzigen Blicke nicht kalt gelassen, als er ihrem blaugrünen Stahlblick begegnet war und ihr zartrosa Lippenstift silbern glänzende Spuren auf seinen Wangen hinterlassen hatte, wie sie Schnecken zu machen pflegten, wenn sie über die Gräser glitten.
Anica Escortin, eine Frau, die Männer um den Finger wickeln konnte wie ihren Seidenschal, oder wie Spinnen, die geschickt mit ihrem Faden zu hantieren vermochten, freilich in der Absicht, irgendwann auch zu töten. Und ihr Gatte bemerkte nichts. Vielleicht wollte er auch gar nichts bemerken, weil er klüger war als andere dachten?

Rembert parkte seinen Kleinwagen neben Escortins schwarzer, überdimensionaler Limousine. Allein die Höhe der Reifen dieses Wagens reichte ihm bis über die Knie. Als er ausgestiegen war, fühlte er sich plötzlich genauso klein und unwichtig wie sein eigenes Fahrzeug. Die Knie begannen ihm zu zittern, die Kehle trocknete aus, die Krawatte würgte ihn, die neuen Schuhe, die er nur zu besonderen Anlässen trug, drückten wie verrückt.
Aber man konnte nichts ändern und das verfluchte Schicksal musste seinen verdammten Lauf nehmen. Unsicher stieg er die Treppen zum Eingang der Luxusvilla empor. Dort fasste er sich für einen Moment lang, um kurz und heftig durchzuatmen, ehe er den messingenen Knopf der Klingel betätigte. Nicht zu lang, aber auch nicht zu kurz. Zu lang wäre schlecht, weil dies Penetranz signalisieren könnte.
Escortin neigte zu cholerischen Gefühlsausbrüchen, ähnlich wie der Bürgermeister. Und beide hatten dieselben blutroten Köpfe. Zu kurz wäre ebenso schlecht, weil sich dahinter zu viel Respekt verbergen könnte. Also galt es, eine Art Mitteldruck zu finden. Bei einer unbekannten Klingel gar nicht so leicht. Mirando war ja gelernter Musiker. Jedes Klavier reagierte anders. Warum nicht auch jede Klingel?
Der Türöffner schnarrte. Doch Escortin selbst öffnete ihm nicht. Die Türe ging von ganz alleine auf. Kein gutes Zeichen, dachte Mirando. Er trat ein und sah sich vorsichtig um. Er möge doch weiterkommen, donnerte Escortin plötzlich von irgendeinem Zimmer heraus. Mirando nahm seinen ganzen Mut zusammen. Da erschien der Hausherr höchstpersönlich im Türrahmen eines kleinen Seitenraumes. Was für eine Erscheinung! Der Mann musste gut und gern geschätzte einhundertfünzig Kilo wiegen, durchfuhr es Mirando. Es gab eine Brückenwaage im Ort, durchfuhr es ihn, auf der man die Stiere wog, ehe sie…

Da wäre er also, meinte Mirando und reichte Escortin die Hand.
Ja ja ja, es wäre schon gut und hier herein möchte er kommen und sich setzen. Mirando folgte wie ein Hund dem Herrn. Platz, sagte Escortin. Oder hatte Rembert das „Bitte-nehmen-Sie“ überhört? Es ging alles so schnell. Überbreite Ledergarnitur. An den Wänden geschmacklose nichtssagende Ölgemälde unbekannter Meister.
Wasser oder was anderes, fragte Escortin. Gar nichts, danke. Mirando hatte seine kleine schwarze Aktenmappe geöffnet. Der übertriebene Schwung seiner Bewegung, der Entschlossenheit mimen sollte, war zu heftig ausgefallen, sodass die darin befindlichen vorbereiteten Papiere herausgerutscht waren und nun verstreut vor Escortins Schreibtisch lagen. Dieser verzog bloß den Mund, sagte aber nichts.
Mirando sank auf beide Knie. In dieser Stellung las er die Blätter rasch auf, während Escortin kopfschüttelnd auf ihn herabblickte und Mirando von unten zu ihm hoch.
Alles war bloß eine Frage der Fallhöhe, wie immer im Leben.

Escortin wurde ungeduldig. Man solle endlich zur Sache kommen, meinte er. Der Bürgermeister beabsichtige, die Bautätigkeit anzuregen. Das sollte er wirklich tun, grinste Escortin, indem er ihm das Grundstück oben auf der Wasserwiese überlassen möge. Über die Auftragsvergabe für die Bebauung desselben brauche er sich dann keine Sorge mehr zu machen, dafür würde er selbst sorgen, lachte Escortin verschleimt und kehlig.
Eine Zigarre wurde fällig. Der Qualm, den Escortin beim Anzünden verursachte, ließ Mirando für Escortin beinahe unsichtbar werden. Jedoch genau diese Botschaft sollte Rembert übermitteln. Also zückte er eines der Papiere und hob es siegessicher empor, damit fächelnd, nicht zuletzt auch, um die Rauchwolke vor ihm etwas zu lichten.
Er solle ihm das Papier zeigen, befahl Escortin. Rembert reichte es artig über den Tisch. Escortin nahm es entgegen und glotzte durch seine Lesebrille, die wie ein verirrtes Insekt auf dessen Nasenspitze saß, starr auf den Text. Er atmete schwer, während er ebenso damit beschäftigt war, den sich ständig bildenden Rauch aus seinem Mund loszuwerden, in dem die Zigarre wie ein Fremdkörper steckte. Beinahe wie eine Art Bombe, mit einer unsichtbaren Zündschnur versehen, die gloste, umschlossen von seinen zerklüfteten groben Lippen und Gefahr im Verzug signalisierte. Wenn er an ihr zog, klappten die Wangen wie automatisch nach innen und wölbten sich danach wieder zu ihrem Normalzustand auf. Immer ein und aus, wie die Kontraktionen einer Seegurke auf dem Meeresgrund.
Schön schön, grunzte Escortin schließlich. Geben Sie mir die anderen Sachen! Was ist mit dem Geld? Wohin soll ich überweisen?, fragte er etwas mürrisch.
Rembert Mirando erhob sich affenartig aus seinem Folterstuhl und fuhr mit seinem Zeigefinger auf das kleinere Blatt, auf dem die Kontonummer der Gemeindekasse angegeben war. Auf dieses Konto möge er die geschätzte Summe von … äh, Rembert räusperte sich, er wagte den Betrag nicht auszusprechen, überweisen, wenn es Recht wäre.

Es wäre schon gut, und der Betrag würde heute noch überwiesen, erwiderte der zentnerschwere Unternehmer und setzte seine Unterschrift kratzend unter die bezeichnete Stelle, auf die Remberts zittriger spitzer Finger gewiesen hatte, der schon ganz rot war vom Druck, den er damit auf das Blatt Papier am Schreibtisch ausgeübt hatte. Doch noch ehe Escortin zu schreiben begonnen hatte, nahm er ihn rasch von dort weg, um nur ja nicht im Wege zu sein auf der wunderbaren Reise zu seinem eigenen fulminanten Sieg.
Das wäre ja ganz einfach gegangen, atmete Mirando erleichtert auf und nahm das nun unterzeichnete Versprechen, der Partei eine außerordentliche Zuwendung in der Höhe von huntertfünfzigtausend Euro zu gewähren, rasch an sich, welches er sogleich in seine Aktentasche schob, in der Angst, Escortin könnte es sich doch noch anders überlegen.

So, junger Freund, das hätten wir erledigt, rieb sich Escortin die fetten Hände. Ob sonst noch was wäre? Aber es war nichts und Rembert Mirando bedankte sich im Namen der Gemeinde für die überaus gütige Geste und das Wohlwollen, welches Escortin nun der Partei wie auch der Gemeinde entgegengebracht hätte.
Eine Lüge! Jene merkwürdige Form der Höflichkeit des ewigen Auf und Ab zwischen dem, was man sagen muss und eigentlich nicht sagen darf.
Mirando dachte, wie froh er sei, dass der alte Sack das Geld herausgerückt hatte und dass er endlich verschwinden konnte, denn jetzt stünde seiner eigenen Karriere als politischer Mandatar nichts mehr im Wege.
Der Bürgermeister würde ihn upgraden müssen, Fräulein Mileva dürfte nicht mehr sein Zimmer betreten, ohne vorher anzuklopfen, und wenn man ihn sprechen wollte, gäbe es eine genaue Reihung derjenigen, die vorgelassen werden wollten.
Und er würde sie warten lassen. Und wie er sie alle würde warten lassen! Alle. Dieses Gefühl kostete er jetzt schon aus. Rembert Mirando träumte im Wachen, dass sich von nun an sein ganzes Leben komplett verändern würde.

Als er bei seinem Wagen angelangt war und ihn kurz betrachtete, kam ihm dieser eigentlich gar nicht mehr so klein vor. Den Kopf in den Nacken geworfen setzte er sich ans Steuer. Er wandte seinen Blick nach rechts, zum Seitenfenster, wo das gesamte Sichtfeld aus dem linken Vorderrad von Escortins Limousine bestand. Mirando startete rasch und fuhr den Kiesweg hinab.

Die Parteispende Denis Escortins hatte zur Folge, dass sich die Spirale um die Aktivitäten zur Erschließung eines neu umzuwidmenden Grundstückes an einer Stelle, die für Normalsterbliche weder zu erwerben noch zur Erlangung der Baugenehmigung möglich gewesen wäre, zu drehen begann. Ablehnende Gutachten verschwanden in Schubladen, aus denen sie nie mehr auftauchten. Interventionen von Strom- und Gasgesellschaften wurden so hingebogen, dass man darauf verwiesen hatte, in näherer Zukunft dort ohnehin eine gemeinnützige Genossenschaftssiedlung errichten zu wollen, um so die weit außerhalb des Ortes anzulegenden Zuleitungen zu rechtfertigen.
Der Bürgermeister höchstpersönlich ordnete an, verfügte, machte denjenigen, die Einwände vorbrachten, Versprechungen, die er am Ende nicht hielt und beauftragte Mirando, obwohl jener bloß in der Kulturabteilung saß, mit der Aufgabe, sich über die Fortschritte um die Erschließung von Escortins neuem Grundstück zu erkundigen und ihn auf dem Laufenden zu halten. Mirando wuchs zu ungeahnter Größe. Jetzt könnte er auch seiner Gattin einmal Paroli bieten, die immer so wichtigtat und in gewissem Sinne auch wichtiger war als er.

Rembert Mirando war in seinem Element. Er hatte sich neu eingekleidet. Selbstverständlich hielt er Schwarz für die Repräsentation seiner Position angemessen. So uniformiert stolzierte er aufrechten Ganges, nicht zu hastig, mit entsprechender Würde durch den Ort und die Menge der KirchenbankreserviererInnen bemerkte allesamt, dass er nun etwas darstellen mochte und grüßte ihn von da an ehrfürchtiger als vorher.
Man fand bald heraus, dass man über ihn, wo er doch so gute Beziehungen zum Bürgermeister hatte, einiges erreichen konnte, was so nicht erreichbar gewesen wäre. Etwa die Genehmigung eines illegalen Zubaus, oder die Zulassung eines Brunnens für die WC-Spülung, um der hohen Wasserrechnung zu entgehen.
Und immer brachte man etwas mit, wenn man zu Mirando kam. Außer dem üblichen Sekt oder teureren Rotwein auch Rabattscheine verschiedener Betriebe oder Supermärkte, Eintrittskarten und manchmal auch Bares. Rembert Mirando ließ alles unauffällig in eine Schublade seines Schreibtisches gleiten, die versperrbar war. Schließlich konnte man nicht wissen, wer hier hereinkam, wenn er nicht da war, abgesehen vom Reinigungspersonal, welches von einer Firma in der Stadt gestellt wurde und ausschließlich aus Südost-Migrantinnen bestand.
Alles in allem Vorgänge, die überall gang und gäbe waren und zu denen auch anderswo geschwiegen und denen so der Anschein des Selbstverständlichen und der Respektabilität verliehen wurde, was zur Folge hatte, dass das Sensorium zur Wahrnehmung derartiger getarnter Gegengeschäfte nicht gerade sensibilisiert, sondern eher abgenutzt wurde. Die wenigen Prominenten im Ort, allen voran Denis Escortin samt Gattin, waren ohnehin nie um die eine oder andere Intervention verlegen, wenn es aufgrund einer Verkehrsstrafe oder eines sonstigen Delikts galt, einen Erlass oder eine Herabsetzung ihrer Strafe zu bewirken, obwohl man über die kleine finanzielle Einbuße sicherlich erhaben gewesen wäre. Es war ganz einfach die reine Lust am Prominentsein, die sie dazu bewog, Einspruch zu erheben, um sich damit noch deutlicher vom Pöbel abzuheben, der Sanktionen widerspruchslos hinnehmen musste.

Fräulein Mileva, Mirandos Sekretärin, hatte von nun an noch mehr zu tun als bisher und war darüber gar nicht glücklich. Ja, sie überlegte sogar manchmal, ob sie nicht um Teilzeit ansuchen oder gar den Job wechseln sollte. Mirando arbeitete nur noch selten in seinem Büro und delegierte so ziemlich alles an seine Sekretärin. Er war nicht erreichbar, kam und ging wann er wollte, und wenn er da war, erzählte er wie immer unanständige frauenfeindliche Witze, zu denen er meistens selber am lautesten lachte. Die Kolleginnen und Kollegen tuschelten über ihn, dass er sich in unbeobachteten Momenten angeblich seine Witze selbst erzählte und danach lauthals darüber lachte.

Als ihn der Abgeordnete Meier einmal auf die aktuelle Krise angesprochen hatte, soll Mirando gesagt haben, es sei alles halb so schlimm. Gewiss, man spräche so gemeinhin von einer solchen, jedoch deute alles darauf hin, dass man vor einer großen Herausforderung stünde und diese nutzen müsse. Er, Rembert Mirando, sehe darin überdies seine persönliche große Chance als politischer Mandatar kommen und begrüße die Krise, vor der man nicht verharren solle wie das Kaninchen vor der Schlange. Man müsse nach vorne sehen, betonte er, und dürfe sich nicht an ihrem üblen Beigeschmack stoßen, den sie mitunter zu haben schien, so, als ob einem die Hände gebunden wären. Das wäre glatter Defätismus.
Am Wirtschaftshorizont könne man bereits Anzeichen erkennen, dass es bald wieder aufwärts ginge. Bis dahin würde man der heimischen Wirtschaft unter die Arme greifen, und dabei grinste er bis zu den Ohren, weil er an Escortin dachte und daran, dass er die Sache mit dessen Grundstück auch ein wenig für sich werde nützen können, auch wenn er noch nicht genau wusste, wie. Und nach einer kleinen Pause, die er dem Abgeordneten gönnte, der bereits tief bereut hatte, Mirando jemals eine Frage gestellt zu haben, fuhr er fort, dass man nicht sinnlose Strukturen unterstützen würde, sondern punktgenaue Strategien einsetzen werde. Zack! Das hatte gesessen.

Der Abgeordnete Meier sei in Eile. Eine Frage wolle er trotzdem noch beantwortet wissen, nämlich die, ob man weiter Schulden machen werde, wo doch strenger Sparkurs angesagt sei? Ja, man werde sehr wohl Schulden machen müssen, sagte Mirando. Das machten die Privaten ja auch. Und überdies würde die Wirtschaft sonst den Bach hinuntergehen. Jedoch unterstütze man nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern nur dort, wo es sich lohnen, wo es nachhaltig sein würde, wenn er wisse, was er meine. Und Rembert lachte abermals, so ganz für sich.
Der Abgeordnete nickte bloß. Sie sehen also keine Krise, alles im Griff? Rembert baute sich vor Meier auf. Der Abgeordnete sagte nichts. Was denn mit den Arbeitslosen geschehe?, fragte er nach einer Nachdenkpause. Er hätte von einem Sozialprojekt gehört hier im Ort.
Keine Sorge, sie ermöglichten auch das Unmögliche, antwortete Mirando flink. Sie investierten in alle Bereiche gleichzeitig, müsse er wissen, Arbeitsplätze, Wirtschaft, Infrastruktur. Davon könne man anderswo nur träumen. Der Abgeordnete schien beeindruckt. Mirando dachte an den Taktstock. Wieder einmal schwang er ihn hoch über den Köpfen der staunenden Zuhörer, Fräulein Milevas und dem des Abgeordneten Meier. Ob der Finanzchef da mitspielte, wollte Meier wissen? Das verstünde sich von selbst, erwiderte Mirando selbstbewusst, schließlich sei es ja nicht dessen eigenes Geld, und er lachte zynisch, als er dies gesagt hatte.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15053

Die Krise 2 – Der Bürokrat

Ja, in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt. Vielleicht, könnte sein, meinte der Bürgermeister. Jedenfalls müsste man schon froh sein, wenn einmal etwas in Farbe wäre, meinte der Bürgermeister zu Stefanie Raymundo, die ihm am nächsten stand, und das müsse man der Künstlerin zugutehalten. Raymundo hob erstaunt ihren Kopf, als wäre sie von dieser Frage plötzlich überrascht worden. Mirando packte die Gelegenheit sofort beim Schopf. Schließlich war man hier in Zwicklingsau und nicht irgendwo! Das musste man doch klären. Seht doch, wie sie gleich erschrocken sei! Wer wüsste schon, woran sie gerade gedacht hätte?, sagte er. Und er, Mirando, setzte sein unverschämtestes Grinsen auf, das er in seinem Repertoire hatte, an welchem unschwer abzulesen war, woran er eben gedacht hatte.

Ob er sie zum Buffet begleiten dürfe?, nutzte Mirando sofort die kurze Ohnmacht Stefanie Raymundos aus, die, völlig perplex über dessen mehrdeutige Anspielung, kein Wort herausbrachte. Beinahe ferngelenkt willigte sie doch ein und ärgerte sich gleich darauf maßlos darüber, wie blöd sie eigentlich sei, diesem Idioten auch noch zu folgen. Sie ließen den Bürgermeister und Escortin ganz einfach stehen und gingen zum Buffet hinüber. Die Front der Gattinnen hatte sich vorübergehend in ein lockeres Gemenge aufgelöst, welches gut verteilt im Raum herumstand und vor allem den beiden keine Beachtung schenkte. Und das war vorläufig auch gut so. Mirando bat die Buffetkraft um zwei Gläser Sekt, schließlich war alles hier gratis. Ob sie Orangensaft dazu möchte, fragte er Stefanie. Ja bitte, aber nicht zu viel. Rembert Mirando goss etwas gepressten Orangensaft aus der gläsernen Karaffe in ihr Glas. Sie sahen sich in die Augen. Man prostete sich zu. Die Gläser stießen klirrend zusammen. So übel war er vielleicht gar nicht, durchfuhr es Stefanie, bis auf seine blöden Witze vielleicht, na, und das dämlich Grinsen. Aber sonst? Vielleicht ließe sie sich eines Tages zu einer Dummheit überreden, wer konnte es wissen? Schließlich war Rembert Mirando ein attraktiver Mann, und begehrenswert, zumindest wenn er den Mund hielt.
Kurze Zeit später wandelten Stefanie und Rembert mit ihren Sektgläsern interessiert von Bild zu Bild. Als sie an der Künstlerin Eva Vanin vorbeikamen, löste sich diese vom Kreise ihrer Bewunderer und streifte wie zufällig mit ihrem Handrücken der rechten Hand an jenen der linken Stefanies. Niemand der Anwesenden könnte etwas bemerkt haben, so zart, so unauffällig, so zufällig war dies geschehen. Wer denn der schmucke Amigo an ihrer Seite wäre?, fragte Eva, deren Tonfall man beinahe etwas Zynismus entnehmen konnte, neugierig. Oder sollte man Eifersucht sagen? Stefanie zeigte ihr makelloses Gebiss. Es sollte ein Lächeln darstellen. Der hier hieße Rembert Mirando. Ein aufdringlicher Bursche, wie sie nach kurzer Überprüfung sofort festgestellt habe. Solcher Menschen könne man sich in Gesellschaft unschwer rasch entledigen, ohne dabei nicht gleich einen Skandal nach sich zu ziehen. Aber Eva sollte sich keine Sorgen machen, wenn sie ginge, bliebe er noch hier! Diese Aussage schien die Künstlerin zu beruhigen, denn sie versuchte sich in einem gütigen Lächeln, hinter dem sich gelbe Eifersucht verborgen hielt.
Stefanie Raymundo ließ sie keinen Augenblick unbeobachtet, als sie sagte, man sollte vom Staat ein Konjunkturprojekt für Künstler einfordern, etwa in der Höhe von einigen Hunderttausend Euro und endlich von den Unsinnigkeiten des Deficit Spending für Autohäuser und Verkehrswege absehen. Etwas mehr Kultur hätte der Menschheit noch nie geschadet. Daraufhin meinte Mirando, er verstünde, dass man heutzutage von der Kunst allein nicht leben könne. Andererseits jedoch führte, wie man weiß, eine angemessene Enthaltsamkeit bei Künstlern zu einem gewissen Zweck. Dann fügte er noch rasch hinzu, sie wisse doch, nur ein hungriger Künstler sei ein guter Künstler. Stefanie verdrehte höchst gelangweilt ihre Augen und versuchte, Eva Vanin in Schutz vor Mirandos bösem Mundwerk zu nehmen, indem sie meinte, Gott sei Dank gäbe es zwischen den unzähligen Langweilern in diesem Ort auch solche, die sich nicht bloß mit Fernsehen und Fußball zufriedengeben würden. Eva Vanin, zu Stefanie gewandt, flüsterte, sie stünde zwar immer noch unter ihrem eigenen Geburtsschock, und es wäre überhaupt ein Wunder gewesen, diesen überlebt zu haben, aber der Kerl hier wäre geeignet, sie erneut an die Gräuel des ungewollt In-die-Welt-geworfen-Seins zu erinnern.
Rembert Mirando lächelte sicherheitshalber trotzdem, obwohl er etwas verunsichert war und fügte hinzu, dass man der Wahrheit ins Auge sehen müsse und den Tod nicht verdrängen dürfe. Dies würde helfen, bewusster zu leben. Und er bewundere trotz allem ihre Streich- und Pinselarbeiten, als er Eva Vanin tief in die Augen blickte, um sie ein wenig aus der Reserve zu locken. Allerdings nur ihm, als Einzigem, war der zarte Berührungsaustausch zwischen ihr und Stefanie vorhin, trotz aller Vorsichtsmaßnahmen Evas, aufgefallen, als seine Blicke die beiden zufällig gestreift hatten. Zwei Lesben treffen sich, begann er plötzlich, und grinste dämlich, sagt die eine … Stefanie, die jetzt ganz nahe vor ihm stand, hob reflexartig ihr rechtes Knie in Richtung Mirandos Gemächt und traf. Dieser, kurz in leicht gebückte Haltung zusammenknickend, beendete seinen vermutlich gezielt beabsichtigten und höchstwahrscheinlich anzüglichen Scherz damit, indem er schmerzverzerrt stöhnte, sie solle sich nichts daraus machen, dieser Zustand wäre heilbar. Das hätte ihnen der Klerus neulich offiziell bestätigt. Dann lachte er nur noch gequält und verabschiedete sich in Richtung Herrentoilette, in der er für eine ganze Weile verschwunden blieb.

Stefanie schob Eva beiseite, um mit ihr kurz allein zu sein. Die Gatten hatten sich indes ein wenig zerstreut. Mochte sein, dass sie den auf ihren Häuptern lastenden Druck ihrer Gattinnen nicht länger ertrugen. Schließlich war man ja gemeinsam hierhergekommen. Es schien also angebracht, mit diesen hin und wieder auch ein paar Worte austauschen zu wollen und so trank man eben ausreichend Sekt und genoss die bereitgestellten Brötchen. Was das Buffet anlangte, war von einer Krise nichts zu bemerken. Wie überhaupt man diesen Menschen nicht ansehen konnte, dass sie auch nur im Geringsten mit einer solchen zu tun hätten. In der Krise lässt sich eine große Verunsicherung der Bevölkerung beobachten. Gängige Trends nehmen oft unerwartete Wendungen. Man beginnt, sich mehr an der Meinung von Leuten zu orientieren, von denen man glaubt, dass sie eine Ahnung haben. Und es kommt zu einem vermehrten Auftreten von Depressionen. Von alledem war hier nichts zu spüren. Vernünftigerweise hatte man sich in früheren Zeiten näher zusammengerottet, sagte man, aber heute wäre man isoliert, säße paralysiert vor der Glotze und warte auf bessere Zeiten. Auch davon war hier nichts zu bemerken.

Rembert Mirando war von der Toilette zurückgekommen und sah sich um. Stefanie und Eva standen jetzt drüben, zusammen mit dem Bürgermeister und Escortin, jenem Mann also, der hier das Geld hatte und daher auch die Macht. Und Macht bedeutete, zu wissen, was für das Land gut ist und vor allem galt hier wie auch anderswo, wer Geld hatte, schaffte an. Besonders das, was für einen selbst gut war. Aber trotzdem war Temperament gefragt. Übervorsichtige wären von vornherein verdächtig. Man müsse dynamisch, ehrgeizig und konsequent sein. Auch unbequeme Entscheidungen treffen können. Kein Intrigant sein, wissen, woran man mit jemandem war. Und so einer wollte Mirando werden. Und es war höchst an der Zeit, sich endlich an Escortin heranzumachen, ihn weichzukriegen, sodass er etwas Geld ausließe, mit dem die Partei für den kommenden Wahlkampf finanziert werden könnte. Im Laufe des Abends gewann Rembert Mirando bei Escortin nun schließlich doch etwas Boden unter den Füßen. Escortin, anfangs ein wenig brummig, aber doch stolz auf seine Position, lauschte irgendwann etwas aufmerksamer als sonst den gezielten Ausführungen des Bittstellers, als ihn dieser in einer schwer zugänglichen Nische des Ausstellungsraumes förmlich festgenagelt hatte und ihm den Ausgang verstellte.
Würde er, Escortin, sich bereit erklären, der Gemeinde einen Betrag von einhundertfünfzigtausend Euro zur Verfügung stellen, könne man über das bislang noch nicht umgewidmete Bauland, auf dem Escortin seine neue Villa zu bauen beabsichtigte, ernsthaft reden. Bauland, welches sich so ganz nebenbei in einem Natur- und Wasserschutzgebiet befand. So jedenfalls lautete der Auftrag des Bürgermeisters an Mirando. Ins Boot holen, hatte er es genannt, der Bürgermeister. Escortin kratzte sich an seiner schwitzenden Glatze und steckte sich sofort wieder eine neue Zigarre an. Es würde ihm zwar gerade jetzt sehr gut passen, meinte er, denn es gäbe bereits Pläne eines bekannten Architekten, der für ihn eben auch nur jetzt Zeit haben würde, ein Konzept zu erstellen. Und er werde sich die Sache mit der Finanzierung bis morgen Abend überlegen, aber, na ja, mal sehen. Schließlich sei dieser Betrag selbst für einen Escortin keine Kleinigkeit und es galt, so eine schwerwiegende Entscheidung sorgfältig zu überlegen. Überdies war da noch seine ehrgeizige Gattin, die längst in ein neues Haus zu ziehen gedachte und es läge an dir, Hase, hatte sie schon vor längerer Zeit geäußert, mich ganz glücklich zu machen. Da war Escortin klar geworden, dass es wahrscheinlich kein Zurück in dieser Angelegenheit mehr gab. Was sein musste, musste eben sein!

 

Auf sein heftiges Drängen hin hatte Rembert Mirando vor längerer Zeit eine Sekretärin zugeteilt bekommen. Der Bürgermeister hatte nachgegeben. Erst war Harald Rahmani für diese Tätigkeit vorgeschlagen worden. Ein stiller, junger Bürolehrling. Etwas blutarm, aber fleißig und nicht allzu klug, sodass Mirando sich als Vorgesetzter ihm gegenüber an Know-How und Wissen doch immer noch überlegen hätte fühlen können. Aber Mirando wollte partout eine weibliche Hilfskraft haben. Und er hatte sie ganz gegen den Willen des Bürgermeisters durchgesetzt, wobei er sich bereits im Geheimen der Hoffnung hingab, alle unangenehmen Arbeiten leichter an eine Frau delegieren zu können als an Rahmani, der trotz seines stillen Wesens ein wenig aufmüpfig sein konnte, wie man schon öfter aus der Kanzlei gehört hatte. Da saß sie nun, seine Sekretärin, Fräulein Charlotte Mileva. Blond, vollschlank, hätte man vor dreißig Jahren gesagt, mit aufgesetzten Fingernägeln, die beim Tippen in die Tastatur des PC vernehmlich klapperten. Sie trug stets einen kurzen Rock. Und wenn Mirandos Zimmertüre offen stand, konnte er, wenn er mit seinem Bürosessel etwas zurücksetzte, ganz leicht bis zu ihren Schenkeln hoch sehen. Mehr wäre nicht möglich gewesen, da ihre kräftigen Oberschenkel alles andere, was es sonst noch zu entdecken gegeben hätte, verdeckt hielten. Neulich, als gerade ein junger Techniker dabei war, die Jalousien im Büro zu reparieren, machte Mirando so eine Bemerkung, dass jener aufpassen müsse, denn Fräulein Mileva hätte eine perverse Neigung jungen Männern gegenüber und er solle sie nicht von ihrer Arbeit ablenken. Aber Fräulein Mileva hielt das gar nicht für einen gelungenen Scherz. Ohne darüber zu lachen, verharrte sie tippend mit gesenktem Kopf über ihrer PC-Tastatur.

Fräulein Mileva hatte immer viel zu tun. Ihre eigentliche Aufgabe bestand primär darin, den dichten Veranstaltungskalender der Kulturabteilung zu aktualisieren, Einladungen zu schreiben, diese zu kuvertieren und mit Hunderten von Adressen aus der Adressatenkartei zu bekleben. Zwischendurch hielt sie Nagelpflege und legte zahllose Kaffeepausen ein, in denen sie manchmal mitgebrachte Cremeschnitten mit Heißhunger verspeiste. Sekundär, aber ebenso wichtig, oblag ihr die Pflicht, unangenehme Telefonanrufe an ihren Vorgesetzten Mirando abzufangen und nicht weiterzuleiten, wenn er es signalisierte.

Mirando hingegen hatte schließlich Wichtigeres zu tun, als sich mit dem gemeinen Volk herumzuschlagen. Er war für die PR verantwortlich, bastelte stunden- und tagelang an Plakaten herum, deren Schriftteile er abwechselnd vergrößerte, dann wieder verkleinerte, neu formatierte, verschob und alles wieder rückgängig machte. Zwischendurch betrachtete er sein Werk mittels Gesamtansichtstaste solange, bis es ihm angemessen schien, es auszudrucken. Dann wurde kopiert. Mirandos Zeitaufwand, dafür das geeignete Papier zu wählen, vor allem, welche Farbe wohl für das jeweilige Plakat am besten geeignet wäre, war enorm. Seiner Gattin, die Professorin am hiesigen Gymnasium war, teilte er stets mit, wie wichtig er sei und wie überfordert von der Fülle seiner Aufträge und dass er keine Zeit nebenher für nichts hätte, weder fürs Staubsaugen noch für sonst unnötige Tätigkeiten im Haushalt. Und er trug die Zeiten, die er in seinem Büro verbrachte, minutiös in sein Stundenbuch ein, um bei einer eventuellen Recherche über seine Anwesenheit allenfalls gerüstet zu sein.
Überhaupt führte er über alles Buch, was nur irgendwie mit Zahlen zu tun hatte, und sei es der Kilometerstand seines Autos, den er stets ins Tankbuch eintrug, immer dann, wenn er tankte. So füllte er bereits seit Jahren Büchlein um Büchlein mit diesen Eintragungen und dachte insgeheim daran, dieselben eines Tages drucken zu lassen, damit man ersehen konnte, was für ein pünktlicher, gewissenhafter und umsichtiger Mann er im Grunde doch sei. In dieser Zufriedenheit wähnte er sich zu Recht als einen vom Schicksal Auserwählten für das Amt eines politischen Mandatars, wie auch sein Inneres ihm bestätigte, dass man mit seiner Wahl sicherlich einen guten Griff getan hatte.
Und er war auch Musiker, aus tiefster Überzeugung, und hatte es als Klarinettist zumindest in die Blasmusik des Ortes geschafft, wenn es schon zur Philharmonie nicht gereicht hatte, und er war Dirigent, wenn man ihn dirigieren ließ. Erst kürzlich durfte er zum Dirigentenstab greifen, als die neue Kulturhalle eingeweiht worden war. Zuvor hatte ihm der Bürgermeister gestattet, ein paar Worte an die zahlreichen Anwesenden zu richten, was er dazu benutzt hatte, den sich darunter auch befindenden Bediensteten des hiesigen Gemeindeamtes budgetäre Zugeständnisse für ihre Ressorts zu machen. Mirando hatte in irgendeiner Sitzung der letzten Wochen nicht aufgepasst und überhört, dass in dieser Angelegenheit genau das Gegenteil eintreffen würde, nämlich dass man Posten streichen und Budgets kürzen werde.

Kurzum, die Sache war ziemlich peinlich, denn der Bürgermeister, der diesen Entschluss höchstpersönlich mitgetragen hatte, saß mit hochrotem Kopf selbst in der ersten Reihe. Er starrte abwechselnd beschämt zu Boden, dann wieder auf Mirando. Als dieser geendet hatte, eilte der oberste Musikmeister auf ihn zu, um ihn zu bitten, den nun folgenden Marsch der Stadtkapelle zu dirigieren. Und Rembert Mirando ließ sich nicht zweimal bitten. Fest entschlossen, seinen Auftritt zu einem kulturellen Erlebnis für alle hier zu machen, gab er mit hocherhobenen Händen den zackigen Auftakt. Die Musik setzte auf sein Kommando ein. Was für ein erhebender Augenblick, wenn plötzlich zweiunddreißig Menschen, darunter auch zahlreiche junge Mädchen, seinen Bewegungen Folge leisteten. Mirando genoss diesen Augenblick ganz ungemein, in dem er sich so voll und ganz in Szene zu setzen wusste, während sein Inneres nach mehr verlangte. Er wollte diesen Ort dirigieren. Warum nicht gar die ganze Welt? Ein ungemein erhebendes Gefühl bemächtigte sich seiner, nämlich jenes, als würden alle hier im Saal nach seiner Pfeife tanzen, wenn und wann er es wollte. Alle, bis auf den Bürgermeister, der ohnmächtig vor Zorn vor sich hinstarrte.

Nach seinem gelungenen Auftritt begab sich Mirando hinter die Bühne, wo der Finanzsekretär sich eben anschickte, für seine Rede nach draußen zu gehen. Ob er gut gewesen sei, fragte ihn Mirando. Doch dieser sah Mirando nur scharf an, bevor er sich entschloss, die Bühne zu betreten, um ihn rasch noch ganz diskret zu fragen, ob er denn verrückt geworden sei und wie er es wagen könne, so einen Unsinn zu verbreiten? Mit diesen Worten stieg der Finanzsekretär die Treppen zur Festbühne hinauf. Das hatten einige der Anwesenden gehört. Mirando suchte nach einem Mauseloch, in das er sich hätte verkriechen können. Aber was geschehen war, war nun einmal geschehen. Nach Beendigung dieser Veranstaltung, und nachdem ihm letztendlich auch noch der Bürgermeister den Kopf gewaschen hatte, zog sich Rembert Mirando in die heiligen Räume seiner kleinen Wohnung zurück und dachte erst einmal nach, wann seine Gattin denn wieder von der Exkursion zurückkäme, die sie mit ihrer Klasse seit mehr als einer halben Woche machte, als das Telefon läutete. Rembert klappte das Handy auf. Anica Escortin! Er erstarrte. Wo er denn geblieben sei? Und warum er so rasch entschwunden sei? Und ob er sie nicht im Saal hätte sitzen sehen, in der zweiten Reihe?

Ja, Herrgott, er hätte sie bemerken müssen! Schließlich war sie ja nicht zu übersehen. Schon wegen ihrer imposanten Erscheinung nicht und schon gar nicht wegen dieses affigen gelben Seidenschals, den sie locker um ihren fetten Hals geschlungen hatte, knallgelb! Ja, da war sie gesessen, inmitten der Loden- und Leinenensembles der übrigen Anwesenden! Ob man sich heute noch sehen würde. Rembert wand sich wie immer wurmartig, sein einziger Sport. Irgendwie hatte er heute genug von Gesellschaft und dem Posierenmüssen. Morgen wäre schließlich auch noch ein Tag. Aber Anica Escortin gab nicht auf. Gut, also, wenn es sein müsste, sie könne ja herkommen. Er hätte noch etwas Huhn im Kühlschrank und Mayonnaise. Essiggurken wären auch da.

Die Escortin warf einen Blick ins Wohnzimmer, in dem ihr Hase tief und fest vor laufendem Fernseher eingeschlafen war. Und es konnte geschehen, dass Denis Escortin in dieser Stellung dort oftmals bis zum nächsten Morgen ohne aufzuwachen verharrte. Anica Escortin nahm ihre Handtasche, steckte ein Päckchen Zigaretten ein und ließ die Autoschlüssel zu ihrem A3 in die Manteltasche gleiten. Dann eilte sie die Holztreppen hinunter. Sie überquerte den mit weißem Kies geschotterten Weg zur Doppelgarage.

Rembert Mirando hatte alle Hände voll zu tun. Es war nicht aufgeräumt, das Geschirr war nicht abgewaschen und die Toilette schon lange nicht geputzt worden. Wie denn auch, wenn er jeden Tag bis zwanzig Uhr und oft auch später im Büro oder auswärts zu tun hatte und die Frau Professor verreist war. Sie ist sicher eine verwöhnte Frau, dachte er, und er strengte sich mächtig an, in dieser kurzen Zeit alles so gut wie möglich in Ordnung zu bringen. Und kaum dass er mit dem Quickputz fertig war, läutete es auch schon unten an der Tür.

Himmelherrgott, fluchte Mirando erneut und ausführlicher, ich komme ja schon! Er öffnete. Da stand sie nun, die First Lady, mit Mantel, Hut und Seidenschal. Diesmal in Grün, aber genauso scheußlich wie der gelbe, den sie am Nachmittag in der Kulturhalle getragen hatte.

Da sind Sie ja, Sie Schlawiner, begrüßte sie ihn und drängte ihn ins Innere seiner Wohnung. Mirando hatte von Anfang an durchschaut, warum sie so rasch bei ihm aufgetaucht war und so ersparte er sich für dieses Mal die kleinen Lügen, die er für solche Fälle stets bereithielt. Vielmehr gab er ihrem Drängen eine bestimmte Richtung vor, sodass sie, scheinbar völlig unbeabsichtigt, plötzlich vor der breiten Couch im Wohnzimmer gelandet waren. Anica riss ihm förmlich die Kleider vom Leib, so wie er es mit den ihren tat. Beide fielen sie schwer auf das überbreite Lager hin, keuchend und stöhnend und nahmen sich kaum Zeit, sich völlig zu entkleiden, bis auf das Notwendigste, als es auch schon zum Äußersten gekommen war. Ihr delliger, großer weißer Hintern sauste ohne Unterlass wie wahnsinnig auf Mirando auf und nieder. Das Läuten seines Handys just zu diesem Zeitpunkt drängte irgendwie, die Sache so rasch wie möglich zu beenden.
Es mochten fünf Minuten vergangen sein, damit war der erste Akt vorbei. Schwer atmend lagen beide auf dem Rücken, so, als ob ihre letzte Stunde gekommen wäre. In Remberts Gehirn drehte sich alles wie ein Karussell. Mein Gott, wenn der alte Escortin etwas erfuhr! Wo doch jetzt die Sache mit dem Grundstück und der Finanzierung der Partei über die Bühne gehen sollte. Schon morgen war ein Termin fällig. Der Bürgermeister würde ihn fristlos hinausschmeißen, wenn der Deal nicht zustande käme! Die Escortin, immer noch nach Luft ringend, schwitzte, während ihr die Schweißperlen in kleinen Tropfen übers Gesicht liefen, den Hals hinunter, wo sie in den dunklen Tiefen ihrer rasierten Achselhöhlen versickerten. Sie verlangte nach einer Zigarette. Rembert musste eine aus ihrem Handtäschchen holen. Einen Aschenbecher auch, und Streichhölzer natürlich! Gierig sog sie den Rauch der Marlborough Light in sich hinein. Rembert war zum Schrank hinübergegangen, in dem die Hausbar integriert war und entnahm dieser eine Flasche Martini, extra trocken. Sie tranken aus flachen Cocktailgläsern. Ob er nicht noch eine Olive für sie hätte, fragte sie? Diesmal brachte er gleich das ganze Glas mit aus dem Kühlschrank. Er saß, sein Glas in der Hand, mit dem Rücken ihr zugewandt und starrte aus dem Fenster, während Anica Escortin seine Schultern ab und zu mit sanften Küssen bedeckte, aus spitzen Lippen fahle Rauchwölkchen auf seine pickelige Haut absetzend.

Nachdem Mirando nun in Sekundenschnelle fieberhaft seine Situation überdacht hatte, resümierte er, dass diese Frau zum derzeitigen Augenblick offensichtlich unentbehrlich für ihn sein würde. Wenn sie ihrem Gatten gezielt solange zusetzte, dass er die Parteispende ausspuckte, wäre sein Leben als Mandatar und Referent gerettet. Der Bürgermeister hätte keinen Grund, an seinen Fähigkeiten zu zweifeln, vergaß man die Sache neulich mit den Budgetversprechungen. Aber wer von ihnen war schon ohne Makel? Ja, es stimmte. Dieser Escortin war wohlhabend. Er hingegen eher wohl nichtshabend. Aber die kleine Summe von hundertfünfzigtausend stellte ja doch bloß einen Kratzer auf dessen Bankkonto dar und mit dieser Summe ließe sich ein Wahlkampf hier in Hintertupfing, oder wie der Ort in Wirklichkeit auch heißen mochte, organisieren, der seinesgleichen würde suchen müssen.

Dann kriegte Escortin sein aufgeschlossenes Grundstück und er selber würde zusätzlich zu seinem Beamtengehalt eine Politikergage bekommen. Es gab viel zu tun. Also musste man mit Anica Escortin auch jenseits der Bettkante kooperieren.

Ob sie nicht noch einen Martini möchte, fragte er beflissen. Das sei sehr aufmerksam, sagte sie, vielleicht einen kleinen, denn schließlich müsse sie noch mit dem Wagen fahren. Oder ob sie nicht vielleicht … ihr Hase wäre ohnedies bereits hinüber, wie sie das beschrieb, und ob sie nicht etwa hier, bei ihm übernachten könne? Sie würde diese Nacht niemandem abgehen, lachte sie. Rembert Mirando wurde etwas schwach bei dem Gedanken, seine heilige Ruhe einbüßen zu müssen, und überdies würde sie mit Garantie noch einmal über ihn herfallen wollen, wurde ihm dabei klar. Aber was sollte er tun? Er brauchte sie. Also willigte er ein. Die Escortin tat einen Freudenschrei und drückte ihn an sich, fasste ihn mit ihren kräftigen Händen am Hintern und zog ihn zu sich auf die Couch. Die Zweite, durchzuckte es Mirando, der mit Sorge an seine geröteten Hautirritationen dachte. Aber es sollte noch nicht so weit sein. Darling, flötete Anica Escortin zuckersüß, du hast vorhin am Telefon etwas von Kartoffelsalat und Hühnchen erzählt. Ist da was Wahres dran?

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15048

Die Krise 1 – Die Vernissage

Es war wieder einmal so weit. Vielleicht noch nicht so schlimm wie damals 1929, aber immerhin. Die Wirtschaftssysteme des raschen Profits waren auf Grund gelaufen, ausgelöst durch gewagte, verantwortungslose Spekulationen. Nun sollte das gestrandete Schiff wieder flott gemacht werden. Die Politik, bislang bloß zum Leuchtturmwärter degradiert, wurde von ihrem Ausguck abberufen und zum Kapitän bestellt, um Befehl zu geben, aus den ohnehin schon geschändeten Staatskassen Milliarden von Steuergeldern herauszupumpen, welches man den Steuerzahlern in staatsstrategisch lukrativer Absicht wohlweislich längst abgenommen hatte. Mit diesem Geld sollten sowohl die Lecks der leeren Spekulantenkassen ordentlich, wie auch die löchrigen Börsen der Bürger ein wenig gestopft werden. Die Frage danach, ob man also ein guter Verlierer wäre, konnte daher an Zynismus kaum noch überboten werden und nur wenige waren in der glücklichen Lage, darauf zu antworten, dass sie, dank ihres Humors, sogar noch dann lachen konnten, wenn sich das Blatt einmal gegen sie gewendet hatte. Solchen Menschen wäre ohnehin nur am Wettbewerb gelegen, am Reiz der Herausforderung und an der Lust, die sie dabei empfunden hatten. Schließlich konnte man ja nicht immer nur gewinnen, daher konnten jene, die stets gewannen, es sich leisten, menschliche Größe zu demonstrieren, indem sie einem überlegenen Konkurrenten lächelnd zum Sieg gratulierten.

Zu dieser Sorte Mensch gehörte Rembert Mirando nun wirklich nicht. Er zählte jedoch auch nicht zu jener, der ein veritabler Verlust immerhin nur ein weinendes, zumindest aber auch ein lachendes Auge bescherte. Übertriebener Ehrgeiz war bislang nie seine Sache gewesen, obwohl er sich mit der Rolle des Verlierers nur schwer anfreunden konnte. Im Gegenteil. Es ärgerte ihn maßlos, wenn das Glück an eine fremde Tür geklopft hatte und nicht an die eigene, und er würde sich eher die Zunge abbeißen, als freiwillig die eigene Schuld einzugestehen, wenn ihm einmal etwas nicht so gelungen war, wie er es sich vorgestellt hatte. Rembert Mirando entstammte einem Arbeiterhaushalt. Seine Leistungen in der Schule sind nicht so herausragend, dass er eine Klasse überspringt. Und schon gar nicht kann man von ihm behaupten, dass er zu den Begabten gehört hätte. Eines aber hatte er sehr bald herausgefunden, dass dieses Leben nicht fair war und dass einem absolut nichts geschenkt wurde. Aus dieser Erfahrung heraus entwickelte er für sich die Methode gezielten Selektierens nützlicher Freunde, investierte da und dort ein wenig in seinen eher verhaltenen Ehrgeiz, um damit den für die Öffentlichkeit notwendigen und glaubwürdigen Willen zum beruflichen Aufstieg zu untermauern.

Darüber hinaus beanspruchte er für sich jene gängige Meinung, welche über Menschen aus dem Arbeitermilieu besagte, dass Leute wie er durchaus die Fähigkeit zur Entwicklung von Qualitäten besäßen, die einem auf dem Weg zur Spitze unbedingt dienlich wären. Und dazu zählten Stress- und Konfliktresistenz, frühe Selbstständigkeit vielleicht, auf alle Fälle jedoch ein gesundes Selbstbewusstsein. Präziser gesagt stellen diese Eigenschaften Faktoren dar, die erfahrungsgemäß die notwendige Grundlage dafür bieten, spezifische Anforderungsprofile für gewisse Machtpositionen zu nähren. Schließlich entstammten zahlreiche berühmte Machthaber einem derartigen Milieu. Das war ebenso bekannt, wie auch die Tatsache in der endlosen Geschichte der Menschheit bewiesen hatte, dass viele davon ihre Macht leider oftmals weidlich missbraucht haben, missbrauchen und künftig missbrauchen würden. Um also die eigene Entwicklung nach dem Vorbild milieubedingten, scheinbar natürlichen erworbenen Machtstrebens einer Person aus den unteren Reihen derart voranzutreiben, erschien es Rembert Mirando völlig legitim, seine Lebensplanung sehr sorgfältig in Angriff zu nehmen mit dem Ziel, auf den Weg zu den Sternen der Macht nicht vorzeitig auf den Steinen dorthin hart aufzuschlagen.

Also beschloss er, in die Politik zu gehen, um dadurch wenigsten einen kleinen Vorgeschmack seines ungestillten Machtstrebens, wenn auch in etwas kleinerem Rahmen, auskosten zu können. Aber Macht haben heißt auch Verantwortung tragen, auch wenn es manchmal bloß gilt, ohnehin nur scheinbar Verantwortung zu übernehmen, weil man zufällig in der dafür vorgesehenen Position ist, welche man zwar kraft seines Amtes zu tragen hat, sie aus verschiedenen Gründen zu tragen jedoch oft gar nicht imstande ist. In solchen Fällen macht man eben das Beste daraus.

Rembert Mirando war ein unscheinbares, eigentlich völlig normales Kind gewesen. Einerseits hatte er weder an Gitterstäben wichtiger Gebäude gerüttelt, um dort hineinzugelangen, noch hatte er sonst irgendwelche hochtrabenden Karrierepläne bereits im Sandkasten geschmiedet. Aufgrund dieser wohl unbedeutenden Ausgangsposition hatte sich sein Leben bis zu seinem Eintritt in die Politik eher als eine Laune des Schicksals und der widrigen Umstände gezeigt, niemals zur richtigen Zeit am richtigen Platz mit den richtigen Eigenschaften und den richtigen Personen gewesen zu sein.
Dieser Umstand sollte sich jedoch rasch ändern, als er auf einer Vernissage des Stadtkulturamtes dem einflussreichen Unternehmer und physischen Schwergewicht Denis Escortin vorgestellt worden war, einem Mann, dem nie die Glut seiner Zigarre auszugehen schien. Ob er dem Herrn Kommerzialrat den Kandidaten für den Bundeskongress, Herrn Mirando, vorstellen dürfte?, lispelte der Parteivorsitzende in leicht gebückter Haltung Escortin ins rechte Ohr. Bitte, wenn es unbedingt sein muss, antwortete dieser, und schnitt eine unmotiviert bulldoggenartige Grimasse. Sein Gesicht war hochrot und aufgedunsen. Auf seinem beinahe kahlen, aber riesigen Schädel glänzten zahllose Schweißtropfen wie Morgentau im künstlichen Sonnenlicht der kleinen Niedervoltlampen, die teilweise auf die ausgestellten Ölgemälde, teilweise aber auch auf die Besucher und das riesige Buffet gerichtet waren.

Mirando begann sogleich geübt zu katzbuckeln, eine Methode, derer er sich seit Längerem schon erfolgreich bedient hatte, hüstelte kurz einmal verlegen und nahm schließlich einen Anlauf, sich vor diesem so hochangesehenen Vertreter der heimischen Wirtschaft mit gewichtiger Miene in Szene zu setzen.
Er, begann Mirando, freue sich, ihn auf diese Weise kennenlernen zu dürfen. Man habe ja schon viel von ihm gehört. Von seinen Erfolgen, meinte er. Und wer kannte ihn nicht? Escortin! Die Betonflotte! Kies und Schotter!
Und dabei lachte er furchtbar dämlich. Und was Escortin von diesem Bild hielte, wenn man fragen durfte? Dabei richtete er sich vor der über ihnen hängenden grünen Impression, einem in dominantem Oliv gehaltenen Ölgemälde mit einigen roten und schwarzen von fingerdicker Sepia hingeschleuderten Farbapplikationen, mit hinter dem Rücken verschränkten Armen auf.
Ein Murmeltier, das gerade Männchen machte, konnte es nicht besser gemacht haben als Mirando eben jetzt. Kommerzialrat Escortin betrachtete ihn gewohnt herablassend und desinteressiert von oben bis unten. Schwer atmend klemmte er die mächtige Zigarre zwischen seine kurzen, knackwurstartigen Zeige- und Mittelfinger und nahm die Zigarre aus dem Mund. Er lächelte mitleidig und klopfte ein wenig Asche in den bereitgestellten Aschenbecher auf dem stangenartigen Nirostagestell ab.
So etwas, junger Freund, wie das hier, pflege ich in Festmetern in meinem Keller zu lagern, entgegnete Escortin laut auflachend. Wissen Sie, wie viel Geld ich im Laufe der Jahrzehnte dafür ausgegeben habe? Millionen sag ich Ihnen! Mirando hielt den Atem an. Ehrfürchtig starrte er auf Escortins goldenen Siegelring an dessen kleinem Finger der linken Hand, der wohl kaum auf einen anderen dieser gewaltigen Pranke gepasst hätte. Ah, entfuhr es Mirando und ein Gefühl in seinem Bauch signalisierte ihm, dass mit diesem Herrn nicht gut Kirschenessen sei. Vor allem aber ahnte er, dass dessen Erfahrungshorizont bezüglich des offensichtlich verschwenderischen Umgangs mit gängigen Zahlungsmitteln sich mit dem seinen nicht würde decken können.

Mirando reagierte sofort und verfiel in angebrachte Demutshaltung eines Gehaltsempfängers. Alles nur für einen guten Zweck, sagte Escortin gepresst. Man müsse solche Sachen kaufen. Es musste einem ja nicht gefallen. Schließlich geschähe es nicht zuletzt, um einem guten Zweck damit zu dienen. Vor allen Dingen aber meinem – guten Zweck, fügte er hinzu, und lachte dabei verschleimt, hustete auf und schluckte hinunter, um die Cohiba sofort wieder in sein breites Maul zu stecken und dicke Wolken vor sich her zu paffen.
Man sagte, Escortin wäre einer, der einem behilflich sein könnte, in jeder Lage. Mirando wusste das und er suchte verzweifelt nach einem geeigneten Andockmanöver an ihn. Schließlich standen unmittelbar Wahlen bevor und er würde Geld für seine Kandidatur benötigen, viel Geld. Der Parteivorsitzende hatte ihm den Auftrag erteilt, Escortin an Bord zu ziehen, für die Partei, heute und jetzt, sonst wären seine eigenen Tage wie auch jene Mirandos gezählt. Und dann diese Peinlichkeit. Nicht einmal eine richtige Antwort hatte er auf seine Frage bekommen. So etwas hätte er in Festmetern im Keller! Pah! Was er zu diesem Bild sagen würde, wollte er von ihm wissen, sonst nichts. Nein, man musste anders vorgehen, überlegte er.

Escortin hatte sich kurzerhand von Mirando abgewandt, als ob er ihn nicht mehr interessierte, sah sich im Ausstellungsraum um und tat, als wäre er niemandem hier drinnen Rechenschaft darüber schuldig, was er gerade dachte, oder mit welchem entsetzlichen Gestank er der hier sonst so sterilen Raumnote seinen individuellen Stempel aufdrückte.
Die anwesenden Damen hielten sich angeekelt, doch so unauffällig wie nur möglich, parfümierte Papiertaschentücher vor ihre gepuderten Nasen in der Hoffnung, dieses grauenhafte Rauchgerät würde irgendwann einmal von ganz alleine ausgehen. Escortin aber war ein geübter Raucher.

Rembert Mirando hopste nach dieser ersten Demütigung wie ein ungeschickter Detektiv hinter ihm her, jedoch immer durch ein paar Schritte Respektabstand von ihm getrennt und lauerte wie ein Luchs darauf, mit Escortin ein neuerliches Gespräch beginnen zu können. Aus einer Gruppe schwatzender, aufgedonnerter Gattinnen der hiesigen Oberschicht weniger an den Bildern interessierter Herren löste sich eine Dame mittleren Alters und steuerte direkt auf Escortin zu. Escortins Frau, Anica. Ehemals blond, jedoch professionell nachgefärbt, mit kurzer Nutriajacke, offen, Seidenschal um den Hals, den sie in einem fort immer wieder spielerisch um den rechten Mittelfinger ihrer rechten Hand wickelte. Sie rief ihrem Gemahl zu, dass es alle hören konnten, ob ihm das Bild gefiele? Sie fände es faszinierend. Dieses Grün! Also, jenes Bild, wo er eben gestanden hätte, wäre doch bezaubernd! Im Salon würde sich das ausgezeichnet machen, und ob er es kaufen werde? Und ob er schon die anderen gesehen hätte? Also, sie würde das grüne kaufen. Wer der Herr hinter ihm wäre, wollte sie von ihrem Hasen wissen? Ob er ihn ihr nicht vorstellen möchte? Sie deutete mit ihrem umwickelten Finger hinter sich, gerade auf Mirando, der eben dabei war, seinen Abstand zu Escortin zu verringern.
Escortin sah sich bloß behäbig um, als wäre eine Wende seines Kopfes um seine Achse von kaum dreißig Grad schon wer weiß was für eine sportliche Herausforderung. Das sei der Herr Dingsda, Liebling, aber sie möge ihm verzeihen, er könne sich seinen Namen nicht merken, sagte er. Der junge Mann möchte doch einmal näher kommen, sagte Escortin, er wolle ihn seiner Frau vorstellen.
Mirando folgte der Aufforderung nur zögernd. Zuvorkommen reichte er Frau Escortin seine Hand, stets leicht nach vorne geneigt, und wagte kaum, sich aufzurichten. Er pflanzte sich vor ihr auf und nannte artig seinen Namen. Wie? lachte sie, er möge ihn noch einmal sagen, es wäre so laut hier drinnen. Rembert Mirando stand der Schweiß auf der Oberlippe. Er versuchte es noch einmal. Mirando wäre sein Name, sagte er diesmal lauter als zuvor und spürte, dass er rote Ohren bekommen hatte, fügte jedoch gleich hinzu, sie hätte wirklich einen ausgezeichneten Geschmack. Auch der Herr Bürgermeister hielte das Bild dort für außerordentlich gelungen. Zu ihrem Gatten gewandt sagte sie, sie hätte sofort gefühlt, dass dieses Bild etwas Besonderes sei. Er würde es doch für sie kaufen? Wo doch grün die Farbe der Saison wäre, setzte sie hinzu. Dabei zog sie ihre ohnehin im Normalzustand bereits stark zusammengekniffenen Augenlider noch enger zusammen und lachte unangenehm hart heraus, während sie mit einem kleinen Röcheln immer wieder Luft holte, um neuerlich zu diesem klirrend kalten Gelächter anzusetzen.

Alle im Raum hatten mitbekommen, worum es gegangen war, und der Bürgermeister fühlte sich verpflichtet, da von ihm die Rede gewesen war, zu den dreien hinüberzugehen. Herr Mirando hätte Recht, liebe Frau Escortin, ein gutes Bild, meinte er. Die Gemeinde überlege, ob sie es ankaufen solle. Aber sie wisse ja, und er tat eine abfällige Geste, man wäre jetzt mitten in der Krise, sie würde das verstehn? Er lachte kurz auf. Und das würde das Wählervolk nicht gutheißen, jetzt, wo ohnehin alles knapp wäre, angefangen vom Gas bis zum Geld im eigenen Börsel. Und dazu noch die Kurzarbeit! Manche hätten gar keine Arbeit mehr. Er könnte ihr sagen, für ihn als Bürgermeister wäre das keine leichte Sache. Es wäre, und das müsste man hier einmal dezidiert feststellen, es wäre ihnen schon einmal wesentlich besser gegangen. Da müsse die Kultur auch einmal ein bisserl warten.

Und sein Blick streifte die blasse, dünne, schwarzhaarige Künstlerin Eva Vanin, in ihrem ausgefallenen, hinten tief ausgeschnittenen bodenlangen Kleid, die mit einer Schar älterer Herren, mit denen sie Sekt trank, an einem der kleinen runden Tischchen stand. Einer von ihnen, Direktor Franke, legte liebevoll seinen Arm um ihre kaum vorhandene Taille.
Wenn man noch genauer hinsah, ließ sich feststellen, wie seine zittrige Hand Zentimeter um Zentimeter von dort weiter nach unten in Richtung ihres unscheinbaren flachen Pos hinabglitt. Sie ließ es geschehen, rauchte eine Zigarette dabei, und hielt in der anderen Hand locker das Sektglas. Offensichtlich genoss sie die Situation, in der sie sich befand.

Ach, er wäre der neue Mandatar, sagte Frau Anica Escortin verwundert, und sah Rembert Mirando dabei tief in die Augen. Grad’ vorhin hätte der Herr Stadtrat über ihn gesprochen. In den höchsten Tönen hätte er ihn gelobt, müsse er wissen. Er wäre der neue Wind in der Partei, mit dem es wieder bergauf gehen sollte. Mirando, sonst so schlagfertig, tat etwas verlegen. Ja, so sagte man. So hoffte man, setzte er rasch noch lachend hinzu. Frau Escortin hängte sich bei ihm ein, um ihn bewusst etwas nach der Seite hin zu drängen. Der Bürgermeister war mit dem qualmenden Escortin angeregt plaudernd weitergegangen, ohne den übrigen Bildern noch weitere Beachtung zu schenken. Was er denn beruflich mache?, fragte Frau Escortin. Er wäre – er sei im Stadtkulturamt tätig, sagte er schließlich. Welche Ausbildung er hätte und ob er studiert hätte?, bohrte die Escortin weiter. Nein. Es – wäre ihm damals nicht möglich gewesen, stotterte Mirando. So, es wäre ihm nicht möglich gewesen, das sei interessant. Aber wenn sie ihn übermorgen ins Café Scheer einladen würde, würde es ihm doch möglich sein?
Selbstverständlich! Völlig perplex sagte er zu. Mirando verstand nichts mehr. Er sollte – mit Frau Escortin? In ein Café? In einer Kleinstadt? Wo alle alles sofort wussten? Unmöglich. Jetzt wand er sich wie ein Wurm um eine passende Ausrede herum. Aber es fiel ihm keine ein. Eigentlich sollte er hingehen. Wenn sie die Gattin eines einflussreichen Mannes war, warum eigentlich nicht, wenn dieser schon nichts von ihm wissen wollte? Vielleicht führte der Weg nach oben eben über Anica Escortin?

Er sah sich ihre in auffallend glänzenden Seidenstrümpfen steckenden, etwas stärkeren, bananenförmigen Unterschenkel an. Er dachte an ihren feisten, mehr oder weniger festen Hintern und daran, dass sie es wohl sehr gerne machen würde. Vielleicht sogar mit ihm. Und sie war ein Weib, dachte er, ein Weib, nicht so eine Gespensterheuschrecke wie diese – diese Künstlerin dort hinten bei den alten, geilen Böcken, die ganz bestimmt nicht nur wegen deren Bilder um sie herumstanden, sondern weil sie die Leichtlebigkeit suchten, die sie repräsentierte, das Wildhafte, das zum Abschuss Freigegebene.
Und alle – alle waren sie doch noch immer ein klein wenig Jäger geblieben, in ihrem Innersten zumindest, auch wenn sie in geheizten, weich gepolsterten Autos durch die Gegend fuhren, Natur meist nur durch die Windschutzscheiben konsumierten und gewohnt waren, die liebliche Landschaft ausschließlich von der Terrasse eines Haubenlandgasthofes aus zu betrachten. Aber man hatte auch irgendwie Angst und einen gewissen Respekt vor dieser Biologie, vor dem Wilden, dem Ungezähmten, das in einem selbst jederzeit durchbrechen könnte. Gepaart mit der Vorliebe für fettreiche, süße, gekochte und fleischhaltige Kost, was ihnen, den einstigen Jägern und Sammlern, in dieser Form erhalten geblieben war.
Vielleicht lag darin der Grund, sich manchmal so völlig willenlos dem Fastfood hinzugeben.

Natürlich, wenn sie es wünschte, lachte Mirando verlegen, als er seine kleine Abwesenheit bemerkt hatte. Ja, wenn ihr Gatte nichts dagegen hätte … sie sollte ihn nicht falsch verstehen … Er solle ihren Gatten aus dem Spiel lassen, ja? Das wäre eine Sache zwischen ihr und ihm, fuhr ihn Frau Escortin beinahe zornig an. Ihren Denis hätte das gar nicht zu interessieren. Seine einzige Aufgabe ihr gegenüber wäre es einzig und allein, den Versorger zu geben. Und, er solle sich gefälligst mehr um seinen Betrieb kümmern, das könne er besser.
Dabei kniff sie eines ihrer geschlitzten Lider auf und zu in der Hoffnung, Mirando würde verstanden haben. Und er hatte verstanden!
Sie und ihr Gatte wären sehr verschieden. Ihr Gerechtigkeitsgefühl sei äußerst ausgeprägt, erklärte sie Mirando. Ihres Gatten Status hingegen wäre ihr ungemein wichtig, und das wiederum würde sich bei ihm in Kauflust niederschlagen, die sie für sich zu nutzen verstünde. Man müsse immer beide Seiten sehen. Sie lachte schallend. Er sollte sich merken, Menschlichkeit wäre eine Haltung, wie sollte sie es besser sagen? Übertrieb man sie, wäre sie bloß noch ein Werkzeug der Willkür wie auch des Gnadenaktes. Und wem nützte das schließlich? Und jetzt möge er sie bitte entschuldigen. Man sähe sich demnächst, raunte sie Mirando zu, und öffnete ihre Sehschlitze so weit wie möglich, um sie gleich darauf wieder in ihre alte Position zu bringen, woraufhin sie, trotz ihres nicht allzu geringen Gewichtes, scheinbar schwerelos hinüber zur Gattinnengruppe schwebte.

Solche Gruppen wurden gewöhnlich durch gemeinsame Rituale, Mythen und Emotionen zusammengehalten, was ihnen häufig zu einer Art Binnenmoral verhalf, um ihr manchmal so plötzliches, im Grunde oftmals unerklärliches, aggressives Auftreten nach außen hin nachhaltig zu unterstützen, wenn es darum ging, unerwünschte Personen davon abzuhalten, sich zwischen sie zu drängen, wie es eben jetzt gerade Stefanie Raymundo in ihrer gewohnt selbstbewussten Art versuchte. Stefanie war eine Freundin der Künstlerin, vielleicht ein wenig mehr, niemand wusste es so genau und sie war als Besitzerin einer Geschenkboutique bekannt, mehr nicht. Aber hübsch war sie, schlank, brünett, auffallend anders gekleidet mit einem wippenden Hüftschwung, der auffiel.

Die Gatten und der Bürgermeister stoppten augenblicklich ihre Debatten und starrten auf die soeben auf die Gruppe der Gattinnen zuschreitende ungewöhnlich attraktive Gestalt. Die Gruppe begann sich sofort zu formieren, ringförmig, eine Menschenmauer gegen den an Jugend, Elan und Ausstrahlung weit überlegenen Feind von außen. Köpfe neigten sich vornüber, zusammen, flüsterten. Hände umschlossen den rechten und linken Partner und hielten zusammen, was mit allen Mitteln zusammengehalten werden musste. Sie wäre nie in dem Geschäft gewesen, sagte eine der Gattinnen. Oh doch, einmal wäre sie dort gewesen, sagte eine andere. Sie hätte etwas für ihre Nichte gesucht. Einen barockisierten Bilderrahmen habe sie gekauft. Sie wäre eigentlich ganz nett gewesen, diese Frau Stefanie, habe sie gefunden, meinte eine Dritte bedenkenlos.

Wie auf Kommando standen die Gattinnen mit einem Male wieder gerade und straften die Sprechende mit bösen Blicken. Zu der? Da fuhr sie schon eher in die Stadt, als dass sie dort was kaufte, sagte eine andere und blickte vorsichtig über ihre eigene Schulter, um zu sehen, wie weit die Eindringende schon vorgerückt wäre. Sie würden nie hier im Ort einkaufen. Man würde schon lieber in den Gewerbepark fahren. Dort wäre man anonymer. Hier würde man doch jeden sofort erkennen. Und wenn man was anhätte, was man hier gekauft hatte, wüsste jeder hier auch gleich, was es gekostet hätte. Eben, sagte die erste. Drum kauften sie gar nicht erst hier!

Die kluge Stefanie, auf ihrem Direktkurs hin zur weiblichen Oberschicht der vereinigten Kirchenbankdrückerinnen des Ortes, roch den Braten sofort, als sie die Phalanx des Gattinnenkollektivs vor sich formieren sah, und improvisierte klugerweise eine scharfe Linkskurve, in deren Auslaufphase sie direkt auf Rembert Mirando zusteuerte, der schon seit Wochen hinter ihr her war und den sie bis jetzt eigentlich kaum beachtet hatte. Heute aber sollte er Gelegenheit bekommen, sich zu beweisen. Genug dumme Anspielungen hatte sie ja bereits über sich ergehen lassen müssen. Erst neulich, als er zwischen zwei Gemeinderatssitzungen so rein zufällig in ihren Laden gekommen war, mit seinem dämlichen Grinsen, und sie auf der Leiter gestanden hatte, um einer Kundin eine Vase herunterzureichen, da hatte er gemeint, wenn das Übrige an ihr auch so zum Anbeißen aussähe wie ihre Beine, dann würde er öfter herkommen, dieser Affe! Aber bitte, wenn er es unbedingt wollte, sollte er hier und jetzt haben, was er brauchte.

Da kam ihr Mirando auch schon süßlich anschleimend entgegen und flötete freudig überrascht, oh, das Fräulein Stefanie wäre auch hier! Das sei aber eine Überraschung. Leider gäbe es keine Leiter hier, die sie besteigen könne, aber ihr aufreizendes Dekolleté schiene ihm diesmal ein würdiger Ersatz für die fehlenden … Stefanie Raymundo fiel ihm sofort unfreundlich ins Wort, indem sie sagte, sie glaube nicht, dass das hier und heute angebracht wäre, und ob er das nicht auch fände? Auf derartige Anmache wäre sie überhaupt nicht scharf, und ob er verstanden hätte, fragte sie gereizt.
Das hatte fürs Erste gesessen. Mirando zog den Schwanz ein und blies zum Rückzug, etwas rot im Gesicht, in welchem sein ewig dämliches Lächeln erstarrt zurückgeblieben war. Der Bürgermeister und der dicke Escortin standen zufällig in ihrer Nähe. Mirando tat einen Schritt näher zu ihnen hin. Stefanie Raymundo rückte unauffällig nach.
Sie hätten ja schon viele Ausstellungen hier gehabt, begann der Bürgermeister wichtig, die meisten Künstler glauben, sie müssten ihre Arbeiten unbedingt der Zeit anpassen. Dadurch gestalteten sie das ganze Theater noch schriller, noch effektvoller, seinetwegen noch multimedialer, wenn man so wollte, dabei hätte es das alles schon einmal gegeben, betonte er.
Escortin, dem zur Freude aller endlich die Zigarre ausgegangen war, nickte dazu nur dumpf und starrte auf den Boden. Es schien ihm völlig egal zu sein, was Künstler so im Allgemeinen alles anstellten, um zu Ruhm zu gelangen. Er war ein Mann des raschen Profits und hatte sich nie mit solch unnützen Gedanken abgegeben. Kaufen konnte man vieles, verkaufen auch. Mehr interessierte ihn nicht.

Er fände alles dermaßen übertrieben, wenn das Blut so aus den Schusswunden, aus den Knochen und Fleischfetzen brechen würde, wie manche es darstellten. Gott sei Dank könne man das nicht auch noch hören, sonst verstünde man hier herinnen vor lauter Brüllen und Jammern sein eigenes Wort nicht mehr, lachte der Bürgermeister, begeistert von sich und seinen Ausführungen. Ja, alles würde irgendwie … so … verfremdet, ja, verfremdet dargestellt. Er wüsste auch nicht, wieso, sagte er, und Rembert Mirando nickte eifrig bei jedem Satz, den der Bürgermeister in den Raum stellte. Aber die Kunst hätte auch etwas Kritisches, bemerkte er noch rasch. Der Bürgermeister sah ihn fragend an. Ja, ergänzte Mirando rasch, Galerien und Museen bezögen sich neuerdings wieder auf die alten Utopien, (das hatte er irgendwo gelesen) und vor allem auf deren Stars. Man zeige daher international großes Interesse an frühen Arbeiten mancher Künstler und Künstlerinnen. Und in Krisenzeiten hätte kritische Kunst vielleicht wieder so etwas wie Konjunktur erlangt.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15035

Maria

Maria ist ein Mensch, der mit den Augen spricht. Warm schauen sie einen an, dunkle Augen aus dunklen Höhlen. Sie legen sich auf einen und bringen Wärme und Ruhe. Alle Freude und alles Glück, die Maria ein Leben lang in sich gesammelt hat, und die oft unbarmherzig zurückgeschleudert wurden, wenn sie sie geben, schenken wollte, sie haben sich nicht in Gram und Widerborstigkeit verwandelt. Maria hat die zurückgeschlagenen Wogen, die sich wie nasse, schmutzige Putzlappen um sie legten, sie einhüllten und fesselten, nach einer Schrecksekunde, die sich oft unendlich lang ausdehnte, immer wieder eingesammelt, ausgewrungen und verwandelt in sich aufgenommen. Das kostet mehr Kraft, als die meisten Menschen aufbringen können.

Ich habe Maria kennengelernt, als sie um die sechzig war. Eine aufrechte Frau mit eben diesen sprechenden Augen, die so viel wissen und so viel schenken können, wenn man sie nur lässt. Leider sind sprechende Augen stumm und machen nicht lautstark auf sich aufmerksam. Sie warten und legen den Blick auf so vieles, was den meisten in ihrer Geschäftigkeit entgeht. Marias Augen ruhen still und unmerklich lächelnd auf ihrem Gegenüber. Sie sind bereit, alles einzulassen, was nun kommt. Es sind neugierige Augen, die ob all der Widrigkeiten nicht müde geworden sind, mit Spannung das zu suchen, was bereitsteht, was ihrer Eigentümerin zugedacht ist, sei es so oder so.
Ich versuche mir vorzustellen, was im Laufe von Jahrzehnten an ein derart aufmerksames Augenpaar anklopft. Unkompliziert hat Maria allem Einlass gewährt, selbst wenn sie wusste, dass ihre Gastfreundschaft mit Kummer verbunden sein wird. Reichtümer haben sich leise im Verborgenen angesammelt.

Wenn mich Maria anschaut, wird mir gleich wohler ums Herz. Seltsam, wie das geschehen kann. Eine stille Frau, die den Frieden, den sie im Laufe eines langen und beschwerlichen Lebens gefunden hat, gern und mit offenen Händen an jeden weitergibt, der seiner bedarf. Sie hat gelernt, die Unaufmerksamkeit hinzunehmen, die Interesselosigkeit abgleiten zu lassen und, was mir am Erstaunlichsten erscheint, sie hat keine Bitterkeit angesammelt. Immer wieder begegnet sie allen mit Freundlichkeit, mit einem Lächeln.
Unsere Augen hatten sich schon lange getroffen, aber trotzdem hat es noch einmal lange gedauert, bis wir zueinandergefunden haben.

Einige Male durfte ich das Strahlen deiner Augen erleben. Es galt mir, nur mir und ich konnte es gar nicht fassen, dass du dich so freust, mich zu sehen. Du gehst auf mich zu und richtest dich auf und umarmst mich und dann blicken mich deine Augen an, aus denen alle Wärme und alles Glück der Welt strahlen. Was braucht es mehr, was kann es mehr geben?
Aber dein Blick verunsichert mich. Verschämt weichen meine Augen aus. Ich bin nicht daran gewöhnt, so herzlich begrüßt zu werden. Aus Marias Augen strömen nicht nur die Welten und Zeiten, sondern auch die sieben Himmel. Ich spüre es, ich die Jüngere, die Fremde und doch so Vertraute. Maria, dein Herz ist so übervoll, in dir wohnt so viel Liebe, die die Menschen nicht zulassen können und aufnehmen wollen. Sie haben Angst, dir in die Augen zu schauen. So wird das wohl sein.

Jetzt bist du über siebzig und gehst schwer. Dein Rücken ist krumm und jeder Schritt bereitet dir Schmerzen. Es ist ein Kreuz. Kein Wunder, irgendwo lagern sich die Enttäuschungen und Rückschläge im wahrsten Sinne des Wortes auch im Körper ab. Du schleppst tagtäglich dein ganzes Leben mit dir herum und oft wird es dir zu schwer. Wen wundert es?
Als Kind musstest du die böhmische Heimat verlassen. Zum ersten von vielen Malen lerntest du damals bereits, das Vertraute und Schöne zurückzulassen. Nein, nicht zurückzulassen, sondern im Herzen zu bewahren. Ja, du hast es in dich aufgesogen, so wie all das Spätere, die Zurückweisungen, Trennungen und Enttäuschungen, die Entbehrungen, die Sorgen, den Kummer und die Schmerzen. Du gehörst du den Menschen, die die Kraft haben, all das zu verwandeln. Deine Augen sprechen von den Perlen, die du im Laufe deines Lebens in dir angesammelt hast. Aus all dem Ballast hast du sie mühselig herausgefiltert. Dein Rücken hat sich gebeugt, aber dein Blick ist klar und ruht auf denen, die ihn zulassen können, die ihn aushalten. Je länger ich dich kenne, umso vertrauter wird mir dein Blick, der mich umarmt und getrost ankommen lässt in deiner Nähe.

Schon bei der ersten Begegnung hast du mich fasziniert. Wir sind beim Studium der hebräischen Buchstaben aufeinander aufmerksam geworden. Ich habe sofort gemerkt, dass du so viel weißt, und dass sich in dir so viel von jenem Wissen zu einem Ganzen fügt, wenn es dir auch nicht vergönnt ist, es in Worte zu fassen. Du wusstest Zusammenhänge zu erkennen, die mir verschlossen sind. Beschämt in meiner Unkenntnis senkte ich damals den Blick. Jetzt, Jahre später, öffne ich meine Augen, um in deine zu schauen und darin all das zu erahnen, was nicht zu verstehen, sondern nur zu begreifen ist. Wir sind uns vertraut geworden und erzählten uns von diesem und jenem. Einmal hast du gesagt: Ich glaube, du erzählst mir mein Leben. Ist unser Weg so ähnlich?

Ich denke, in dir ist sich alles recht geworden. In dir ist eine Ordnung entstanden, und die Entdeckung des Hebräischen hat das mitbewirkt. Der Himmel hat dir einen flüchtigen Einblick gewährt, der dich trägt. Du ahnst, wie sich dort alles fügt und wie du gehalten und gestützt wirst, selbst wenn du zu stürzen meinst und jeder Schritt im Hier dir zu Qual wird. Du bist ganz geworden im Lauf deines Lebens. Du lebst in Frieden, wenn man dich lässt. Die Tiere sind dir zugetan. In ihnen entdeckst du vielleicht das, was den Menschen abhandengekommen ist, was du bei ihnen vermisst, was du oft vergeblich gesucht hast.

Wenn deine Augen zu mir sprechen, kann ich mich setzen und ruhen und alles drumherum wird unwichtig. So etwas können nur Augen ausrichten, in denen der Ozean ein Zuhause gefunden hat, aber nicht der blaue, der kalte, sondern der warme, der ewige.
Maria, deinem Namen müsste noch ein M zugefügt werden, damit er ganz wird, abgeschlossen und abgeschirmt gegen Verletzungen, rund. Mariam, das glaube ich, ist dein wirklicher Name.

Anmerkung: marjam (hebr. mar-bitter; majim-Wasser) Wasser steht für die Zeit, der im Hier und Jetzt alles unterworfen ist. So wie Mose mit dem Binsenkörbchen ins Wasser gelegt worden ist, ist sein Schicksal bestimmt worden, seinen Part in der Welt zu spielen. Er musste sich auf die Welt einlassen und alles auf sich nehmen. Seine Schwester heißt ja Mirjam und wird ihm immer wieder helfend zur Seite gestellt. So wie den Frauen aus biblischer Sicht die Aufgabe zukommt, die irdischen Belange zu lösen, um dem Himmlischen zum Durchbruch zu verhelfen.


Vor einem Jahr ist Maria verstorben. Ich habe aber oft das Gefühl, dass sie mir nahe ist, sich um mich kümmert. Ich bin so dankbar, dass sich unsere Wege gekreuzt haben.
18. Februar 2015

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt  | Inventarnummer: 15025

Die alte Schupfen

Schon allein das Wort ist Vergangenheit, weil‘s niemand mehr verwendet. Vergangen ist auch die Existenz der alten Schupfen. Weil dort, wo sie einmal gestanden ist – in einem großen Schrebergarten vom Opa, und rundherum viele andere Schrebergärten – da stehen heute drei Bauten: die Bezirkshauptmannschaft, das Altersheim und die Schule.
Aber der Schrebergarten, die alte Schupfen und der Opa sind mir noch im Gedächtnis, als ob sie noch da wären.
Die Schupfen, ein Wort, das es nicht mehr gibt, ein Schuppen, ein kleines Häusel, eine Gartenhütte aus Holz, vollgeräumt mit Gartengeräten aller Art, einen Tisch, drauf ein Krug und ein Lavoire. Und darüber mit einem Hunderternagel im Holz befestigt, ein kleiner Spiegel. An der Wand ist ein uralter Divan gestanden – und das „ur“ sage ich nicht, weil‘s heute Mode ist, sondern weil der Diwan noch von meiner Uroma war, staubig, muffig und abgewetzt. Aber zum Ausrasten gemütlich.

Ein ganz kleines Fensterl war in der Schupfen. Da ist die Sonne hereingebrochen und man hat gesehen, wie der Staub in der Luft schwebt. Ja und gerochen, gerochen hat die ganze Schupfen nach dem Opa. Na ja, nicht direkt nach ihm – und doch nach ihm. Er hat sich nämlich immer mit Schicht-Seife gewaschen.
Und er hat geraucht, nicht Zigaretten, sondern Zigarren, nicht irgendeine Zigarre, sondern Virginia, die dünnen mit dem Strohhalm drin. Die Virginia hat so einen Duft nach Vanille gehabt. Ja und der Geruch von Vanille, Schicht-Seife, Staub und altem Plunder, das war für mich der Opa, auch lange nachdem er schon gestorben war und sogar heute noch. Ich seh‘ ihn noch sitzen in der Laube, gleich neben der Schupfen auf der Bank, wenn er müde war von der vielen Arbeit im Garten. Da hat er in Ruhe sein „Zigarl“ geraucht und dann ist‘s weiter gegangen.
Unermüdlich war er und sehr zufrieden, wann alles gut gewachsen ist. Ich hab ihm ab und zu geholfen beim Gießen. Ich bin am Brunnen gestanden und hab geschöpft, er hat dann alles vertragen und ausgegossen mit der Gießkandl.
Wenn er fertig war, sind wir in die Schupfen hinein und haben uns Hände und Gesicht gewaschen mit der Schicht-Seife. Der Opa hat sich in den kleinen Spiegel geschaut und sich die Haare gekämmt. Dann sind wir heimgegangen zur Oma. Hand in Hand. Und der Schatten hat sich über die Schupfen gelegt.

Ingrid Hoffmann
ingridhoffmann.twoday.net

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt| Inventarnummer: 15017

Eine von vielen Geschichten

In mir wohnen viele Geschichten. Manche wollen gestaltlos im Verborgenen bleiben, andere verlassen zu Worten geformt den Mund und hangeln sich von den Lippen zu den Ohren, um eingelassen zu werden, wieder andere drängen zur Hand, um aufgeschrieben zu werden, und warten auf ein Paar Augen, das sie aufnimmt, bewahrt und vielleicht verwandelt. Manchmal hat eine Geschichte die Kraft zu verwandeln.
Auf jeden Fall setzt sich unser Leben aus vielen Geschichten zusammen, aus solchen, die wir selbst erleben, aber hauptsächlich aus tradierten. Es ist wichtig, Geschichten weiterzugeben.

Kurz vor dem dreiundzwanzigsten Geburtstag meiner Mutter, sie schlief im Dachgeschoß ihres Elternhauses, wurde sie durch ein pfeifendes Geräusch geweckt, das den Himmel durchschnitt. Sie schreckte auf und war im Nu hellwach. Dem scharfen Pfeifen folgte ein dumpfer Knall. Sie glaubte, etwas aus Metall sei auf das Ziegeldach unmittelbar über ihr gefallen und rolle nun nach unten. So plötzlich, wie alles gekommen war, so plötzlich hörte auch alles wieder auf. Es war eine angsteinflößende Situation. Eine Situation, die das Fürchten lehrt. Es war stockdunkel und die Januarkälte hatte es sich gemütlich gemacht. Meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, schaute zur Seite und sah, dass ihre um drei Jahre jüngere Schwester ebenfalls wach war. Wortlos lauschten sie in die Finsternis hinein, aber nichts folgte mehr.
Am nächsten Morgen schauten sie im Hof nach, suchten mit den Augen auf dem Dach des eingeschoßigen Hauses und fanden nichts, was das Geräusch der Nacht erklärt hätte.
Wenige Tage später erfuhr meine Mutter aus dem runden Lautsprecher des Volksempfängers, dass im fernen Russland eine grausige Schlacht gefochten worden war, und sie erahnte den noch grausigeren Ausgang.
Von Stalingrad kam keine Post, nicht in den nächsten Tagen, auch nicht in den nächsten Wochen und schon gar nicht in den nächsten Monaten. Auch in den folgenden sechzig Jahren und mehr kam kein Lebenszeichen mehr vom Fritz. Ich weiß nicht, wie lange meine Mutter gehofft hat.

Sein Foto hat sie mir oft gezeigt, ein postkartengroßes Schwarzweiß-Bild, das einen schneidigen Soldaten zeigte, mit fescher Uniform und klaren Gesichtszügen, voller Mut und Tatendrang. Sie hatte ihm mit Feldpost einen warmen Pullover geschickt und eine Mütze, die das ganze Gesicht gegen die russische Kälte schützen sollte und nur die Augen aussparte, natürlich selbst gestrickt.
Neben dem Foto hatte sie von ihm noch einen Ring aus arabischem Altsilber, wie sie immer sagte. Eine Hand zierte den Ring, den sie mir schenkte. Ich ließ ihn größer machen, um ihn tragen zu können.
Meiner Mutter war er zeitlebens zu klein. Es war ihr nie ein Anliegen, ihn an den Finger zu stecken. Ich hingegen trug ihn gern, weil mich die Geschichte, die mit ihm verbunden war, die aber eigentlich nichts mit mir zu tun hatte, faszinierte. Eines Tages kam mir der Ring abhanden und es bleibt mir nur noch die Geschichte.

Seitdem ich mich mit dem Hebräischen beschäftige, hat die Hand, die Chamsa, für mich eine besondere Bedeutung bekommen. Stellt sie doch das Verhältnis eins zu vier dar, zwischen Daumen und restlichen Fingern. In der Tora kommt das gleiche Verhältnis zwischen dem Buch BeReschit und den weiteren Vieren zum Ausdruck. Gott steht der Welt und den Menschen gegenüber. Ich denke, dass jener Ring mir schon vor langer Zeit die Botschaft brachte, die für mein Leben wichtig ist. Damals war ich auf unbestimmte Art davon berührt, schloss den Ring in mein Herz. Im Lauf von vielen Jahren erschloss sich mir ein Zusammenhang und nun, nachdem der Ring leider wieder weg ist, beginnt die Geschichte in mir zu leben.

Noch etwas gibt es, was die traurige Liebesgeschichte überdauert. Fritz war Schreiner gewesen und hatte ein Holzbrett in Form eines Schweins ausgeschnitten und meiner Mutter zum Geschenk gemacht.
Jahrzehnte lang wurde es in unserem Haushalt benützt und lag auf der Ablage im Buffet. Irgendwann, als die Vergangenheit keine Rolle mehr spielte, benützte mein Vater das Schwein als Vorlage für weitere Bretter. So findet sich auch in meiner Küche eines, das inzwischen von meinem Sohn Sebastian, der auch Schreiner ist, erneut als Vorlage für weitere verwendet wurde.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt  | Inventarnummer: 15015