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Vertrieben

Vor langer Zeit herrschte in einem von der übrigen Welt bislang völlig unbeachteten Land ein mächtiger und reicher Herrscher. Er war ein Mann, der sehr darauf achtete, dass seine Befehle, die er gab, auch eingehalten wurden und drohte jedem mit der Todesstrafe, der sich seinen Anordnungen widersetzte, aber auch jenen, die über ihn schlecht redeten oder gar über ihn lachten. Als dieser strenge Landesherr nach vielen Jahren absoluter Machtausübung schließlich von ein paar unzufriedenen Untertanen ermordet wurde, eine Tat, die in diesem Lande nichts Besonderes oder gar Seltenes war, übernahm sein Sohn die Macht und wurde mithilfe eines selbst ernannten Kaisers, dem das Votum des Volkes völlig gleichgültig war, an die höchste Position der Politik gesetzt, da er dessen Günstling war.
Er wurde zum obersten Befehlshaber einer Sicherheitstruppe, dem die Menschenrechtsorganisationen im Laufe seiner Amtsperiode die verschiedensten Verbrechen zur Last legten, wie etwa Totschlag, Entführung oder auch Folter, ohne diese jemals beweisen zu können. Kurze Zeit später wurde er auf Vorschlag des Kaisers zum Premierminister ernannt und durch eine Parlamentswahl zum Präsidenten des Landes gemacht, nachdem er das dreißigste Lebensjahr erlangt hatte, das Mindestalter, welches als Voraussetzung dafür galt, ein derartiges Amt auch annehmen zu können. Als solcher versprach er, das Land, das zuvor durch Kriege zerstört worden war, wieder aufzubauen, durch weitreichende wirtschaftliche Hilfe und Reformpläne wieder instandzusetzen und den Terrorismus im Lande zu bekämpfen. Dies alles sollte mit finanzieller Hilfe des Kaisers sowie steigenden Erlösen aus dem Ölgeschäft rasch umgesetzt werden.
Durch den Tod des Vaters und durch die Protektion des mächtigen Landesfürsten war jener nun also an die vorderste Front des Landes gelangt und nicht zuletzt auch für die Sicherheit des Landes verantwortlich. Zu viel Macht für einen einzigen Menschen, wie sich herausstellte, denn es entwickelte sich ein Personenkult um ihn, der darin gipfelte, dass sich von nun sein Portrait in überdimensionaler Größe über das ganze Land verteilt, in Straßen und Städten, an Wänden und Hausmauern, wiederfand.
Vom Größenwahn gepackt, wie schon sein Vater zuvor, umging er in allen Belangen Entscheidungen des Parlaments, um sich selbst den Titel „Präsident“ an die eigene Brust zu heften, oder sich auch noch gleich „Imam“ oder sogar „Vater des Volkes“ nennen zu wollen. Doch der „Vater des Volkes“ handelte nicht wie ein sorgender Vater, sondern unterdrückte seine Mitmenschen aufs Furchtbarste. Auch das hatte immer schon Tradition in diesem weiten Landstrich.

Eines Tages floh ein Mann aus dem Volke, um der Welt da draußen mitzuteilen, welcher Schreckensherrschaft er soeben entronnen war. Er wandte sich an den Europäischen Gerichtshof und legte dort Fotos von Gefolterten in seinem Lande vor, Zeugenaussagen misshandelter Bürger und Berichte über Vergewaltigungen und Entführungen. Monate später wurde er von Agenten des Präsidenten in einer der friedlichsten Städte der Welt am helllichten Tag auf offener Straße erschossen.
Der Präsident, den man international mit dieser Tat in Verbindung brachte, bestritt natürlich jeden Zusammenhang mit diesem Mord. Darüber hinaus war bekannt geworden, dass es im Land zu zahlreichen Frauenmorden gekommen war, welche offiziell als Ehrenmorde bezeichnet worden waren. Der Präsident verdammte solche Morde zunächst in der Presse als unmoralisch und distanzierte sich vehement von derartigen Verbrechen, um sich allerdings in einem darauffolgenden Interview sofort zu widersprechen. Vielmehr müsse sich ein Vater schämen, sagte er, wenn dieser seine Tochter im Falle einer Vergewaltigung nicht auch noch sofort töte. Seinen Feinden jedoch, die Kritik an ihm übten, ließ er ausrichten, sie würden unweigerlich in der Hölle braten, würde er sie eines Tages in die Hände kriegen.

In diesen schweren Zeiten also verließen immer mehr und mehr Menschen dieses Land, um anderswo ein neues, geordneteres und sichereres Leben beginnen zu können. Eine dieser Flüchtlinge hieß Milana. Sie war verheiratet, hatte neun Kinder und lebte glücklich und zufrieden mit ihrem Gatten seit über fünfzehn Jahren in einem großen Haus in einem kleinen Dorf nahe der Grenze zum Nachbarland.
Eines Tages klopften zwei Beamte des Präsidenten an die schwere Eichentür des Vierkanthofes. Milana öffnete zögernd. Man hätte ihren Mann verhaftet, sagte einer von ihnen, weil dieser sich geweigert hätte, die Zustimmung zum Verkauf eines bestimmten Grundstücks zu geben, welches angeblich für den Bau einer wichtigen Straße gebraucht würde. Aber jeder wusste, dass es auf diesem Grundstück Öl gab. Öl, das kaum einen Meter tief unter der Erde sprudelte. Und solche Grundstücke gab es viele. Milana sagte, davon wüsste sie nichts. Der Beamte drängte sie, anstelle ihres Gatten das Papier zu unterschreiben. Doch Milana meinte, sie würde nie etwas Derartiges ohne die Zustimmung ihres Mannes tun.
Daraufhin kehrten sie Milana den Rücken und stiegen in ihr Auto. In der folgenden Nacht umstellten fünf Militärlastwagen das Gelände um Milanas Haus. Soldaten sprangen von den Ladeflächen, schlugen mit Brechstangen das Tor ein und trieben Milana und ihre Kinder aus den Betten in den Innenhof. Die Frau war im achten Monat schwanger. Einer der Soldaten fragte sie, wo sie das Geld und den Schmuck aufbewahre. Als Milana schwieg, schlug er ihr mit der Kalaschnikow über den Oberarm, sodass dieser auf der Stelle brach. Die Kinder schrien und weinten. Die Kleinen hängten sich an Milanas Beine und die älteste Tochter küsste das schmerzverzerrte Gesicht der Mutter.
Die Soldaten beschlagnahmten das Haus samt Inhalt. Sie luden wertvolle Möbel auf die Wagen und trieben die ganze Familie mit Schüssen aus dem Haus. Mutter und Kinder flüchteten in Panik in den nahen Wald. Zwei der Kinder verliefen sich an einer Weggabelung. Milana sollte sie nie mehr wiedersehen. Unterwegs stießen sie auf zwanzig weitere Flüchtlinge, die ihr berichteten, man hätte ihren Mann in einem Dorf, zwanzig Kilometer von seinem Heimatort, erschossen.

Für Milana brach eine Welt zusammen. Gemeinsam mit den anderen gelang es ihnen, unbehelligt über die Grenze zu kommen. Nach sechs Wochen waren alle an einem sicheren Ort eingetroffen, wo man sich um sie kümmerte. Viele Monate vergingen. Die Gruppe wurde inzwischen in einer Wohnhausanlage auf dem Land untergebracht.
Im Innenhof dieser Wohnhausanlage saß nun Milana eines Nachmittags mit einer Gruppe Frauen, die umständlich nach Sitzgelegenheiten suchten. Hier ein alter Kunststoff-Gartensessel, dort ein ausrangierter Küchenstuhl. Jede fand schließlich irgendwie einen Platz. Der Hof war weitläufig. Eine junge Sozialarbeiterin stellte den Frauen den neuen Deutschlehrer vor. Vierzehn Augenpaare starrten ihn an. Der Fremde hier war er, schien es. Die Frauen sprachen kaum ein deutsches Wort. Kinder tollten im Hof umher, näherten sich zaghaft dem Outdoor-Klassenzimmer.
Milanas dreizehnjährige Tochter ging hier nun schon das zweite Jahr zur Schule. Sie fungierte ausgezeichnet als Dolmetscherin. Manche Frauen hielten die Übungsblätter verkehrt in den Händen und starrten aufs Papier. Alphabetisierungskurs. Eine las langsam und holprig einen kurzen Satz. Sie konnte nur ein Wort darin verstehen: putzen. Ich kann waschen und putzen, hieß der ganze Satz. Die Unterarme dieser Frau wiesen tiefe Narben jüngst verheilter Brandwunden auf. In ihren Augen spiegelten sich die Gräuel eines sinnlosen Krieges wider. Nur manchmal lächelte sie.

Milana war abwesend. Sie starrte auf ihr Handy und betrachtete eine MMS, die sie erst kürzlich aus ihrer Heimat erhalten hatte. Es zeigte den Präsidenten mit seinen Kumpanen auf Tausenden von Dollarscheinen tanzend in einem geschlossenen Raum. Während er über die Scheine sprang, fuchtelte er mit seiner Pistole in der Luft herum. Ein weiteres Bild zeigte ihn, wie er lachend auf die Dollarnoten schoss.
Milana musste an ihren Mann denken und an ihre beiden verschollenen Kinder. Unbemerkt von all den anderen rannen langsam, perlengleich, Tränen aus ihren traurigen Augen über die Wangen, und mündeten salzig auf ihren blassen Lippen.
Es war die Zeit des Ramadan. Die Frauen waren sehr schwach vom Fasten und konnten sich nur mit Mühe konzentrieren. Was ist eine Verbklammer? Was ist die Infinitivform? Der Lehrer blickte ihnen hilflos in ihre dunklen Augen, die ihn verständnislos ansahen. Erst am Abend durfte wieder gegessen werden. Ab einundzwanzig Uhr, bis zwei Uhr dreißig. Dann nicht mehr. In dieser Zeit durfte auch nicht getrunken werden. Nicht einmal ein Schluck Wasser!
Die Frauen hier hatten in der Heimat alles verloren. Die Eltern – erschossen. Die Brüder – bei einem Angriff umgekommen. Die Häuser verbrannt. Nur wenige von ihnen hatten sich mit ihren Kindern in Sicherheit bringen können und waren froh, dieses Wild-Ost-Szenario überlebt zu haben.
Hier waren sie sicher. Vorerst zumindest. Ich habe Angst um meine Kinder, sagte eine Anrainerin, wenn die hier sind. Die geflüchteten Frauen hatten auch Angst. Aber wir sind doch Christen, erwiderte die Sozialarbeiterin der Einheimischen. Ist es nicht unsere Pflicht als Christenmenschen, Notleidenden, Hilfesuchenden die Hand zu reichen? Ja, schon, aber, warum müssen sie ausgerechnet zu uns kommen?, fragte die Nachbarin.

Wenige von den Frauen hatten schon Arbeit. Ihr größtes Problem war die deutsche Sprache. Die Arbeitgeber sprachen noch dazu alle im Dialekt. Viele Wochen vergingen mit Lesen oder mit Zeichnen, oft einziges Kommunikationsmittel, wenn etwas nicht verstanden wurde. Tausendmal wurde im Wörterbuch nachschlagen. Eine hatte ihr Baby mitgebracht und stillte es während des Unterrichts. Der Lehrer hatte gewonnen. Er war akzeptiert worden, und das als einziger Mann hier herinnen. Am anderen Ende des Hofes trieben sich die Ehemänner der Frauen herum. Unrasiert, die meisten ohne Arbeit, oder bloß geringfügig beschäftigt. Es passte ihnen überhaupt nicht, dass ihre Frauen den Deutschunterricht für sich selbst durchgesetzt hatten. Misstrauisch sahen sie zum Lehrer und zu den Frauen herüber. Er verkörperte das Fremde, das Unbekannte, das Unverständliche. Sind die gefährlich?, fragte sich der Deutschlehrer. Ein verzweifelter Gatte lieferte ein schreiendes Kind ab, das zu seiner Mutter wollte. Das Kind beruhigte sich, als sie es auf den Arm nahm. Die Mütter schienen streng zu ihren Kindern, aber gleichzeitig auch wieder liebevoll. Die Kinder waren allesamt sehr diszipliniert. Überhaupt kein Störfaktor während des Unterrichts.
Der Vermieter der Wohnhausanlage wollte die Miete erhöhen, erklärten die Frauen dem Lehrer umständlich. Wovon sollte man das bezahlen, und wie soll man das dem Vermieter erklären? Sie wären hier in der Fremde. Müssten sich den Gegebenheiten anpassen. Wenn euch was nicht passt, sagte der Vermieter, zieht eben anderswo hin. Punktum! Nach einigen Wochen klappte das Notwendigste zur Kommunikation. Einer der Männer hatte Asthma. Giftgas, sagten die Frauen. Seitdem hätte er diese Beschwerden.
Einmal begann der Unterricht damit, dass alle gemeinsam die Tasche einer Kursteilnehmerin trockenlegten, weil die Trinkflasche ihres Babys ausgeronnen war. Ein andermal forderte die Behörde von einem eine plausible Erklärung, weil er, ohne zu fragen, für eine Woche in die Heimat gefahren war, unter Lebensgefahr. Sein Bruder war verunglückt, so sagten sie. Das Unglück aber war eine Kugel aus einem Soldatengewehr. Ein Ansuchen hätte drei Wochen gedauert, dann wäre das Begräbnis längst vorbei gewesen. Gemeinsam entwarfen sie mit dem Lehrer ein Schreiben.

Auf Fragen, was für die Flüchtlinge hier anders wäre, antworteten sie einstimmig, die Ordnung. Was für eine Ordnung? Der Straßenverkehr, sagte eine. Alle hielten sich an die Ampelregelung, niemand fuhr bei Rot. Sie schüttelten die Köpfe und lachten. Befremdend offensichtlich. Geregelte Öffnungszeiten! Daheim wäre das nicht so. Anpassung würde von ihnen verlangt, sagte man ihnen bei den Behörden. Integration. Manchmal wäre es das Wetter, das sie irritierte. Der heiße Sommer, meinte eine. Aber natürlich die Schwierigkeiten mit der deutschen Sprache, dem Artikelwirrwarr und den unregelmäßigen Verben. Alles wäre anders. Es würde Generationen dauern, hier zu Hause zu sein, heimisch zu werden.

Ob sie etwas vermissten, was sie zurücklassen mussten? Ja, die Eltern, sagten mehrere Frauen. Milana schluckte. Sie schwieg. Was wäre noch anders hier? Die Natur. Die Pflanzen, antwortete Milanas Tochter. In den Skripten, die der Lehrer verwendete, fanden sich Kurzgeschichten, in denen von Rekorden die Rede war. Von einem Mann, der sieben Luftballone rasieren konnte, ohne dass einer dabei platzte. Oder von einer Frau, die in siebenundzwanzig Sekunden einen Autoreifen wechseln konnte. Die Kursteilnehmerinnen verstanden anfangs nicht. Was haben diese Leute gemacht? Es herrscht Ratlosigkeit. Das sollte der goldene Westen sein? Haben die Menschen hier nichts Wichtigeres zu tun, fragt das Mädchen? Er schlug ein anderes Kapitel auf. Präsens – und Perfektübungen. Die Frauen waren zu müde, die Konzentration ließ nach zwei Stunden deutlich nach. Also Pause.
Nach dem Unterricht wurde Tee vom Aufgussbeutel und Schokolade gereicht, einziger Luxus. Aber nur für den Lehrer. Schließlich war Ramadan. Kein Kuchen, kein Kaffee, kein Zucker. Die eine Frau mit den Verbrennungen war in ihrer Heimat Lehrerin gewesen und zweiundvierzig Jahre alt. Hier würde sie bestenfalls Reinigungsfrau sein.
Milana würde kein eigenes Haus mehr haben. Vielleicht einmal eine eigene Wohnung, wenn sie Arbeit bekäme. Ihren Kindern könnte sie dann eine gesicherte Zukunft bieten. Doch im Moment bestimmten nur schreckliche Erinnerungen an die Vergangenheit ihr Leben.

Nachwort: Leider ist die Geschichte um Milana nicht erfunden und auch nicht „1000 und einer Nacht“ entlehnt, sondern sie ist tatsächlich passiert. Als Milanas Deutschlehrer habe ich sie aufgezeichnet und Milana, deren Namen ich geändert habe, gefragt, ob sie im Falle einer Veröffentlichung ihre Zustimmung dafür geben würde. Sie hat „Ja“ gesagt.

Norbert Johannes Prenner

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Nach mehr als dreißig Jahren

Der Vater ist vom Kirschbaum gefallen, erzählt mir R., der mit mir vor mehr als dreißig Jahren das Gymnasium besucht hat. Drei Tage war der Vater erst in der Rente gewesen. Zum Kirschenpflücken ist er in den Baum gestiegen. Welch wunderbares Bild, das vor meinen Augen auftaucht. Was kann es Schöneres geben als Kirschen zu pflücken, wenn man das Erwerbsleben beendet hat! Aber R.s Vater erlitt einen Herzinfarkt, wie der Arzt später feststellte, und fiel vom Baum. Seine letzte Tätigkeit auf Erden war das Kirschenpflücken gewesen.
Die Mutter hat das nicht verkraftet. Kaum war die Beerdigung vorbei und der Mann unter der Erde, hat sie die Tür zu ihrer Wohnung gut abgeschlossen und sich im letzten Winkel verborgen. Alleine wollte sie sein und ungestört, um sich das anzutun, was den Mut der Verzweiflung erfordert und einzig Linderung all des Schmerzes zu versprechen scheint. Sie nahm das scharf geschliffene Messer zur Hand, das ihr in früheren, besseren Zeiten als Wirtin so gute Dienste geleistet hatte, fasste sich ein Herz, ließ noch einmal ihr ganzes Leben Revue passieren und kam zu dem Entschluss, dass nun Schluss sein muss.
Alles ist genug, mehr als das, es ist sogar zu viel. Es reicht. Rien ne va plus. Das Leben ist gelebt. Tief holte sie Luft, der Lebensatem strömte in ihre Lungen und ließ das Herz schneller schlagen. Leicht ging es, die Klinge an das linke Handgelenk zu führen und die blau durchschimmernde Schlagader zu öffnen. Kein Schmerz war zu spüren, überhaupt keiner. Rot drang das Blut heraus. Die Wärme aus dem Inneren war nun außen auf der Haut. Seltsam. Nun war es an der Zeit, das Messer in diese Hand zu nehmen. Noch war genügend Kraft in ihr. Ungelenk fühlte sich das an, aber es ging nicht anders. Entschlossen führte sie die Klinge an die Pulsader des rechten Innenarms. Nur ein leichter Druck war notwendig, der Vater hat das Messer gut geschliffen.

Daran muss sie jetzt wieder denken. Das war immer seine Aufgabe gewesen. Damit wollte er seiner Frau die Arbeit in der Wirtsküche erleichtern. Ob er wohl weiß, was er ihr damit für einen Dienst erwiesen hat? Bestimmt weiß er es, bestimmt schaut er ihr sogar aus dem Jenseits zu. Keine Sorge, es dauert nicht mehr lange. Ich bin auf dem Weg. Warm und behäbig fließt das Blut über den Arm und über die Hand. Das Messer hat seine Bestimmung erfüllt und kann beiseitegelegt werden.
Es ist die ruhige Stunde vor Tagesanbruch, die jetzt geheiligt ist. Früher musste um diese Zeit viel gewerkelt und vorbereitet werden für den bevorstehenden Tag, für die Kinder, für die zu erwartenden Gäste. Das war jetzt vorbei. Nichts gab es mehr vorzubereiten, nichts gab es mehr zu tun. Alles war getan, alles war erledigt. Ein gutes Gefühl stellte sich ein, ein Gefühl der inneren Zufriedenheit. Es war vollbracht, das Leben war gelebt.
Die Mutter lehnte sich zurück und ließ den Dämmer von ihr Besitz ergreifen. Wohltuend legte er sich auf sie, schluckte alles Wissen und alle Erinnerung, sodass der Kopf leer und frei wurde. Müdigkeit senkte sich herab und wohlig gab sie sich ihr hin. Was konnte es Schöneres geben? Einschlafen, wenn der Morgen graute. Ein anderer Tag erwartete sie, ein anderes Leben, das nicht so schwer sein wird. Ein Leben ohne Schatten, ja das ist es, ein Leben ohne Schatten. Wenn die Sonne genau über einem steht, wirft der Körper keinen Schatten. Man ist richtig bei sich, man ist bei sich zu Hause.

Aber so weit sollte es noch nicht sein. Die Vorsehung schaltete sich ein. R. erzählt mir, dass er auf dem Weg zur Arbeit gewohnheitsmäßig die Türklinke zur Wohnung der Mutter drückte. Als er sie verschlossen vorfand und sein Rufen keine Antwort erfuhr, trat er die Tür ein. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass der zurückhaltende Mann mit der ruhigen und sanften Stimme mir gegenüber, der vor Jahrzehnten mein Klassenkamerad gewesen war, eine Tür eintreten kann. Aber außergewöhnliche Situationen erfordern außergewöhnliche Taten.

R. lächelt, als er davon spricht, wie er die Mutter gefunden und alles veranlasst hat, um sie ins Leben zurückzuholen. Diese Aufgabe ist ihm zuteil geworden, zweifelsohne eine schwere. Wenn ich ihn anschaue, lese ich in seinem Gesicht, dass es nicht die einzige schwere Aufgabe in seinem Leben gewesen ist. Man kann es sich nicht aussuchen. Wenn ich ihn so anschaue, so denke ich, er ist nicht für schwere Aufgaben geboren, aber wen kümmert das. Trotzdem lächelt er, wenn auch nicht unbeschwert.
Und ich denke, das verbindet uns. Wir waren beide nie unbeschwert. Wir mussten uns wieder begegnen, um uns die Geschichten vom gescheiterten Selbstmord unserer Mütter gegenseitig zu erzählen. Seltsam. Und jeden Morgen bricht ein neuer Tag an und jedes Jahr im Mai blüht der Kirschbaum.

Claudia Kellnhofer

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Axungia Canis

Mein Anzug zwickt und drückt, wo er nur kann, unter dem Hemd läuft mir der Schweiß aus sämtlichen Poren. Es scheint die Zeit des Fegefeuers gekommen, zumindest glaube ich mich nicht weit davon entfernt. Überall klebt Beileid an feuchten Händen, zwischendurch ein Wangenkuss, wenn man sich näher steht. Viele der Gesichter kenne ich von irgendwo her, von früher, ich bin nur nicht in der Stimmung, mich bei allen zu erinnern. Die blassen Gebirgszüge der Karawanken geben dem Ganzen einen vertrauten Rahmen, längst schon bin ich keiner mehr von hier und doch spüre ich, dass Vergangenes nach mir greift.

Amalie W., meine Großmutter väterlicherseits, ist im vierundachtzigsten Lebensjahr von uns gegangen. Unrasiert, schlampig und alkoholisiert geht mein Vater voran, er soll die Familie nun führen, es ist die Bestimmung des an Jahren ältesten Nachkommen. Meine Mutter beobachtet ihn dabei argwöhnisch; wenn sie nicht gerade schreit, dann ist sie kaum vorhanden. Aber niemand von uns wird ihm folgen wollen.

Ebensowenig kann von mir verlangt werden, dass ich mich diesem verlogenen Schauspiel anvertrauen muss. Schließlich bin ich nur gekommen, weil es sich gehört, um ungeschriebenen Regeln zu genügen, denn für einen Abschied brauche ich keine Inszenierung. Außerdem ist es mir viel zu heiß, hat man sich denn keinen späteren Termin aussuchen können, wo es die Trauer doch lieber hat, wenn es ein wenig feucht und kalt ist. Der Gottesmann wirkt elegant, er ist in Höchstform und die offene Grube seine Bühne. Den Menschen, um den er seine Grabesrede gewoben hat, kenne ich nicht, obwohl ich ihn kennen müsste, zumindest sagt mir das eine innere Stimme, wahrscheinlich geht es um den Leumund, den die Tote für den Schöpfer braucht. Meine Schwester stößt mich sanft in die Seite, die ganze Zeit schon kommt es mir vor, als ob sie mich suchen würde. „Ich kann nicht mehr!“, flüstert sie, niemand außer mir, soll hören, was sie sagt.
„Was?“
„Mir ist das Ganze zu viel, ich muss weg von hier!“
„Halte durch, bald haben wir es überstanden, ich habe mir schon etwas überlegt“, ich fasse nach ihrer Hand, weil ich Angst habe, dass sie mich alleine lässt.

Schließlich treten wir gemeinsam vor, um die Erde in den Schlund zu werfen. Wenn man Sachen gesehen hat, die man besser nicht hätte sehen sollen, ist man froh, wenn man damit nicht alleine ist. Hinter der von einer ranzigen Schicht überzogenen Eisentüre hat sich alles abgespielt, verborgen vor den Blicken derer, die es ohnedies nicht verstehen würden. Einen offenen Spalt, eigentlich nicht mehr als eine Unachtsamkeit hat es gebraucht, um das Geheimnis preiszugeben. Die Erinnerung formt sich quälend. Seelenlose Wesen, die über den Hof schleichen und deren schlaffe, ausgeweidete Körper von der Decke hängen, bevor sie in den Kochtopf wandern. Ab und an verfolgen sie mich sogar bis in den Schlaf. Die Luft von damals ist beißend scharf, sie raubt mir den Verstand, knöcheltief stecke ich im Morast und muss mich übergeben, heimlich, so wie ich es mir angewöhnt habe. Will ich nicht den Ledergürtel spüren, muss ich aufhören, an Widerstand, an Flucht zu denken. Dass es uns gibt, reicht aus, um uns zu bestrafen, Eva erwischt es meistens schlimmer. „Weiber sind dazu da, um zu empfangen!“, erbarmungslos hagelt es auf Evas kindlichen Körper hernieder. Hätte nicht ich an ihrer Stelle sein können, sie tut mir so leid, obwohl ich nichts dafür kann. Und die Eltern, die stehen unbeteiligt daneben und tun, als ob sie das nicht das Geringste angehen würde. Verstohlen blicke ich zu Eva und weiß, was sie denkt, ich bewundere sie für die Fassung, mit der sie das Geschehene erträgt. Ich muss mich ablenken, sonst wird es mir den Hals zuschnüren, aus reiner Verzweiflung schaue ich hinunter auf meine Schuhe, ob wohl kein Dreck und keine Exkremente auf ihnen kleben, denn sonst würde meine Mutter wieder schreien und das wäre wieder erst der Anfang. Eine Krähe stößt sich vom Mauerwerk des Kirchturmes ab, für einen Augenblick kann ich durchatmen.

Im gleißenden Licht der Sonne glänzen die Leute der Trauergesellschaft, wie Krapfen, die gerade aus dem heißen Fett gefischt wurden. Auf einen Schlag ist mir klar, warum so viele erschienen sind. In gewisser Weise aus Dankbarkeit, weil sie es alle bei ihr gekauft haben, abgefüllt in weißen Plastiktiegeln ohne Aufschrift. Ein Ablaufdatum oder eine Chargennummer hätte ohnedies niemanden interessiert. Was die Überlieferung für gut hält, wird wohl gut sein, warum zweifeln, die Alten werden schon gewusst haben, was sie tun und wenn es tatsächlich hilft, wofür es Zeugen gibt, dann muss das als Beweis ausreichen, dann hat die Überlieferung recht gehabt. Es fehlt noch, dass sie aus der Hexe eine Heilige machen, aber wundern würde mich das nicht. Noch liegt sie unten im Loch, sodass sie für jedermann sichtbar ist, aber bald schon werden die Herren von der Bestattung Erde drüber geschüttet haben, womit das Vergessen beginnen kann. Für viele mag es damit vorbei sein, für uns ist es das nicht, wir bleiben die Nachkommen der Hundsbäuerin, für immer, denn Blut ist die stärkste Verbindung, die es gibt.

Langsam geht die offizielle Show zu Ende, um im Anschluss dem ausgelassenen Gesicht der Trauer Platz zu machen, ich habe meine Schuldigkeit getan. Eva noch viel mehr. Mein Vater wendet sich zu mir um, die aufgesetzte Vertraulichkeit wirkt lächerlich auf mich. „Wir gehen jetzt zum Kirchenwirt…ihr kommt doch mit?“ Ich muss seinem warmen, alkoholschwangeren Atem ausweichen. „Ja!“, sage ich artig, weil ich keine Diskussion haben will. Das „Ja“ ist ein falsches „Ja“, denn ich denke nicht daran, zum Kirchenwirt zu fahren, ich habe anderes vor. Eva, die alles mitverfolgt hat, schaut mich erwartungsvoll an, ich spüre, dass sie mir vertraut, so wie früher. Jeder kann sehen, dass wir nicht dem Tross folgen, sondern in der entgegengesetzten Richtung verschwinden. Meinen Vater wird es nicht weiter kümmern, er wird seinen Schmerz ertränken, so wie er es gewohnt ist.

Den Ort, an den ich uns führe, habe ich sorgfältig ausgesucht. Vor allem Eva soll es dort gefallen, für sie mache ich das Ganze. Das Auto lassen wir am Parkplatz neben der Straße zurück, die letzten Meter hinauf zur Kirche und den Ausgrabungen müssen wir gehen. Eva weiß Bescheid. Unser stilles Abkommen hält, wir brauchen keine Worte. Ich bin froh, dass das Areal menschenleer ist, denn so habe ich es mir insgeheim gewünscht. Der Stein des Altars ist warm, aufgeheizt von der Sonne, er wird alles geduldig über sich ergehen lassen und seiner Bestimmung entsprechend niemandem davon berichten. Aus der Hosentasche fische ich eine Locke aus dünnem, grauem Haar und lege sie sorgfältig vor uns auf den steinernen Tisch. Begleitet von einem unabsichtlichen „Hm?“ deutet sie mit dem Zeigefinger auf die Stelle, wo das Haarbüschel liegt. „Die Krankenschwester war gerade draußen und da hab ich es gemacht, sie hat sicher nichts gemerkt, sie hat geschlafen… Gibst du mir ein Feuerzeug?“ Wir halten uns an den Händen, während das Keratin vor sich hin schmort und dabei übel riecht.  Der Dämon scheint vertrieben. Auf dem Weg zurück zündet sich Eva eine Zigarette an, ich habe sie schon lange nicht mehr so gelöst gesehen, ich habe das sehr vermisst. Zu unseren Füßen das Jauntal, die klare Sicht gibt den Blick weit ins Land hinein frei.

Mit Leib und Seele lege ich mich vertrauensvoll in deine Hände, denn du hast mich erlöst, treuer Gott. (Psalm 31,6)

strobauer

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… und auch die vielen daheim vor den Fernsehgeräten

Frank Oldrting hat viele dumme Fehler gemacht und war dabei, sein Team zum Gespött der internationalen Presse zu machen – um dann im letzten End diesen unglaublichen Wurf rauszulassen, der gecurvt ist, als gäbe es keine Physik an diesem Tag hier in der olympischen Curlinghalle auf Bahn eins: Aus einer unmöglichen Situation heraus schießt er vier gegnerische Steine aus dem Haus und legt neben dem eigenen auch noch vier weitere Steine seiner Mannschaft ins Zentrum. Dabei hat es im Team bald Diskussionen darüber gegeben, ob es nicht sportlich fairer wäre, gleich aufzugeben, abzuhauen, die Partie zu beenden. Die Silbermedaille kommt völlig unerwartet und bedeutet ohnehin schon den größten Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik.
– Größter Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik hin oder her – meinte da der Roukie der Crew in der Mannschaftsbesprechung nach dem achten End: wenn nicht jetzt und hier: wann dann?
Frank sieht das mehr wie der Rest der Mannschaft, die sich schon längst mit der Niederlage, diesem grandiosen Sieg, angefreundet hat.

Das Spiel war für Frank schon definitiv verloren, bevor es begonnen hat, kurz nachdem sie die Halle betreten, die Steine hingelegt und sich in einer Reihe aufgestellt hatten. Der Platzsprecher präsentiert – wie ausgemacht und auf dem langen Weg ins Finale schon hinlänglich geprobt – dem Publikum die einzelnen Spieler der beiden Mannschaften: Die vorgestellten Spieler machen einen Schritt nach vorn, senken in Erwartung von Beifallskundgebungen kurz ihre Häupter, machen den Schritt wieder zurück und warten im Übrigen darauf, dass es endlich wirklich losgeht – sie brennen darauf zu zeigen, was sie so lange geübt haben und jetzt ganz besonders gut können.
Frank Oldrting ist jetzt bei der Präsentation dran, um mit seinem so jungen und stolzen Gesicht, seinen Zuversicht versprühenden Augen und seinem immer etwas leicht schrägen, offenen einladenden Lächeln die verdienten Ovationen zu ernten – schließlich war es ja auch er, der die Mannschaft bis hierher gebracht hat: zuerst überhaupt erst einmal nach Olympia, dann bis in den olympischen Nabel und jetzt mitten hinein, ins große Finale.

Frank senkt sein Haupt, nimmt Beifall und Zurufe huldvoll entgegen, was von einem seltsamen hochfrequenten Gekreisch überlagert wird. Franks Kopf ist noch gesenkt und er nutzt diese Stellung auch, um sich zu fassen – denn er ringt um Fassung: Die ganz große Bedrohung, diese niemals ausgesprochene Befürchtung, die größte anzunehmende Katastrophe ist wahr geworden. Frank kennt diese schrägen Stimmen: Seine Tante Rosemarie hat doch mit ihren beiden Freundinnen Susan und Aurelie die weite Reise hierher angetreten – sie sitzen in der ersten Reihe, gleich an der Bande, gerade einmal 15 Yards vom Haus weg.

Jedes Mal beim Ausholen wird er genau in die Richtung dieser alten Tanten blicken müssen, mit Aunt Rose in ihrer Mitte. Es ist wie in der Liebe und beim Sterben: Der Zeitpunkt dehnt sich, wird zum Zeitraum, in Franks Kopf läuft ein abendfüllender historischer Film ab – mit Aunt Rosemarie in der Hauptrolle: Rose, die dem kleinen Frankie Spinat in sein junges Gesicht stopft; Rose, die den Pubertierenden mit einem gelben Schnürlsamt-Jeansanzug in die Highschool schickt; Rose, die dem jungen Mann spaßhalber in den Schritt greift.

Frank hebt wieder den Kopf und wir werden später in den Aufzeichnungen sehen, dass seine Verneigung genauso lange gedauert hat wie die seiner Kollegen und Kontrahenten. Wir werden darin allerdings auch sehen – beziehungsweise sehen es auch jetzt unmittelbar an den Großbildleinwänden in der olympischen Curlinghalle und natürlich auch in den Fernsehgeräten daheim, dass es ein anderes Gesicht ist, das da versucht, sein Haupt wieder aufrecht zu tragen. Der stolze, zuversichtliche Gesichtsausdruck, den Frank noch vor wenigen Sekunden in die Welt gestrahlt hat, ist einer fast maskenartigen Mimik gewichen, die jetzt ungläubig hohl, ja debil und ausdruckslos in die Objektive der Medienleute glotzt.
Das offizielle Vorgeplänkel nimmt nicht zuletzt durch weitere unkonventionelle Zuschauerreaktionen aus der ersten Reihe ein rasches Ende, das eigentliche Olympische Finale kann beginnen. Wie in Trance nimmt Frank den ersten Stein und begibt sich in Position. Eine einfache Guard ist angesagt, eine erste Guard – zigtausend Mal geübt, sie ist einfach, die erste Guard.

Das Fokussieren spielt in allen olympischen Disziplinen eine Rolle, beim Curling eine ganz besondere. Für Frank war stets ein Blick auf die obere Kante der Bande hinter der Zielposition Teil der Routine vor dem Stoß. Frank wird das heute ausnahmsweise anders machen, er hat beschlossen, nur das Ziel und nicht mehr die Umgebung zu fokussieren – die Angst ist zu groß, dass sein Blick abschweifen und das Gesicht seiner Tante streifen könnte.
Routinen heißen aber so, weil sie über lange Zeit antrainiert werden. Wir halten uns an sie, wenn wir nicht abgelenkt werden wollen. Sie dienen der Konzentration aufs Wesentliche und alle, die sich beispielsweise eine Routine für den Golfschwung zurechtgelegt haben, können ermessen, wie schwierig es ist, diese kurzfristig zu ändern. Wie schwierig es auch ist, den Schlag perfekt durchzuführen, wenn die Routine gestört wird, beispielsweise laut in die Ausholbewegung hineingefurzt wird. Aber diese erste Aufgabe – eine Guard hinzulegen – ist einfach und tausendfach erprobt. Nach der blauen Linie soll der Stein liegen bleiben, möglichst etwas aus der Mitte. Gut, das Eis ist noch nicht bespielt, da braucht‘s dann halt die Besen und die gehören schließlich zum Curling, sollen dem Publikum auch nicht vorenthalten werden, dem Publikum hier in der olympischen Curlinghalle und auch nicht den vielen Zusehern daheim vor den Fernsehern. Die erste Guard ist also angesagt und sie ist ganz einfach, die erste Guard. Und Frank wird sie legen, hat sie auch schon tausend Mal gelegt.

Den Sportreportern, den Mitspielern, den Zuschauern in der Halle und auch manchen Zusehern daheim vor den TV-Geräten fällt auf, dass sich Frank heute mit seiner Routine außergewöhnlich viel Zeit lässt. Lange bewegt er den Stein am Eis hin und her, er säubert ihn wiederholt und die Sekunden an der Anzeigentafel, die die Restzeit des Spiels anzeigen – tröpfeln herunter wie Infusionen auf der Intensivstation im Vorabendprogramm.

Jetzt gibt es aber den Impuls zur Ausholbewegung, dabei streift Franks Blick dann doch kurz die Bandenkante: Rosemarie sieht aus wie Uncle Sam im rosa karierten Hauskleid, er vermeint sie auch kreischen zu hören. Im Unterschied zu Samuel Wilson hat sie ihre obere Gebisshälfte nicht mit, in der Aufregung war sie irgendwo im Quartier liegen geblieben. Freundin Susan, Mittsiebzigerin, hat sich auch für ein pinkfarbenes Kleid entschieden – doch ihr Rosa schlägt sich mit Roses Rosa; Susans grünlich gefärbtes – ansonsten dünn-weißbräunliches – Haar ist onduliert und setzt einen grotesken Kontrapunkt zu ihren gallig verhärmten Gesichtszügen; Aurelie, die dritte im Bunde, Individualistin und in knatschiges Gelborange gehüllt, heftet ihren Blick ständig auf den Großbildschirm, um auch in Momenten, in denen sich der Rest des Publikums und auch die Zuseher daheim vor den TV-Geräten stumm auf die sportliche Aktionen konzentrieren, wild aufzukreischen, wenn sie vermeint, sich am Großbildschirm zu erkennen.
Franks Anstoß geht daneben, besser gesagt: viel zu weit. Er knallt gegen die Bande direkt vor Rosemaries Füße. Ein Raunen erfüllt die Halle, Franks Kollegen geben aber ihr Bestes und können dieses erste End punktelos halten. Zweites End. Nicht hinsehen, nein, Frank wird nicht mehr hinsehen. Er steht am Höhepunkt seiner sportlichen Karriere, ja: seines Lebens. Also nicht hinsehen, keinesfalls hinsehen.
Susan ist dabei, sich ihre dünnen Lippen weiter zu tünchen, als Franks Blick aus Versehen doch wieder abgleitet. Sein Stein wird ausgeschlossen, weil er sich, immens curlend, nur etwa dreißig, vierzig Zentimeter weit bewegt, obwohl die schnellen Besen des Teams bürsten, als gelte es das Eis zu schmelzen. Wieder ist es der außerordentlich guten Leistung des restlichen Teams zu verdanken, dass es danach nur 0:1 steht.

Im vierten End gelingt es Frank erstmals, nicht zu dem Trio zu sehen – das macht ein Kameramann, der offensichtlich auch die Schattenseiten dieses Sports ins Bild bringen will. Die Großbildleinwand zeigt nach Franks verkrampft-konzentriertem Antlitz Aurelie, der deshalb ein Schrei entkommt – Frank verliert den schweren Stein in der Ausholbewegung und zermalmt damit beide Fußgelenke von Mitspieler Mike („Country“) Court derart, dass der allen Engeln danken kann, sollte er jemals noch einen geraden Schritt gehen können. Rosemarie, Susan und Aurelie beklatschen als einzige in der Halle diesen tragischen wie vermeidbaren Sportunfall.
Sie haben schon seit vielen Jahren immer viel Spaß miteinander, haben sich bei einem Königspudel-Wettbewerb kennengelernt und sind seitdem unzertrennlich: Rose, Susan und Aurelie treten stets zu dritt auf, in der Zwischenzeit leben sie auch in einem gemeinsamen Haushalt. Sie lieben die Gesellschaft und besuchen, meist uneingeladen, Hochzeiten, Geburtstage und sonstige Feste – heute hat es Frank erwischt, auch wenn er gar nicht verwandt ist mit Rose. Sie hat nur in der benachbarten Wohnung gelebt, damals in Kensington.

Franks Teamkollegen spielen das Spiel ihres Lebens, trotzen weiter der Tatsache, ihren größten Gegner in der eigenen Mannschaft zu wissen. Die Hälfte des Finales ist gelaufen und es steht nur 3:6, obwohl das Ergebnis nach den bisher gezeigten Leistungen auch gut und gerne eine zweistellige Differenz aufweisen könnte.
Aber auch die eigentlichen Gegner haben nicht ihren besten Tag, auch ihre Nerven liegen nach den Ereignissen der letzten 71 Minuten blank, genauso wie die der Sportreporter, der Zuseher in der Halle und natürlich auch der Zuseher daheim vor den Fernsehgeräten.

Sechstes End, Frank kommt an die Reihe, die Besen der Teamkollegen zittern schon ohne willentliches Zutun. Frank wird nicht hinsehen, Frank wird nicht hinhören. Frank wird sich zwingen, seine Gedanken zu ignorieren, denn sein Kopf hat begonnen, sich mit sich selbst zu unterhalten, wobei diesen Selbstgesprächen jeglicher Sinn mehr und mehr abhanden kommt.
Er hört dieses Mal wirklich nicht hin und lässt auch den Blick nicht zu Aunt Rose abgleiten. Trotzdem: Dieses Mal knallt er den Stein fast im rechten Winkel gegen die seitliche Bande, was dann auch Anlass für das olympische Komitee ist, den Wettbewerb zu unterbrechen. Fadenscheinige Begründung: Die Bande muss repariert werden – in Wahrheit suchen die Offiziellen fieberhaft einen Passus im umfangreichen Regelwerk, der eine Disqualifikation wegen grobem Dilettantismus zulässt. Der findet sich aber nicht und so müssen sie das Finale widerwillig, aber doch, nach knapp 90-minütiger Unterbrechung weiterlaufen lassen. Vielleicht geht es aber auch nur durch den Druck der Fernsehanstalten weiter: Sie wollen das Spiel bis zum bitteren Ende übertragen, dieses Spiel, das in der Zwischenzeit alle Quotenrekorde bricht.
– Ich bestehe zu 40 Prozent aus Algen und zu 70 Prozent aus Moos – sagt da was in Franks Kopf und irgendwas antwortet: – Jaja, der Kukuruz muss scheißen gehen. – Es sieht nicht wirklich gut aus, tief da drinnen in Frank.

Das achte End verläuft wieder relativ unspektakulär, abgesehen vielleicht von Franks Stoß, mit dem er zwei Punkte für sein Team vereitelt, indem er nur eigene Steine aus dem Haus treibt. Es steht jetzt 4:7, ein außerordentlich schmeichelhaftes Ergebnis in Anbetracht dessen, was bisher so alles passiert ist. Trotzdem: Vier Steine in den verbleibenden zwei Ends aufzuholen, ist auf olympischem Niveau nicht möglich. Also Mannschaftsbesprechung nach dem achten End: Größter Erfolg im Curling seit Bestehen der Republik hin oder her, meint der Roukie – wann, wenn nicht jetzt und hier: wann dann?
Lass uns und die Gegner schlafen gehen, die Zuschauer auch, die Reporter und auch die vielen Zuseher daheim vor den Bildschirmen, sagt Frank. Ich will lieber als Silbermedaillengewinner in der Heimatgemeinde gefeiert werden, als als Trottel der Nation, ja als Trottel der Welt dazustehen. – Wenn du jetzt nicht weiterspielst, bist du der Trottel des Universums, meint der Roukie leise. Sie werden weiterspielen.
Frank ist dran. Überraschenderweise sieht er dieses Mal hin zum Terzett, ja, er sieht einer nach der anderen direkt in die Augen – nur bei Aurelie gelingt ihm das nicht, ihr Blick hängt am Großbildschirm.
Frank scheint sich also gefasst zu haben, macht zumindest keinen verheerenden Fehler. Das neunte End vergeht punktelos. Gewöhnlich gibt es in dieser Situation – noch ein End, drei Punkte Unterschied – ein sportlich faires Handshake. Heute aber nicht.

Letztes End: Die Bemühungen waren sportlich, ja ritterlich, der Sieg war schon von vornherein in weite Ferne gerückt, im Moment liegt er in einer anderen Galaxie – und die wiederum nicht in unserem Universum.
Frank ist dran mit dem letzten Stein eines aus vielen Gründen denkwürdigen Finales und die Spielsituation aussichtslos: Die Guards des eigenen Teams liegen unglücklich angeordnet vor den vier gegnerischen Steinen im Haus. Mit viel Gespür und Können, Routine und Glück könnte er vielleicht ein, zwei gegnerische Steine aus dem Kreis bringen, dann blieben aber noch immer zwei drin – das wirklich schmeichelhafte Endresultat wäre ein 4:9.
Liebe und Tod, der Zeitraum wird plastisch; Länge, Breite und Höhe kommen dazu, auch noch zwei, drei andere Dimensionen. Darin ermordet Frank zuerst Rose – Susan und Aurelie müssen zusehen, wie er genüsslich Roses Eingeweide fleddert, sich von unten durch den Schlund hinaufarbeitet, um ihren Kehlkopf von innen zu würgen, mit einem gezielten Stich mit dem gestreckten Mittelfinger dringt er über die Augenhöhlen in ihren Kopf ein und rührt drinnen kräftig um. So viel zum Tod.
In Liebe bedankt sich Frank in diesem vieldimensionalen Gewebe zuerst bei seinem Vater, einem zeitlebens grantelnden Alkoholiker, der nichts anderes zu tun wusste als alle Menschen in seinem Einflussbereich zu erniedrigen und zu beleidigen; seinem Trainer, einem Mann aus ähnlichem Holz geschnitzt mit der zusätzlich ausgeprägten Tendenz, jugendlichen Sportlern mit seltsamen Spielchen die gesunde sexuelle Entwicklung zu vermiesen; schließlich den vielen Zusehern in der Halle und auch zu Hause vor dem Fernseher.

Mit eiskaltem Blick steht er nun da, die Routine vor dem Stoß dauert nicht viel länger als gewöhnlich: Frank Oldrting hat viele vermeidbare Fehler gemacht und war dabei, das Team zum Gespött der internationalen Presse zu machen. Doch jetzt – im letzten End – lässt er diesen unglaublichen Wurf raus: Der Stein kurvt, als gäbe es keine Physik an diesem Tag hier in der olympischen Curlinghalle auf Bahn eins, er tanzt von einer Seite zur anderen, stößt hier einen gegnerischen Stein weg, schiebt dort einen eigenen an, verändert noch da und dort die Lage, überlegt kurz, ob es noch was zu tun gibt, und stellt sich dann zufrieden ins Zentrum des Hauses.
Insgesamt vier gegnerische Steine werden so aus dem Haus geschoben, vier eigene hineingelegt. Unfassbar. Wahnsinn. Unglaublich. Frank hat das Unmögliche möglich gemacht, aus einem 4:7 ein 8:7. Frank Oldrting ist die Sensation dieser olympischen Spiele.
Ja, er ist sehr glücklich – sagt er in ein Mikrofon. Ja, es war auch etwas Glück dabei – in ein anderes. Doch, er war auch verdient, der Sieg – sagt er dem Eurosport, und er dankt seinem Vater, seinem Trainer, dem Verband, dem Publikum hier in der Halle und den vielen Fans daheim vor ihren Fernsehern.
In seiner Heimatgemeinde wird die Goldmedaille mit einem großen Empfang gefeiert. Von der Gemeinde bekommt Frank ein Grundstück geschenkt, damit er immer dableibt, die örtliche Sparkasse stiftet ihm ein zinsenloses Wohnbaudarlehen und einen Werbevertrag. Auch andere Firmen raufen sich um Frank und schmücken sich mit ihm.
Seitdem macht Frank lustige Sachen: Im letzten Spot sagt er: „Au weh!“. Eine glaubwürdigere weibliche Stimme meint darauf, dass alles gar nicht so schlimm sei und sprüht Frank ein Spray auf die Hand, die er vorher auf die glühende Herdplatte gelegt hatte. „Das tut gut! Wie ein Olympiasieg!“ In einem anderen Spot sagt er, dass seine Sparkasse „die beste von allen anderen“ ist. Wir selber glauben es ihm ja auch, irgendwer wird aber den Kindern erklären müssen, wer Frank Oldrting eigentlich war.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14081

Malta

Während die letzten euphorischen Momente dieser Nacht von der kühlen Morgenluft weggeweht und schließlich von Melancholie überdeckt werden, schlendern wir die beinahe menschenleere Straße hinunter; gehen unseren Rausch aus. Und für ein paar Minuten schweigen wir, überwältigt von Müdigkeit und Alkohol, und jeder hängt seinen Gedanken nach.
Die Stille dröhnt mir nach diesen heftigen Bässen in den Ohren und mein Herz schlägt immer noch in dem Rhythmus des Liedes, das irgendwo in einem Club pocht.
Wir sind nur ein paar Straßen entlang gegangen und von einer überfüllten Partymeile verwandelt sich Malta vor unseren Augen in ein stilles, irgendwie sehnsüchtig trauriges Labyrinth von Asphaltstraßen.
Wie schön eine Stadt in der Nacht ist. Die Lichter sind klarer und intensiver als am Tag. Das Grün der Fußgängerampel leuchtet in einer unnatürlich grellen Farbe und alle Straßenlaternen sind wie viele Monde auf schwarzem Himmel.
Wir sind hier im Ausgehparadies, eine Insel im Mittelmeer und ein ganzes Viertel voll mit Clubs, Schülermassen, billigem Alkohol und toleranten Gastfamilien.
Was für Steuerbetrüger die Schweiz, ist für Minderjährige, die an Alkohol kommen wollen, diese Insel.
Vor manchen Clubs stehen schwarz angezogene Männer und kontrollieren Ausweise. Aber viel häufiger als diese trifft man hier Männer in aufgemotzten Anzügen, die uns Gutscheine für freien Alkohol in diversen Clubs anbieten oder eine Gruppe mit einer Gratisflasche Sekt in Bars locken.
Was unseren Erziehungsberechtigten als Sprachaufenthalt untergejubelt wird, ist eigentlich nur ein verlängertes Ausgehwochenende mit Mittelmeerklima. Und was unter Museumsbesuch angepriesen wird, ist in Wirklichkeit ein Trip zu McDonald’s.
Finanziert von Eltern, die eigentlich den Schmäh durchschauen und eigentlich auch kein Geld dafür ausgeben wollen, aber schwer dagegen argumentieren können, wo es doch zur Weiterbildung ihrer Töchter und Söhne dient.

Wir gehen zum Strand. Dort sitzen oder vielmehr liegen schwer beschäftigte Pärchen zwischen Plastikmüll und vereinzelten Glasflaschen.
„Wisst ihr, dass hier jeden Tag Flüchtlinge aus Afrika an Land gespült werden? Die werden dann abgedeckt und weggeräumt.“
Jana klingt sensationslustig, mit einem seltsamen Unterton, der uns wohl vermitteln soll, wie tiefgehend schockiert sie über diese Tatsache ist. Aber es klingt nicht echt.
Jana, das will ich echt nicht hören, verstehst du? Ich will feiern, mich gehen lassen und wie jeder hier an einem leichenfreien Strand baden gehen.
Den anderen geht’s genauso. Sie reichen ihren mitgebrachten Alkohol in Plastikflaschen herum und lachen über diesen Kommentar.
„Wär doch geil – so eine Leiche. Wie in CIA Miami“, sagt einer, von dem ich vorher nie gedacht hätte, dass er so etwas geil finden würde.
Aber Leute nehmen oft die schrägsten Persönlichkeitsmerkmale an, wenn sie betrunken sind.
„Stell dir mal den Job vor: Leichenabräumer“, lallt irgendjemand und kichert.
Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, reicht mir jemand den Wodka.

Noch lang bevor die Sonne aufgeht sind wir weg und bevor die ersten Touristen mit Liegestühlen und Hotelbademänteln den Strand in Beschlag nehmen, sind auch die letzten Alkohol- und Flüchtlingsleichen zusammen mit den Wodkaflaschen verschwunden.
Und wir schlafen erschöpft in sich drehenden Betten ein.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14052

Also bist Du einfach gegangen.

Also bist Du einfach gegangen. Bist dem Horizont entgegengeschritten ohne Dich auch nur einmal umzudrehen. Sehr romantische Vorstellung. Vor allem wenn man bedenkt, dass das alles nur für mich war. Sollte ich mich geehrt fühlen? Ja, ich denke, das wäre angebracht. Wahrscheinlich sollte ich Dir jetzt danken. Ich nehme an, das Protokoll sieht es so vor. Ein Mann, der sich für die Frau, die er liebt, aufopfert. Ein Held. Dankbarkeit wäre wohl das Mindeste was man erwarten kann. Vermutlich. Doch etwas in mir, ich kann nicht sagen was, sträubt sich dagegen mit aller Kraft. Ja, es schreit sogar aus mir heraus, mit einer schrecklich verzerrten Stimme voller Abscheu und Ekel.

Vielleicht bin ich ja dumm. In den letzten Monaten habe ich gehofft, dumm zu sein. Zu dumm um zu begreifen, dass Du mich nur zu meinem Besten verlassen hast. Wirklich lächerlich, dass ich es nicht begriffen habe. Gründe hast Du mir ja genug geliefert. Dass ich zu gut für Dich wäre. Das klang interessant. Und neu. Während unserer Beziehung fiel mir nie auf, dass Du mich so dermaßen schätzen würdest. Dass Du mich zu sehr lieben würdest. Das machte mich stutzig. Und dass Du Angst hättest, mich mit Deiner Liebe zu erdrücken und mir keine Luft mehr zu lassen. Das machte mich wütend. Das machte mich stumm. Das brachte mich so sehr aus der Fassung, dass ich nichts mehr sagen konnte. Das gab Dir die Möglichkeit, einfach zu verschwinden ohne meine Meinung zu hören. Ohne jemals meine Antwort zu hören. Bis jetzt.

Jetzt sitzt Du da und bist endlich einmal still. Jetzt musst Du mir zuhören. Die letzten Monate saß ich hier in diesem Zimmer und wartete auf ein Lebenszeichen. Einen Brief, eine Karte, einen Telefonanruf.

Was möchtest Du sagen? Vermutlich, dass es das Beste für mich war, dass ich Dich so leichter vergessen konnte. Aber ich habe Dich nicht vergessen. Jede Sekunde habe ich an Dich gedacht. Dauernd sah ich Dich vor mir, Deinen betroffenen Gesichtsausdruck, als Du mir sagtest, dass Du dieses Opfer für uns beide bringen müsstest. Und jeden Tag habe ich Dich mehr gehasst. Dieser Hass hat mich kaum noch denken lassen, kaum noch atmen lassen. Ich konnte kein normales Leben mehr führen, doch das Schlimmste daran war, dass ich nicht aufhören konnte, Dich zu lieben.

Es hat mich zerrissen, Du hast mich zerrissen und das alles nur, weil Du mir nicht sagen konntest, dass Du mich nicht mehr liebst. Weil Du nicht einmal in Deinem Leben ehrlich sein konntest. Du hast mich allein gelassen mit meinem Schmerz und meiner Hoffnung, mit meiner Liebe und meinem Hass. Das hast Du mir alles aufgeladen, während Du schon mit Deinem neuen Leben begonnen hast. Jetzt ist es an der Zeit, dass ich neu anfangen darf. Jetzt will ich den ganzen Dreck hinter mir lassen und endlich wieder frei atmen können. Deshalb musstest Du hierher kommen. Deshalb musstest Du mir zuhören. Und ich habe Dir gesagt, was ich schon lange loswerden wollte. Mehr verlange ich nicht.

Da sitzt Du nun mit Deinem hochroten Kopf und Deinen müden Augen. Ich liebe Dich nicht mehr. Das weiß ich jetzt. Und ich hasse Dich nicht mehr, denn Hass kann ohne Liebe nicht existieren. Jetzt kann ich Dich vom Sessel losbinden und Dir das Tuch aus dem Mund nehmen. Die Beule am Kopf wird bald verschwinden. Nein, es tut mir nicht leid. Es tut mir nichts mehr leid. Nicht einmal, dass ich Dich kennen gelernt habe.

Constanze Scheib

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14047

 

Das Fleisch unsrer Kinder zart

Da ward ein Fremder am Tore verlangend nach Einlass, mit ihm sein Eslein, dem auf dem Rücken nach vorne er beugte sich. Ein Weiter, es blieb ihm verwehrt. Des Fremden Faust, sie ward steif und gefror’n dann geschickt gen Himmel, mit der Kraft der, die seine letzte war. Wie könne er, ein Männlein, ein schwaches kleines, kein Einlass bekommen zu so einer derart Stadt? Mit den Zinnen der Mäuer, dick mit Gold sie beschlagen, einer welchen, derer ihr Wachposten, so es schien, nicht zu erkennen im Stande ward, welch Elend da vor ihm stünde. Von wie weit her er gekommen schon, erkenne er sie denn nicht, die Wärme, um die er zu betteln sich nicht mehr zu schade ward? An der Kutte durchnässt, in den Rissen der Frostbrand, an den Ärmeln, den magren, am Anblick, schier jämmerlich ganz? Erkenne er denn das nicht?, fragte der Fremde, bemüht im guten Glauben, die Antwort doch, sie schüttelte durch ihn mit Graus:
„Nein, mein Herr. Das erkenne ich nicht, mein Herr.“
Der Wachposten gab Antwort, gleich höflich wie ernst ebenso, und tat die gute Lanze drei Mal am Boden dann aufstampfen.
Worauf sich eine Gestalt erhob.
Im Lichte der Fackeln, tiefer drin in der Stadtmauer Rachen,  beinah im Vorhof bald schon. Dorten, dort schlürfte ihr Schatten gar garstig das Bier mit den Lippen vom Barte sich noch, und eilte nach vorne hin.

Der Fremde.
Entgegen ihm rief, entgegen ihm rief im Verzweifeln:
„Sind sie jener Einer, der sich zeigt hier für dies hier verantwortlich? Für diese Schmach, die hier frisch mir wird angetan?“
„Stets zu Diensten, euer von und zu Gnaden! Stets zu Diensten.“
Der Kommandant.
Heran er kam, und er trat hin vor des Esleins Nüstern trocken, mitnichten gewillt, den Hof zu machen dem Fremden. Mit den Armen verschränkt gleich vorm ledernen Harnisch, dem Bauche dick, breit stand er da zu Verbergen seines Korporals Zähne, die aus dem Mund ihm schon kamen spitz.
„Ihr Anliegen, euer Durchlaucht?“
„Mein Anliegen?! Seid ihr bei Trost so wenig wie die Mannschaft, die ihr euer nennt? Brot und Wasser und ein Platze zum Schlafen, das Einz’ge wonach es mir sehnen kann, nicht? Wie allem auf Gottes Erden?“
„Auf des Herzogs Befehl: mitnichten!“, ein Schreiben eins, mit Grobheit sehr, der Kommandant zog aus dem Beutel um die Schulter.
Das Papier ward bräunlich.
Das Siegel ward wie Blut.
Im Wachse gebrochen, zwei Drachen gefangen, der Kommandant hielt vors Gesicht sie dem Fremden nun hin, auf das nicht zu übersehen mehr ward, die Schwere seiner Worte.
„Was draußen sei, das bleibe dorten!“

Der Kommandant.
Stramm senkten sich die Brauen seiner Augen rot.
„Nur wisset ihr denn selbst noch nicht?! Die Ungetiere! Sie lauern dort, dort jenseits unsrer Mauer! Auf uns, und auf das Fleisch unserer Kinder zart!“
Der Fremde.
Er hob sein eisig Hand zum Kiefer hoch und ergriff es, den Witze suchend in dem, was er grade gehört. Seine Stirn, dem Zeugnis seiner Ohren nicht ganz trauen sie wollte, sein Kinn, es tat bewegen dann sich:
„Bei allem Ernst, der euch sei zugestanden: ein Ungetier? Ein Dunkelheit Gespinst? Das darf nicht hindern doch niemand am Atmen. Am Stillen von dem Hunger, der nur Hefe und Weizen hat im Sinn.“
„Sehr wohl, der Herr! Auf des Herzogs Befehl, sehr wohl!“
„Was draußen sei, das bleibe dorten! Also vergessen schon?“, der Korporal, er johlte, „Hinfort mit euch, ihr, der ihr doch nur eines wollt!“

Die Fersen tiefer in die Seiten gedrückt seinem Eslein saß der Fremde nun, schlecht sich fügend. Die Zügel fest, im Griffe schwach, ein Huf ward asbald an der Luft oben. Ein Schnauben kurz folgte, aus des Esleins Hals es sich kratzte wie Regen zäh. Regen zäh, einer welcher, der auf dem Kommandanten sein Wangen dann nieder flog, heiß und fiebrig.
„Halt, werter Herr, werter Herr, Einhalt! Was gedenken wir vorzuhaben? Die Ungetiere! Ihr selbst könntet eines sein!“
„Ein Ungetier? Eines ich? Sagt, seht ihr nicht das Leid an mir, das nur als Mensch uns plagt?“
„Der Herr, warum denn, der Herr? Was haben der Herr zu verbergen denn, daß sein Menschsein so betonen er müsse hier?“
Der Korporal.
Er fragte hervor das von hinter dem Kommandanten sein mächtig Rücken, des Korporals Knie, wie am Haupt so viel Haare, was der Fremde nicht sah jedoch noch.
„Verbergen? Ich? Wer tut sich verstecken denn da? Hinter dem Kommandanten seinem? Hinter den Ziegeln aus Stein? Wär’ ich denn ein Ungetier, sagt, wär’ ich nicht schon eines? Hätt’ um Erlaubnis ich je gefragt, ob mein Leben ich retten darf?“
Der Fremde.
Das zu bedenken er gab, und an den Zügeln er zog, sodaß sich streckte der Nacken des Esleins gar grässlich.
Es tat iahen dann.
Heiser erbärmlich.

Kommandant jedoch, und Korporal, bewegten sich kein Stückchen nicht trotzdem, die Finger lang und länger. Vom Korporal, die Augen schräg sie sich stellten, in tiefer und tiefer Höhlen. Die Lanze sie, um Erbarmen sie knirschte, vor der Klaue der, die sich schloss um ihr’n Hals aus Holz.
„Zu verbergen nichts, der Herr? Nichts? Warum ist sein Kleidung dann gar so gar ausgeleiert? So weit schon die Kutte, daß verhüllen den Schweif sie schon muss, heraus aus des Ungetiers Steißbein?“
Der Korporal.
Die Nase, sie wuchs ihm zum Maule.
„Die Kutte weit? Oh nein, ihr versteht nicht! Viel zu mager nur drunter ist der Leib schon geworden mir. Der, der, so es euch sei gedankt, sich formt zum Gerippe noch gänzlich.“
Der Fremde.
Die Zügel er peitschte, mit Pech in den Venen, des Esleins Brust sich schob dem Kommandanten zu seiner hin ganz nah.
„Letzte Warnung! Die letzte, der Herr! Was draußen sei, das bleibe dorten, so auch ihr! Mit euer aller Märchen, mit allem eurem Leugnen von dem Ungetier, das steckt doch in euch drin.“

Der Fremde.
Beim Blinzeln schnell, verlor die Augen beinah er an die Lider, „Nun gut, nun zum hundertsten Male! Aufs Neue: Seht mich an! Kann’s sein, wovor es fürchtet euch, die Not ist, die mich ziert? Hier? Daß etwas möglich ist der Art? Und drunter ich bin so wie ihr?“
An seiner Zunge rau sich weitend, der Korporal fast verschluckte sich.
„Den Mund, er so voll hier nicht nehme, bei Gott, der Herr!“, bald scheppern es tat, retour von den Wänden. Die Lanze, die gute, entzwei sie gebrochen ward, hindurch ihr getrieben des Korporals Krallen, nur Schärfe über, wo keine Hand mehr ward.
Der Mond.
Hinein ins Tor er kroch.
„Was draußen sei, das bleibe dorten!“

Der Kommandant.
Sich äußerlich dann auch verlor sich ganz.
Die Haut, zu wölben sie begann des Kommandanten Ellen, lodernd, in vieler Wellen Gang. Asbald. In Büschel trockner Gischt ans silbrig Licht der Pelz dann platzte ihm, bis all das, was einst menschlich, bedeckt nun ward mit Gier.
Gefletscht, die Zähne, sie zeigten sich.
Die Tropfen klar, vom Stahle weiß.
Beißen tat daweil nur der Wind.
Der Korporal.
„Was draußen sei, das bleibe dorten! Dann unsers selbst ist das Fleisch unsrer Kinder zart!“
Der Kommandant.
Er leckte über die Lippen sich lüstlich.
„Nur unsres, der Herr, nur unsres!“
Der Fremde dann.
Er kam dann zum Sprechen nicht mehr.

Markus Peyerl
www.markuspeyerl.at

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 14023