Sonntag

Noch zwei Minuten. Dann stehe ich seit zehn Minuten in der Einfahrt meiner Eltern. Also starre ich seit acht Minuten auf das braune, bestimmt vierzig Jahre alte Tor, das mich, meine Person, mein Leben von der seelenlosen Tristesse, die man auch einfach als „die Welt von Herrn und Frau Mitterer“ bezeichnen kann, trennt. Obwohl sich mir bei dem Gedanken, dass hinter diesem Tor der kleine betonierte Innenhof liegt und sich anschließend daran das leicht desolate Haus, mein Elternhaus befindet, der Magen umdreht, zieht es mich doch jede Woche wieder hierher. Warum ich die eineinhalbstündige Reise jedes Mal auf mich nehme, habe ich nie hinterfragt. Sie sind eben meine Eltern. Man muss doch seine Eltern besuchen. Oder?

Es ist Sonntag. Zum ersten Mal seit langem ein sonniger Sonntag. Gegen mein Auto gelehnt, lasse ich die letzten Sekunden, die mir noch bleiben ohne unpünktlich zu sein, verstreichen. Ich blicke auf meine Armbanduhr. Fünf, vier, drei, zwei, eins und „Herzlichen Glückwunsch, liebe Katharina Mitterer! Sie haben soeben einen Schlag mit dem Bügeleisen auf den Schädel gewonnen!“ So sieht's aus. Ich bin eben ein echter Gewinner.

Ich drehe mich noch einmal nach links und rechts, nur um festzustellen, dass immer noch niemand auf der erst seit wenigen Jahren asphaltierten Straße zu sehen ist. Noch einmal atme ich tief ein und wieder aus. Und wie jeden Sonntag seit acht Jahren gehe ich möglichst lautlos durch das alte Tor,  bahne mir einen Weg durch den Innenhof, der mit allen möglichen Gartengeräten und anderen Dingen, die ich nicht identifizieren kann, übersät ist, in Richtung Eingangstür.

„Ja grüß dich, Kathi!“, ruft jemand hinter mir quer über den Hof. Meine Mutter. Während sie in ihren verdreckten Gummistiefeln auf mich zuläuft, frage ich mich, wo sie hergekommen ist, denn es gab nur einen Weg in den Innenhof, nämlich das Tor, durch das ich gerade gekommen war. Bevor ich irgendetwas sagen kann, umarmt sie mich auch schon. So fest,  dass mir kurz die Luft wegbleibt.
„Hallo, Mama“, presse ich hervor.
Nach weiteren sechs Sekunden, die mir allerdings länger vorkommen als die Zeit, die ich vor dem Tor gestanden habe, lässt sie mich endlich los. Sie macht einen Schritt zurück und sieht mich von oben bis unten an. In ihren Augen sind Tränen. Wie jeden Sonntag, ob sonnig oder nicht, gibt sie mir das Gefühl, seit Jahren nicht mehr hier gewesen zu sein. Mich überkommt das schlechte Gewissen und ich wende mein Gesicht ab. Warum ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, weiß ich nicht.

„Jetzt sag einmal, wie geht’s dir denn?“, fragt sie, nach der wöchentlichen Musterung.
„Ja eh, passt ...“, noch bevor ich meinen Satz zu Ende bringen kann, drängt mich meine Mutter weiter zur Tür, „komm, Kathi, geh‘ ma schnell rein, der Papa schaut schon.“ Durch das Fenster sehe ich den weißhaarigen, altgewordenen Mann, in gewohnter buckliger Haltung am Esstisch sitzen. In der einen Hand hält er eine filterlose Zigarette, in der anderen eine Tageszeitung. Sein Blick ist auf mich gerichtet. Meine Glieder werden steif. Am liebsten würde ich mich einfach wieder umdrehen, über den Haufen Gerümpel hinwegsteigen, durch das Tor marschieren, mich ins Auto setzen und nach Hause fahren. Aber ich bin doch zu Hause. Oder?

Auf dem Weg ins Haus wischt sich die Frau, mit der ich absolut keine Ähnlichkeit habe und die ich doch „meine Mutter“ nenne, ihre feuchten Augen mit ihrem Ärmel trocken.
Sie schiebt mich durch die Tür und geht an mir vorbei in die Küche. Ich bleibe stehen.
„Schau wer heut‘ wieder gekommen ist!“, höre ich sie freudig sagen. Sie versucht, die Angst vor ihrem eigenen Ehemann zu überspielen. Es gelingt ihr ausgesprochen gut.
„Hob‘s eh g‘sehn!“, nuschelt mein Vater ärgerlich. Ich kann ihn kaum verstehen. Es klingt, als hätte er wieder den üblichen Promillewert.

Während ich mir die Schuhe ausziehe, richtet meine Mutter das Mittagessen an. Mein Herz schlägt so laut, dass ich das Geschepper, das sie dabei macht, nur vage und irgendwie verzerrt wahrnehme. In dem Moment, in dem ich das Zimmer betrete, werde ich durch einen ungeheuren Lärm aus meiner Trance gerissen. Ein Teller ist zu Boden gefallen und in scheinbar tausend Stücke gebrochen. Aufgeschreckt durch den Krach schießen zwei Katzen an mir vorbei. Eine dritte  erwischt, bevor sie es durch die Tür schafft, zunächst meine Beine. Sie schaut für den Bruchteil  einer Sekunde auf. Ihre gelben Katzenaugen treffen mein Gesicht. In diesem Augenblick habe ich das Gefühl, als würde sie mir die Schuld an diesem Zusammenstoß geben. Das tut sie wahrscheinlich wirklich.

„Jajetzglaubisned! Hostjetzanvogl!“, brüllt mein Vater. Ich habe große Mühe, ihn zu verstehen. Er steht kurz auf, muss sich aber gleich wieder hinsetzen. Anscheinend ist er zu betrunken, um aufrecht zu bleiben. Mir wird etwas leichter.
„Ist ja gut. Ich räum‘s schnell weg“, sagt meine Mutter ruhig, um ihn nicht noch mehr aufzuregen. Ein Grunzen, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob es Worte sind oder tatsächlich nur eine Art bestätigender Laut sein soll, ist alles, was er von sich gibt.
„Ich helf dir“, nach einer kurzen Pause habe ich die Kontrolle über meine Beine wieder und gehe weiter in die Küche, knie mich auf die altmodischen Fliesen aus den Sechzigern und versuche, die kleinen Teile des ehemaligen Tellers aufzulesen.
Mein Vater grunzt nur weiter vor sich hin. Es scheint heute doch noch ein ruhiger Sonntag zu werden.

Wir beseitigen alle Scherben, dann bittet mich meine Mutter mich hinzusetzen, „Wir essen jetzt. Dein Vater hat Hunger!“ Sie sagt es so, als würde sie mir die Schuld daran geben, dass wir nicht schon längst gegessen haben. Und wahrscheinlich tut sie das wirklich.
Ich setze mich auf den Stuhl neben meinem Vater. Er sieht mich an. Ich sehe ihn an. Im Hintergrund tickt die Küchenuhr. Kurz habe ich das Gefühl, er weiß nicht, wer ich bin.
„Guad schauma aus“, er ist einer jener Menschen, die es offensichtlich lieben, den Plural zu missbrauchen. Ich sage nichts. Er spricht weiter. Ich verstehe kein Wort.

Mein Blick schweift durch das kleine, düstere Zimmer und bleibt an einem alten Foto hängen. Es zeigt einen jungen Mann und eine junge Frau in einem Innenhof stehend. Sie sehen glücklich aus.  Es sind meine Eltern. Das Foto ist eine Lüge. Meine Eltern waren nie glücklich. Mein Vater war ein Schläger. Meine Mutter war schwach. Und es hat sich nichts geändert.
Ein anderes Foto an der Wand zeigt fünf Kinder. Mich und meine vier älteren Geschwister. Keiner  von ihnen kommt mehr hierher. Seit Jahren schon nicht mehr. Aber man muss doch seine Eltern besuchen. Oder?

Endlich kommt meine Mutter mit drei voll beladenen Tellern an den Tisch.
Ohne ein Wort fangen meine Eltern an zu essen. Stumm stopfen sie Brocken von Fleisch und Gemüse in sich hinein. Mir wird schlecht.
„Was ist denn das?“, frage ich vorsichtig.
„Awüd“, würgt mein Vater hervor. Meine Mutter sagt nichts.
„Was?“, ich habe nichts verstanden und schaue erwartungsvoll auf seine Lippen.
„AWÜD!“, brüllt er, dabei fällt ihm eine bräunliche Masse aus dem Mund. Ich kann meinen Ekel kaum verbergen.
„Wild“, mischt sich meine Mutter endlich ein, „Das ist Wild. Ich glaub Reh. Bin nicht sicher,
haben's vom Mayer Karl kriegt, der ist jetzt Jäger.“
„Aha. Na sehr schön. Ist sicher eine tolle Idee, ihm eine Waffe zu geben“, ist alles, was mir dazu einfällt.

Mein Vater hustet. Es klingt widerlich.
Meine Mutter spricht weiter über den Mayer Karl. Mein Vater hustet lauter, ich kann sie nicht hören. Es ist mir auch egal. Ich will nicht über den Mayer Karl sprechen.
Mein Vater lässt sein Besteck fallen, klirrend landet es am Boden. Meine Mutter stockt, sieht ihn an.
Ich sehe ihn an. Er würgt. Er bekommt keine Luft.
Wir starren ihn nur an.
Es ist Sonntag.
Zum ersten Mal seit langem ein sonniger Sonntag.

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15107

 

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