Ohne Biss

Man hat mir von einer noch jungen Frau erzählt, die vor etlichen Jahren an einem kalten Wintertag mit dem Zug in die Grenzstadt gefahren ist. Vom Bahnhof aus ging sie schnurstracks den kurzen Weg bis zur Zahnarztpraxis auf den erhöht gelegenen Stadtplatz, gab bei dem Fräulein an der Rezeption ihren akkurat ausgefüllten Krankenschein ab, den man damals noch vorlegen hat müssen, wenn man als Kassenpatient behandelt werden wollte. Dann setzte sie sich im Wartezimmer auf einen der mit buntem Plastiktuch überzogenen Stühle, ich glaube, es war ein giftgrüner, warf einen Blick in die „Bunte“, blätterte den „Stern“ durch, suchte in der „Brigitte“ und „Burda“ die Strickanleitungen, hielt sich das gebügelte Stofftaschentuch an die geschlossenen Lippen, hinter denen sich der höllische Zahnschmerz feige verschanzt hatte.
Bereits seit Tagen, ja Wochen trieb er dort sein Unwesen. Zuerst hatte er es sich unter den Backenzähnen gemütlich gemacht, dann breitete er sich auf das gesamte Kiefer aus. Inzwischen gab es keine Stelle mehr, wo er nicht tobte. Kamillentee hatte nicht geholfen, warme Umschlage während der Nacht auch nicht. Das Zusammenbeißen der Zähne hatte ebenfalls keine Linderung gebracht.

Jetzt war der Zeitpunkt erreicht, an dem endlich damit Schluss sein musste. Es war nicht mehr zum Aushalten. Schließlich konnte die Arbeit nicht liegenbleiben. Lange genug hatte sie mit dem Schmerz Geduld gehabt, aber das hat den überhaupt nicht beeindruckt. Nun stand fest, dass der sich mit friedlichen Mitteln nicht bekämpfen ließ. Sie hatte es mit einem Despoten, einem Egoisten, einem Terroristen, einem Partisanen zu tun, der sich in ihrem Mund eingenistet und Stellung bezogen hatte. Er führte einen Angriffskrieg, der unmöglich zu gewinnen war, zumindest nicht unter den derzeitigen Gegebenheiten. Der Gang zum Zahnarzt kam einer Kapitulation gleich. Das gebügelte Sonntagstaschentuch entsprach der gehissten Friedensfahne.
Anständig wäre es vom Schmerz gewesen, wenn er die Kapitulationserklärung angenommen hätte und abgezogen wäre. Er trug ja zweifelsohne den Sieg davon. Aber das war dem fiesen Typ nicht genug. Offensichtlich war er Sadist und wollte den feige und hinterhältig errungenen Sieg noch auskosten. Deshalb ließ er auch hier im Wartezimmer noch nicht locker. Er gab nicht nach, er zog nicht ab. Er nahm sich keinen Urlaub und reiste nicht nach andernorts oder gar in die Arktis. Nein, das war überhaupt nicht nach seinem Geschmack. Er blieb und wartete geduldig auf den endgültig positiven Ausgang seiner Mission. Halbe Sachen mochte er nicht. Das war seine Berufsauffassung, er stammte aus Deutschland.

Die mehr als zweistündige Wartezeit verstrich ergebnislos, vielleicht ergebnisoffen. Schließlich zog die Frau ihr Strickzeug aus der Tasche. Es war ein geringeltes Strampelhoserl. Die Beine waren schon fertig. Nun arbeitete sie am Oberteil. Flink und energisch, ich möchte fast sagen verbissen bewegte sie das Nadelspiel zwischen den Fingern. Aus der Tasche holte sie winzige Wollknäuel. Es waren Reste, und die Farben waren gewagt, g‘scheckert, sagte sie dazu. Das Hoserl wurde arg g‘scheckert. Schließlich mussten die Reste verarbeitet werden, und für das noch ungeborene Baby waren sie grad recht. Sie strickte immer nur eine Runde mit einer Farbe. Das war eine von ihr entwickelte raffinierte Methode, aus der Sparnot geboren und originell. Außerdem wusste die Frau noch nicht, ob sie einen Bub oder ein Mädchen unter dem Herzen trug. Das g‘scheckerte Strampelhoserl konnte bedenkenlos von beiderlei Geschlecht getragen werden. Aber im Wartezimmer vermochte das Gestrick es nicht, sie vom bohrenden, nagenden, quälenden Schmerz abzulenken. Und eine Freude konnte sie unter diesen Umständen an der Handarbeit schon gar nicht entwickeln. So nadelte sie energisch Runde um Runde und fasste den endgültigen, unabwendbaren und folgenschweren Entschluss. Als sie irgendwann ins Sprechzimmer gebeten wurde, die Sprechstundenhilfe schloss leise die schallisolierte Doppeltür hinter ihr, und auf dem Behandlungsstuhl Platz nahm, war sie sich sicher.

Bereitwillig öffnete sie den Mund. Der Zahnarzt warf einen kurzen fachkundigen und mitleidigen Blick hinein. Ja, da fehlt's weiter. Massiver Zahnfleischschwund infolge der Schwangerschaft. Warum sind Sie denn nicht schon früher gekommen? - Mein Gott, keine Zeit! Ich kann doch nicht ständig den Laden zusperren. - Ja, jetzt ist schwer was zu machen. Offensichtlich das Resultat einer massiven Mangelerscheinung. Mit Spritzen und Tabletten sind die Zähne vielleicht noch zu retten. Aber das wird eine langwierige Prozedur. Sie müssen täglich kommen und billig wird die Behandlung nicht. Die Kasse zahlt da bestimmt nicht zu. - Ausgeschlossen, antwortete die Frau, die Zeit hab ich nicht, und ich kann sie mir auch nicht nehmen. Außerdem hab ich kein übriges Geld. Ich stecke doch nicht das, was ich mir mühselig verdiene, in meine Zähne bzw. werfe es Ihnen in den Rachen. Und von den Schmerzen habe ich auch genug.

Das Zahnfleisch war knallrot, und das Herumstochern mit dem Edelstahlinstrument tat höllisch weh. Sie krallte sich mit den Händen am weinroten Kunstleder des Behandlungsstuhls fest, schluckte allen Schmerz, Ärger und Zweifel hinunter, und sagte mit fester Stimme: Reißen Sie alle heraus. Ich will endlich eine Ruh` haben. - Erschrocken fuhr der Zahnarzt zurück und setzte sich auf seinen Drehhocker. - Das kann nicht Ihr Ernst sein! Sie wissen schon, dass Ihnen in Ihrem Alter keine Zähne mehr nachwachsen. Sie sind doch eine fesche Frau. - Bei diesem Satz schaute er auf seine Gerätschaften, dass ja nicht der Eindruck entstehen könne, er wolle ihr schmeicheln. Der Blick auf die Patientenkartei verriet ihm, dass die Frau vierzig war. Das sieht man ihr gar nicht an, dachte er.
Reißen Sie alle raus und zwar gleich. Ich will eine Ruh' haben.
Möchten Sie sich diesen Schritt nicht doch noch einmal überlegen? - Schlafen Sie doch noch eine Nacht drüber!
Nein, ich habe mich entschieden. Ich fahre nicht unverrichteter Dinge heim, und morgen habe ich wieder die gleichen Scherereien. Dann muss ich wieder den Laden zusperren und zu Ihnen kommen. Die Kundschaft verläuft sich schnell. Nein, auf gar keinen Fall. Fangen Sie mit dem Rausreißen an.
Ja, wenn Sie sich so sicher sind, dann gebe ich Ihnen in jede Seite am Ober- und Unterkiefer eine Betäubungsspritze.
Nein, das geht gar nicht! Sie sehen doch, dass ich guter Hoffnung bin. Ich halte das Zähneziehen schon aus. Habe ich doch die Schmerzen bis jetzt auch immer ausgehalten.
Ja, das wird aber kein Zuckerlecken, das können Sie mir glauben. Machen wir heute einen Teil, und in den nächsten Tagen kommen Sie wieder vorbei.
Nein, Sie ziehen mir jetzt augenblicklich alle Zähne. Ich habe Ihnen doch schon gesagt, dass ich nicht ständig den Laden zusperren kann. Also fangen Sie endlich an!
Ja, dann müssen Sie mir aber unterschreiben, dass ich Sie auf die nicht unerheblichen Risiken hingewiesen habe. Mit dem Essen müssen Sie in den nächsten Tagen auch vorsichtig sein, wegen der offenen Wunden, und das jetzt, da Sie schwanger sind.
Ich verhungere schon nicht. Fangen Sie jetzt endlich an. Ich muss ja den letzten Zug noch erwischen.

So unterschrieb die Frau das von der Helferin eilig getippte Formular mit ihrer aufrechten und klaren, keinen Zweifel zulassenden Handschrift, legte den Kopf zurück auf die kunststoffüberzogene Lehne, machte die Augen zu, strich noch ein letztes Mal mit der Zunge über die beiden schmerzenden Zahnreihen und verabschiedete sich von ihnen. Die hatten sie nun über Gebühr lang hundsmiserabel gemein gequält, ja gemartert. Die sollten bloß schleunigst aus ihrem Mund und ihrem Leben verschwinden. Keine Träne wird sie ihnen nachweinen, keine einzige. Schlimm genug, dass sie nicht einfach von selber herausfielen. Das wäre anständig gewesen. So hatte sie den Laden zusperren, zum Zahnarzt fahren und ihn zu diesem ungewöhnlichen Dienst auf Krankenschein überreden müssen. Scherereien über Scherereien.

Mit dem Speichel schluckte sie den ganzen Ärger hinunter, machte den Mund weit auf und ließ den Zahnarzt darin herumwerkeln. Die Hände krallte sie fest in den Lederimitatbezug der Sitzfläche. Alle Muskeln spannte sie an, den Atem hielt sie an und baute so die Lunge zu einem Schutzwall aus, der das Kind im Bauch so gut wie möglich bergen sollte. So wurde Zahn um Zahn gezogen. Es tat gar nicht so weh. Schließlich saßen die meisten auf Eiter, und die Wurzeln lockerten sich rasch, sobald der Zahnarzt mit seiner Zange anfing, kräftig hin- und herzuwackeln. Einer nach dem anderen fiel scheppernd in die bereitgehaltene Metallschale. Die Frau hörte auf mitzuzählen. Es waren zu viele, alle, die sie über die Jahre hinweg noch bewahrt hatte. Jetzt wartete sie nur darauf, dass es endlich vorbei sei. Zwischendurch holte sie immer wieder einmal energisch Luft, pumpte die Lungen erneut voll. Sie glaubte, das Blut zu schmecken, das ihr die Kehle hinablief. Die aufgespreizten Mundwinkel schmerzten. Der Zahnarzt arbeitete zügig. Er wollte diese lästige Behandlung so rasch wie möglich hinter sich bringen. - Die Helferin legte der Frau beruhigend die Hand auf die Schulter, aber diese Art von Mitleid konnte sie überhaupt nicht leiden. Auch dass sie sie anfasste, war ihr zuwider. Energisch schüttelte sie die fremde Hand ab.

Endlich fiel der letzte Zahn scheppernd zu seinen Gefährten in die Metallschale. Die Frau durfte ausspülen. Das Blut wurde ein letztes Mal abgesaugt, mit Watteröllchen wurden die Wunden im Kiefer ausgestopft. Die gesamte Mundhöhle fühlte sich klamm an. Die Frau presste wieder die Lippen aufeinander, öffnete die Augen, hörte auf die Worte, die aus dem Mund des Zahnarztes kamen, ohne sie zu verstehen, blickte in die Edelstahlschale, in der sich die Zähne, ihre Zähne, in einer Blutlache suhlten. Einige unter ihnen waren mit Goldkronen überzogen oder plombiert. Die Helferin packte die betreffenden wortlos in ein Tütchen, das die Frau zum Strickzeug in die Tasche packte. Erleichtert und erschöpft rutschte sie vom Behandlungsstuhl, hielt den Mund fest geschlossen und wickelte sich das wollene Kopftuch um die untere Gesichtshälfte. Sie musste den lädierten Mundraum vor Kälte schützen. Das Risiko einer Entzündung musste sie auf jeden Fall vermeiden. Den zu engen Mantel eilends über geworfen und notdürftig zugeknöpft verließ sie die Praxis. Nickend versprach sie, in ein paar Wochen, wenn die blutenden Wunden abgeheilt sein würden, wiederzukommen, um sich das künstliche Gebiss anpassen zu lassen. So weit mochte sie gar nicht denken. Wer weiß, was bis dahin ist. Erst einmal den letzten Zug nicht verpassen.

Der Zahnarzt wischte sich den Schweiß von der Stirn, behandelte zügig die wenigen noch im Wartezimmer verbliebenen Patienten, allesamt unkomplizierte Fälle. Dann machte er Feierabend und hoffte, dass niemals mehr jemand derartige Dienste von ihm einfordern werde.

Die Frau huschte gerade noch in den abfahrbereiten Zug, setzte sich mit umwickeltem Mund schweigend auf einen der mit rotem Plastik überzogenen Sitze und schaute mit leeren braunen Augen durch das Fenster in die hereinbrechende und vorbeiziehende Nacht. Selten war sie um diese Stunde außer Haus. Sie konnte keinen Gedanken festhalten, der Mantel spannte um den Bauch und sie machte die mittleren Knöpfe auf. Bei der Haltestation im Dorf stieg sie aus und ging durch die Dunkelheit zum Haus, in dem sie wohnte. Ohne ein Wort zu sagen, trat sie ein, legte den Mantel ab, wickelte das Tuch ab. Der Mann saß rauchend am Küchentisch und starrte sie wortlos an. Er wusste, dass sie es getan hatte. Die Lust am Stricken war ihr für diesen Abend vergangen. So setzte sie sich untätig auf ihren Stuhl, wusste nicht, was sie mit den Händen anfangen sollte, blickte schweigend vor sich hin und wich den schweigenden Blicken aus. Bald ging sie zu Bett. Morgen wird es schon wieder gehen.

Schlaflos und unter Schmerzen verbrachte sie die Nacht im immerhin warmen Federbett. Am Morgen stand sie beizeiten auf, kleidete sich im kalten Zimmer rasch an, heizte den Küchenherd ein und bereitete sich einen Kamillentee, mit dem sie sich den Mund ausspülte. Die Zahnbürste im Glas am Ausguss brauchte sie nun nicht mehr. Sie besah sich mit einem huschenden Blick im Spiegel, frisierte sich nach alter Gewohnheit lieblos das dunkle Haar und stellte fest, dass sie die schmalen Lippen aufeinander kniff. So wird das von nun an bleiben. Sie scheute sich davor, in die zahnlose Öffnung zu blicken. - Sie hatte Fakten geschaffen. Dann sperrte sie die Ladentür auf. Die ersten Kundinnen kamen, die sie wortlos bediente. Ihre aufeinandergekniffenen Lippen sprachen für sich, einer weiteren Erklärung bedurfte die Situation nicht. Stellte ihr eine der Frauen Fragen, so gab sie ihr mit den Händen auf den verriegelten Mund deutend zu verstehen, was sie nun ein für alle Mal geregelt hatte.

So verging der Vormittag und auch der Nachmittag. Das Werkeln lenkte von den Schmerzen und vom Hunger ab. Am darauffolgenden Morgen war es schon etwas besser. Die Nacht hatte sie völlig traumlos in erholsamen Tiefschlaf gewiegt. An den kommenden Tagen trank sie Tee und löffelte Suppe, dann begann sie mit dem Einweichen von Brot, wobei sie sich anfangs schämte, aber bald dazu überging, den Zustand als gegeben anzunehmen. Beißen konnte sie ja nun nicht mehr. Später rieb sie sich mit der Glasreibe einen Apfel und löffelte ihn vermischt mit Zwieback. Es ging schon. Die Wunden heilten erfreulich bald, und der Schmerz verschwand, zumindest den im Mund hatte sie radikal ausgemerzt. Das war wirklich wohltuend, keine Zahnschmerzen, aber halt auch keine Zähne mehr.

Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, hatte sie den eingefallenen Mund einer alten Frau. Sie vermied es fortan, ihr Konterfei anzuschauen, und sie vermied es auch den Mund zu öffnen oder gar zu lachen. Wochen später ließ sie sich eine Zahnprothese fürs Oberkiefer anpassen. Die war teuer. Das Geld reute sie. Die Prothese im Unterkiefer passte nie richtig, tat immer weh und rieb das Kiefer wund. Die Frau gewöhnte sich fortan daran, nur die eine Prothese zu tragen. Von Schmerzen im Mund hatte sie ein- für allemal genug.

Mit der Zeit erschien ihr der veränderte Gesichtsausdruck, der ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, normal. Die Speisen musste sie sich arg klein schneiden, und von einem Apfel konnte sie nie mehr abbeißen. Bedauerlicherweise konnte sie auch die Brotscherzl nicht mehr kauen. Die hatten ihr immer so geschmeckt.
Beißen konnte sie nichts mehr und schmecken konnte sie auch nichts mehr. Reichte doch die Prothese im Oberkiefer über den gesamten Gaumen. Da konnte man nichts machen. - Manchmal lutschte sie an gesalzenen Erdnüssen und schluckte sie dann im Ganzen hinunter. Angesprochen hat sie, glaube ich, nie jemand auf ihren zahnlosen Mund und auf ihre falschen Zähne, und wenn doch, hat sie es einfach ignoriert.

Im Frühjahr hat die Frau ihr spätes Kind entbunden und zog ihm das aus Wollrestln gestrickte Strampelhoserl an. Es war ein Mädchen, das, nachdem es aus dem Restlhoserl herausgewachsen war, in die Welt und ins Leben hineinwuchs. Das Kind ist von der zahnlosen Mutter großgezogen worden. Viele Jahre später gab sie ihr aber das Tütchen mit den goldummantelten Zähnen. Welch Nachlass.

Claudia Kellnhofer
www.bitterlemonverwunderung.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 15126

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