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Das bisschen Mensch

Etwas war in ihm verloren gegangen. Eine Art Antwort auf alles, was ihm das Leben entgegengeworfen hatte. Es war nichts Konkretes gewesen, kein festgelegtes Mantra oder durchdachte Überzeugung, mehr ein Gefühl für die Dinge. Er hatte es immer in sich getragen, manchmal hatte es stärker, manchmal schwächer in ihm gehallt. Nun war es verschwunden.

Es hatte nichts damit zu tun, dass er unzufrieden war. Er war schon öfters unzufrieden gewesen, war traurig, war verletzt und ängstlich gewesen, hatte sich manchmal unzureichend und ungeliebt gefühlt. Aber nun gab es eben neben all diesen Regungen kein Gegengewicht, das ihn in Balance gehalten hätte.

Im Nachhinein dachte er, dass es so gewesen sein muss, als ob man etwas verliert, wenn man am Strand spazieren geht. So ganz nebenbei. Man ist mit dem Partner oder Hund beschäftigt, mit dem Tosen der Natur und all den Dingen, die einem durch den Kopf gehen. Eigentlich ist man ganz bei sich, aufmerksam, und trotzdem verliert man etwas. Vielleicht ist es ein Schlüssel, der aus der Hosentasche gerutscht ist. Vielleicht ein Haarband oder ein Feuerzeug. Man merkt es erst gar nicht, weil es so viele andere Sachen gibt, die einen umgeben. Wenn es etwas Wichtiges war, merkt man es hinterher, wahrscheinlich sogar sehr rasch. Manchmal hat man Glück und kann seine Schritte zurückverfolgen und findet es wieder, wenn es noch nicht von der Flut mitgerissen worden ist.

Er hatte kein Glück gehabt. Obwohl er seine Schritte zurückverfolgte, nachdachte, was schiefgelaufen war und wo es angefangen hatte, fand er es nicht wieder. Sein Hausarzt schrieb ihn krank, gab ihm Antidepressiva, empfahl ihm einen Psychotherapeuten und besprach die Möglichkeit einer Kur.

Am ersten Tag zuhause tat er das, was er immer tat, wenn er etwas verloren hatte: Er ging zusammen mit seinem Hund am Strand spazieren. Er vergrub seine Hände tief in den Jackentaschen, zog die Schultern hoch und stapfte los. Der schneidend kalte Wind trieb ihm die gewohnten Tränen in die Augen, und er sah nur verschwommen die brachliegende Weite vor sich. Meer, Himmel, Strand – alles grau, alles kalt und verlassen. Nur das bisschen Mensch mit seinem Hund.

Er bemerkte es erst, als er fast davorstand. Etwas Rotes mit etwas Weißem. Er bückte sich und hob den Turnschuh auf. Weinrotes Leder, abgewetzt und abgetragen. Die lose herabhängenden Schnürsenkel waren mehr beige als weiß, wie er nun sah. Reflexhaft sah er sich um. Doch natürlich war da niemand, bis auf seinen treuen Gefährten, der den Wellen nachjagte. Keine Fußspuren am Boden, kein zweiter Schuh.

Das Leder war innen wie außen trocken. Also war der Turnschuh weder vom Meer angespült worden noch konnte er länger als ein paar Stunden hier gelegen haben. Gestern Abend hatte es geregnet, danach nicht mehr. An der Sohle klebte etwas Sand.

Er blickte in die endlosen Wellen hinaus. Wie konnte man einen Schuh verlieren? Ging man einfach so mit nur einem Schuh weiter, gedankenverloren und ohne es zu merken? Oder hatte das Meer den Rest bereits verschluckt? Und wie viel Rest mochte da noch gewesen sein?

Inzwischen war ihm kalt geworden, er fühlte, wie seine Finger klamm wurden. Er stopfte den Turnschuh in eine Jackentasche und sah noch eine Weile aufs Meer hinaus. Dann pfiff er nach seinem Hund und trat den Rückweg an.

Zuhause setzte er Tee auf und rief die Küstenwache an, die im Winter nur Notbetrieb hatte. Zögerlich sprach er ihnen aufs Band, auch wenn er nicht genau wusste, was er eigentlich sagen wollte. Er berichtete von seinem Fund und der Tatsache, dass ihm das alles sehr merkwürdig vorkam. Es war schließlich nicht der gelegentliche Krempel, den das Meer anschwemmte, weil manche Leute ihren Dreck dort abluden. Es war auch keine Geldbörse, kein Ring oder Buch, nichts, was einem aus der Tasche fallen könnte. Es war ein Schuh.

Als er aufgelegt hatte, setzte er sich aufs Sofa und stellte den Turnschuh vor sich auf den Tisch. Er hatte etwas gefunden, auch wenn es nicht das war, wonach er gesucht hatte.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20068

 

Schwarzweiß

Er fuhr in der U-Bahn, kurz nach sieben, er hatte einen Sitzplatz. Er spielte auf seinem Handy herum, immer die gleiche Szenerie hinter den Waggonfenstern. Die meisten Leute fuhren zur Arbeit, so wie er, manche hatte das Nachtleben in den Morgen entlassen, kein Augenkontakt, das ist nicht üblich in der Großstadt. Er stand mit seinem Aktenkoffer in der Hand auf, bevor die Bahn bremste. Er stieg aus. Über eine Rolltreppe wechselte er in die obere Etage, rechts stehen, Jugendliche drängelten von hinten, he!, der Mann wich von links nach rechts aus, jetzt erkannte man ihn nicht mehr als Provinzler. Die Anzeige auf dem Bahnsteig zeigte, dass die Bahn dieser Linie in zwei Minuten einfahren würde. Von rechts, wusste er. Er war Ernst Reinhardt, 32 Jahre alt, Büroangestellter, ledig, keine Kinder.

Eine junge Frau in Schwarz, mit einem Nietengürtel, blickte in seine Richtung und setzte sich in Bewegung. Er war das Zentrum ihrer Augen. Ernst bemerkte die Frau. Er sah sie auf sich zugehen. Gleichzeitig sah er sie auf dem Gehweg neben einer belebten Straße stehen und sich lebhaft mit einem jungen Mann unterhalten. Der Mann packte ihren rechten Unterarm, worauf sie ihm einige Geldscheine aushändigte. Diese Szene war in Schwarzweiß. Dieselbe Frau, die sich ihm real und in Farbe näherte, befand sich irgendwie in seinem rechten Gesichtsfeld, das schwarzweiße Erlebnis geschah irgendwie links, Ernst konnte es nicht näher definieren, die Zeit war zu knapp. „Haben Sie eine Zigarette?“ Bleich, aber jetzt nur in Farbe stand sie vor ihm, das zweite Bild war verschwunden. „Tut mir leid, ich rauche nicht.“ Sagte sie gedämpft „Arschgesicht“ beim Weggehen vor sich her?

Ein seltsames Erlebnis, so etwas war Ernst noch nie passiert. Seine Augen wiesen keine organischen Fehler auf. Er sah ja klar und deutlich und in allen Farben, was da war. Nur gerade vorhin war es, als sähe er dieselbe Person in einer anderen Zeit, wohl in der Vergangenheit, zuerst sein Geld hergeben müssen und dann nichts mehr für eine Zigarette zu haben, dargestellt in Schwarzweiß. Weil sie etwas von ihm wollte, dadurch teilte sich sein Blick. Eigentlich eine gute Schutzfunktion, aber sie kann sicher auch sehr anstrengend werden. Sie müsste den Grad der möglichen Bedrohung erkennen, das wäre wichtig. Als Politiker wird man ja sonst verrückt. Na ja, dachte Ernst, vielleicht war es auch nur eine einmalige Sache. Seine U-Bahn fuhr gerade ein. Sitzplatz war keiner frei, diesmal musste er, sich an einer Stange festhaltend, stehen. Rumpelrumpelrumpel. Zrrrr, die Räder kreischten, die Geschwindigkeit abbauend. Zisch, die Schiebetür ging auf. Ein paar Meter noch im Menschenstrom, die Oberfläche erreicht. Frische Luft und ein wenig Sonne. Über den Platz zum Firmengebäude aus Beton und Stahl und Glas. Die beiden Empfangsdamen saßen hinter einer transparenten Trennwand, die rechte, korpulentere, Ernst kannte ihren Namen nicht, aber sie kannte seinen, „Herr Reinhardt“, rief sie und winkte mit der rechten Hand.

Plötzlich war es wieder da, dieses Schwarzweißbild vor dem linken Auge. Die korpulente Empfangsdame wurde angerufen, „Schlütter“, meldet sich auf ihrem Headset der Chef der Personalabteilung, „schicken Sie bitte den Reinhardt unverzüglich, nachdem sie ihn gesehen haben, zu mir.“ „Wird erledigt, Herr Doktor.“ „Herr Reinhardt“, rief sie, farbig nun für beide Augen, Herr Dr.“ „Schlütterli“, unterbrach Ernst, „will mich dringend sprechen. Ich weiß schon.“

„Aber woher?“, erkundigte sich die Empfangsdame. „So eben.“

„Unsere Firma hat Probleme, wie Sie wissen, Herr Reinhardt, und Sie sind als einer der Letzten zu uns gestoßen“, eröffnete ihm Schlütterli, scheinbar beschäftigt Figuren auf einen Block kritzelnd. Ja natürlich, es war ja schon klar gewesen, als die dicke Gute-Morgen-Frau ihn gerufen hatte, die Rückblende war nur noch die Bestätigung gewesen. Und wie gerade soeben sein linkes Auge in Schwarzweiß gesehen hatte, wie der Geschäftsführer Schütterli robust und unmissverständlich niedergemacht hatte- „Misten Sie aus in Ihrem Menschenmaterial. Die Kosten müssen runter! -, das war der Grund, der Auslöser, das brachte ihm Hintergrundwissen, mit dem er aber nichts anfangen konnte und das seine Situation nicht verbesserte: Er hatte gerade seinen Job verloren.

Schlecht also, ja, aber nicht abgrundtief, höllennah.

Er war ein guter Mann im produktiven Alter, er lebte in einer Großstadt, er würde bald etwas Neues finden. Bis dahin sollten das Arbeitslosengeld und die Ersparnisse für alle anfallenden Kosten langen. Und er hatte diese neue Eigenschaft gewonnen, von der er jedoch nicht wusste, wie er sie sich zunutze machen konnte.

Er kaufte sich Bier und etwas zu essen in einem Supermarkt. Die Waren lagen auf dem Förderband. Bei dem Sackerl mit den Clementinen fehlte der Barcode. Die Kassiererin blickte leicht verzwickt, als sie die volle Bierkiste sah. „Einen Moment bitte, ich muss den Preis herausfinden“, sagte sie und ging in die Obst- und Gemüseabteilung. Und Ernst sah in Schwarzweiß auf seinem linken Auge, wie der Mann der Kassiererin sie in einer Wohnung schlug, zuerst mit der flachen Hand ins Gesicht, mit der Faust in den Bauch, er riss sie an den Haaren, er trat sie, mit glänzenden Säuferaugen und in einem kaum verständlichen Singsang brüllend, dann wollte er sie nehmen, sie wehrte sich, sie ließ ihn nicht, dann schlug er ihr mit der Faust ins Gesicht, mehrmals, mit viel Kraft, daraufhin ließ sie ihn. Inzwischen war die Kassiererin wieder in Farbe zur Kassa zurückgekehrt und rechnete die Waren ab. Nur noch diese eine Kassiererin war hier. Sie war sehr stark geschminkt, was nicht zu ihrem biederen Typ zu passen schien.

Zuhause betrank er sich. Eigentlich aß er nur, um eine gute Unterlage zu haben und so noch mehr trinken zu können. Zwölf Tage war er noch in der Firma angestellt, aber ab sofort freigestellt, dann ginge es raus in die freie Wildbahn, Arbeitsmarkservice, Bewerbungen schreiben, anrufen, Vorstellungsgespräche, alte Kontakte reaktivieren. Er könnte eigentlich unverzüglich mit alldem anfangen, aber, nein, er wollte, und er hatte es sich auch verdient, jetzt einmal eine Pause machen, „den Akku aufladen“ wie es so kindskopfschön technisch heißt.

Dann lief es doch nicht so glatt. Beim Arbeitsmarktservice waren nur schlechtbezahlte Stellen zu haben, und auch die waren sofort vergeben. Bewerbungen schrieb er fleißig, fasste telefonisch nach, aber er wurde selten eingeladen, und dann war er einer von Dutzenden, die diesen Job wollten und brauchten. Er kam nicht zum Zug. Seine alten Bekannten sahen in ihm keinen Vorteil mehr, vertrösteten ihn oder ließen ihn gleich links liegen und widmeten sich lieber ihren Familien. Auch wurde sein linkes in die Vergangenheit sehendes Auge immer seltener aktiv, da er eben nur noch wenig zu bieten hatte und darum kaum noch jemand etwas von ihm wollte.

Er sah viel fern, Spielfilme, Dokumentationen, aber auch Spieleshows, Soaps, und Kindersendungen, je mehr Zeit verstrich, desto mehr Blödsinn schaute er, Tag und Nacht, sein Schlaf- und Wachrhythmus war zerbrochen. Wozu er eigentlich noch ein Handy hatte, wusste er gar nicht. Niemand rief ihn mehr an. Im Fernseher waren wenigstens Menschen. Fernsehen gegen die Einsamkeit.

Gerade lief so eine Gerichtsshow, die einem Drehbuch folgte, mitten am Nachmittag. Ernst hatte die Vorhänge zugezogen, damit der Bildschirmkontrast stärker war. Er rauchte eine Zigarette, er hatte damit wieder angefangen. Plötzlich verstand er die Handlung nicht mehr. Er bemühte sich genau zuzuhören. Die Sätze der Akteure ergaben keinen Sinn. Ihm war schwindlig geworden. Die Zigarette war nur noch Asche. Er drehte ganz langsam den Kopf, was sehr mühsam war. Da sah er sein Gesicht im Spiegel, alle Farbe war aus ihm gewichen. Es war das Gesicht eines Toten, der noch lebte.

Er hatte einen Schlaganfall erlitten. Der Scan in seinem Gehirn zeigte große weiße Flecken, das waren die zerstörten Areale, es war wie auf einer uralten Weltkarte, wo so viele Gebiete noch Terra incognita waren. Sein Sprachzentrum war betroffen, er kniff die Augen zusammen und ließ die wichtigsten Gedanken zusammenströmen, um einfache Worte zu formen, selten reichte es für kurze Sätze, und auch seine Motorik war angeschlagen, seine Beine an ihm wirkten wie Prothesen. Er wurde als zu fünfundneunzig Prozent behindert eingestuft. Alles Schöne lag hinter ihm. Und das mit 32.

Wenn er jetzt durch die Stadt stakste wie auf viel zu kurzen Stelzen, sah sein linkes Auge nur noch schwarzweiß, wenn ihn eine Bettlerin um einen Euro bat. Die allermeiste Zeit war alles in Farbe und so, wie es war. Lange Wege zu Fuß strengten ihn an, er saß oft auf Parkbänken, Lokale waren ihm zu teuer. Gerne schaute er den Enten in den Teichen zu und beobachtete, wie im Herbst immer mehr Blätter auf dem Boden lagen. Er lernte seine Stadt sehr genau kennen, achtete auf kleine Dinge. Besonders mochte er die alten Viertel der kleinen Leute, wo die oft baufälligen Häuser nicht abgerissen worden waren, weil es unrentabel war, dort neu zu bauen.

Langsam ging er durch eine Seitengasse zwischen Mietshäusern mit abblätterndem Putz, verwitterten Fensterrahmen und teils gebrochenen Scheiben. Der Abend brach gerade an. Nach zweihundert Metern war eine Straßenbahnhaltestelle. Von dort würde er seinen Heimweg beginnen. Vor dem Eingangstor eines Hauses stand eine blonde, leicht füllige Frau mit einem Gesicht, das früher wahrscheinlich recht schön gewesen war. Sie fixierte Ernst. Er sah sie, rechts in Farbe und links in ihrer schwarzweißen Vergangenheit. Sie war dort nicht alleine, sie war viel jünger, und ein Baby war bei ihr, ihr Baby. Das Baby war krank, das Baby lag im Sterben, die Frau weinte. „Haben Sie Kind?“, artikulierte Ernst mühevoll die Worte. „Nein, nicht mehr, leider“, antwortete die Frau.

„Ich kann helfen“, sagte Ernst schnaubend. Und jetzt sahen beide seiner Augen schwarzweiß. Er lag mit seiner Statur in einem Kinderbett, er war krank, schwer krank, er würde sterben. Daneben hielt die Frau ihr Baby, das Baby lachte vierzähnig und versuchte, die Nase der Mutter zu fassen. Und die Mutter lachte ebenfalls.

Der Gerüstbauer

Der Gerüstbauer

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20258

Rosaphob

Hinweis der Redaktion:
Dieser Text thematisiert Gewalt und enthält Verstörendes,
unabdingbar aus der Sicht des betroffenen Protagonisten.

Ich war sieben, als es begann.

‚He, Alois!‘, sagte Mutter zu mir.

Ich lag auf dem Boden in der Stube, mitten in den Staubfuseln, die schon an Altersschwäche zu sterben drohten. Ob die älter waren als ich?

‚Komm schon her, wenn ich es dir sage!‘

Das Superman-Comicheftchen legte ich beiseite und folgte dem wie immer forschen Befehl meiner Mutter.

‚Vater ist wieder besoffen und zu nichts mehr im Stande. Spiel ein wenig mit mir. Du darfst nebenbei ein bisschen fernsehen.‘

Dabei lag sie auf der zerschlissenen Couch, hatte ihre Beine angewinkelt und weit auseinandergespreizt. Ihre Oberschenkel erinnerten mich an das Werbemännchen einer französischen Reifenmarke. Kein Höschen. Nur ein hautenges T-Shirt, das ihre dicken Titten viel zu stark zur Geltung brachte und ein viel zu kurzer Rock, den sie viel zu weit nach oben schob.

‚Fass mich an, genau hier!‘

Ich starrte in ihr glänzendes Rosa, dann in ihr rundes Gesicht, mit den rosa bemalten Lippen und den vor Vorfreude leuchtenden rosa Backen.

‚Ich mag das.‘

‚Aber, ich …‘

‚Los Alois, mach schon, deine Hand, steck sie rein!‘

Widerspruchslos und schmatzend verschwand meine kindliche Hand in ihrer überdimensionalen Vagina, während Vater in der Küche am Tisch seinen Rausch auspennte. Mutter stöhnte. Im Fernsehen lief der rosarote Panther und versuchte, mich von meiner Handarbeit abzulenken.

‚Tiefer rein!‘

Paulchen, Paulchen mach doch weiter.

‚Wieder raus!‘

Heut ist nicht alle Tage.

‚Schneller!‘

Ich komm wieder, keine Frage.

Paulchen Panther kam wieder. Jeden Freitagnachmittag. Und ich versenkte meine kleine Faust in Mutters haariger, rosa Muschi. Jeden verfickten Freitagnachmittag. Seit dieser Zeit bin ich hochgradig rosaphob. Erdbeerjoghurt aß ich nur mehr auf strikten Befehl meines Vaters.

‚Jedes Kind mag Erdbeeren. Also iss das Scheißjoghurt, Alois!‘

Ich kotzte es postwendend auf die Resopalplatte unseres Küchentisches. Vater drückte mein Gesicht in das Erbrochene, damit ich mir merkte, dass sich das nicht gehörte und ich erfahren durfte, wie gut Erdbeerjoghurt eigentlich schmeckte. Eine Kombination aus Schweißausbrüchen, Herzrasen und trockenem Mund überfiel mich jedes Mal, wenn ich in der Schule nur in die Nähe der vielen in rosa getünchten Mädchen kam.

‚Alois, was glotzt du so, du Trottel?‘

Die Gören glaubten, mein eindringliches Stieren wäre ein plumper Annäherungsversuch. Dabei waren es panische Abwehrversuche, Fluchtinstinkt. Auch die Lehrerin stand irgendwie auf Rosa. Lippen. Fingernägel. Alles in verdammtem Pink.

‚Stotter nicht so rum, Alois, ich hab dich was gefragt!‘

Keine Ahnung, was sie wissen wollte. Ich war außerstande, mich auch nur auf irgendwas zu konzentrieren, außer die mir gefährlich näherkommenden rosa Fingernägel. Mir war, als witterte ich sogar Frau Lehrerins rosafarbenes Geschlechtsorgan durch ihren knöchellangen Baumwollrock hindurch. Fürs unerlaubte plötzliche Verlassen des Klassenzimmers musste ich Nachsitzen. Fürs Nachsitzen belohnte mich Mutter mit einer zusätzlichen Massage ihres Genitalbereiches. Dieses Mal leider ohne den rosa Panther zur Ablenkung, weil es war ja erst Donnerstag.

Obwohl Paulchen Panther die abscheulichste Farbe in seinem Namen trug, war er mein bester Freund. Ohne ihn hätte ich sicher nicht überlebt. Damals hatten wir noch keinen Farbfernseher. Der Panther stolperte in freundlich-neutralem Mausgrau von einem Fettnäpfchen ins nächste. Paulchen war spitze. Paulchen war lustig. Paulchen lenkte mich ab, wenn meine Faust mal wieder in Mutters Möse steckte.

Beim Klassenausflug in den Münchner Zoo wurde mir meine Rosaphobie erneut zum Verhängnis. Dabei wollte ich lediglich den armen eingesperrten Affen helfen. Sie mussten sich den ganzen Tag lang unzählige Flamingos ansehen, die in nächster Nähe auf ihren Solettistelzen herumstolzierten. Wenn unter den vielen Affen nur einer war, der nur halb so rosaphob war wie ich, dann konnte er diesen Anblick sicherlich nicht ertragen. Also versuchte ich, die Flamingos mit aus der Distanz geworfenen, faustgroßen Steinen zu verjagen. Als einer umfiel, kam ein Zooheini, brüllte mich an und donnerte mir eine, dass ich – wie der Flamingo – flach dalag und mich im Off befand. Sterne umkreisten mich. Gottseidank nur grüne und blaue.

Das war das erste Mal, dass Vater mir auf die Schulter klopfte und sich dabei vor Lachen beinahe anpisste. Hatte ich doch tatsächlich dem schwulen Flamingo aus zehn Metern Entfernung den Garaus gemacht. Vielleicht wurde ja doch noch was aus mir?

Als ich zehn war, begann ich Paulchen Panther zu hassen. Das war an dem Tag, als wir unseren ersten Farbfernseher bekamen. Ich stellte fest, dass Mutters Fotzenrosa dem von Paulchen erschreckend ähnlich war. Noch bevor Mutter mich auffordern konnte, ihr meine Hand da unten reinzustecken, saß ich am Klo, kotzte und heulte, weil Paulchen, mein einziger Verbündeter, sich plötzlich mit Mutter gegen mich verschworen hatte. Mein Kotzen und Heulen ersparte mir jedoch nicht die anschließende obligatorische Handarbeit.

Dass ich mich selbst mit fünfzehn noch keinem Mädchen näher als nötig näherte, begründeten Vater und Mutter mit meiner Lahmarschigkeit, meiner Unfähigkeit Freunde zu finden, meinem ungepflegten Äußeren und meiner Fettleibigkeit im Allgemeinen. Meine Schüchternheit, meine Schweigsamkeit, mein übertriebener Drang zur Selbstbefriedigung, meine nicht vorhandenen Eier und meine grundsätzliche pubertäre Dummheit kamen – aus ihrer Sicht – erschwerend hinzu.

Dass ich schlicht und ergreifend Panik hatte, irgendwann mit einer rosa Vulva in Kontakt zu geraten, wenn ich mich mit Mädchen abgab, konnten sie nicht ahnen. Wem hätte ich denn sagen sollen, was Mutter und ihre Libido jeden Freitagnachmittag von mir verlangten, wenn der rosarote Panther im Fernsehen lief? Wem, außer meinem Vater?

Noch nie habe ich so ein irres, schallendes Gelächter von ihm gehört. Nicht einmal über den toten schwulen Flamingo und auch nicht über seine eigenen schlechten Witze hat er sich je so amüsiert. Sein fetter, gedrungener Körper bebte vor Lachen und schien mir kurz vor einer Explosion. Wie der kugelrunde Typ bei Monty Python’s ‚Der Sinn des Lebens‘. Leider hatte ich kein Minzblättchen bei der Hand. Kurz vor dem Platzen hielt er inne, schaute mich mit großen offenen Augen an und sorgte dafür, dass sich sein Handabdruck nachhaltig in meinem Gesicht verewigte und mir gleichzeitig sechzig Prozent meines Hörvermögens abhandenkamen.

Als ich mich wieder hochrappelte und gerade vor ihm stand, stellte ich fest, dass Vater lediglich fetter war als ich. Ich war fünfzehn, stabil gebaut und vollgepumpt mit aufgestautem Hass. Er war also nicht größer, dafür war er langsamer als ich. Erheblich sogar. Denn bis er sich sammeln konnte, seine von meiner rechten Faust zertrümmerte Nase realisierte samt dem Blut, das in Bächen über seinen Schnauzer und sein Doppelkinn rann, war ich längst aus dem Haus getürmt. Mitgenommen hatte ich das Bewusstsein, nie wieder von Vater geschlagen oder von Mutter missbraucht zu werden.

Zwischenzeitlich ist Vater tot. Schon seit Jahren. Hat sich totgesoffen, totgeraucht und totgefressen. Da musste gar keiner nachhelfen. Was genau letztendlich in seinem Totenschein stand, weiß ich gar nicht. Und Mutter, kein Gramm leichter als mein toter Vater, verendete vor wenigen Stunden auf ihrer Couch, zufällig bei meinem ersten Besuch seit über zehn Jahren.

Offiziell verreckte sie an Herzversagen, wie mir der Arzt gerade mitgeteilt hat. Mit dieser Diagnose kann ich gut leben. Der Amtsarzt bemerkte die ziemlich frischen Kratzer, die mir Mutter mit ihren noch immer pink lackierten Fingernägeln verpasst hatte, als sie gegen das rosa Plüschkissen in ihrem Gesicht kämpfte.

Machst ja manchmal schlimme Sachen.

Am Ende meinte der Amtsarzt teilnahmslos ‚Warst lange weg, Alois. Beileid‘.

Über die wir trotzdem lachen.

Mir war, als schaute er mich etwas länger an als nötig, fragte sich vermutlich, ob ich …? Dann presste er seine Lippen zusammen, sagte leise ‚Pfüat Gott‘ und ging. Als dann alle weg waren, der Amtsarzt, der Pfarrer, die Leute vom Beerdigungsinstitut und meine fette tote Mutter endlich in einem passenden XXL-Kunststoffsarg aus der Wohnung gekarrt worden war, ging ich aufs Klo und erleichterte mich. Ich spritzte mir eiskaltes Wasser ins Gesicht und erfreute mich an meinem freundlich-befriedigten Grinsen im Spiegel.

In diesem Moment fasste ich den Entschluss, mich selbst zu therapieren. Ich musste mich lediglich einer Überdosis Rosa aussetzen. Vielleicht für ein paar Stunden, ein paar Tage oder länger. Egal. Ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich es schaffen konnte, schließlich hatte ich heute schon für Minuten ein rosa Kissen in der Hand und mich kratzende rosa Fingernägel im Gesicht. Und ich habe überlebt. Ich!

Ich malte mir aus, wie ich bei Aldi Erdbeerjoghurt kaufte und Donuts mit rosa Zuckerguss. Das wollte ich dann alles im Zoo bei den Flamingos genießen, bevor ich mir im Münchner Rotlichtviertel für eine Stunde eine dunkelhäutige Nutte kaufen wollte, bei der das vaginale Rosa noch stärker zum Ausdruck kommen müsste, als ich es mir in meinen schlimmsten Albträumen vorgestellt hatte. Vielleicht gelang es mir sogar, ihre Möse zu berühren? Vielleicht konnte ich sogar an ihr schnuppern, lecken? Mein Gott, alles war möglich. Euphorie überkam mich. Freudenschweißperlen sammelten sich auf meiner Stirn. Ich brauchte jetzt ein wenig Rosa. Jetzt! Sofort! Vorab, um mich einzustimmen, mich warm zu machen, so wie Fußballer es vor jedem Spiel tun. Mutters rosa Pillen, die ich im verschmierten Spiegelschrank fand, schienen perfekt. Ohne jeglichen Würgereflex warf ich die erste ein.

Wer hat an der Uhr gedreht?

Die zweite machte schon fast Spaß und bei der vierzehnten oder fünfzehnten fühlte ich mich wie ein geiler, schwuler, rosa Flamingo.

Ist es wirklich schon so spät?

Dann schaltete ich den Fernseher ein und zappte solange, bis Paulchen Panther über den Bildschirm spazierte.

Mit dem Paul ist Schluss für heut‘!

 

Helmut Loinger

Erstveröffentlichung in der Literaturzeitschrift „Spurwechsel„, Nr. 4, 2017

www.verdichtet.at |Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20038

Kanonenfutter

Bin auf der Durchreise. Kehre beim Deichwirt ein. Bestelle das „All-you-can-eat“- Angebot: Gulaschsuppe bis zum Abwinken.

Löffele meine Suppe. Herzhaft, würzig. Sämig. Fleisch etwas zäh.

Das Lokal dämmrig, im Hintergrund dudelt ein Radio. Am Stammtisch in der Ecke ein Rentnertrio: einer dick wie Calmund, einer mit Glatze wie Kemmerich, einer Strickjackenträger. Alle drei mit Suppentellern vor sich. Der Dicke schiebt eine Scheibe Brot quer in den Mund, Glatze füllt konzentriert Suppe vom Teller in seinen Rachen. Und Strickjacke hält einen Vortrag:

„Das Fleisch hätte sorgfältiger ausgewählt werden müssen, findet ihr nicht? Ein ganzes Rind, sagt Jupp, hat er billig bekommen, vor vier Tagen. Davon gibt es jetzt die Suppe.“

„Wenn das mal nicht einen unnatürlichen Tod gestorben ist“, der Kommentar dazu von Glatze.

Der Dicke schweigt und isst.

Strickjacke weiter: „Sogar eine Gulaschkanone hat er extra dafür gemietet. Darin kann man ja gar nicht schmackhaft kochen. Viel zu groß. Kochkunst hat etwas mit Sensibilität zu tun, mit Feingefühl. Mit wohldosierten Prisen, nicht mit schaufelweisen Zutaten. Mit zarter Hand, die sanft das Filet zerteilt, statt mit grobem Zerhacken von altem, zähem Fleisch.“ Er gerät ins Träumen.

„Dafür haust du aber ordentlich rein, Kalle“, sagt Glatze, ohne von seinem Teller aufzusehen.

„Na ja, für den Preis kann man wohl nicht mehr erwarten“, Strickjacke fuchtelt mit seinem Löffel wie ein Lehrer mit dem Rohrstock. „Auch nach vier Tagen Kochen wird aus billigem Fleisch kein Drei-Sterne-Gulasch, aus Jupps Lokal kein Michelin-Restaurant. Sehr bedauernswert, das. Dem Alten, Jupps Onkel Kurt, dem wäre das gar nicht recht. Der ist sehr streng und anspruchsvoll mit seiner Küche.“

„Deswegen lässt Jupp den ja auch nicht mehr rein“, nuschelt der Dicke mit vollem Mund, „da fliegen jedes Mal die Fetzen, wenn Kurt in seine Küche eindringt“, sagt er. Aus seinem Mund fliegen Brocken.

„Trotzdem“, doziert Strickjacke weiter, „wird der Jupp das hier mal erben. Leider. Da kann Kurt nichts dagegen unternehmen, er hat sonst keine Verwandtschaft.“

„Halte mich da raus.“ Glatze beugt sich tiefer über seinen Teller. Im Radio läuft Meat Loaf.

Strickjacke setzt seine Ansprache fort: „Wie auch immer, von billigen Zutaten kann man nichts anderes erwarten, daraus wird nun mal kein Gourmet-Menu. Da hilft auch kein starkes Würzen.“

Weiß gar nicht, was er hat. Finde die Suppe durchaus genießbar. Werde mir einen Nachschlag bestellen.

„Meine Damen und Herren, wir unterbrechen unser Radioprogramm für eine Vermisstenmeldung der Polizei. Gesucht wird der 84-jährige Kurt Sämig. Der Vermisste ist 1,72 m groß und von hagerer Statur. Zum Zeitpunkt seines Verschwindens trug er einen grauen Anzug und schwarze Schuhe. Auffallend an Kurt Sämig sind seine langen grauen Haare. Der Vermisste wurde zuletzt vor fünf Tagen in der Nähe seines Restaurants in Tückensiel gesehen.
Zweckdienliche Hinweise zum Verbleib von Kurt Sämig nimmt jede Polizeidienststelle entgegen.“

Kratze den letzten Tropfen aus meiner Suppentasse. Führe den Löffel zum Mund.

Weiß, dass ich nie wieder Gulaschsuppe bestellen werde: An meinem Löffel hängt ein langes graues Haar.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 20030

 

 

 

Tod einer Radfahrerin

1)

Manuel stand in der Küche und kochte eine Tomatensuppe. Draußen schien die Wintersonne herein und er hörte an diesem Freitagnachmittag das Ö1-Mittagsjournal und dachte, dass die Welt sich nie ändern würde. Dass alles immer so bleiben würde, die Dramaturgie des Weltgeschehens wiederkehrend wäre, und die Menschen nicht schlauer würden.

Er freute sich auf seine Frau Larissa, die bald von der Arbeit zurück sein müsste. Seit Kurzem arbeitete sie als Assistentin bei einem praktischen Arzt. Sie hatte ihm oft erzählt, dass sie ihre neue Arbeit glücklich mache. Aufgrund ihrer medizinischen Ausbildung dürfe sie nicht nur die Terminvereinbarungen mit Patienten treffen, sondern stünde dem Arzt bei Untersuchungen assistierend zur Seite.
Er wunderte sich, dass sie nicht schon zu Hause war. Mittlerweile war das Mittagsjournal zu Ende und die Küchenuhr zeigte auf ein Uhr. Nachdem die Ordination am Freitag um zwölf Uhr mittags sperrte und nicht weit von ihrer Wohnung entfernt lag, war die Strecke mit dem Rad in gut fünfzehn Minuten zurückzulegen.

Je länger er auf Larissa wartete, desto mehr dachte er an das Telefonat, das er in den letzten Wochen immer wieder verdrängt hatte. Doktor Gronau, der neue Arbeitgeber von Larissa, hatte ihn angerufen, als sie bereits ein paar Tage bei ihm in der Ordination gearbeitet hatte. Der Arzt hatte etwas ausgesprochen, was Manuel nie für möglich gehalten hätte, zumindest konnte er die Zeichen in der Vergangenheit nicht deuten. Er war mit Larissa seit zwei Jahren verheiratet, aber es war für ihn schwer vorstellbar, dass hinter ihrem fröhlichen Wesen noch eine andere Seite existierte.
„Haben Sie schon mal beobachtet, dass ihre Frau heimlich weint, ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?“, fragte ihn der Arzt, der seine Mutmaßung ohne Umschweife und ganz direkt aussprach. „Ich bin kein Seelenklempner, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass ihre Frau auch eine ziemlich depressive Seite hat, die sie ganz gut kaschieren kann“, sagte Gronau. Er sagte, er hätte ihr Weinen dann beobachtet, wenn gerade keine Patienten in der Praxis gewesen wären, sie alleine hinter dem Anmeldetresen saß, und glaubte, nicht beobachtet zu werden.

Insbesondere fiel ihm ihr trauriges Verhalten dann auf, wenn wenig los war, als bedeutete die Arbeit einen gewissen Grad an Ablenkung für sie. Manuel war überrascht, als er diese Beobachtungen geschildert bekommen hatte. Anderseits aber löste sich ein fragwürdiges Verhalten seiner Frau etwas auf, das er stets zur Seite geschoben, immer wieder verdrängt hatte. Dachte er an seine Ehe, dann kam es ihm vor, dass Larissa immer dann zu Höchstform auflief, wenn bei ihnen zu Hause ein möglichst großes Tohuwabohu vorherrschte. Je mehr Besuch bei ihnen zugegen war, sei es, dass ihre Freundinnen mit ihren Kindern lärmend bei ihnen einfielen oder Larissas Geschwister unangemeldet zu Besuch kamen, umso fröhlicher und extrovertierter wurde sie.
Sie zog sich immer nur dann zurück, oder ging ihm aus dem Weg, wenn es bei ihnen besonders ruhig geworden war. Wenn sie nur zu zweit waren, oder wenn sie an verregneten Sonntagnachmittagen nicht wussten, was sie mit sich anfangen sollten, erinnerte sich Manuel.

2)

Er hörte, wie Larissa die Eingangstüre öffnete, sich ihre Schuhe auszog und ihre Jacke auf der Kleiderablage aufhängte. Sie trat in die Küche ein und riss ihn vollends aus seinen Gedanken heraus. „Na endlich, ich warte schon die längste Zeit auf dich. Die Tomatensuppe ist schon fertig“, sagte er, und während des Sprechens begriff er, dass seine Begrüßung nicht gerade herzlich ausfiel. „Von Arbeit hast du wohl keine Ahnung“, sagte Larissa, die ihre Miene verzog. Er sagte ihr, dass es im leidtue, sie etwas forscher begrüßt zu haben, aber er habe sich eben Sorgen gemacht, wo sie denn bleiben würde. Sie erwiderte ihm, dass er sich seine Entschuldigung auf den Hut picken könne, nämlich das, was gesagt wurde, könne nicht mehr zurückgenommen werden.
Er war ob Larissas Reaktion vollkommen perplex und konnte sich nicht erklären, warum sie so gereizt war. Er fragte sich, ob in der Ordination etwas vorgefallen sei, hütete sich aber, sie darauf anzusprechen. Als ob seine vorherigen Gedanken, seine Erinnerung an das Telefonat mit Dr. Gronau etwas ausgelöst hätten. Vielleicht gab es ja telepathische Gedankenassoziationen, dachte er sich. Einer dachte was, und der andere fühlte sich unbewusst angesprochen.

„Mir ist die Lust auf deine Tomatensuppe eigentlich vergangen“, sagte Larissa, die sich von ihm abwandte und die Küche wieder Richtung Flur verließ, sich eilends Schuhe und Jacke anzog und die Eingangstüre krachend ins Schloss fallen ließ. Manuel konnte es nicht glauben, dass ihr Verhalten so aufbrausend war. Er blickte zum Küchenfenster hinaus und beobachtete sie, wie sie ihr rotes Fahrrad aus dem Radständer hob und in Richtung Bahnhof davonfuhr. Er erinnerte sich daran, dass ihr Lieblingskaffee in der Nähe des Bahnhofs war. Seitdem sie von der Großstadt in die Kleinstadt verzogen waren, waren die Wege für sie beide kurz und nachvollziehbar geworden. Sie musste nur den Bahnübergang queren, und schon würde sie zum Bahnhof mit dem kleinen Einkaufszentrum gelangen.

3)

Manuel löffelte lustlos die Tomatensuppe direkt aus dem Topf und überlegte, was er mit dem Freitagnachmittag anfangen sollte, und ob seine Frau tatsächlich depressiv sei. Der Beginn des Wochenendes hatte für ihn einen fahlen Beigeschmack, und obwohl draußen die Sonne schien, hatte er das Gefühl, dass sich ein grauer Schleier über der Stadt ausbreitete. Er wollte nicht grübelnd mit negativen Gedanken den Nachmittag zu Hause verbringen, denn das würde an der Situation, dass Larissa scheinbar eine Laus über die Leber gelaufen war, nichts ändern.
Er wollte immer schon mal in die Großstadt fahren, um wieder ein paar Runden durch die Altstadt drehen zu können. Er beschloss, das zu tun und mit dem Zug zu fahren. Vielleicht würde er ja Larissa am Bahnhof über den Weg laufen, und sie könnten sich zu einem Versöhnungskaffee zusammensetzen. Das wäre eigentlich sein Wunsch, gestand er sich ein, denn in die Stadt zu fahren, war zwar schön, aber doch nur ein fauler Kompromiss.

4)

Manuel saß im Regionalexpress, der langsam anrollte und in etwa einer dreiviertel Stunde am Ziel sein würde. Er hatte einen Fensterplatz und die Sonne schien herein. Larissa war er am Bahnhof nicht begegnet, was ihn etwas traurig stimmte. Der Zug entfernte sich mit immer schneller werdender Geschwindigkeit aus dem Bahnhofsbereich und näherte sich dem Bahnübergang, den Larissa und er von zu Hause immer nehmen mussten, wenn sie zum Bahnhof wollten. Er wollte gerade aufstehen, um sich seinen Mantel auszuziehen, als der Zug unversehens bis zum Stillstand abbremste. Er konnte sich gerade noch an der Gepäcksablage festhalten, um nicht zu Fall zu kommen.

Der Zug stand nun außerhalb des Bahnhofs, inmitten von einem Gewirr aus Weichen und Geleisen. Es vergingen einige Minuten, die Manuel endlos vorkamen. Seitens des Schaffners gab es keine Information, warum der Zug zum Stehen gekommen war. Die Fahrgäste schauten sich betreten und ratlos an und keiner wusste, wann es weitergehen würde. Er blickte nochmals aus dem Fenster, um sich zu orientieren, wo der Zug zum Stehen gekommen war. Er sah, dass die Lokomotive in etwa bei dem Bahnübergang stand. „Wir bitten um Ihr Verständnis, aber aufgrund eines Rettungseinsatzes kann der Zug derzeit seine Fahrt nicht fortsetzen“, verlautbarte der Schaffner nach einer halben Stunde über die Lautsprecheranlage. Dass aber heute auch gar nichts auf die Reihe zu bekommen ist, dachte sich Manuel, dem es immer noch an die Nieren ging, am Nachmittag im Streit mit Larissa auseinandergegangen zu sein. Draußen hörte man die Signalhörner der Einsatzfahrzeuge und die Reflexe der drehenden Blaulichter drangen in den Zug hinein. Manuel war es mittlerweile vollkommen gleichgültig, wie lange der Zug stillstehen würde, von Bedeutung war für ihn nur, sich mit Larissa so schnell wie möglich wieder auszusöhnen.

Er presste sein Gesicht an das Zugfenster, konnte jetzt die Umrisse des Bahnübergangs schemenhaft erkennen, das verstreute Stehen der Einsatzfahrzeuge, und ein demoliertes und verbeultes rotes Rad, das von einem Feuerwehrmann zur Seite gelegt wurde. Noch ehe er Larissa anrufen konnte, bekam er auf seinem Handy einen Anruf, dessen Nummer als anonym angezeigt wurde.

Wolfgang Dorner

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 19048

Wahnsinn bei Nacht

Lampen zerbrechen,
aus Farben wird Schwarz
Täglich wandere ich
über Mitternächte hinaus
Rauschen,
oranger Himmel,
getaucht in dunkles Blau,

Jemand drückt auf das Glas,
Schall kommt durch,
Selbstgespräche,
lautes verzerrtes Gemurmel

Mein Kopf spricht zu viel,
in den Raum,
Gedanken an Herrn Fell,
Schlafe
ein

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 19014

Pussy Riot – junge Revolutionärinnen in alter Tradition gegen die Autokratie

Zu viel der Zufälle. Die erste Pressekonferenz zwei Tage nach ihrer Freilassung aus dem GULag gaben die Pussy-Riot-Frauen Marija Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa im kleinen, privaten Sender Doschd (Regen). Doschd ist in der ehemaligen Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ genau gegenüber der Christus-Erlöser-Kathedrale an der Moskwa angesiedelt. Dort nahmen sie am 21. Februar 2012 ein Video auf, in dem sie vor dem Altarraum in bunten Kleider und die Köpfe verhüllt mit Wollhauben einen Tanz aufführten, ursprünglich vollkommen stumm. Das Spektakel dauerte genau 41 Sekunden, bis die fünf Frauen aufgehalten und abgeführt wurden. Das Video, das kurz danach in internationalen Medien erschien und alle kennen, war um einige Bilder aus einer anderen Kirche bereichert und mit dem inkriminierten Lied unterlegt worden: „Muttergottes, Jungfrau Maria, verjage Putin, befreie uns von Putin.“

Zwei Monate fahndete der FSB nach den Frauen, nahm schließlich drei von ihnen fest und klagte sie nach Paragraph 213 wegen Verletzung der öffentlichen Ordnung und Rowdytums an. Die Staatsanwalt und die Russisch-Orthodoxe Kirche verlangten sieben Jahre, das Gericht verurteilte sie zu zwei Jahren, von denen sie 20 Monate in verschiedenen Strafkolonien verbrachten.

Der Mann hinter all dem ist Präsident Putin. Vielleicht fiel das Urteil deswegen so hart aus, weil er seine eigenen Erfahrungen mit dem Rowdytum gemacht hat? Putin stammt aus einer Leningrader Proletarierfamilie und wuchs in einer „Kommunalka“, einer Gemeinschaftswohnung, auf. Er war ein richtiger Schlägertyp und Straßenköter, der sich ständig mit Gleichaltrigen prügelte. Wegen seines amtsbekannten Rowdytums, der „Chuliganstvo“, wurde er erst verspätet bei den Pionieren aufgenommen. Und auch sein erster Aufnahmeantrag in den KGB blieb vorerst unerhört. Chuliganstvo lautete der Strafbestand, unter dem er die Aktionskünstlerinnen verurteilen ließ.

Auf ihrer Pressekonferenz kündigten Pussy Riot die Gründung einer Organisation zur Unterstützung von Strafgefangenen an, „Zona prava“, eine Zone des Rechts (Zone ist das russische Wort für die Strafkolonien, Anm. d. V.). Ihre Freilassung fällt fast genau mit dem 40. Jahrestag der Veröffentlichung von Solschenizyns „Archipel GULag“ zusammen, in dem er die Unmenschlichkeiten des sowjetischen Strafvollzug anklagt. Er ging ins amerikanische Exil und erhielt den Nobelpreis. Literarisch bedeutsamer als Solschenizyn ist der Langzeitbewohner von GULags, Warlam Schalamov, dessen Bücher über seine siebzehn Jahre in den Strafkolonien von Solowezk, Kolyma und Magadan erst nach dem Ende der Sowjetunion veröffentlicht werden. Der hochdekorierte Vater der sowjetischen Wasserstoffbombe, Andrej Sacharov, wurde, als er gegen das Sowjetsystem aufstand, mit einer schikanösen, zehnjährigen Verbannung und völliger Isolation in Gorkij (Nishnij Nowgorod) bestraft, bis ihn Gorbatschov im Triumph heimholte. Sacharov veröffentlichte etwa fünfzehn Bücher und Schriften gegen das Atomprogramm der SU und setzte sich für die Menschenrechte ein.

Keine andere Nation außer Russland hat ein eigenes Genre der Lagerliteratur hervorgebracht. Angefangen hat es 1825 mit den adeligen Jakobinern, den Dekabristen, die nach ihrer Verschwörung gegen Zar Nikolaus I., wenn nicht zum Tode, zu lebenslanger Haft und sibirischer Verbannung verurteilt wurden und darüber Erinnerungen verfassten. Dostojewski legte nach seiner vierjährigen Lagerhaft mit dem Bericht „Aus einem Totenhaus“ den Grundstein für seine Schriftstellerkarriere, und Anarchisten wie Kropotkin, Netschaew und Bakunin haben ein reiches literarisches Werk hinterlassen. Cechov reiste 1890 für dreieinhalb Monate in den Fernen Osten auf die Insel Sachalin, die der zaristischen Autokratie als Verbannungsort diente. In einem ausführlichen Reisebericht schildert er die Grauen des Strafvollzugs.

Fast unüberschaubar ist die Literatur der Frauen, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der Terror-Organsiation „Narodnaja volja“ (Volkswille) anschlossen und für ihre Beteiligung an den Attentaten auf die Zaren Alexander II. und III. für Jahrzehnte in Lager verbannt wurden. Verblüffend klangen die Worte, mit denen Nadeschda Tolokonnikowa und Maria Aljochina auf ihrer Pressekonferenz Russland als großes Straflager charakterisierten, frei, ruhig und gesetzt, in druckreifen Sätzen, klar wie Fanfarenstöße. Sie hätten fast gleich lautend aus den Schriften von Vera Figner oder Vera Zassulitsch stammen können, so wie sie die heutige „Nacht über Russland“ beschrieben. Zu viel der Zufälle?

Als hätten sie sich bewusst gestylt, sehen Tolokonnikowa und Aljochina ihren Vorkämpferinnen gegen die zaristische Selbstherrschaft, Figner und Zassulitsch, auch physiognomisch ähnlich. Sie waren die ersten Frauen, die öffentlich ihr Haar offen trugen, sie studierten im Ausland, waren hochgebildet, übten bürgerliche Berufe aus und waren mit Gleichgesinnten im Westen vernetzt. Mit ihrer radikalen Hingabe an die Revolution, Verachtung des Kompromisses und ihrem Opferwillen galten sie als die moralische Führung der Intelligenzija. Vera Figner war 20 Monate in der Peters-Paul-Festung in St. Petersburg in Untersuchungshaft und 20 Jahre lang, von 1884 bis 1904, unter schrecklichen Bedingungen in der Festung Schlüsselburg eingekerkert, aber sie kehrte geistig frei, stolz und ungebrochen zurück und setzte sich noch bis zu ihrem Tod 1942 für die soziale Umgestaltung Russlands ein.

Haben Tolokonnikowa und Aljochina in den vier Monaten Untersuchungshaft und 20 Monaten Lager Figner und Zassulitsch studiert, oder vielleicht auch Nadeschda Krupskaja, Inessa Armand, Adriana Tyrkowa oder Alexandra Kollontai? Bei einem Arbeitstag von bis zu achtzehn Stunden in einer Näherei, Kälte, Hungerstreik und Einzelhaft eher unwahrscheinlich, sie werden diese ersten „Töchter der Revolution“ schon vorher gekannt und als Orientierungslichter benützt haben. Während des Prozesses erklärten sie, dass sie die Kunst gewählt hätten, um auf die Missstände in Putins Russland aufmerksam zu machen, so wie 140 Jahre zuvor die Narodniki an die Kraft der Bombe glaubten. Das ist der große Unterschied. Aber die Leidenschaft für große Ideen, die der Schlüssel für die Umgestaltung der Welt wären, machen die Einzigartigkeit und Kraft aus. Die Formen mögen andere geworden sein, aber wie im 19. muss auch im 21. Jahrhundert wieder die Kunst als Ersatz für Politik herhalten, nirgends sonst so tragisch relevant wie in Russland. Freiheit der Kunst, Freiheit der Wissenschaft ist im Putin-Russland noch immer ein Fremdwort. Sie geht nur so weit, wie es dem Regime nützt. Alles, was an Kritik darüber hinausgeht, wird einen Kopf kürzer gemacht.

Die Frauen von Pussy Riot versuchten nach ihrer Freilassung noch etwa ein halbes Jahr künstlerisch und politisch tätig zu sein, dann gaben sie unter dem zunehmenden Druck auf und gingen ins westliche Ausland.

Wien, 29.12.2013, 27.1.17

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 19010

Synagoge – Beit Ha Midrasch – Haus des Gebets

In deiner Mitte hat das Wort gewohnt
Doch lange schon ist es geflohen
Von diesem in das andre Leben
Wie hätt‘ es sich in acht Jahrzehnten
Verstecken können fern und fremd?
Von Asyl hat es bis dato nicht gehört

Geschunden und geschändet
Entfremdet
Dem Vergessen anvertraut
Gar totgeschwiegen, totgetrampelt
In leeren kalten Winkeln
Hattest du dich allzu lang verborgen
Bis dir der lange Atem ausgegangen
Und du davongeflogen bist
Entschwunden uns

Doch liebend aufgenommen
In den Himmeln
Eingeatmet und geborgen

Hier ist noch deine leere Hülle
Der tote Leib
Die kalten Mauern
Wohlig warm solarbeheizt
Die wir ehrfurchtsvoll bestaunen

Ansehnlich restauriert kündet dies Haus
Von einer Zeit
In der das Wort unter den Menschen wohnte
Wohnen wollte liebend gern
Es ist ihm nicht geglückt

Was aber kündet von der Schande
Der Entgleisung
Dem millionenfachen Mord?
Verkniffene Lippen – ein beredtes Schweigen
Stille, die zum Himmel schreit

Sulzbach-Rosenberg im Februar 2018

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: ärgstens | Inventarnummer: 18158

Lobio und Chatschapuri

Kaukasus in Wien

Auf meiner Straße machen in letzter Zeit immer mehr kleine Restaurants auf, die von Ausländern geführt werden, exotische Küche oder sonst eine Spezialität haben. Die Welt zieht ein unter die Lindenallee von Wieden. Eine brasilianische Tapioca, ein Allergikercafé, ein veganes Lokal, eine kroatische Mini-Eisdiele will es aufnehmen mit dem berühmten Il Giardino, ein junger Vietnamese mit den alteingesessenen Chinesen. Das Neueste ist ein georgisches Restaurant, das mich besonders anzieht. Geworkian, Sohn des Georg, nennt es sich. Im Vorbeigehen lese ich jedes Mal die Speisekarte auf den schwarzen Tafeln, aufgeschrieben mit Kreide in lateinischer Schrift, aber mit geschwungenen Buchstaben, die an die georgischen erinnern. Die Rundungen und Kringel nach oben und unten sind liebevoll ausgemalt, rot und grün, die Landesfarben. Ich finde das einladend und heimelig, weil ich mich ja viel in Georgien aufgehalten habe, in Moskau oft im Restaurant Tiflis zu Gast war und schon lange einige ausgewählte georgische Gerichte nachkoche.

Meine Gäste sind immer begeistert von meinem Lobio, einer frugalen Paste aus roten Bohnen, dem Chatschapuri, dem berühmten Käsebrot, oder dem Sazivi, einem Hühnchen in einer Sauce mit ungefähr dreißig Gewürzen, Butterbergen, Obersflüssen und Tonnen von Walnüssen. Die gefüllten Auberginen Gozinaki gelingen immer, und auch die süße Nachspeise Chinkali kommt gut an, bei denen, die dafür noch Platz haben. Viel Butter, viel Obers, Kräuter ohne Zahl und Namen und Nüsse, Nüsse und noch einmal Nüsse. Kein Gericht ohne Nüsse. Wer von Nüssen schlechte Haut oder Verdauungsprobleme bekommt, sollte vorsichtig sein. Wir hier kennen ja nur den einen oder anderen vereinzelten Nussbaum in einem Garten oder am Wegesrand. Aber wer die Nussbaumwälder auf den unteren Abhängen der Kaukasusberge gesehen hat, die Düfte, die von ihnen ausgehen, gerochen hat, die Wundermeldungen von der Wirkung ihres Schnapses oder Medizinen gehört hat, versteht die Nuss-Vorherrschaft in der georgischen Küche.
Sogar manche Weine schmecken leicht nussig. Nach ihrer Religion und ihrem Wein steht wahrscheinlich die Nuss an dritter Stelle ihrer Identität. Vielleicht gehört die Musik noch davor.

Ich höre mir die Lobeshymnen der Partygäste gerne an und denke mir: Naja, einigermaßen gut, den Rest behalte ich für mich. Nur ich weiß, dass die Gerichte ein ferner Abklatsch der georgischen sind, weil wir hier nicht die aberhundert Kräuter des Kaukasus haben. Einzig mit dem auch bei uns heimischen Koriander kann ich meinen Speisen einen fernen Anklang der georgischen Küche geben.

Wenn Geworkian auch noch die Weine aus Kachetien servierte, müsste das eine Dependance des Himmelreichs auf Erden sein. Obwohl die ausgehängte Speisetafel einladend wirkt, spüre ich eine eigenartige Scheu, das Lokal zu betreten. Ich fühle mich angezogen, trotzdem fürchte ich mich davor, die Schwelle zu übertreten. So luge ich nur durch die Fensterscheibe oder schaue dem Treiben im kleinen Schanigarten unter den Linden zu.
In der winzig kleinen, offenen Küche werkt ein älterer Mann mit graumeliertem Knebelbart und einer hohen, weißen Mütze. Ausgeprägtes Profil, ein Kaukasier, stellt mein schneller Blick fest. Aber warum eigentlich? Kann nicht ein Grieche, Türke, Italiener, Bulgare oder Mazedonier genauso aussehen? Ist mein Blick rassistisch? Hat man nicht in unseliger Zeit von einer „kaukasischen Rasse“ gesprochen?

Der Koch hebt den Blick vom Tisch auf und schaut mich direkt an, offen und klar, aber nicht einladend. Nicht das geringste Anzeichen von Lächeln, nicht in den Mundwinkeln, nicht in den Augen. Sie sind wimpernlos und starr, er scheint nichts zu sehen, irgendwie abwesend und entrückt. Serviert werden die Gerichte in vielen appetitlichen Schüsseln und Schälchen mit den typisch georgischen Blumengirlanden in Rot und Grün von einer jungen Kellnerin, die ihre natürliche Schönheit auf dem Laufsteg oder vor der Kamera zur Geltung bringen könnte. Vielleicht kommt sie von dort und verdient hier nur ihr Taschengeld. Warum gehe ich nicht hinein? Ich habe doch keine Illusion, dass mein Lobio, Chatschapuri und Sazivi auch nur annähernd so schmecken wie im Kaukasus.

Dann will es einmal der Zufall, dass ein Freund mich zum Essen einlädt, und er schlägt eben dieses Lokal vor, weil er in einer Programmzeitung davon gelesen hat. Ausgezeichnet, sensationell, überschwänglich schreibt der Restaurantkritiker, ein absolutes MUST, echt, typisch Kaukasisch. Blödmann, wie kann der denn wissen, was echt und typisch ist? Ich mache noch einen schwachen Versuch, meinen Freund auf den neuen Brasilianer gegenüber umzulenken. Hör auf, wenn etwas brasilianisch heißt, kann es nicht gut sein, denn dort gibt es hundert Küchen. Er hat Jahre in verschiedenen lateinamerikanischen Ländern gelebt, also werde ich ihm glauben und mich zum Georgier schleppen lassen. Dazu muss ich noch erklären, dass mein Freund früher Koch war und sich für alle Küchen der Welt interessiert.

Ein prachtvoller Maitag, die Linden haben zu blühen begonnen und hüllen die Straße in eine süße Duftwolke. Wie durch ein Wunder kann sie sich gegen die Autoabgase durchsetzen, und die Luft weht in Honigwellen durch die Straße.

Wir lassen uns im Schanigarten unter einem zitronengelben Sonnenschirm mit der lieblichen georgischen Girlandenschrift nieder, und ich erkläre meinem Freund die ihm unbekannten Gerichte. Wir stellen einen Querschnitt durch die kaukasische Küche zusammen und bekommen von der Schönheit ein Dutzend Schälchen auf den Tisch gesetzt. Mein Freund will Bier, es gibt nur heimisches, ich bestelle einen Zinandali, den georgischen Weißwein, den ich dort gern getrunken habe. Angeblich Iossif Wissarionowitsch Dschugaschwilis Lieblingsweißer. Bei uns würde man ihn Gewürzwein nennen, aber er ist von der Natur angereichert durch die vielen Blumen und Kräuter der kaukasischen Erde. Die Georgier rühmen sich ja, dass sie die Erfinder des Weines sind, vor 7000 Jahren, lange vor den Griechen und Römern.

Wahrscheinlich ist es diese spontane Bestellung eines Zinandali, die den Koch auf mich aufmerksam macht. Er verlässt seinen Arbeitsplatz, stellt sich in den Türrahmen und lässt den Blick schweifen, als würde er die Straße rauf- und runterschauen. Ich bemerke aber, dass er mich im Visier hat. Hat er mich wiedererkannt als die seltsame Passantin, die schon oft bei ihm stehen geblieben ist und reingeglotzt hat? Er lässt sich nichts anmerken, sein Blick ist wie immer offen und leer, und so kann ich nur weiterrätseln.
Da mein Freund auch Fotograf ist und nie ohne seinen Rucksack voll mit Kameras auf die Straße geht, bleibt es nicht lange aus, bis er die Schönheit fragt, ob er sie fotografieren darf. Sie schenkt ihm ein strahlendes Lächeln wie die aufgehende Sonne am Kazbek. Sie scheint nicht scheu zu sein und sich ihres blendenden Aussehens bewusst. Sie posiert nicht, sondern arbeitet weiter, geht aus und ein, serviert und räumt ab, bringt Gläser und Schälchen, kassiert, wischt die Tische ab und richtet die Sonnenschirme aus.

Mein Freund ist absolut glücklich, weil er am liebsten Menschen bei ihren natürlichen Tätigkeiten fotografiert, also keine Porträts oder Posen. Man müsste sie eigentlich filmen, denke ich laut, ob man denn die Anmut ihrer Bewegungen in Fotos wiedergeben kann. Na, wart nur, das ist eben die Kunst des Fotografierens, genau das in einem Bild einzufangen. Er hat recht, ich kenne viele Fotos von ihm, die tanzende, kämpfende oder religiösen Ritualen nachgehende Menschen darstellen. Habe einige gerahmt und bei mir aufgehängt.

Als der Koch wieder in die Tür tritt, fragt mein Freund mit Gesten auch ihn um die Fotografiererlaubnis. Der schüttelt leicht, aber bestimmt den Kopf und verschwindet wieder in der Küche.
Oje, fragt mein Freund erschrocken, hab ich was falsch gemacht?
Nein, er dürfte etwas eigen sein, und erzähle ihm von meinen früheren Beobachtungen.
Als wir fast schon aufbrechen wollen, kommt der Wirt mit einem Tablett heraus, auf dem drei Gläser und eine Flasche mit rotem Kindzmarauli stehen. Er hat Schürze und Kochmütze abgelegt und setzt sich ohne Einladung zu uns. Obwohl sein Gesicht in seiner Faltenlosigkeit jung wirkt, hat er schlohweißes Haar, gewellt und hinten zu einem Zopf gebunden. Ein Gespenst.

Darf ich Sie zu einem Glas einladen?
Aber gerne, ich bin überrascht, mein Freund begeistert. Er liebt es, Zufallsbekanntschaften zu machen.
Der Wirt öffnet die Flasche, gießt die drei Gläser voll mit rubinrotem Gefunkel und wendet sich unmittelbar an mich:
Entschuldigung, kann es sein, dass ich Sie schon einmal gesehen habe, früher?
Ja natürlich, ich wohne nebenan und komme oft bei Ihnen vorbei.
Nein, das meine ich nicht, früher, viel früher.
Sein Deutsch hat einen Akzent, ist aber ansonsten nahezu perfekt.
Wie denn, Sie haben doch erst vor einem Jahr hier aufgemacht.
Langes Schweigen mit gesenktem Kopf.
Waren Sie einmal im Kaukasus?
Ja, oft, hauptsächlich in Georgien, aber auch in Armenien, in Jerewan und Umgebung, am Sewansee und …
Ich merke, wie der Mann aufgeregt wird und schwer zu atmen beginnt.
Vielleicht auch in Leninakan? Er haucht es mehr, als dass er den Namen ausspricht.
Ja, auch in Leninakan, im Jänner 1989, kurz nach dem Erdbeben. Ich war beim ORF und …

Jetzt springt der Mann so heftig auf, dass der Stuhl umfällt, und er flüchtet in der Küche.
Oh Gott, was hat ihn so verärgert?
Die aufmerksame Kellnerin eilt herbei und legt den Finger auf die Lippen.
Bitte, nicht davon reden, bitte!
Aber, aber, stottere ich, er hat mich doch selbst danach gefragt …
Ja, aber Le-ni-na-kan nicht aussprechen, das verträgt er nicht.
Soll ich denn leugnen, dass ich als Jounalistin nach dem Erdbeben vom 7. Dezember 1988 mit einer Hilfslieferung mitgeflogen bin und davon berichtet habe.

Auch ich habe das nie vergessen, diese vollkommen zerstörte Stadt, alle Dörfer in einem weiten Umkreis komplett entvölkert und dem Erdboden gleichgemacht, unvorstellbare 25 000 Tote. Jeder fünfte Einwohner.
Die Österreicher hatten Geld gesammelt und mehrere Flugzeugladungen mit Fertigteilhäusern mitgebracht. Rasch wurde ein Modellhaus aufgebaut und eine Tafel darangehängt – Mozartstraße, so soll sie heißen, und in dem Österreich-Dorf werden noch eine Schubert-, Haydn-, Beethoven- und Mahlerstraße folgen. Was ich jemals gedreht habe, vergesse ich nie wieder.
Ein Kinderchor sang für die Gäste ein Lied aus der Zauberflöte, das der drei Knaben. Sie zitterten und hatten blaue Lippen. Es war Jänner, und die Stadt liegt auf 1600 Metern, rundherum verschneite Drei- und Viertausender.
Ein kleines Mädchen überreichte mir einen Blumenstrauß in Plastikfolie. Wo haben sie denn den her in dieser Wüstenei?

Reden wurden gehalten, auf einem schnell gesäuberten, vollkommen leeren Platz, früher einmal der Hauptplatz von Leninakan, flüchtig eingeebnet, an den Rändern die Berge von Ruinen, an einigen Stellen von Planen spärlich verdeckt, überragt von der zerstörten Erlöserkirche. In der strahlenden Wintersonne sieht alles besonders grausig und gespenstisch aus. Ich erinnere mich, wie es mich geschüttelt hat, nicht nur vor Kälte.
Als ich mich von den hiesigen und heimischen Honoratioren absetzen konnte, schlich ich mich hinter eine der Stoffbahnen.
Ich hatte den aberwitzigen Plan, eine Handvoll Erde aufzusammeln und sie für Arnak nach Wien mitzunehmen. Der Mann meiner Freundin J. war Armenier aus der ägyptischen Diaspora, hatte aber nie einen Fuß ins Land seiner Vorfahren gesetzt. Ich wollte eine Vase kaufen und sie anfüllen. Dabei wusste ich, dass das ein Sakrileg war. Kein Mensch durfte auch nur ein Krümel von armenischem Land entfernen, im Gegenteil, jeder Besucher sollte ein Säckchen Erde mitbringen, um es zu vermehren.

In armenischen Häusern werden die Schuhsohlen abgebürstet, der Staub und die Krumen aufgesammelt und ausgestreut.
Ich hatte mich niedergehockt, um schnell etwas Erde zusammenzukratzen, da stand plötzlich ein kleiner Junge vor mir und schaute mich mit großen Augen an. Er war vielleicht zehn Jahre alt, hatte aber schlohweisses Haar, das einen Greis aus ihm machte, ein Gespenst in Bubengestalt. Ich hatte meine Manteltasche schon mit Erde angefüllt und lief unter seinen stummen Blicken schnell wieder zu meinem Team zurück.
Die Bilder standen wieder vor mir, als sei es gestern gewesen. Ich kann nichts machen, mein Hirn ist so gebaut. Schnell stürze ich das Glas Kindzmarauli hinunter und will meinen Freund aus dem Lokal ziehen.

Da kommt der Wirt zurück und entschuldigt sich.
Ich brauchte ein Glas Wasser, heiß heute.
Ich sehe aber, dass er nicht nur Wasser getrunken, sondern sein Gesicht, Hals und Nacken bewässert hat.
Er setzt sich wieder zu uns, gießt noch eine Runde ein und beginnt stockend zu erzählen.
Er hat ins Russische gewechselt.
Ich war drei Tage und drei Nächte verschüttet, in unserem Haus in Leninakan.
Man hatte schon aufgehört zu suchen. Alles war so zerstört, dass man keine Überlebenden mehr unter den Trümmern vermutete. Aber ich wurde doch noch gerettet, unser Hund hat mich erschnüffelt. In dieser Zeit sind meine Haare weiß geworden und ich konnte nicht mehr sprechen.
Meine ganze Familie ist umgekommen, zwei Schwestern, die Eltern und Großeltern. Ich kam zu den anderen Großeltern nach Tbilisi, dort bin ich aufgewachsen und habe den Schulabschluss gemacht. Zuerst haben sie mich zu einem Schuster gesteckt, da muss man nicht sprechen.

Nach zwei Jahren bin ich ausgewandert, zuerst nach Deutschland, und dann hab ich mir ganz Europa angeschaut. Ich hab nicht Koch gelernt, aber mir alles von meiner Großmutter abgeschaut. Kochen kann man wie Schustern, auch ohne zu sprechen. Jetzt bin ich schon zehn Jahre in Österreich, in Wien, hab immer irgendwo gekocht, das ist mein erstes eigenes Lokal, im Freihausviertel, um die Ecke der Mozartbrunnen und das Papagenohaus. Das ist mir wichtig. Ja, und die Linden, die auch. Wie in Tbilisi.
Er senkt den Blick zu Boden und fährt sich über die Augen.
Und die deutsche Sprache, Sie sind ja perfekt!
Neinnein, wehrt er ab, wieder auf Deutsch.
Wissen Sie, ich habe viele Jahre immer nur zugehört. Wenn man selbst nicht spricht, kann man alles besser speichern.

Noch einmal geht er zurück ins Lokal und kommt mit einer Flasche Ararat Nr. 7 zurück.
Der beste Cognac der Welt, den müssen Sie probieren.
Die bauchige Flasche mit den sieben Medaillen der Pariser Weltausstellung von 1913.
Oh, Gott, und das am frühen Nachmittag!
Widerspruch ist zwecklos, der kaukasischen Gastfreundschaft kann man nicht entrinnen.
Mein Freund, ein Kenner und Genießer, ist im siebten Himmel.

Einmal hab ich im Theater an der Wien die Zauberflöte angehört, und bei der Arie mit den drei Knaben habe ich plötzlich mitzusingen angefangen. Die Leute rundherum haben mich angestarrt und pschschtt gezischt, aber das war mir wurscht, ich habe geweint. Da war der Bann gebrochen, eine Erlösung, seither kann ich wieder sprechen. Das Einzige, was mir von Leninakan geblieben ist, ich kann meine Augen nicht mehr schließen.

Wien, Pfingstsonntag, 20. Mai 2018

Veronika Seyr
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