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Ich treibe Schabernack

Ich gebe es zu: Mir ist der Drang, Schabernack zu treiben, immanent. Bereits in meinen ersten Lebensjahren konnte ich nicht anders, ich musste Schabernack treiben.

Ich wurde vor dreiundvierzig Jahren, acht Monaten und fünf Tagen in Schwarzrussland geboren. In Petrovsklam, um präzise zu sein. Meine Familie war reich, heute ist sie das immer noch, mein Vater, der Intellektuelle der Familie, arbeitete für den schwarzrussischen Geheimdienst DAP. Er war kein gewöhnlicher Agent, er war Oberst. Sein Aufgabenbereich war die strenge Kontrolle der Vorräte an Schwarzrussischer Erdschlacke sowie die Überwachung der Förderung von Schwarzrussischen Bernsteinsaphiren, ein lediglich in Schwarzrussland vorkommender – mein Vater nannte ihn endemisch (er war fürwahr ein Intellektueller!)- Pilzedelstein. Die Bezeichnung Pilzedelstein ist durchaus zutreffend, denn der Schwarzrussische Bernsteinsaphir vermehrt sich vermittels Sporen. Die Aufgabe meines Vaters bestand in der Überwachung der Förderung dieser beiden für Schwarzrussland so wichtigen Bodenschätze, er hatte sicherzustellen, dass kein Milliliter Erdschlacke und kein Gramm Bernsteinsaphir gestohlen wurde. Ertappte Diebe pflegte mein Vater Schwarzrussischen Weißamseln vorzuwerfen, was den äußerst grässlichen Tod dieser Diebe zur Folge hatte, denn diese Vögel sind, was ihren Blutdurst und ihre Angriffslust anlangt, wohl nur mit dem Schwarzrussischen Wolfskarpfen zu vergleichen, auch dieser ist eine gefährliche Bestie, die es ernst meint. Nachdem diese Bodenschätze äußerst wertvoll sind, ist es wohl nicht verwunderlich, dass mein Vater, der auf sie achtzugeben hatte, steinreich wurde – und das in weniger als zwei Jahren!

Ich muss jedoch festhalten, dass ich trotz des Reichtums meiner Familie eine als normal zu bezeichnende Kindheit hatte – bis auf meinen Zwang zum Schabernack eben. Meine Großmutter, ich hielt mich oft in ihrem schlossähnlichen Gartenhaus auf, erfreute sich an und widmete sich der Zucht von Schwarzrussischen Wüstenhühnern, eine Art Vogel, die mir stets ein Dorn im Auge war, denn ich erachte diese Vögel schlicht für sowohl dumm als auch hässlich. Jedenfalls, diese Hühnervögel waren das Ziel -oder die Opfer – des ersten Schabernacks, an den ich mich erinnern kann. Ich war nämlich dahintergekommen, dass die geringe Intelligenz dieser Vögel nicht dadurch zu steigern war, ihnen aus den Büchern Dmitri Boristranks – er ist der größte schwarzrussische Autor – vorzulesen, also wollte ich wenigstens ihr äußeres Erscheinungsbild ästhetischer gestalten.
Ich betäubte die vier Hähne meiner Großmutter mit Äther und dann legte ich los. Ich kürzte ihnen die Schwanzfedern und lackierte ihre Krallen mit dem rosafarbenen Nagellack meiner Großmutter. Danach legte ich die Hähne paarweise aufeinander und verließ das Gehege, das in etwa die Größe eines Fußballplatzes hatte. Als die Hähne aus ihrer Betäubung erwachten, begannen sie sogleich, sich zu paaren, jedoch untereinander, also Hähne mit Hähnen. Ich vermute, dass ihr verändertes – verbessertes, behübschtes – äußeres Erscheinungsbild sie auf eine Art und Weise beeinflusst hat, die ihnen die Großartigkeit der Liebe unter männlichen Wesen vor Augen – oder vor die rosafarbenen Krallen – geführt hat. Nun, die weitere Zucht dieser Vögel war meiner Großmutter nicht mehr möglich, denn fortan blieben die Hähne unter sich. Meine Großmutter verübelte mir diesen Schabernack nicht, sie war der Ansicht, dass Jungs eben Jungs wären.

Mein Bruder Dimitar war keineswegs so nachsichtig mit mir, nachdem ich ihn schabernackiert hatte. Dimitar ist sieben Jahre älter als ich, was bedeutet, dass er entsprechend früher als ich zu pubertieren begonnen hatte, und leitet heute die Stabsstelle für Fragen zur allgemeinen Geschlechtsmoral der schwarzrussisch-orthodoxen Glaubensfirma. Ich hatte in einem der von ihm bewohnten Räume in der palastartigen Behausung unserer Familie eine wirklich sehr große Zahl an Zeitschriften entdeckt, wie alleinstehende Männer sie, wie ich heute zu wissen glaube, gerne durchblättern, um auf, wie man sagt, andere Gedanken zu kommen.
Unaufgeregt, ich befand mich zu diesem Zeitpunkt noch nicht in pubertärem Stadium, blätterte ich in den Zeitschriften meines Bruders und stellte hoch verwundert fest, dass sie beinahe ausschließlich aus Fotografien, welchen ab und an zotige Zeichnungen folgten, bestanden. Auf diesen Fotografien waren üblicherweise eine unbekleidete Frau und ein weiß besockter Mann zu sehen, die sich gegenseitig (und oftmals sogar gleichzeitig!) fellationierten respektive cunnilinguierten, um schließlich die Handlung des Sex zu vollziehen.

Ich war erschrocken und von meinem Bruder enttäuscht. Wie konnte er bloß Gefallen an zotigen Zeichnungen und Fotografien finden? So was hatte ich nicht erwartet. Dennoch beschloss ich, ihm das Betrachten der von ihm offenkundig geschätzten Bilder nicht zu verunmöglichen, also übermalte ich lediglich die auf den Fotografien gut erkennbaren – oftmals sogar durch das Stilmittel der Nahaufnahme! – Blößen der Frauen (die der Männer machte ich nicht unkenntlich) mit schwarzer Tinte bester schwarzrussischer Provenienz und Permanenz. Am nächsten Tag eilte mein Bruder in sein, wie er es zu nennen pflegte, Lernzimmer und versperrte die Tür des Raumes hinter sich. Zwei Minuten vergingen, dann kam Dimitar mit hochrotem Kopf aus seinem, wie er es nannte, Lernzimmer gestürmt und lief, meinen Vornamen, Michail, brüllend durch den Palast unserer Eltern.
Ich erkannte, dass sich mein Bruder in einer Art Notstandszustand befinden musste und eilte zu ihm, um ihm zu helfen. Er packte mich, schüttelte mich und brüllte etwas von Präonanist und unterstellter Homoerotik. Als ich zu meiner Rechtfertigung (ich ahnte, dass der Notstandszustand meines Bruders etwas mit seinen Zeitschriften zu tun haben musste) vorbrachte, dass ich doch bloß die Blößen der Frauen auf den Fotografien übermalt, die der Männer jedoch nicht angetastet hätte, geriet mein Bruder noch grässlicher in Harnisch. Er schlug mich und brüllte dabei, dass sein Schatz nun wertlos geworden wäre.
Zu meinem großen Glück betrat in diesem Augenblick unsere Mutter den Raum. Ich legte ihr, sie war eine Frau von strenger Moral und hoher Sittlichkeit, den Sachverhalt dar und verriet ihr, wo in seinem, wie er es nannte, Lernzimmer mein Bruder seinen, wie er sich ausdrückte, Schatz gelagert hatte. Unsere Mutter nahm diesen Schatz in Augenschein, zählte dessen Bestandteile gewissenhaft, sie kam auf zweihundertzweiundsiebzig Zeitschriften, dann geriet sie in Harnisch und befahl mir, das Lernzimmer meines Bruders zu verlassen. Zwei Wochen später war mein Bruder Dimitar immer noch böse auf mich.

Im Schwarzrussischen Staatsgymnasium, das ich auf Wunsch meiner Familie zu besuchen hatte, schabernackierte ich meinen Professor der Biologie. Ich war dazu auserkoren worden, einen Vortrag über den Schwarzrussischen Nachtklauengreifer zu halten, eine Art Eule, bloß viel gefährlicher, denn bei einer Flügelspannweite von fünfeinhalb Metern bringt es dieses Tier leicht (und gerne!) fertig, Schwarzrussische Bachpferdstuten durch die Luft zu tragen und in seinem Horst, dessen Grundgerüst durchaus aus Teilen von Schienen der Staatlichen Schwarzrussischen Kupferbahn bestehen kann, an seinen Nachwuchs zu verfüttern. In der Sammlung ausgestopfter schwarzrussischer Tiere, die mein Gymnasium unterhielt, hatte sich naturgemäß auch ein Exemplar des Nachtklauengreifers befunden, doch wollte ich dieses keinesfalls als Anschauungsobjekt während meines Vortrags heranziehen. Ich ging also tief in den Wald, wo ich bald einen Horst dieses Vogels ausfindig machte. In einer ebenso kühnen wie lebensgefährlichen akrobatischen Aktion betäubte ich das adulte Tier mit Äther, wie ich es schon mit den Hähnen meiner Großmutter gemacht hatte, und setzte den betäubten Vogel auf den Tisch meines Professors der Biologie.
Niemand im Klassenzimmer bemerkte, dass da ein lebender, lediglich betäubter Nachtklauengreifer saß. Anfangs ging alles gut, ich hielt meinen Vortrag, demonstrierte am Schnabel und an den Krallen des betäubten Vogels die Gefährlichkeit der Wesen dieser Art und hätte ihn betäubt in seinen Horst zurücksetzen können. Doch das Tier erwachte vor der Zeit aus seiner Betäubung. Der Nachtklauengreifer blickte auf die sechsundzwanzig Kinder und den einen erwachsenen Menschen im Klassenzimmer, die vor Schreck erstarrt waren, und wusste offensichtlich nicht, wie er reagieren sollte. Also reagierte er auf die einzige seinem Wesen entsprechende Art und Weise, indem er in Harnisch geriet. Dabei gebärdete er sich derart grässlich, dass ich mich noch heute frage, warum keiner der siebenundzwanzig Menschen im Klassenzimmer zu Tode kam.
Eine großzügige Spende meiner Familie an das Gymnasium ließ die Sache zeitnah in Vergessenheit geraten, auch der Professor der Biologie durfte an der Schule verbleiben. Er bekam einen grauen Arbeitsmantel ausgehändigt, humanerweise mit dem Hinweis, dass er sich dieses Mantels selbstverständlich entledigen durfte, wenn er den Rasen vor dem Gymnasium zu mähen hatte.

Ich halte es für essenziell zu erwähnen, dass ich auf dem Kronleuchter der Gottesfurcht nicht das hellste Licht bin. Ich hatte meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag zelebriert. Da meine Familie sehr reich ist, hatte ich eine Vielzahl an jungen Frauen in die palastartige Behausung meiner Eltern bestellt und mich mit jeder einzelnen dieser jungen Frauen in mein Schlafgemach zurückgezogen (mit einer zweimal, mit einer anderen sogar dreimal), was sowohl den jungen Frauen als auch mir großen Spaß bereitet hatte.
Der Zufall wollte es, dass der Großpatriarch der schwarzrussisch-orthodoxen Glaubensfirma am darauffolgenden Tag auf dem Hauptplatz der Hauptstadt das alljährliche öffentliche Bekennen der Sünden abhielt. Ich bat die jungen Frauen, einen weiteren Tag mit mir zu verbringen und dort auf dem Hauptplatz ihre Sünden öffentlich zu bekennen. Sie entsprachen meiner Bitte bereitwillig, denn ich bin reich, und ich fuhr mit ihnen in drei eigens angemieteten Bussen zum Hauptplatz. Das Bekennen war bereits in vollem Gang, als wir dort eintrafen. Nachdem ich mir nie etwas zuschulden kommen lasse, verzichtete ich darauf, in das mir vor die Nase gehaltene Mikrofon zu sprechen und gab dieses an die erste der jungen Frauen weiter und forderte sie auf, sich kein Blatt vor den Mund zu nehmen und gänzlich ungeniert ihre Sünden des vergangenen Jahres zu bekennen.

Als diese erste der jungen Frauen begann, ihre Sünden zu bekennen, erhob sich sowohl Raunen als auch Murren in den Reihen der braven schwarzrussischen Bürger, denn sie nahm sich in der Tat kein Blatt vor den Mund. Dem Großpatriarchen stieg das Blut zu Kopf, dann entwich es diesem wieder, dann stieg es wieder hoch, was sich als farblicher Kontrast zu seiner rosafarbenen Kutte schlicht köstlich ausnahm. Als die zehnte der jungen Frauen an der Reihe war, herrschte bloß peinlich berührtes Schweigen, lediglich das Knacken der Fingerglieder des Großpatriarchen war zu vernehmen – ich vermute, er war zu diesem Zeitpunkt bereits in Harnisch geraten. Als die letzte der jungen Frauen das explizite Aufzählen ihrer Sünden beendet hatte, war sein Antlitz purpurrot angelaufen, und seine zitternden Hände waren zu Fäusten geballt. Niemand auf dem Platz sagte ein Wort. Ich war hochvergnügt und musste plötzlich lachen. Ich lachte jedoch nicht wirklich – vielmehr prustete ich los. Die Augen aller Menschen auf dem Platz waren auf mich gerichtet, und ich machte mich mit den jungen Frauen auf den Weg zu den Bussen. Ich hatte den Großpatriarchen lehrbuchmäßig schabernackiert.

Gestern hat mich mein Vetter Wladimir Stiernoff besucht, er hatte seinen erst kürzlich erworbenen Hund dabei. Bei diesem Hund handelt es sich um ein Exemplar der Rasse Schwarzrussischer Flohwinscher. Hunde dieser Rasse erreichen eine maximale Schulterhöhe von zehn Zentimetern. Es trifft sich gut, dass ich vor drei Tagen Ratten entdeckt habe, die sich in meinem Park eingenistet haben. Vor zwei Tagen konnte ich drei dieser Ratten fangen. Diese drei Ratten sind männlichen Geschlechts, so wie der Hund meines Vetters. Seit Stunden überlege ich, wie ich den Hund den Ratten näherbringen kann. Sofern überhaupt noch vorhanden, dürfte der rosafarbene Nagellack meiner Großmutter eingetrocknet und somit für meine Zwecke ungeeignet sein. Ich bin jedoch zuversichtlich, dass ich eine Lösung für dieses Problem finden werde …

Michael Timoschek

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Yuna

Ich muss mich gerade daran erinnern, als ich sie das erste Mal sah. Damals stand sie in Form einer Tomatenstaude in meinem Garten. Ich wunderte mich, denn ich hatte in meinem Garten eigentlich keine Tomatenstauden gepflanzt. Als ich trotzdem eine Tomate pflücken wollte, schrie sie mich an, es sei nicht gerade freundlich, ohne zu fragen, Tomaten von ihr zu pflücken. Vor Schreck war ich zurückgewichen. Ich war es nicht gewohnt, von Tomatenstauden angeschrien zu werden. Die Tomatenstaude sagte mir, sie sei gerade nicht in der Stimmung für Gesellschaft und bat mich, aus meinem eigenen Garten zu verschwinden. Ich gehorchte ihr.

Ich kam am nächsten Tag zurück und fragte sie, wieso sie in meinem Garten ihre Wurzeln in die Erde geschlagen hatte.
Wieso nicht, hatte sie geantwortet. Das leuchtete mir ein. Ich fragte sie, wie lange sie vorhabe, hier zu bleiben. Das entscheide sie spontan, hatte sie gesagt. Ob ich denn ein Problem damit habe, dass sie hier sei? Nein, überhaupt nicht.
Ich fragte sie vorsichtig, ob es ihr etwas ausmache, wenn ich etwas Gemüse um sie herum ernten würde. Sie erkannte mein Dilemma und sagte, dass es ihr überhaupt nichts ausmache, dieses Gemüse habe ja kein Bewusstsein.

Mit zwei Zucchini in der Hand fragte ich sie, warum gerade sie ein Bewusstsein hatte. Sie antwortete mir, dass sie nicht immer eine Tomatenstaude gewesen sei. Sie hatte sich nur vor kurzem wie eine Tomatenstaude gefühlt und da sei sie eine geworden. Sehr seltsam, dachte ich mir. Aber ich musste sie weiter mit Fragen löchern, verständlicherweise war ich sprechende Tomatenstauden nicht gewöhnt.
Ich fragte, wie sie es geschafft hatte, eine Tomatenstaude zu werden. Sie antwortete, dass sie diese Frage schon beantwortet habe. Sie hatte sich einfach danach gefühlt.
Meine nächste Frage war, wie sie es schaffte, zur Tomatenstaude zu werden, wenn sie sich danach fühlte.
Es erfordere ein wenig Übung und Geduld, erzählte sie mir, aber wenn ich wollte, könne sie mir gerne zeigen, wie das geht. Allerdings etwas später, sie werde bald abreisen.
Aber sie werde in unbestimmter Zeit wieder zu mir kommen und mir beibringen, wie ich zur Tomatenstaude werden könne.
Ich musste sie noch fragen, ob diese Verwandlungen nur auf Tomatenstauden begrenzt seien. Nein, ich sei ein Dummkopf, das sei natürlich auf jede beliebige Form erweiterbar.
Woher sollte ich denn das wissen? Ich würde gerne einmal ein Koala sein. Das sei natürlich auch möglich, sagte sie mir lachend. Aber erst, wenn sie wieder zurück von ihrer Reise war. Sie antwortete mir nicht auf die Frage, wohin ihre Reise ging. Das sei völlig unwichtig, erklärte sie mir.

Fünf Monate dauerte es, bis Yuna wieder bei mir aufkreuzte. Dieses Mal hatte sie ihre menschliche Gestalt angenommen.
Nach fünf Monaten der Ungewissheit, in denen ich fast jeden Tag Ausschau nach einer Tomatenstaude in meinem Garten hielt, stand sie also plötzlich vor meiner Tür und sagte, sie sei Yuna. Anfangs war ich etwas verwirrt und wusste nicht, was die fremde Frau von mir wollte, denn die Tomatenstaude hatte mir bei unserer letzten Begegnung ihren Namen gar nicht verraten. Sie sagte, es sei so leichter, mir die Kunst der Verinnerlichung, wie sie es nannte, beizubringen. Ich musste ihr zustimmen. Yuna hatte rote, lockige Haare und stets ein Lächeln im Gesicht. Sie trug ein schwarzes Kleid, das aussah, als hätte sie es geradewegs aus der Renaissance mitgebracht. Mein Name sei übrigens Tiam, sagte ich ihr. Ein schöner Name, befand sie. Tiam und Yuna.

Nun standen wir also in meiner Wohnung und Yuna begann, mich in die Kunst der Verinnerlichung einzuführen.
„Also, wie funktioniert das? Wie soll ich mir das vorstellen?“
„Stell dir vor, was du willst. Es gibt keine Grenzen. Aber beginne mit etwas Einfachem.“
„Und womit ist es einfach zu beginnen?“
„Hm. Stell dir vor, du bist dieser Tisch da drüben. Versuche, dich zu fühlen wie dieser Tisch.“
„Und wie fühlt sich ein Tisch?“
„Das musst du herausfinden. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, auf vier harten, unbeweglichen Beinen zu stehen. Stell dir vor, wie es sich anfühlen würde, einfach nur aus Holz zu bestehen. Du musst dich in den Tisch hineinversetzen.“
Ich strengte mich zehn Minuten an, während Yuna mich gespannt beobachtete. Zu einem Tisch wurde ich trotz meines roten Kopfes nicht.
„Habe ich mich irgendwie verändert?“
„Nein. Aber das ist ganz normal für den Anfang. Es wird eine Weile dauern, bis du es schaffst, dich wie ein Tisch zu fühlen. Und vergiss nicht, du musst auch wirklich wollen, zu einem Tisch zu werden! Und lass dich nicht entmutigen.“

Yuna rieb sich die Augen und gähnte.
„Ich bin sehr müde. Wo kann ich mich denn schlafen legen?“
Ich war überrascht über das abrupte Ende meiner ersten Lehrstunde. Ich bot ihr an, auf meiner Couch oder in meinem Bett zu schlafen. Sie legte sich in mein Bett und schlief sofort ein, nachdem sie mir auftrug, es einfach weiter zu versuchen, bis sie wieder aufwachte.

Ich kehrte zurück in mein Wohnzimmer und versuchte die nächsten drei Stunden, mich wie ein Tisch zu fühlen. Ich strengte mich an, strich zärtlich mit der Hand über das lackierte Holz und stellte mich auf alle Viere, um mich besser in meine Rolle als Tisch hineinversetzen zu können.
Ich machte eine kurze Pause, aß etwas Suppe in der Küche und begab mich gleich wieder zum Objekt meiner Begierde.
Langsam wurde ich ungeduldig und hoffte, das Yuna bald wieder aufwachen würde. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings bis zum nächsten Tag nicht. Währenddessen versuchte ich weiter, zum Tisch zu werden, schlief ein paar Stunden auf der Couch und frühstückte.
Yuna kam in einem Nachthemd, von dem ich keine Ahnung hatte, wo sie  es herhatte, da sie ohne Gepäck bei mir aufgekreuzt war, gähnend ins Wohnzimmer und traf mich auf allen Vieren stehend neben dem Tisch an. Ich hatte schon starke Schmerzen in den Knien.
„Ich schaffe es einfach nicht.“
„Du darfst die Hoffnung nicht aufgeben. Du musst es immer weiter versuchen. Weißt du wie lange es bei mir gedauert hat, bis ich mich das erste Mal verwandelte? Drei Wochen.“
Entmutigt ließ ich den Kopf hängen. Das würden meine Knie nicht durchhalten.
„Kann ich nicht zwischendurch versuchen, etwas anderes zu sein?“
„Ja, das ist eigentlich keine schlechte Idee. Versuche einfach ein paar Sachen und bleib bei dem, wo du denkst, dass du dich am besten einfühlen kannst.
Ich sah mich im Raum um. Mein Blick blieb bei meiner Stehlampe hängen. Yuna bemerkte es.
„Ja, das ist auch gut, nicht zu kompliziert. Alles, was du dir vorstellen musst, ist, wie du bewegungslos dastehst und dein Kopf hell leuchtet. Mehr oder weniger.“ Sie lächelte mich mit ihrem großen Mund an.

Die nächsten zwei Wochen verbrachte also ich die meiste Zeit mit meiner Stehlampe. Ab und zu versuchte ich auch, mich in andere Gegenstände hineinzuversetzen, doch ich kehrte immer wieder zur Stehlampe zurück, da ich mich mit ihr am besten identifizieren konnte. Hin und wieder kam Yuna hereingetänzelt und gab mir Ratschläge, wie ich mich am besten in Gegenstände hineinversetzen konnte. Den Hauptteil der Arbeit, betonte sie, müsse aber ich machen und meinen Sinn zur Verinnerlichung trainieren. Ich hatte keine Ahnung, was Yuna den Rest der Zeit trieb. Auch auf meine Anfragen hin, mir die Verinnerlichung dieser Stehlampe vorzuzeigen, entgegnete sie, das wäre für meinen Lernprozess nicht förderlich.
Zwei Wochen vergingen, und ich machte noch immer keine Anstalten, die Form zu ändern. Yuna bemerkte meine sinkende Moral und ermutigte mich immer wieder. Ich solle nicht aufgeben, sie merke schon, wie gut ich darin war, mich in Gegenstände um mich herum hineinzuversetzen.

Nach drei Wochen, ich war gerade dabei, mit meiner Stehlampe zu sprechen, und ihr das Geheimnis ihres Befindens zu entlocken, geschah etwas Seltsames.
Meine Füße und Beine fühlten sich plötzlich sonderbar kalt und hart an. Ich sah nach unten und entdeckte einen Metallsockel mit zwei Metallstäben an der Stelle, an der eigentlich meine Füße sein sollten. Mein Herz begann zu rasen und ich begann zu zittern. Die ganze Aufregung lenkte mich aber davon ab, mich wie die Lampe zu fühlen. Kurz darauf blickte ich wieder auf meine normalen Füße hinunter und wackelte mit den Zehen. Doch das machte mir überhaupt nichts aus. Ich hatte es geschafft, meine Füße in die meiner Stehlampe zu verwandeln.

Ich rief laut nach Yuna, doch sie kam nicht. Sie war wohl wieder auf einem ihrer mysteriösen Ausflüge, die mehrere Tage dauern konnten.
Ich konnte vor Freude kaum stillstehen. Kurz zuvor hatte ich schon fast die Hoffnung aufgegeben und wollte Yuna eine Schwindlerin schimpfen, wenn sie dagewesen wäre. Nun war ich froh, dass sie es nicht war. Ich musste mich wieder beruhigen und mich konzentrieren. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, was genau ich vorhin gefühlt hatte. Ich strengte mich an, doch ich blieb in meiner menschlichen Gestalt. Da fiel es mir ein, ich hatte es durch die Aufregung ganz vergessen. Ich hatte mir vorgestellt, was Lampen zueinander sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Ich hatte einen ganzen Dialog gesponnen.

Ich versuchte, mich daran zu erinnern. Lampenstimmen erklangen in meinem Kopf. Meine Füße begannen wieder kalt zu werden und sich anzufühlen, als seien sie aus Metall. Das lag daran, dass sie mittlerweile wirklich aus Metall waren. Mein Herz begann wieder zu rasen, aber diesmal ließ ich mich davon nicht ablenken und schloss die Augen. Das kalte, metallische Gefühl begann, an meinen Beinen hochzukriechen, erreichte meine Leistengegend, kroch weiter und hatte schließlich meinen ganzen Körper eingenommen.
Ich versuchte die Augen zu öffnen, doch ich hatte keine Augen mehr. Ich war zur Lampe geworden. Ich konnte es nicht fassen. Ich wollte nach Yuna rufen, doch ich konnte nicht schreien. Stattdessen spürte ich, wie die Glühbirne in meinem Kopf begann, hell und wieder dunkler zu werden. Da spürte ich Erschütterungen im Parkettboden, auf dem ich stand.

Yuna war zur Tür hereingekommen. Sie lief auf die Stehlampe zu, die mitten im Raum stand und umarmte sie. Zumindest fühlte es sich so an. Ich war überglücklich und blieb noch etwa fünf Minuten in Lampengestalt. Dann verwandelte ich mich zurück. Yuna stand vor mir und strahlte mich an. Ich umarmte sie und bedankte mich etwa zwanzig Mal bei ihr.
„Keine Ursache. Es macht mit immer eine Riesenfreude, diese Kunst zu lehren. Aber dein Lernprozess ist nicht vorbei. Du hast noch viel zu lernen! Zum Beispiel, wie man spricht, wenn man keinen Mund hat, wie man sieht, wenn man keine Augen hat.“
Ich bedankte mich erneut und ließ sie los.
Yuna sagte, ich brauchte sie jetzt nicht mehr und verabschiedete sich am nächsten Tag, nachdem sie noch einmal in meinem Bett geschlafen hatte. Ich hatte mich mittlerweile an die Couch gewöhnt.

Jedes Mal, wenn wir uns in den nächsten Jahren begegneten, war ich besser geworden und ich konnte immer schneller immer mehr Sachen verinnerlichen. Hortensien, Autoreifen oder Laserdrucker waren kein Problem mehr. Ich übte jeden Tag fleißig. Mittlerweile traue ich mich zu behaupten, ein Meister in der Kunst der Verinnerlichung zu sein. Ich habe Yuna schon seit ein paar Jahren nicht mehr gesehen, aber ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis wir uns wieder über den Weg laufen. Wahrscheinlich sind wir es auch schon und haben und nur nicht erkannt. Ich bin ihr unendlich dankbar und hoffe, sie hat ihr Wissen auch an andere weitergegeben. Bis jetzt habe ich aber noch keine anderen Verinnerlicher kennenlernen dürfen.

So habe ich also gelernt, mich in beliebige Gegenstände zu verwandeln. Ich bin in der Welt herumgekommen und habe schon die Gestalt unendlich vieler Gegenstände angenommen. Und natürlich war ich auch schon ein Koala und habe mir Eukalyptusblätter in den Rachen gestopft. Vielleicht bin ich ja gerade das Blatt Papier in deiner Hand, der Stift auf deinem Tisch oder die Tür dort drüben.
Fang einfach damit an, Gegenstände um dich herum anzusprechen, vielleicht bekommst du bald eine Antwort von einem von ihnen und wenn du nett bist, bringt er dir vielleicht auch bei, wie du dir etwas verinnerlichen kannst.

Samuel Deisenberger

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Alois in Ordnung?

Tiburtius hat heute Namenstag. Woher ich das weiß? Steht im Kalender. Morgen ist Waltmann fällig. Steht auch im Kalender. Namen gibt es… Etwa Dankwart oder Eustachius. Schraubt sich einem bei ersterem der Geruch von Autopolitur und Benzin in die Nase, spürt man bei Nennung des zweiten irgendwas Spitziges in den Ohren stochern. Zinelda klingt nach Tschinellentusch oder nach dem Klang von geworfenen Münzen auf einen Zinnteller und Plutonia nach der Aufforderung, umgehend die Schutzräume aufzusuchen. Petronilla wartet bestimmt Presslufthämmer in einer Firma, die sich auf Betoninstandsetzungsarbeiten spezialisiert hat, Winnie ist keine gewinnende, sondern vielmehr eine windige Type und Korbinian fristet sein armseliges Dasein wahrscheinlich als Korbflechter in Oberammergau, dem er nur anlässlich der Passionsspiele in seiner Rolle als Reservechristus alle zehn Jahre entkommt. Antwortet man einem Sixtus immer mit „ja“ oder „nein“ oder mit der Gegenfrage: „Was denn?“ Was kann man einem Tiburtius zuschreiben? Dass er mit Tuberkel eher nichts zu schaffen hat? Dass er sich stattdessen mit Burzn beschäftigt? Zunge im Mundwinkel, angestrengt Kernhäuser mit schrundigem Klingenstumpf aus Obsthälften fitzelt? Und ein Waltmann schreibt natürlich Gedichte, Schmachtlyrik, durchsetzt von Seufzern und peinlichen Geständnissen. Oder waltet als Angestellter eines aufgeblähten Verwaltungsapparates seines Amtes. Die Walpurga denkt man sich nicht auf einem Besenstiel durch Gewitterwolkenschwaden reiten, sondern im Brustharnisch hinterm Wall aus Stampflehm und Stauden eine Burg hüten. Kasimir ist, wie könnte es anders sein, eines  Katers Name. (Oder es benennt ein Arachnophiler seine handzahme Tarantel so.) Frowin muss ein unerschütterlich Frohsinniger sein, den es nach zwei Dezennien regelmäßigen Lottospielens noch immer nicht verdrießt, dass er niemals auch nur einen Cent gewonnen hat. Wolfhelm trägt die Gedächtnisfrisur, die zu ihm passt: als säße ihm, wie weiland jenem russischen Kürassier Opratschojew vor Petrowskoje eine Haube aus räudigem Pelz auf. Ein Trudpert neigt in Gesellschaft zu Impertinenz und ist nirgendwo gerngesehener Gast. Schon in der Schule galt er als Petze und bezog Dresche. Medardus macht auf Nusshändler. Das Zeug verkauft er en gros. Darunter Cashew-, Erd-, Para- und Kokosnüsse. Selber kaut er gern die Betelnuss. Davon werden ihm die Zähne gelb, aber das stört ihn nicht weiters und vor allem nicht beim Hören der disharmonischen Sinfonien von Wallingford Riegger. Bei Diethild mochten sich ihre Eltern nicht zwischen Dietlinde und Hildegund entscheiden und losten schließlich einen Kompromiss. Ihre Freundinnen, wenn sie nicht gerade „die da“ sagen, nennen sie hinter ihrem Rücken „Pummelchen“. Bernulf hat Germanistik inskribiert, in der Hoffnung, das würde ihn irgendwie inspirieren. Dabei versteht er sich eigentlich auf das Provenzalische und wähnt sich als Gemütsverwandter des Panurg aus der Rabelais-Dichtung „Gargantua und Pantagruel“. Was seine langjährige Freundin angeht, weiß er nicht, ob er sie heiraten soll oder doch lieber nicht. Weil ein Schwerhöriger einer Mutter Jostabeeren als Justabeeren verkaufte, muss ihre Tochter jetzt Justa heißen. Ihre Bekannten ziehen sie mitunter mit der einleitenden Wendung „just a …“ auf. Daraufhin pflegt sie ihre Miene wie nach dem Verzehr von Sauerkirschen zu verziehen. Eusebius wollte eigentlich professioneller Illusionist werden, also Wirtschaftsberater, wischt aber gegenwärtig im Verband einer Putzkolonne bloß Böden. Nachdem Winfriede von mehreren Seiten bescheinigt wurde, sie hätte ein gewinnendes Wesen, geht sie ins Spielcasino – und verliert. Hyazinth ist, passenderweise, Florist. Es plagt ihn allerdings eine Blütenstauballergie. Gorgonius hat zwar nicht das Antlitz der Gorgo geschaut, wirkt aber trotzdem immer ziemlich derangiert. Vielleicht sollte er den Grog, so unausgeschlafen am Morgen, doch lieber lassen. Melitta kürzt ihren Namen stets auf Mel ab, um sich Anspielungen zu ersparen, die mit Flecken am Kleid und Kaffeefilterpapier zu tun haben. Man könnte meinen, Krispin wäre ein Krispindl. Weit gefehlt, er glich bereits als Hosenmatz einem Elefantenbaby. Hermelindis ist mit einem Kürschner verbandelt, der unter anderem auch Zobel verscheuert. Die Geschäfte gehen eher flau. Da verfolgt sie die Idee, mit ausrangierten Pelzmänteln alte Stühle neu zu bespannen und sattelt um auf Polsterei. Torben, heißt es, sei gestorben. Branko wird nach ein paar Slibowitz immer andienlich-amikal und patscht einem seine Pranke auf die wenig belastbare linke Schulter, was einen einsinken lässt, aber ihn damit auch nicht sympathischer macht. Malwida könnte mal wieder nach Riga reisen, sagt sie sich, vermag sich aber nicht einmal dazu aufraffen, Stollberg zu verlassen, um ihre Tante in Berlinchen zu besuchen. Ulfried könnte auch anders heißen. Zum Beispiel Wignand. Irmtrud gilt als Trotzkopf. Wilma mit der was unternehmen, sollte man sich vorher überlegen was. Seifried erklärt sich namensetymologisch wohl als Friedbert, der auf der Seife steht. Kistenwart möchte man auch nicht heißen. Stanislaus musste ja Kammerjäger werden, zum Kammersänger fehlt ihm die Stimme. Ein Theobald hat es nicht eilig, der ist von eher eingebremstem Phlegma. Was Wunder, dass kein Theobald jemals irgendeine Rekordzeit gelaufen ist, und sei es unter Schnecken, die man auf Isomatten nagelt, und es auch in Zukunft nicht fertigbringen wird. Kilian gibt mit seinen guten Beziehungen an, gilt aber allen als Schnösel, der wenig anderes drauf hat als Larmoyanz, wenn man ihn auf seinem Gebiet der Unfähigkeit überführt. Bringfriede versteht ihren Namen durchaus als Auftrag, so kurz nachdem sie sich von Kunibert und dessen fixen Faxen trennte und stellt sich als Mediatorin beruflich neu auf. Also Tatausgleich und andere Verfahrensweisen zur einvernehmlichen Sedierung chronisch Streitsüchtiger und ihrer Opfer. Anselm arbeitet hauptsächlich über Amseln. Er ist in seiner Familie der erste Ornithologe, der einen Artikel in der britischen Fachzeitschrift Bird Study unterbringen kann. Darin verbreitet er sich über das Einemsen. Almuth nimmt im Schwimmbad allen Mut zusammen und hüpft von der höchsten Plattform des Sprungturms in das Becken. Sigismund entstellt nicht nur eine Zahnspange, die irgendwie dem Beißkorb eines American Football-Spielers ähnelt. Er erwägt auch, seine Hakennase chirurgisch zu korrigieren, erkennt aber anhand der Gesichter von Bernward und Britney Spears, dass das auch schiefgehen kann. Damian ist gar nicht der Dummian, für den ihn viele halten. Den Einfältigen zu markieren ist nur Pose, andere sagen: Chose. Es gelingt ihm recht überzeugend, seine Belastbarkeit hinter einer Fassade aus Faulheit und Widersetzlichkeit zu verbergen. Cordelio kann sich seinen Vornamen auch nicht erklären und tippt auf „Schreibfehler“. Seine Stiefmutter vermutet, er rühre von seiner echten Mutter Vorliebe für eine bestimmte italienische Eissorte. Eulalia könnte der euphemistische Name für eine Geschützbatterie sein und natürlich möchte man mit der keinen Streit anzetteln. Wer lässt sich schon gern, erst halb aus dem Bett, wenngleich auch nur verbal, auf nüchternem Magen niederkartätschen? Herr Zacharias heißt der Oberkellner im Café an der Esplanade und der ist voll auf Zack, bringt dir dein Pils an den Tisch, noch bevor du dich überhaupt gesetzt und es bestellt hast. (Was zwangsläufig darauf hindeutet, dass er dich verwechselt.) Gangolf war früher Unruhfabrikant, also als Zulieferbetrieb eines jurassischen Uhrenherstellers selbständig, ist aber jetzt nur noch mit der Verbesserung seines Handicaps beschäftigt. Nein, Engelmar sieht keine schwebenden Leintuchgestalten vor seinen Augen wandeln, nach dem Aufschrauben des einen Fläschchens „Goldwasser“ zu viel. Aber er rudert dann beim „Ritt der Walküren“ mit schwungvollen Armbewegungen das Dirigat jenes verblichenen Maestros in seinem Diwan mit, der einst eine bestimmte Frage, seine Vergangenheit betreffend, mit einer motzigen Gedächtnislücke beantwortete. Gunilla hat eine Vorliebe für alles, was sich in die Länge zieht und man trotzdem kauen kann. Zum Beispiel Schnüre aus Lakritze. Solange Solange nur so dasteht, als könnte sie kein Wässerchen trüben, macht sie das nicht verdächtig. Aber der Schattenwurf ihres Profils verrät sie, findet ein als Sachverständiger beigezogener Scherenschnittkünstler, der ihre Pausbacken als das Depot der entwendeten Diamanten deutet. Der Rest ist für Eilhard, den Kommissar, reine Routine, also Papierkram und Kaffee aufsetzen. Richilde hat es mit dem Fliegenfischen. Zwar hat sie keinen Riecher dafür, sprich: für die Fische – was diese an ihr zu schätzen wüssten, reflektierten sie außersinnlich – aber sie schätzt die Bewegung in der freien Natur. Dolf gilt so manchem als Dolm. Intelligent tun, kann jeder, verantwortet er sich, es nicht sein, das verlangt Mut! Er saß für Jahre als Abgeordneter im Parlament. Romilda spielt am liebsten Rommee, verliert aber nicht gern. Was sie in ihren Kreisen nicht sonderlich beliebt macht. Nur zu Urte fehlen dir die Wurte.

Bernhard Hatmanstorfer

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Naives Tagebuch: Wiener Sud

Naives Tagebuch,

eine wilde und doch plausible Theorie, die mir viele schlaflose Nächte bereitet hatte und die es jetzt zu beweisen gilt, hat mich nach Wien geführt. Dort sitze ich jetzt im Café eines namhaften Hotels und warte auf einen fachkundigen Kellner, der mir womöglich weiterhelfen kann.

Nach einer schier endlosen und sehr emotionalen Diskussion mit dem Kellner, einer durchaus aufschlussreichen Vorführung mit Handpuppen seitens des Putzpersonals und einem Diavortrag im Büro des Hoteldirektors, bei dem auch Sippie der Hausmeister anwesend war, bin ich jetzt überzeugt, dass es unmöglich ist, Süßspeisen dazu zu bringen, von selbst nachzuwachsen. Obwohl ich meine Theorie von wachsenden Torten nicht bestätigen konnte, bin ich doch froh, in diesem traditionsreichen Kaffeehaus in Wien gewesen zu sein, denn ich habe hier Freunde fürs Leben gewonnen. Sippie erzählte mir sogar sein, wie er sagte, größtes Geheimnis. Und obwohl ich seiner Behauptung skeptisch gegenüberstehe, dass er tatsächlich ganz Wien und Teile von Graz mit einem weit verzweigten Tunnelsystem untergraben hat, finde ich es schön, wenn man mir so viel Vertrauen entgegenbringt. Um alle Zweifel zu zerstreuen, hat er mir sogar angeboten, mich in seine unterirdische Welt mitzunehmen. Ich bin gespannt.

Drei Tage sind vergangen, bis man mich gefunden hat. Das Tunnelsystem stellte sich als Abstellkammer im Keller des Hauses heraus und die Angestellten sagten mir, dass sie von einem gewissen Sippie noch nie etwas gehört hätten. So schnell gehen Freundschaften wohl zu Ende. Vielleicht war es die Ruhe in dieser kleinen Kammer, vielleicht auch der Sauerstoffmangel, aber ich fühle mich wie neugeboren und bin bereit, meine Wienreise fortzusetzen.

Da ich mir die Kosten für eine Unterkunft erspart hatte und sowieso schon in der Nähe war, nahm ich mir die Zeit und besichtigte auch den Stephansdom. Schade nur, dass sich in all den Jahren noch immer keiner die Mühe gemacht hat, das Ding endlich fertigzubauen. Beim Eingang geriet ich in eine japanische Reisegruppe. Ich habe mich noch nie in meinen Leben so groß gefühlt. Eine ältere Frau wich mir während der ganzen Führung nicht von der Seite und redete immer lauter werdend auf mich ein. Ich glaube, sie wollte mich mit ihrer Tochter verheiraten, es könnte aber auch ein Rezept für eine Bohnensuppe gewesen sein. Sie wurde bei ihrem unverständlichen Monolog immer aggressiver, sprang mich schließlich wutentbrannt an und riss mir büschelweise die Haare vom Kopf. Der Mann vom Sicherheitsdienst benötigte drei Dosen Pfefferspray und einen Elektroschocker, um die wildgewordene Frau dazu zu bringen, von mir abzulassen. Trotz des Zwischenfalls lud mich der Reiseleiter ein, beim Gruppenfoto der Reisegruppe dabei zu sein. Ich konnte schlecht ablehnen, da die aggressive Frau neben ihm stand und mich mit ihrem Blick spüren ließ, dass sie ein Nein nicht akzeptieren würde. Wir tauschten Nummern aus, versprachen uns, in Kontakt zu bleiben und schließlich verabschiedete ich mich von meinen asiatischen Freunden, denn ich musste noch meinen Zug erwischen.

Ich verlasse Wien wieder, naives Tagebuch. Ich sitze bereits im Zug, doch fühle ich mich noch immer unbehaglich, da mir die japanische Touristin bis zum Bahnhof gefolgt ist und mich jetzt durch das Fenster des Zuges hindurch anstarrt. Ich wollte sie ignorieren und auf meinem Handy die Fotos meiner Reise ansehen, doch waren diese von dem Mann, der sich selbst Sippie nennt, gelöscht und durch Selfies von ihm ersetzt worden. Sollte ich ihm je wieder begegnen, werde ich ihm sagen müssen, dass ihm Lippenstift nicht sonderlich steht. Dafür sind Freunde schließlich da.

Bis bald, naives Tagebuch!

Dominik Hödl

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15030

Moritura te salutat

Begrabt mich auf einem Hügel, der sein Gesicht der Sonne entgegenstreckt. Nach meinem Tod will ich soviel Sonne wie möglich haben. Merkt euch das gut! Der letzte Wille ist heilig. Vergesst es nicht, ihr Vergesslichen! Sonne brauche ich, um ruhen zu können. Sonne, die mich wärmt tief unter der Erde. Ich werde mich räkeln in meinem schönen Kleid, das ihr mir anziehen werdet, wenn es so weit ist.
Vergesst auch nicht die Strümpfe und die Schuhe. Die Schuhe sind besonders wichtig. Dicke Sohlen müssen sie haben. Ich habe verschiedene, die sich eignen: Stiefel, Halbschuhe, hochhackige Sommerschuhe. Ich glaube, die mag ich am liebsten. Ich will mich wohlfühlen, wenn ich vor das Angesicht meines Schöpfers trete. Er soll seine Freude an mir haben. Er soll sehen, dass ich glücklich bin, ihm zu begegnen. Ja, ich weiß, dass es nicht so einfach sein wird. Der Weg ins Paradies führt über Dornen. Vielleicht sollte ich doch lieber die schwarzen Stiefel mit den Plateausohlen anziehen, die ich in Salzburg gekauft habe. Mann, war das eine verrückte Zeit. Zieht sie mir an, wenn ich meinen letzten Weg antreten werde. Sie sind praktisch, und ich werde mir auf  meinem Weg durch die Dornen nicht die teuren Strümpfe zerreißen, obwohl das dann auch schon egal wäre, aber solche Gedanken habe ich verinnerlicht. Außerdem kann ich Gott nicht mit Laufmaschen begegnen, das geht gar nicht. Was soll er sich denn von mir denken. Aber später möchte ich doch gern die Stiefel ausziehen und die hochhackigen italienischen Sommerschuhe tragen, die mit der roten Lederblume am Riemen, die sind elegant und werden Gott gefallen. Ich bin gespannt, wie es sich damit auf den Wolken gehen lässt. Aber vielleicht führt mein Weg ja auch über den feinpulvrigen Sternenstaub. Dann brauche ich ein Taschentuch, um mir den Staub von den Schuhen zu wischen, wenn ich die Wohnung Gottes, die fünfzigste Halle, betreten werde. Vergesst also nicht, mir ein Taschentuch mitzugeben. Das zweite Paar Schuhe brauche ich auch. Vielleicht führt mein Weg über den Rücken des Leviathan. Darüber ist bestimmt gut zu schreiten. Er wird Acht haben, dass ich nicht strauchle. Sicher wird er mich geleiten.

Ich möchte, dass ihr mir das graublaue Spitzenkleid anzieht, das mit den kurzen Ärmeln und der Schleife am Dekolleté. Eine Jacke werde ich nicht brauchen. Bestimmt ist es warm. Ich verlasse mich auf die Sonne. Die Nägel lackiert ihr mir mit meinem Lieblingsrot. Sie sollen richtig leuchten, genauso wie meine Lippen. Und die Augen schminkt ihr mir auch. Ich möchte, dass ihr Blau strahlt. Ja, mit strahlenden Augen will ich meinen Schöpfer anschauen. Nehmt bitte meine Worte ernst. Sie sind nicht bloß dahingesagt. Ich will mich auf euch verlassen können. Ihr seid meine engsten Vertrauten. Auch ich habe für euch immer gut gesorgt. Versagt mir also diesen Wunsch nicht, sondern trachtet, ihn zu erfüllen. Ich bitte euch recht herzlich darum. Seid so gut.

Und auf mein Grab legt einen schönen großen Flusskiesel. Ihr werdet schon einen finden, der zu mir passt. Schön geschliffen vom Wasser. Da müsst ihr euch ein paar Tage Zeit nehmen und etwas herumfahren, bis ihr einen passenden ausmacht. Das wird dann ein kleiner Urlaub sein, den ihr in Gedanken bei mir verbringt. Wir werden uns ganz nahe sein, so nahe wie schon lange nicht mehr, glaubt mir. Ja, das ist verrückt. Wenn man sich in derselben Stube gegenübersitzt, ist man oft meilenweit voneinander entfernt, und wenn man weit voneinander ist, vielleicht sogar in anderen Sphären, dann ist man sich ganz nah. Ist das nicht außerordentlich wunderbar? Erinnert ihr euch noch an die Geschichte meiner Mutter, die die Todesstunde ihres Verlobten im fernen Stalingrad zu nachtschlafender Zeit in ihrem Bett im Bayrischen Wald miterlebt hat. Das sind die wirklich wichtigen Dinge, auf die wir achten müssen im Leben. Das gebe ich euch mit auf den Weg und sonst nichts. Versucht glücklich zu sein, lauscht auf die leisen Worte hinter den lauten und bewahrt euch den Blick für die wahre Schönheit der Dinge.

In den Flusskiesel lasst ihr meinen Namen gravieren und vergolden, nur den Vornamen, der genügt. Und das Todesdatum und mein Alter. Falls ich über neunzig werde, werde ich stolz darauf sein, so lange durchgehalten zu haben, und ich möchte, dass es die zufälligen Besucher mit gewissem Erstaunen und Respekt zur Kenntnis nehmen. Alles andere ist ohne Bedeutung. Ich möchte nicht auf einem Friedhof liegen, auf dem sonntagnachmittags alte Frauen spazieren gehen und ihren Enkelinnen Geschichten zu den einzelnen Gräbern erzählen, die sie erschrecken und ihnen die Lust auf das Leben nehmen. Ich werde meine Ruhe finden auf dem sonnenbeschienenen Hügel und hoffentlich Frieden haben von all dem Geschwätz, das ich selbst auch oft gesucht und gemehrt habe in den Zeiten meiner inneren Unruhe.

So, nun wisst ihr Bescheid, wie ich mir das vorstelle am Ende meiner Tage. Es ist eigentlich ganz einfach, und wenn ich jetzt nach dieser Beschreibung innehalte, beschleicht mich ein seltenes Glücksgefühl. Ich habe die wichtigen Dinge geregelt und kann mich nun dem Leben hingeben. So Gott will, schenkt er mir noch ein paar Jahre, und ich will sie dankbar aus seiner Hand annehmen.

Ach ja, ich habe noch vergessen euch zu sagen, dass ihr auch einen Baum pflanzen müsst ans Kopfende meines Hauses für die Ewigkeit. Zuerst dachte ich an eine Birke, weil ich ihre weiße Rinde so liebe. Silbrig leuchtet ihr Laub in der Sonne, doch sie braucht soviel Wasser und wird nicht glücklich werden an meiner Seite. Dann dachte ich an eine Platane. Sie ist so vornehm. In alten Schlossparks habe ich sie zum ersten Mal gesehen und lieb gewonnen. In ihrem Schatten ist so gut zu ruh’n. Sie beflügelt den Geist zu großen Gedanken. Doch sie hat auch so etwas Altes an sich, das mich schwermütig macht.
Eine Weide wäre auch schön. Seit meiner Kindheit liebe ich sie. Vom Flussufer kenne ich sie und ihre tiefhängenden Äste mit den länglichen Blättern. Beim Schwimmen zog ich mich gern an ihnen hoch und ließ mich anschließend ins Wasser plumpsen. Zu dieser Erinnerung gesellt sich eine ausgesprochene Leichtigkeit, die selten in meinem Leben zu finden ist.
Aber an meinem Grab möchte ich doch lieber einen exotischen Baum haben. Vor einigen Jahren führte mich eine Sommerreise nach Slowenien. Mein Mann und mein jüngster Sohn, der damals noch ein Kind war, begleiteten mich, sowie ein befreundetes Paar. Wir suchten ein kleines Dorf, das den Namen Jerusalem trägt und seine Existenz einem erfolgreichen Feldzug gegen die Türken  verdankt. Inmitten von malerischen Weinbergen liegt es. Stundenlang sind wir im Frühsommer durch sie spaziert. An jenes Jerusalem erinnert mich nichts mehr als das Dorfschild, vor dem wir uns gegenseitig fotografiert haben, und eine Malerei mit säbelschwingenden türkischen Reitern, die alle das Fürchten lehrten. Aber ein ausladender mächtiger Baum taucht noch vor meiner Erinnerung auf. Er stand auf einem Hügel und steht bestimmt immer noch dort. Wer würde die Dreistigkeit besitzen, einen derart majestätischen Baum umzuschneiden. Jahrhunderte wird er gebraucht haben, um so groß zu werden und sein Blätterdach zu entfalten. Wir näherten uns vom Tal kommend auf der Landstraße und hatten jenen Baum als Ziel. Keiner von uns hatte jemals so einen Baum gesehen, und wir rätselten, was es für einer sein könnte. Erst als wir unter der mächtigen Krone standen und den dicken Stamm vor Augen hatten, die Blätter und die wunderschönen Blüten bestaunen konnten, erkannten wir die Esskastanie, den Maroni-Baum.
Ich glaube, so einen Baum solltet ihr an mein Grab pflanzen. Der passt zu mir. Das heißt aber auch, ihr müsst  mich an einem Ort bestatten, an dem dieser Baum wachsen kann. Das wird sich natürlich etwas schwierig gestalten, aber euch wird schon etwas einfallen. Da vertraue ich nun ganz auf euren Einfallsreichtum. Ich gebe zu, das wird ein Gescherr geben, aber das kann ich euch nicht ersparen. Dafür habt ihr dann auch eure Ruhe von mir. Wenigstens für einige Zeit, bis wir uns dereinst wiedersehen werden in der anderen Welt.

Da fällt mir aber nun noch etwas ein. Rote Rosen solltet ihr auch pflanzen, die sich am Stamm hochranken. Ein Rubinrot stelle ich mir vor. Wenn sich die Sonne darin bricht, wird es wie Blut leuchten, und ich werde meine Augen vom ewigen Licht losreißen und mich an dem samtenen Licht der Endlichkeit erfreuen und in Gedanken bei euch sein. Wir werden uns begegnen können, und darauf freue ich mich. Also pflanzt auch noch den Rosenstock und dann lasst mir meine Ruhe. Ich sehe euch schon in einem Weinkeller einkehren und über mich schimpfen, weil ich euch soviel Mühe gemacht habe. Aber das sehe ich gerne. Glaubt mir, ich werde von meiner neuen Wohnung aus über euch schmunzeln. Bestellt euch reichlich Wein, seid fröhlich und lacht. Ich labe mich jetzt schon an dem Bild. Die fröhlichen Tage können im Leben nicht zahlreich genug sein, darum nehmt sie so, wie sie euch begegnen. Nehmt sie aus der Hand eures Schöpfers und genießt sie. Hinterfragt sie nicht. Sie sind das Beste, was euch passieren kann.

Jetzt habe ich aber in der Tat mehr als genug über die letzten Dinge gesprochen. Es wird Zeit, dass ich mich dem Leben zuwende.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15027

Schleim – eine Ehrenrettung

Der Schleim ist üblicherweise negativ besetzt. Eklig, grauslich, unhygienisch, krankhaft und so weiter. Die schleimigen Tiere (Fische, Schnecken, Maden, Molche etc.) mögen wir genauso wenig wie die „schleimigen“ Menschentypen. Unangenehme Menschen „schleimen sich aus – oder ein“. Brrrr, wie ekelhaft.

Dabei ist Schleim der Ursprung unseres Lebens, ein Gottes-Geschenk, ein Labsal, etwas Herrliches und Köstliches, oft genug lange Ersehntes! Ohne Schleim wären wir alle nicht! Nur Steine haben und produzieren keinen Schleim. Ein Leben ohne Schleim kann beispielsweise  nur  ein Bergkristall schön finden. Was zu beweisen ist:
Zunächst einmal zum Lebenselixier Schleim. Wie sehen die Stoffe aus, welche menschliches Leben entstehen lassen? Der männliche Liebessaft ist schleimig, sonst könnten die Spermien nicht schwimmen. Die weibliche Empfangsgrotte ist ebenfalls rutschig, damit alles wie von der Natur vorgesehen flutscht.

Und zur Vorgeschichte des Lebens respektive zu den angenehmen Dingen auf der Welt:
Da sieht ein Mann ein angenehm aussehendes Weibchen und freut sich. Ohne die Schleimhaut der Augen, die niemals austrocknen darf, würde er sie nicht sehen können. Sollte er dann in die engere Wahl der Frau kommen, ist es ebenso natürlich wie angenehm, einander zu küssen. Mit der Schleimhaut der Lippen und womöglich noch ein bisserl tiefer. Ohne Schleim hätte Mann/Frau das Gefühl, ein Stück trockenes Leder zu reiben, oder so ähnlich – jedenfalls nichts Erstrebenswertes und Knie-erweichende Gefühle Auslösendes. Kein einziger Schmetterling würde im Bauch flattern. Trocken ist tote Hose.

Apropos Lippen und Goscherl: Sind sie nicht auch für die Aufnahme von höchst erwünschter, wohlschmeckender und gut duftender Nahrung vorgesehen? Eine Nase, die staubtrocken ist, vermöchte nicht die geringste Duftnote erkennen; sie ist freundlicherweise mit einer speziellen Schleimhaut ausgelegt, damit sich die Düfte einnisten können. Und auch der Geschmack ist vom Duft abhängig, denn ohne Riechvermögen könnte der Mensch nur süß, sauer, salzig und bitter empfinden.
Weiterhin ist der Weg der Nahrung durch den Körper stets von Schleimhäuten umgeben, bis zum dicken Ende. Gnade Gott dem Schlemmer, dessen „Output“ stecken bleibt wie ein Kolbenreiber.
Und wie sieht es mit der Nahrung selbst aus – ist sie wirklich gänzlich schleimfrei? Auch das Blut im Fleisch ist Schleim – ein bisserl dicklich, ein bisserl fettig, rutschig sowieso. Könnte es sonst durch die dünnsten Adern fließen und dabei noch jede Menge Stoffe transportieren? Und Fleisch ohne Blut gibt es nicht.

Aber auch Obst und Gemüse ist nicht ganz ohne Schleim. Wer je einen Kürbis aufgeschnitten und entkernt, wer je einen vollsaftigen Pfirsich gegessen oder die Kerne von Kirschen mit den Fingern weggeschnippt hat, weiß um die Schlüpfrigkeit dieser Dinge. Gott sei Lob und Dank dafür – es ist schon ein sinnliches Vergnügen, das die Schleimproduktion (Speichelfluss) im eigenen Mund anregt.
Und erst die Milchprodukte: Sie sind allesamt (im frischen Zustand) Schleim. Wer zum Beispiel einen mit Schlagobers (Schriftdeutsch: Sahne) gefüllten Baiser genossen hat, der hat höchst genussvoll mit Schleim (Schlagobers) gefüllten Schleim (das geschlagene und gezuckerte Eiklar) verzehrt. Wer sagt da, dass Schleim ekelhaft ist?
Nun möchte vielleicht jemand meinen, dass doch das Weizenkorn absolut schleimfrei ist – weshalb Gebäck wirklich etwas ohne Ekel Verzehrbares sei. Er hat auch unrecht. Denn die Hülle des Korns hat die Eigenschaft, Wasser auf- und damit eine schleimige Konsistenz anzunehmen. Würden sonst so viele hartleibige Menschen gerade das Vollkornbrot mit genügend Flüssigkeit zu sich nehmen? Der Verfasser kann es jedem raten – das ist besser, gesünder und zielführender als alle Pillen und Pasten der Pharma-Industrie.

Es lebe der Schleim – und wir mit ihm (und durch ihn)!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15024

Neulich im Heldenbüro

Da saßen sie wieder, die beiden Kollegen, zwei gestandene Mannsbilder, und hatten recht wenig zu tun. Das war kein Wunder und hatte mit der Entstehungsgeschichte ihres Arbeitsplatzes zu tun.
Ihre Abteilung war gegründet worden, als das Heldentum grassierte, die Vorkommnisse diesbezüglich unüberschaubar geworden waren und die Sehnsucht nach Ordnung im Heroen-Chaos übergroß. Angefangen hatte alles mit einem Ägypter, der sich als Superheld gerierte, sich auf Hochhäusern fotografieren und filmen ließ, während er zum Schein Abflüge machte, um die Menschheit, oder zumindest einen Teil davon, zu retten. Es kam, wie es kommen musste: In Zeiten der sozialen und sonstigen Netzwerke verbreitete sich die Kunde von dem Wundersamen rasch, Nachahmer waren schnell zugange, und so bevölkerten erst Dutzende, dann Hunderte und später Tausende Helden diesen Planeten. Leider gingen so die echten, die richtigen, die wirklich wichtigen dabei komplett unter, ja, wurden kaum noch ernst genommen.
Und so wurde das Heldenbüro gegründet, die „Stabsstelle für echte Helden“, bei der man sich melden und registrieren lassen konnte, nebst Angabe der speziellen Fähigkeiten, auf dass die diesbezüglich bedürftige Menschheit später davon Gebrauch machen konnte.
Leider war nach einem anfänglichen Hype der Zulauf in letzter Zeit recht bescheiden gewesen, und so vertrieben sich die beiden Bediensteten inzwischen dort recht routiniert die Zeit mit allerlei Spielchen, als eine von mehreren Strategien, den Tag herumzubringen.
Eine andere war ihnen gerade ein bisschen vergällt worden: Besonders jetzt, wo von den drei Kolleginnen nebenan diejenige auf Kur war, die ihnen beiden am besten gefiel, vermieden sie es eher, dem Nebenbüro einen Besuch abzustatten. Alleine der Name der Arbeitsgruppe im Nebenraum wirkte abschreckend auf sie, „Büro für virtuelle Seuchenbedrohung“. Die Damen waren außerdem sehr beschäftigt, im Vergleich zu ihnen beiden, was die Besuche automatisch verkürzte beziehungsweise eindämmte. Aber jetzt, wo die Hübsche sowieso einige Wochen lang nicht hier sein würde, gab es einen Grund weniger, aufzustehen und sich nach nebenan zu begeben. Die anderen beiden Frauen erkundigten sich immer recht zynisch, wo denn die echten Helden blieben, wenn man sie brauchte. Und die beiden Männer drucksten dann herum und wussten keine Antwort.
Nein, dann lieber schön hiergeblieben und sich etwas anderes als Zeitvertreib suchen.
Sie spielten also das schöne, bewährte Spielchen „Wer hat am schnellsten den Längsten?“ und waren recht vergnügt dabei. Es ging darum, mittels Internetrecherche einen möglichst langen Link zu finden, und wer ihn am schnellsten mittels eines Programmes verkürzt und diese „Tiny URL“ dann seinem Kollegen per eMail geschickt hatte (da konnte die Sendezeit sekundengenau beurteilt werden, was oft auch notwendig war, denn sie waren ebenbürtige Gegner), war der Gewinner. Die Rundenanzahl schwankte und wurde vorab vereinbart, und der Gesamtsieger wurde dann vom unterlegenen Kollegen den Rest des Bürotages lang bedient.
Das Spiel war tricky, denn die Zeitvorgabe war brutal, und so waren Konzentration, Erfahrung und Schnelligkeit unbedingt vonnöten, um diese Aufgabe zu meistern.
Sie hatten sich gerade in einen schönen Spielrausch hineingesteigert, zwei Meister ihres Fachs, als es an der Bürotüre klopfte.
Die Türe öffnete sich, und im Türrahmen stand, zu ihrer totalen Verblüffung – Phantomias!

Er hatte es ihnen leicht gemacht und sein blaues Käppi aufgesetzt, auf dem als einzige Neuerung sein Name stand, aber ansonsten sah er genau so aus wie in den Comics ihrer Jugendzeit.
Die beiden Bediensteten sahen sich an. Sie sahen den Besucher an. Phantomias sah sie an.
Der Kollege, der der Tür am nächsten war, sagte zu seinem Gegenüber: „Kurti, du weißt, was das heißt? Das müssen wir melden. Wir brauchen ein neues Büro. Das könnte dann heißen ,Spezialstabsstelle für tierische Helden’ , oder so ähnlich.“
„Ja“, seufzte der andere, „es reißt einfach nicht ab. Und für Sie, lieber Phantomias, heißt das ein bisschen warten, bis wir das neue Büro und die neuen Angestellten haben. Momentan können wir Ihren Fall leider noch nicht bearbeiten. Sie können aber gerne Ihre Kontaktdaten hier lassen. Wir geben Ihnen dann Bescheid, wenn es so weit ist.“

Ja, genau so hat es sich zugetragen, neulich im Heldenbüro.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 15018

Mich gibt’s noch nicht

Ich hab mir in letzter Zeit schon ein paar Mal überlegt wieder einzusteigen da unten – aber jedesmal, wenn ich mir meine potenziellen Eltern anschau’, vergeht mir die Lust auf eine neue Reinkarnation. Ich weiß, das ist nicht richtig, ganz abgesehen davon, dass nur Paradies irgendwann auch fad wird: Sünden sind tabu – dabei wär’ es wieder einmal nett, welche zu begehen, schon um den Alten zu ärgern. Dann das ständige Gedudel – keine Ahnung, warum sich immer die talentfreiesten im Blockflötenensemble finden, Flügel, die sich pausenlos irgendwo verheddern und viel mehr Pflege brauchen als gemeinhin angenommen: Engerl zu sein ist auf Dauer ein beschissener Job.

Unlängst (Er: Reisender, Sie: Lehrerin) habe ich mich nicht wirklich entschließen können (viel Tagesfreizeit einerseits, Familienwochenende andrerseits) und wie ich endlich aus einer inneren Eingebung heraus ‚Hier!‘ gerufen habe, war der Käse längst gegessen: Ein Klaus hat sich vorher gemeldet und war vor mir dran. Ich bin ihm nicht wirklich böse deswegen.
Es war ja nicht das erste Mal, wo es mich gereizt hätte. Vor ein paar Tagen wollte ich mir eine echt coole Sache geben: Vater unbekannter Soldat, der obendrein in der Stunde meiner Geburt standesrechtlich erschossen worden wäre, die Mutter arm, jung und namenlos, U-Boot in Buenos Aires. Ist da als Vierjährige hingekommen, mitgenommen von Verwandten, die nicht einmal ihren eigenen Namen buchstabieren konnten. Spannende Geschichte, hab ich mir gedacht. Ich hab aufgezeigt, aber der Bewusstseinsbrei um mich herum hat mir die Hand heruntergezogen und gesagt: ‚Sei nicht so blöd‘, ‚Du verdienst was Besseres‘, ‚Hau dich nicht runter‘, ‚Verlier nicht die Nerven‘ und ähnliche Sachen.
Bonita hat den Job dann gemacht – ich hab mir von hier oben die Geburt natürlich angeschaut und muss sagen: Ich hab wirklich nix versäumt. Es war eine unangenehme Sache, hat nur etwas mehr als zwei Stunden gedauert – Bonita ist jetzt zusammen mit ihrer Mutter längst wieder bei uns.
Bald darauf ist was Besonderes passiert: Heinz hatte sich gar nicht gemeldet, ist aber trotzdem drangekommen – in den Chefetagen ist nämlich schon längst registriert worden, dass die meisten von uns gar keinen Bock mehr auf diese Scheiß-Inkarnationen haben. Jetzt haben wir aber ein sehr geburtenschwaches Jahr heuer und bei dringlichem Bedarf entscheidet das Los – so ist das ausgemacht. Der Karl wird jedenfalls Sohn für ein Ehepaar, das einen neuen Bäcker bestellt hat.

Das wär’ nichts für mich: Ich will Mädchen werden und mit dem Bäckerhandwerk nichts mehr zu tun haben – das hat mir Ench-al-Inch, so ein arabischer Hofbäcker schon so um 526 vor Buddha gründlich ausgetrieben. Interessieren würde mich die Sache aber als Beobachterin, und kaum denke ich mir das, gibt es zwei Ecken weiter die Möglichkeit dazu: Solokind für Graf und Gräfin von Ceverovits ist angesagt, Villa, drei Badezimmer, jede Menge Personal – eine richtige Prinzessin zum Verwöhnen wird gesucht. Die meinen ganz offensichtlich mich und ich zeige sofort auf.
Znotsch.
Also komme ich raus, mir bleibt jetzt schließlich auch nichts mehr anderes übrig. Der Bewusstseinsbrei um mich herum weicht, ich schwing’ wieder durchs schwarze Loch ins Licht, wie ich es schon von den anderen Reisen her kenne, wieder die übliche Prozedur: Der Typ (wieder einer mit Brille und hohem, grauen Haaransatz) schaut mich ungläubig an und holt mit der Rechten aus. Ich schrei natürlich gleich wie am Spieß, er lächelt zufrieden und lässt die Hand sinken. Diesmal aber (neu für mich): helles Licht und emsiges Treiben, viele Köpfe über mir, andere Mütter neben mir und dann die Schrecksekunde: ‚Es ist ein Sohn!‘ – ich glaub’, ich hör nicht recht. ‚Unser Ceverovits!‘ kreischt meine zukünftige Mama der Ohnmacht nahe noch.
Es geht von ganz von vorn los: Mir wird die Brustwarze reingesteckt, wenn mir der Arsch brennt, die scharfen Fingernägel der Gouvernante kratzen mir den Arsch aus, wenn ich Hunger habe: Die Kommunikation im frühen postnatalen Stadium war immer schon unbefriedigend – in den letzten drei, vier Jahrhunderten ist sie aber eine einzige Katastrophe: Du kriegst nie, was du brauchst, alle Bedürfnisse werden verkehrt interpretiert – nie befriedigt.
Kaum dass ich ‚Mama‘ sagen kann weiß ich, dass das für mich wirklich das letzte Mal ist in den nächsten tausend Jahren ist, mir reicht’s jetzt nämlich endgültig: Lieber da oben in der Bewusstseinssuppe herum schwabbeln, als noch einmal zurück auf diese Kugel. Das da oben ist zwar auch kein Honiglecken, aber das hier herunten tue ich mir einfach nicht mehr an.

Anmerkung:
Thomas Ceverovits wurde Jurist, war in seiner Jugend Dritter in der Staatsmeisterschaft der Rückenschwimmer. Er heiratete und wurde Vater von drei Söhnen. Nach seiner Pensionierung und dem Tod seiner Frau widmete er sich mit mäßigem Erfolg der Lyrik. Er verstarb im kalten Winter 1929, zwei Monate nach dem Schwarzen Freitag, an den Folgen eines Schnupfens.
Durch ein Missverständnis – er hustete, was als Zustimmung interpretiert wurde – inkarnierte er als Maria Schroll gleich ein halbes Jahr später erneut. Schroll wurde Jugendleiterin beim Bund deutscher Mädchen und erlag im Winter 1944/45 nach einem Bombenangriff ihren schweren inneren Verletzungen.
Gerüchten zufolge inkarnierte sie vorletzte Woche doch wieder, diesmal als erstgeborene Tochter einer Bäckerfamilie in A-458o Windischgarsten, Laubenweg 21 A.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 15010

 

Seltsame Geschichte

Wir können nicht einfach darüber hinwegsehen: Es geht in dieser äußerst seltsamen Geschichte um keine Diskussion, keine Auseinandersetzung – es handelt sich hier um Krieg! Es ist ein Kampf der Geschlechter und der Generationen, um Vormachtstellung, eine brutale Konfrontation der Charaktere, ein würdeloses Aufeinanderprallen von Groß und Klein, Schwarz und Rot. Wir halten uns selbst zum Narren, wenn wir so einfältig sind zu glauben, dass wir auch nur die kleinste Chance hätten, diesem Krieg ein Ende bereiten zu können: Nicht das smarte “Sowohl-als auch”, sondern ein hartes “Entweder-oder” ist die beherrschende Devise und es gibt keinen Kompromiss.

Dabei lässt sich alles an wie fast immer: Die Herren sind in der Überzahl, eine Dame alleine.
Noch. Auch ein Jüngling ist da und schlägt sich zur Minderheit. Kein Wunder: Er ist jung, will alles wissen. Er zieht die Gesellschaft von Damen vor – hat ihm doch sein junges Leben in Hort und Schule immer nur Buben und ältere Herren geboten. Die kennt er zur Genüge, was er noch nicht kennt, sind diese erregenden anderen Düfte des Lebens.
Die schon anwesenden Herren nehmen es ein bisschen interessiert, aber ansonsten äußerst gelassen, fast belustigt hin. Sie amüsieren sich, warten auch ab, bis die anderen geladenen Damen erscheinen. Erst dann werden sie sich in Szene setzen, sich ums andere Geschlecht kümmern, der Sache ihren Stempel aufdrücken. Diese äußere Gelassenheit ist nicht gespielt, obwohl die Szene eine gewisse Spannung erzeugt, von der es scheint, dass auch sie sich ihr nicht völlig entziehen können.
Insbesonders Monsieur P., der sich ans Instrument lehnt, lässt den Harfenspieler von Zeit zu Zeit die Konzentration auf sein Spiel durch die Befürchtung vernachlässigen, Jean könnte abrutschen und dabei – wenn nicht gleich das Instrument, so doch sein Spiel ruinieren. Es scheint, als spürten alle im Raum diese Ahnung.

Die Künste des Musikers lassen auch nach, was dem Publikum aber noch nicht weiters auffällt.
Allein der Künstler selbst vermisst vermehrt akzentuierte Synkopen, bemerkt an sich eine verminderte Courage zur wohldosierten Pause – ja, sogar Fehler in der Melodieführung kommen vereinzelt vor und ein jeder lässt ihn kurz mit der Braue über dem linken Auge zucken.

Abgesehen von diesen vordergründig fast zu vernachlässigenden Misslichkeiten ist die Stimmung friedlich: Die Menge mischt sich träge, wie von einem unsichtbaren, zur Melancholie neigenden Dirigenten geführt, die Bewegungen der jetzt schon sehr zahlreich erschienen Gäste scheinen auch unausgesprochenen Befehlen zu gehorchen.
Von einer dieser Bewegungen profitiert der schwarzgekleidete Herr K., der es sich bis dahin auch in der Nähe des Instruments bequem gemacht hatte. Er findet einen freien Platz, der ihm ungestörten Blick auf eine der Damen ermöglicht – deren offensichtliches Desinteresse an seiner Person ihm völlig entgeht oder ihn einfach nicht stört. Sie lässt K.s Blick jedenfalls völlig kalt, ja es scheint, sie sonnt sich mehr im steigenden Interesse des somnambulen Jungen – nicht ohne aber auch ihrerseits den Blickkontakt mit Monsieur P. zu suchen, der wiederum seinerseits dem Musiker sichtlich mehr und mehr Kopfschmerzen bereitet.
Das beständige Geschiebe und Gedränge bietet ihr dazu allerdings nicht allzu viele Möglichkeiten: In mögliche Blickkontakte schiebt sich stets eine Gruppe von Gästen und in den wenigen Situationen, in denen sich diese Kontaktaufnahme geradezu aufdrängt, blickt P. woanders hin. Bewusst?

Wir spüren bei dieser äußerst seltsamen Geschichte fast körperlich das Scheinbare des Friedens, fühlen schmerzhaft das trügerische Außen, erahnen bereits den letalen Ausgang und bekommen diesen auch augenblicklich glatt bestätigt: Der unsichtbare Dirigent schmeißt den Taktstock hin – anders wäre es auch schlecht erklärbar, wieso sich plötzlich unterschiedlichste Interaktionen in dem Moment paaren, der sich schicksalshaft über alle ergießt: Während etliche Akteure die Szenerie betreten (unter anderem der Stiefbruder vom Sorgenkind des Pianisten) und eine schielende Dame, die beide der gerade eben gewonnenen Blickkontakte sogleich wieder verliert, verstummt das allgemeine Geplauder – die Befürchtung des Harfenspielers wandelt sich zur konkret begründeten Angst: K. stolpert, schlägt dabei mit dem Ellenbogen hart in die Saiten, das Instrument fällt, der Musiker bricht sein Spiel ab, alles ist aus.
Das ist schon das dritte Scheiß-Solitaire, das sich heute nicht ausgeht.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 15005

Eine Banane mag ich nicht

„Eine Banane mag ich nicht, die hat der Neger ang‘langt.“ Dieser Satz ist von der Tante Anni verbürgt. Die Tante Anni ist die Tante meiner Freundin Beate-Baby. Sie hat mir die Geschichte erzählt, und ich muss sie gleich aufschreiben, weil sie so kurios ist.

Tante Anni, Gott hab‘ sie selig, wohnte im Parterre in der alten Villa, wie das umgebaute Schulhaus neben der Kirche allgemein bezeichnet wird. Die Tante Anni war mir vom ersten Moment an sympathisch, obwohl ich sie ja nur aus Erzählungen kenne. Eine aufrechte Person, die sich kein Blatt vor den Mund nimmt, die Dinge beim Namen nennt und auch dazu steht. Geboren wurde sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts. Den Fotos nach zu urteilen, war sie ein hübsches Mädchen, sie quälte sich aber selbst, wie Beate-Baby sagt, ihr Lebtag lang mit der Überzeugung, nicht so schön wie ihre Schwestern zu sein. Sie litt darunter und gewöhnte es sich an, jedes Kompliment sofort zu entkräften und entschlossen zu kontern. Sie war sich gewiss, nicht schön zu sein, und niemand brauchte ihr Honig ums Maul zu schmieren. So war das! – Weil sie also davon fest überzeugt war, entwickelte sie andere Vorzüge, welche die Menschen in ihrer Umgebung oft verwirrten. Tante Anni zeigte allen, dass sie selbstständig war, niemanden brauchte und schon gar keinen Mann. Sie wollte mit Respekt behandelt werden. Auf andere wirkte sie eigensinnig. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann tat sie das auch, und niemand konnte sie aufhalten. Heute würde man sagen, sie war emanzipiert. Damals nannte man so eine Person gerne eine Beißzange oder Bissgurke. Das ist böse und trifft bestimmt nicht zu, weil Tante Anni andererseits höchste Lust beim Beten empfand. Sie war die fleißigste Kirchenbesucherin. Schließlich wohnte sie ja auch nebenan, und die Kirche war der einzige Ort, wo sie sich außer in ihrem Wohnzimmer noch wohl fühlte. Wenn sie schon keinem Menschen trauen wollte, dann wenigstens Gott und der Jungfrau Maria. Die verstanden sie, auf die war Verlass. All die Menschen in ihrer Umgebung waren ihr suspekt. Sie wollten sie entweder aushorchen, waren ihr neidig, waren auf ihr Geld aus oder wollten ihr aus irgendeinem heimtückischen Grund schöntun. Tante Anni war auf der Hut, sie nahm sich in Acht. So gelang es ihr, sich ein Leben lang Enttäuschungen vom Leib zu halten, aber leider auch das Glück und die Freude.
Da sie als Wirtstochter standesgemäß das Internat im Kloster besucht hatte, galt sie als gebildet, und sie war sich ihrer gehobenen Stellung auch bewusst, umgab sich mit einer Aura der Besonderheit und gewöhnte sich eine herablassende Art an. Dies geschah nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Hilflosigkeit, aber die Dorfdeppen verstanden das als Hochnäsigkeit und die Fronten verhärteten sich.

Ihren Wunsch nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit konnte die Tante Anni verwirklichen, als sie Posthalterin wurde. Im ersten Stock der Villa, direkt über ihrer Wohnung, richtete sie die Poststelle ein und fuhr mit einem Fahrrad, das einen Hilfsmotor hatte, die Post im Dorf aus. Da schauten alle, da waren sie ihr schon wieder neidig, die Grattler, die Dienstboten, die Hungerleider. Tante Anni lernte damit zu leben. Sie war kurz angebunden, saß aufrecht auf ihrem Gefährt, eine Amtsperson! Einmal holte eine alte Frau ein Packerl bei der Post ab. Ein Verwandter hatte es ihr geschickt, und es war Kaffee drinnen. Die Tante Anni sagte herablassend: „Seitdem die gewöhnlichen Leute auch einen Kaffee trinken, schmeckt er mir nimmer.“ – Ja, nicht einmal diese stille Freude des Herausgehobenseins war ihr mehr vergönnt. Alle mussten alles haben, da konnte man sich nur noch zurückziehen, in die Villa.

Um sich vor überraschenden Besuchern zu schützen, brachte sie am Gartentor eine Klingel an, die, wie Beate-Baby zu erzählen weiß, dermaßen ohrenbetäubend laut war, dass bei ihrem Ertönen nicht nur der Klingler, sondern auch Tante Anni im Wohnzimmer regelmäßig fürchterlich erschrak und einen Schreckensschrei ausstieß, der noch im Garten zu vernehmen war. Erst jetzt konnten die Nichten vorsichtig über die Veranda eintreten, Tante Anni war gewarnt. Sie empfing die Mädchen nicht, weil sie sich freute oder weil sie sie mochte, sondern weil sie sich verantwortlich fühlte. Die Verwandtschaft war nach ihrem Gefühl nachlässig mit der Erziehung. So oblag es der Tante Anni, ihren Nichten die Grundkenntnisse im Taschentucheckenbügeln beizubringen und im Putzlumpenauswringen. Beim Putzen legte sie besonderen Wert auf die Ecken, sie mussten gründlich gewischt werden, da war sie eigen, genau wie bei den Ecken der Taschentücher. Jaja, die Eckerl, da schaut manch einer gern drüber hinweg, aber gerade daran erkennt man den Charakter.
Außer ihren Nichten ließ sie niemanden in die Wohnung. Nur einmal machte sie eine Ausnahme. Beate-Baby stellte ihr eine Freundin vor. Zuerst war die Tante skeptisch, als sie aber erfuhr, dass das Mädchen aus der Stadt sei und noch dazu adelig, ließ sie die beiden herein. Sie durften dann den Kühlschrank mit einer kleinen Gartenhacke enteisen. Wenn man den Leuten bei der Arbeit auf die Finger schaut, lernt man sie kennen.

Besonders eindringlich beschreibt Beate-Baby das Wohnzimmer der Tante. Eine Wand war mit einer Fototapete beklebt, die einen stürmischen Ozean mit Palmenstrand zeigte. Das Kruzifix hing in der linken Ecke und in der rechten stand das ganze Jahr über das Kripperl mit Maria und Josef, dem Jesukindlein und Ochs und Esel. Über dem Jesukindlein hing eine Laterne, die mittels einer Schnur hinter dem Vorhang eingeschaltet werden konnte. Diesem Arrangement verdankt Beate-Baby ihr Grundwissen über Jesus. Glaubte sie bis dahin, Maria sei in Oberbayern, in den Alpen, niedergekommen, so klärte Tante Anni sie auf, dass das kindisch, naiv und völlig falsch sei. Der Heiland sei vielmehr in Israel geboren und aufgewachsen. Und da gebe es viele Palmen und Meer und es schaue so aus wie auf der Tapete. –  Dass sie mit dieser klaren und durchaus folgerichtigen Anschauung überall aneckte, versteht sich von selbst. Die Wahrheit will halt keiner gern hören oder sehen. Tante Annis prophetisches und revolutionäres Gedankengut verhallte nahezu ungehört in der Heimat.
Das Allerskurrilste im Wohnzimmer der Tante Anni aber war ihr Grabstein. Sie hatte ihn vorsichtshalber schon zu Lebzeiten machen lassen. Sie sorgte vor, auf die Erben war ja eh kein Verlass, wenn sie erst mal das Geld hatten. Tante Anni wollte sich eine letzte Enttäuschung ersparen und sorgte daher selbst für einen angemessenen Grabstein und ließ auch die Schrift gleich einmeißeln und vergolden. Lediglich das Sterbedatum war ausgespart. Im Wohnzimmer verstaubte der Stein natürlich und so mussten die Nichten ihn von Zeit zu Zeit mit Sidolin abreiben und anschließend mit einem feuchten Lappen polieren. Tante Anni schaute ihnen zu, auf einer Gartenliege ausgestreckt, die auch im Wohnzimmer stand. Mit Blick auf die Fototapete, mit dem Gelobten Land, und mit Blick auf den Grabstein lehnte sie sich fast zufrieden zurück, aber auch jetzt war noch nicht alles geklärt. Den putzenden Mädchen eröffnete sie, dass sie auch noch eine Grabplatte beim Steinmetz in Auftrag geben werde, weil sie befürchte, dass die Erben zu faul sein würden, das Unkraut vom Grab wegzuzupfen.

Ja, so hat die Tante Anni für alles vorgesorgt, in dem Bewusstsein, dass sie sich auf nichts und niemanden verlassen konnte, und auf den Zufall hat sie nicht vertraut. Israel, das Gelobte Land, wo Milch und Honig fließen und wo der Heiland geboren ist, ist halt auch ewig weit weg. Und ob es wirklich so ist wie auf der Fototapete, weiß man ja auch nicht gewiss.

Die Nichten hat sie fürs Putzen, Taschentücher Bügeln, Grabstein Polieren und Semmelknödel Machen nicht bloß anständig, sondern sogar fürstlich bezahlt. Knickrig war sie nicht, das wollte sie sich nicht nachsagen lassen, das ganz gewiss nicht. Lieber gab sie das Geld den Mädchen statt irgendwelchen Fremden, dann blieb es wenigstens in der Verwandtschaft.
Mit der Zeit kam Beate-Baby auch auf die Idee, Tante Anni als Bank zu nutzen und lieh sich Geld von ihr. Nun war auch wieder die Berufserfahrung als Postbeamtin von Nutzen, denn Anni kannte sich natürlich auch mit Bankgeschäften aus. Sie entwarf offizielle Schuldscheine und hatte immer welche griffbereit in einer Schublade, wenn die Nichten kamen. Korrekt wurde bei Bedarf ein  Schuldschein ausgefüllt und von beiden Geschäftspartnern unterschrieben. So hatte alles seine Ordnung. Beate-Baby sagt, die Tante Anni hat leidenschaftlich gern unterschrieben. Mit ihrer Unterschrift fühlte sie sich sicher. Alles war beglaubigt, juristisch korrekt. Das mochte sie.
Die Schuldscheine verstaute sie in den zahlreichen Schubladen ihres Mobiliars. Meist fand sie sie in ihrem Saustall nicht mehr, sagt Beate-Baby. – Aber nach dem Tod der Tante Anni, als der Grabstein schon seinen Platz auf dem Friedhof nebenan gefunden hatte und die Verstorbene wieder Anna  geworden war wie bei ihrer Geburt, sich in ihrem Haus für die Ewigkeit wohlig und gemütlich eingerichtet und bestimmt auch endlich erfahren hatte, wie das mit dem Jesulein und dem Heiland und Israel wirklich ist, da haben die Erben in ihren Schubladen gekramt und die vielen Schuldscheine gefunden. – Beate-Baby meint, dass sie da wirklich Glück gehabt habe, weil die Erben Gott sei Dank das Geld nicht zurückhaben wollten. Mit den Jahren war nämlich einiges zusammengekommen. Die Angehörigen glaubten, die alte Tante habe in ihrer Eigenbrötelei und Seltsamkeit immer nur Bank gespielt. – Weit gefehlt! So hält man das Naheliegendste oft für das Abstruseste.

Auch dem Genuss der Bananen hat die Anna ein Lebtag lang entsagt, weil sie immer das Bild von dem Neger vor Augen hatte, der sie nach landläufiger Meinung pflückt und in seiner schwarzen Hand hält. Davor hat ihr gegraust. Und selbst wenn ihr einmal nicht mehr davor gegraust hätte, wäre sie viel zu stolz gewesen, das zuzugeben. Sie konnte also nicht anders als in Sturheit zu verharren, um vor sich selbst bestehen zu können. Bestimmt ist sie unter ihrer Grabplatte auch davon erlöst worden und nimmt jetzt ganz vergnügt Bananen aus den Händen schwarzer Engel entgegen.

Claudia Kellnhofer

Dieser Text ist mit weiteren im September 2018 bei
EINBUCH Buch- und Literaturverlag, Leipzig
unter dem Titel „Eine Banane mag ich nicht“ erschienen.

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