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An der Bar

Der Stammgast lehnt lässig an der Bar seiner Lieblingskneipe und versucht, die hübsche Frau, die er in diesem Lokal nie zuvor gesehen hat, dazu zu bewegen, die Nacht mit ihm zu verbringen.

Er schmeichelt ihr, erklärt ihr, dass an dieser Theke noch nie eine Frau gestanden hätte, deren Schönheit der ihren geglichen hätte. Er bietet ihr an, noch am selben Abend Gulasch für sie zu kochen. Bislang hätte sein Gulasch jeder Frau gemundet, er würde es nämlich in solcher Perfektion auf den Tisch bringen, dass es den Geschmack aller Menschen träfe. Es würde selbstverständlich kein Problem für ihn darstellen, wenn sie den Wunsch äußerte, bei ihm zu übernachten. Er lebte zwar mit seiner Mutter in einem Haus, doch der von ihm bewohnte Bereich wäre großzügig angelegt, sodass sie ungestört wären. Sollte ihr der Sinn nach erhöhtem Alkoholkonsum stehen, so würde ihn dies freuen, Schaumwein der besten Provenienz hätte er stets reichlich zu Hause, und darüber hinaus auch ein hervorragendes deutsches Auto, mit welchem er sie am nächsten Morgen gerne heimbringen würde, und wegen der Abgaswerte bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen.

Die attraktive Frau steht in aufrechter Haltung an der Bar und versucht, ernst zu bleiben. Sie befindet sich zum ersten Mal in diesem Lokal. Vor drei Wochen ging sie eine Beziehung mit dem Barkeeper ein und wurde vor ihrem ersten Lokalbesuch über den Stammgast aufgeklärt, und auch über dessen tatsächliche Lebensumstände.

Sie erfährt, dass sie die schönste Frau ist, die der Stammgast in den letzten drei Tagen zu Gesicht bekommen hat. Es schmeichelt ihr, der Veganerin, auf ein Gulasch eingeladen zu werden. Dass dieses Gericht aus seinem Kochtopf den Geschmack der meisten Menschen trifft, erscheint ihr nicht verwunderlich – nicht umsonst ist die Firma, die die von ihrem Verehrer bevorzugten Konservendosen befüllt, so erfolgreich. Sie weiß, dass sie ohne Weiters bei ihm übernachten könnte. Die beiden müssten dem Liebesspiel bloß leise frönen, denn das Kinderzimmer, das er im winzigen Häuschen seiner Mutter noch immer bewohnt, liegt neben deren Schlafgemach. Die alte Frau schätzt Damenbesuch keineswegs, und es kam bereits einige Male vor, dass sie den weiblichen Frühstücksgästen ihres Sohnes eine Standpauke bezüglich unentgeltlicher Prostitution hielt.

Der jungen Frau, die nur wenig Alkohol trinkt, graut bei der Vorstellung, eine Flasche billigsten Sekt nach der anderen mit ihm zu leeren, doch lässt sie sich nichts anmerken. Als ihr auch noch angeboten wird, im kleinsten Modell aus dem Hause Opel nach Hause gefahren zu werden, beginnt sie zu lachen.

Der Stammgast blickt sie erschrocken an und will sich Hilfe suchend an den Barkeeper wenden, der den Monolog mitgehört hat. Doch dieser befindet sich mittlerweile in der Küche des Lokals, aus der schallendes Gelächter zu hören ist.

Michael Timoschek

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Martin Maipolds Weg

„Guten Tag, Herr Diplomingenieur. Mein Name ist Doktor Georg Holter.“
Martin Maipold erhob sich, um dem Mann, der soeben den Raum betreten hatte, die Hand zu geben.
„Maipold, grüß Gott. Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen.“
„Das ist meine Aufgabe. Aber bitte“, Holter wies auf den in englischem Stil gepolsterten braunen Ledersessel, „setzen Sie sich wieder.“

Martin ließ sich nieder, atmete zweimal tief durch und sah den Arzt mit einer Mischung aus Furcht und gespannter Erwartung an. Dieser nahm gegenüber Maipold Platz, in einem Fauteuil gleicher Machart, ein runder Tisch aus Acrylglas stand zwischen ihnen, darauf lag ein Stoß Papiertaschentücher.
Georg Holter trug schwarze Schuhe aus Rauleder, eine graue Anzughose und ein weißes Hemd ohne Krawatte, darüber einen weißen Kittel. Martin Maipolds dunkelgrüne Wollstutzen steckten in schwarzen Haferlschuhen, des Weiteren hatte er eine Lederhose und ein grün-weiß kariertes Hemd an.

„Nun, Herr Maipold, was führt Sie zu uns?“
Der Patient räusperte sich.
„Mir wurde gesagt, dass diese Einrichtung die beste ist.“
„Das freut mich zu hören. Es ist wirklich schön hier. Sie werden eine gute Zeit bei uns haben, glauben Sie mir.“
„Das hoffe ich. Eine Auszeit habe ich dringend nötig.“
„Erzählen Sie mir bitte, was vorgefallen ist.“
„Wo soll ich anfangen?“
„Wo Sie möchten. Wir haben genug Zeit, um herauszuarbeiten, wo der Kern Ihres Problems liegt.“
„Dann fange ich am Anfang an. Mein Name ist Martin Maipold, ich bin sechsundvierzig Jahre alt und von Beruf begeisterter Bauer.“
Holter hob die Augenbrauen, lächelte und sagte: „Das ist gut, dass Ihnen Ihre Arbeit Spaß macht. Das höre ich leider viel zu selten.“
„Das kann ich mir gut vorstellen. Viele Menschen sind unzufrieden mit ihren Jobs. Bei mir ist es anders, ich wollte von klein auf Bauer werden.“

Martin war durch eine Hausgeburt auf dem Hof seiner Familie zur Welt gebracht worden. Dieser lag am Rande einer kleinen Ortschaft im steirischen Hügelland und wurde von seinen Eltern geführt. Sie hatten Kühe, Schweine, Hühner, Haushasen und zwei Ziegen. Ein Hund zur Bewachung fehlte ebensowenig wie zwei Katzen, welche die Zahl der Mäuse gering hielten.
Sein Vater, Peter Maipold, hatte die Wirtschaft von seinen Eltern übernommen, seine Mutter, Aloisia, war die Tochter von Landwirten aus dem Nachbarort. Martin war ihr einziges Kind. Obwohl Peter und Aloisia sich weitere Kinder gewünscht hatten, war es ihnen nicht vergönnt, eine Schar eigene Kinder auf dem Hof herumtollen zu sehen.

„Hätten Sie gerne Geschwister gehabt?“
„Nein, eigentlich nicht. Ich habe so etwas wie einen Bruder, bloß dass er kein leiblicher ist. Er heißt Alois Wurm und stammt vom Nachbarhof.“

Alois wurde drei Wochen nach Martin geboren und war ebenfalls ein Einzelkind. Obgleich die Wurms von beinahe allen Ortsansässigen gemieden wurden, so auch von den Maipolds, freundeten sich die beiden Buben schnell an und wuchsen zusammen auf wie echte Brüder. Vater Wurm war ein im ganzen Dorf bekannter Trinker und Schläger, der seine Wut gerne an jedem ausließ, der gerade in seiner Nähe war. Selbst vor seiner Ehefrau schreckte er nicht zurück, und schon gar nicht vor seinem Sohn. Diesen schlug er am häufigsten, da er schwach und außerdem stets verfügbar war, wenn seinem Vater der Sinn nach einer Tracht Prügel stand.

„So war es kein Wunder, dass Alois jede Gelegenheit genutzt hat, auf unseren Hof zu kommen.“
„Wurden Sie von Ihren Eltern auch geschlagen?“
„Ich kann mich nicht daran erinnern, je misshandelt worden zu sein.“

Martin war ein Kind der Liebe, und seine Eltern waren gut zu ihm. Ermahnungen und strenge Blicke reichten aus, um ihn in die Schranken zu weisen. In seinen ersten Lebensjahren waren solche oft vonnöten, denn die Tiere, die auf dem Hof lebten, übten eine starke Anziehungskraft auf das Kind aus. Es war ihm streng verboten, sich den großen Arten von Vieh zu nähern, mit den Hasen, dem Hund und den Katzen durfte er jedoch spielen. Nach einer Weile wurde ihm dies aber zu langweilig, und der Reiz des Verbotenen zu groß.
Martin stand oft vor dem engmaschigen Zaun des Hühnergeheges und beobachtete die Vögel beim Herumlaufen und beim Baden in der vom Scharren sandigen Erde. Eines Tages betrat er den Auslauf, um mit den Hühnern zu spielen. Die liefen davon und wollten sich nicht einfangen lassen, also erkor der Bub den farbenprächtigeren der beiden Hähne als Spielgefährten aus und trieb ihn kurzentschlossen in eine der Ecken des Zaunes. Der Hahn geriet in Panik und brachte Martin mit seinem Sporn eine lange und tiefe Wunde auf der Wange bei. Weinend lief der Junge zu seiner Mutter, die ihn sogleich ins Auto setzte und mit ihm zum Dorfarzt fuhr, welcher die Wunde reinigte, desinfizierte und vernähte.

„Wie hat Ihre Mutter auf die Missachtung ihres Verbots, mit den Hühnern zu spielen, reagiert?“
„Gar nicht. Die Hühner waren nicht explizit als tabu bezeichnet worden. Wahrscheinlich haben meine Eltern geglaubt, dass ich an den Vögeln ohnehin kein Interesse haben würde.“
„Wie ist es weitergegangen?“

In der Volksschule saß Martin neben Alois, seinem besten Freund, der zugleich sein einziger war. Sie hatten nicht viel mit den anderen Kindern in ihrer Klasse zu tun, weder im Unterricht noch privat. Sie waren sich selbst genug. Alois kam oft auf den Hof seines Kumpels, um dort zu Mittag zu essen und danach mit diesem gemeinsam die Hausaufgaben zu machen. Beide lernten leicht und schlossen die vierte Klasse mit guten Noten ab.

„Ich hatte damals oft das Gefühl, dass Alois die Zeit bei uns guttat. So konnte er seinem Vater entkommen.“
„Ich verstehe, was Sie meinen.“
„Da bin ich mir nicht so sicher.“
„Jetzt verstehe ich nicht mehr, was Sie meinen“, sagte der Psychiater lächelnd.
„Bei Alois ging es in derselben Tonart weiter, das mit den Schlägen. Aber ich konnte ihn nach der Volksschule nicht mehr vor diesem üblen Gesellen schützen, denn unsere schulischen Wege trennten sich.“

Martin besuchte das Gymnasium eines zehn Kilometer entfernten Dorfes, während Alois von seinem Vater auf die Hauptschule geschickt wurde. Mit Leichtigkeit hätte er die Mittelschule abgeschlossen, doch sein Erzeuger erachtete Bildung als unwichtig.
Nach dem Unterricht half Martin seinen Eltern bei der Arbeit und wuchs mehr und mehr in das Leben als Bauer hinein, welches er bald als das für ihn richtige erkannte. Er fütterte das Vieh, mistete die Ställe aus, und auch die großen Gärten für Gemüse und Obst lernte er zu bewirtschaften.
All das geschah jedoch ohne Druck oder gar Zwang vonseiten seiner Eltern. Oft wiesen sie ihren Sohn darauf hin, dass sie mit jeder Berufswahl einverstanden wären, die er treffen würde. Martin aber begann sich schnell als Bauer zu sehen und lernte fleißig in der Schule, denn er hatte vor, nach der Matura ein landwirtschaftliches Studium zu absolvieren.

„Alois wurde von seinem Vater gezwungen, eine Lehre zum Metzger zu machen. Darunter hat er sehr gelitten, denn er wollte auch maturieren“, seufzte Martin Maipold.
„Haben Sie sich in dieser Zeit oft gesehen?“
„Nicht wirklich oft. Nach den Hausübungen haben wir ja beide auf unseren Höfen geholfen. Ich freiwillig, Alois leider nicht. Der wurde so lange geprügelt, bis er sich fügte und die Arbeiten verrichtete, die sein Vater nicht machen wollte. Das war auch der Grund, warum bei ihm mit Mädchen nichts lief.“
„Was war der Grund?“
„Die Schläge, beziehungsweise deren sichtbare Spuren. Er hatte oft ein blaues Auge, und mit so etwas wollte ihn klarerweise keine haben.“

Bei Martin lief es in dieser Hinsichtnicht anders. In der vierten Klasse verliebte er sich in seine Sitznachbarin, doch Anna, so hieß sie, beachtete ihn nicht. Sie war die Tochter einer Zahnärztin und sah auf ihn herab, wie sie es bei allen machte, die in ihren Augen gesellschaftlich schlechter gestellt waren. Eines Tages, kurz vor dem Ende des Sommersemesters, fragte er sie, warum sie seine Avancen durch Nichtbeachtung ins Leere laufen ließ. Sie sagte, dass er nach Kuhstall roch und sie mit so einem Jungen nichts zu tun haben wollte. Tief verletzt, entwendete er am nächsten Morgen einen Flakon aus dem Badezimmer seiner Eltern. Bevor er das Haus verließ, sprühte er sich reichlich mit Parfum ein. Im Klassenzimmer fragte er Anna mit triumphierendem Blick, ob sie immer noch der Meinung war, neben einem wandelnden Stall sitzen zu müssen. Sie prustete los und meinte, dass er wie ihre Mutter roch.

„Haben Sie sich dann, nach den Sommerferien, besser mit Anna verstanden?“, fragte Holter.
„Ja. Nach den Ferien haben wir ein paarmal miteinander geredet und sind draufgekommen, dass wir in vielerlei Hinsicht gleich denken.“
„Und so sind Sie Freunde geworden?“
„Nicht nur das. Wir waren damals drei Jahre lang ein Paar.“

Er und Anna verstanden sich gut in dieser Zeit, doch dann wandte sie sich einem Jungen zu, der ihrer Klasse zugeteilt worden war. Erst verstand Martin die Welt nicht mehr, aber nach wenigen Tagen war die Sache für ihn abgehakt. Dabei half ihm einerseits Alois, mit dem er reden konnte, und andererseits die Arbeit auf dem Hof. Er übernahm immer größere Aufgaben. Oft ging er in die Ställe, bevor er sich auf den Weg zur Haltestelle des Schulbusses machte. Dass er nach Stall roch, kümmerte ihn nicht mehr, denn zu diesem Zeitpunkt sah er sich bereits als Bauer, und nicht als Maturant oder angehender Student.
Alois Wurm schloss seine Fleischerlehre ab und entsprach dem Willen seines Vaters. Er führte den Hof der Familie, ständig überwacht von seinem Erzeuger. Machte er etwas falsch, wenigstens in den Argusaugen dieses Mannes, wurde er mit Ohrfeigen bestraft. An den Abenden, wenn Alois Zeit hatte und auf den Hof der Maipolds kam, saßen die beiden Freunde oft vor dem Wohnhaus auf einer Bank, tranken Bier und redeten.

„Dann haben Sie die Matura abgelegt“, stellte der Psychiater fest, der offenbar rascher in Martins Lebensgeschichte vorankommen wollte.
„Ja, sogar mit ausgezeichnetem Erfolg.“
„Und dann sind Sie wahrscheinlich zum Bundesheer eingerückt.“
„Nein, das ist mir erspart geblieben. Ich bin nach Wien gegangen, um Landwirtschaft zu studieren.“
„Gut. Das Studium haben Sie abgeschlossen. Wann haben die Probleme angefangen?“
„Das war in meinem ersten Studienjahr.“
Der Arzt seufzte. „Herr Maipold, möchten Sie eine Pause machen?“
Martin sah ihn erstaunt an. „Nein, warum?“
Holter erkannte, dass Martin zum ersten Mal in seinem Leben dabei war, über das zu sprechen, was sich in diesem ereignet hatte, und über den Grund, aus dem er sich in die Klinik hatte einweisen lassen.

Durch die Intervention eines Cousins seiner Mutter blieb ihm der Dienst an der Waffe erspart. Er lernte Tanja kennen, die gerade mit ihrem Vater aufs Land gezogen war. Ihre Mutter hatte sich in Graz das Leben genommen, worauf ihr Vater das Haus verkaufte und mit ihr regelrecht aus dieser Stadt floh. Er war Steuerberater und eröffnete eine Kanzlei im Ort. Tanja jedoch gefiel es anfangs überhaupt nicht in dem kleinen Dorf. Sie hasste alles Ländliche und sonderte sich von allen Ortsansässigen ab. Ihre Abneigung brachte sie auch durch die Wahl ihrer Kleidung zum Ausdruck, die stets schwarz war, wie auch die Farbe ihrer Haare.
Dennoch brachte Martin es fertig, das Herz der jungen Frau zu erobern. Da er wusste, wo sie oft im Gras saß und in ihren Büchern las, änderte er einfach die Route, wenn er mit seinem Hund spazieren ging. Eines Tages setzte er sich zu ihr und begann ein Gespräch. Anfangs gab sie sich reserviert, doch bald fasste sie Vertrauen, und es dauerte nicht lange, bis sie ineinander verliebt waren.

„Sie haben sie also davon überzeugen können, dass Sie, obwohl ein Bauer, kein schlechter Mensch sind“, stellte Holter fest. „Das ist doch schön.“
„Ja“, sagte Martin knapp. Er sah für einige Sekunden aus dem Fenster des Raumes, flüsterte „Darf ich?“ und nahm ohne eine Antwort abzuwarten ein Taschentuch vom Tisch, um seine feucht gewordenen Augen zu trocknen.
„Was ist geschehen?“

Martin hatte es fertiggebracht, dass Tanja ihre Einstellung bezüglich des Landlebens änderte. Sie war oft auf seinem Hof, streichelte die Hasen und Ziegen, und freute sich, von Aloisia in die Zubereitung typisch ländlicher Gerichte eingewiesen zu werden, denn sie liebte es zu kochen.
Trotzdem war sie froh, mit Martin nach Wien ziehen zu können. Er schrieb sich an der Universität für Bodenkultur ein, sie an der medizinischen Fakultät. Eines Tages eröffnete sie ihm, dass sie sich unwohl fühlte, und zwar so, wie sich ihre Mutter jahrelang gefühlt hatte. Er bat sie, sich Hilfe zu suchen.

„Hat sich Ihre Freundin psychologisch oder ärztlich behandeln lassen?“
„Ja“, seufzte Martin. „Leider hat es bloß für kurze Zeit etwas gebracht.

An einem sonnigen Frühlingstag betrat Martin die gemeinsame Wohnung und fand seine Freundin tot auf, sie hatte sich erhängt.
In den ersten Wochen nach Tanjas Tod war er zu nichts fähig. Er lag lethargisch im Bett, aß kaum und an den Abenden trank er sich in den Schlaf. Er meldete sich von den noch ausstehenden Prüfungen ab und verbrachte den Sommer zu Hause bei seinen Eltern. Die Arbeit auf dem Hof, die er so liebte, vermochte ihn jedoch ebensowenig aus dem Loch zu reißen, in dem er gefangen war, wie die Gespräche mit seinem besten Freund, der ihn besuchte, wann immer er die Zeit dazu hatte.

„Haben Sie damals erwogen, sich auch umzubringen?“
„Anfangs schon. Ich wollte Tanja folgen, bei ihr sein. Doch das hätten meine Eltern nicht verkraftet. Also habe ich mir auf andere Art und Weise Trost verschafft.“
„Mit Alkohol.“
„Ja, ich habe getrunken. Was ich damit sagen will: Ich habe bis vor wenigen Tagen getrunken. So lange, bis es nicht mehr ging.“

Nach den Sommerferien fuhr Martin nach Wien und nahm sein Studium wieder auf.
Den Alkohol erkor er zum geeigneten Mittel, um den Schmerz loszuwerden, der seit Tanjas Tod in ihm loderte. Er war jedoch kein gewöhnlicher Trinker, keiner von der Sorte, die von früh bis spät trinken. Diese sah er in Wien zuhauf, und sie ekelten ihn an. Tagsüber brauchte er Beschäftigung, um von seiner Trauer abgelenkt zu sein, doch an den Abenden, nach den Vorlesungen, fiel er zurück in sein Loch und trank so lange, bis er nichts mehr fühlte.

„Sie wissen, was man sagt, Herr Doktor: Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen. Nachts ist das eine ganz andere Geschichte.“
„Ich kenne dieses Zitat, Herr Maipold. Und ich glaube, wir wissen beide, welche Auswirkungen der Alkohol auf dessen Schöpfer gehabt hat.“

Da Martin selbst an den Wochenenden das Trinken am Tage ablehnte, war er gezwungen, an den Abenden umso mehr Alkohol zu konsumieren, um die für ihn erforderliche Menge aufzunehmen. Er überlegte, wie er dies bewerkstelligen könnte, ohne öffentlich als saufender Student auffällig zu werden, und auch ohne zu viel Geld für seine Zechen, üblicherweise setzten sich diese aus Bier, Wein und Schnaps zusammen, ausgeben zu müssen. Ein Kommilitone lud ihn in das Haus einer Studentenverbindung ein. Dort wurde viel getrunken, und nach wenigen Besuchen stellte Martin einen Antrag auf Mitgliedschaft. Er musste nicht viel für das Trinken bezahlen und traf auf Gleichgesinnte.

„Ich verstehe“, meinte Holter und musterte die linke Wange seines Patienten.
Dieser verstand, welche Annahme der eingehenden Betrachtung zugrunde lag, und sagte schnell: „Nein, nein, Herr Doktor. Das war eine nichtschlagende Verbindung. Den Schmiss, den Sie zu erkennen glauben, habe ich von unserem Hahn verpasst bekommen.“
Der Arzt lachte und ging nicht weiter darauf ein.

Martin schloss sein Studium bloß zwei Semester über der Mindestzeit ab, und das obwohl er sich beinahe jeden Abend besinnungslos trank.
In den Jahren seines Studiums legte sich die Trauer über den Verlust Tanjas, doch konnte er keine andere Frau für sich gewinnen. Es blieb bei, letztlich flüchtigen und kurzlebigen, Liebeleien, denn sobald eine Frau das wahre Ausmaß seines Alkoholkonsums erkannte, lief sie ihm davon.

„Und nach Ihrem Studium haben Sie den Hof der Eltern übernommen?“
„Ja.“
„Und der Alkohol? Haben Sie weiterhin so viel getrunken?“
„So viel nicht gerade. Noch viel mehr“, antwortete Martin leise.

Sein Vater überschrieb ihm das Gehöft, und Martin trank weiter. Er sorgte gut für die Tiere und führte seinen Betrieb ertragreich, doch seine Abende gehörten dem Alkohol, welchem er in immer höherem Ausmaß frönte. Alois Wurm leistete ihm bei diesen Gelagen oft und gerne Gesellschaft. Dessen Vater war aus unerfindlichen Gründen in einen Silo gestürzt und darin erstickt, somit besaß auch Alois einen eigenen Hof. Beide hatten sie keine Frau, und sie wollten auch keine. Die Gefahr, dass eine solche dem alkoholschwangeren Treiben an den Abenden Einhalt geboten hätte, erschien ihnen einfach zu groß. Wollten sie sich in weiblicher Gesellschaft entspannen, fuhren sie nach Graz und kehrten in bestimmte Bars in gewissen Bezirken ein, in welchen Frauen verkehrten.

„Sie haben Ihr Leben Ihren Trinkgewohnheiten angepasst“, stellte der Psychiater fest.
„Stimmt, das habe ich.“
„Was haben Ihre Eltern dazu gesagt?“
„Sie haben versucht, mir ins Gewissen zu reden, doch nach einer Weile haben sie es aufgegeben und meine Trinkerei akzeptiert.“
„Was hat Sie bewogen, zu uns zu kommen, um einen Entzug zu machen?“
„Zwei Menschen und eine Krankheit.“

Anna, die Frau, mit der Martin in seinen Jugendtagen liiert gewesen war, war nach ihrer Scheidung und dem plötzlichen Tod ihrer Mutter zurück in ihr Heimatdorf gezogen und stand eines Abends vor seiner Haustüre. Sie redeten die ganze Nacht und beschlossen, es ein zweites Mal miteinander zu versuchen, nun als Erwachsene. Anna hatte ihre Tablettensucht überwunden und versprach Martin, ihm bei einem Entzug zur Seite zu stehen.
Am Tag darauf hatte Alois einen Unfall. Er fiel betrunken von einer Leiter und brach sich dabei drei Rippen und den linken Arm. Martin besuchte ihn gemeinsam mit Anna, und nach einem langen Gespräch entschloss sich auch sein bester Freund zu einer Entziehungskur.
Hatte Martin erst Angst vor einem Leben ohne den Alkohol, der viele Jahre integraler Bestandteil seines Lebens gewesen war, so verflog diese, als er von seinem Hausarzt erfuhr, dass seine Leber durch das Trinken mittelschweren Schaden genommen hatte.

„Herr Maipold, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen“, sagte der Arzt.
„Ja, das habe ich wohl. Allzu lange hätte es nicht mehr gedauert, und meine Leber wäre schwer geschädigt, hat mir der Dorfarzt gesagt.“
„Hat Ihr Freund Alois bereits mit seinem Entzug begonnen?“
„Nein, noch nicht. Sein anonymes Erstgespräch mit Ihnen, Herr Doktor, findet morgen um vierzehn Uhr statt.“

Michael Timoschek

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Immer der Wirt

Als ich vor ein paar Tagen aufwachte, fühlte ich sofort, dass etwas anders war.
Mein Blick war getrübt, meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie in altes Nutriafell gehüllt, und die Reste meines Gehirns, die noch zu denken in der Lage waren, schienen in wogenden Bewegungen an mein Stirnbein zu schwappen. Da wurde mir klar, dass ich an einer postrauschalen Bewusstseinstrübung litt.
Ich beschloss daher, mit dem ungesunden Zeug aufzuhören, wollte mich vorher aber beraten lassen. Also wankte ich zu meiner Mutter, um ihr von meinem durchaus löblichen Vorhaben zu erzählen.

Meine Frau Mama hat mir in der Vergangenheit nämlich oftmals gute Ratschläge erteilt. An diesem Tag jedoch erhielt ich keinen Rat von ihr, dafür aber verbale Schläge: „Michael! Wie viel hast du gestern gesoffen? Um Himmels willen, du bist ja ein Alkoholik-“ In diesem Augenblick verlor ich auf wundersame Weise mein Hörvermögen und verließ die Küche, bevor ich Mutter meinen großen Plan unterbreiten konnte.
Im Nebenraum erlangte ich mein Gehör wieder und hörte meinen Vater sagen: „Warum regst du dich auf? So sieht er jeden Vormittag aus.“

Ich flüchtete ins Nachbarhaus zu meiner Großmutter. „Oma“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich. „Michael, ich habe gestern Nacht zufällig gesehen, wie du deine Haustüre aufsperren wolltest.“ Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich setzte meinen unschuldigsten Blick auf und fragte leise: „Und?“ „Nach fünf Minuten hast du es geschafft!“
Die dieser Feststellung folgende Standpauke ließ mich erkennen, dass meine Großmutter mir ausgerechnet den Rat geben würde, den ich keinesfalls hören wollte, nämlich den langsamen Tod des abendlichen Verdurstens zu wählen.

Es ging mir wirklich schlecht, also schlich ich mich in den Keller ihres Hauses und trank eine Flasche Bier. Dann stand ich mit der leeren Flasche in der Hand da und stellte fest, dass meine andere Hand unbeschäftigt war.
Schnell schaffte ich Abhilfe, und drei Minuten später stellte ich zwei leere Flaschen in die Kiste zurück. Ich fühlte mich besser und rief eine Bekannte an, mit welcher ich eine sogenannte schlampige Beziehung führte.
„Heute ist mir klargeworden, dass ich aufhören muss, Heidrun“, sagte ich. Sie schnaubte bloß, und aus dem Klang der stets zahlreichen Ringe auf ihren Fingern schloss ich, dass sie ihren perfekt manikürten Mittelfinger ans Telefon hielt. „Das sagst du jedes Mal, Michael, und dennoch schläfst du beinahe jede Nacht auf der Theke ein, und ich muss Erwin mit nach Hause nehmen!“

Nun ging es mir wieder schlecht, und ich legte mich ins Bett. Am Abend dieses Tages betrat ich mein Stammlokal und sagte zum Wirt: „Stief, ich habe beschlossen, mit dem Zeug aufzuhören, aber ich brauche deinen Rat.“ „Ach Michael“, sagte Stief, „das sagst du jeden Abend. Hier hast du dein Bier, und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Nach dem dritten Bier wirst du glücklich sein und doch kein Nichtraucher werden wollen.“

Michael Timoschek

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Martin Sehn sucht

So lange er denken kann, hat Martin Sehn Probleme mit Frauen, und seit seinem siebzehnten Lebensjahr auch mit dem Alkohol.
Heute ist er siebenunddreißig Jahre alt. Er hat eine Frau gesucht, aber noch keine gefunden. Wie zum bösen Ausgleich hat ihn der Alkohol gefunden, obwohl Martin ihn gar nicht gesucht hatte.

Bereits in der Volksschule hatte sich gezeigt, dass Martin Probleme im richtigen Umgang mit Mädchen hat. Seine Klassenlehrerin hatte ihn neben Karin Maier gesetzt, ein hübsches und freundliches Mädchen. Sie hatte ihm sofort gefallen. Anstatt sich jedoch mit ihr nach der Schule zu treffen, um gemeinsam Hausaufgaben zu machen, hatte er sie immer nur angestarrt. Jedesmal wenn es ihr reichte, von der Seite angestarrt zu werden, und sie ihren Unmut darüber zum Ausdruck brachte, war das Einzige, was er zu entgegnen wusste, eine Veräppelung Karins. Er machte sich über ihren Haarschnitt, ihre Nase und sogar über ihr angebliches Übergewicht lustig. Bald hatte sie die Nase voll von ihm und bat die Lehrerin, sie doch neben ein Mädchen zu setzen.
Diese hatte durchaus Verständnis für diesen Wunsch und befahl Peter Mierz, den Platz neben Martin Sehn einzunehmen.
Die beiden freundeten sich rasch an, hatten sie doch denselben Leitspruch: Mädchen sind blöd! Auch Peter Mierz hatte keinen Schlag bei den Mädchen in der Klasse, somit galten er und Martin bald als die ewigen Querulanten.

Nachdem Martin Sehn die Volksschule mit Ach und Krach hinter sich gebracht hatte, musste er auf Geheiß seiner Eltern die Hauptschule besuchen – für ein Gymnasium hätte es bei ihm einfach nicht gereicht. Peter Mierz hingegen durfte in ein solches eintreten, und die beiden Freunde und Leidensgenossen verloren einander für einige Jahre aus den Augen.

In der zweiten Klasse fasste Martin Sehn Mut. Der Grund dafür hieß Petra Siegel. Sie war neu in der Schule und gefiel ihm auf Anhieb. Sie hatte lange blonde Haare, braune Augen und eine Fehlstellung der Schneidezähne, welche sie in seinen Augen ebenso einzigartig wie liebenswert machte. Das Mädchen war nicht auf den Kopf gefallen und nutzte geschickt die Tatsache aus, dass Martin diese Klasse zum zweiten Mal besuchen musste.
Petra nahm sein Angebot, die Hausaufgaben gemeinsam zu erledigen, sofort an. In Wahrheit war es so, dass er die gestellten Aufgaben in kurzer Zeit löste, denn er hatte den Lehrstoff bereits im Jahr zuvor lernen müssen, und sie diese einfach abschrieb. Davon abgesehen hielt sie nicht allzu viel von Martin, was sie dadurch zum Ausdruck brachte, dass sie sämtliche Avancen seinerseits ins Leere laufen ließ. Nicht einmal an seinem Geburtstag, beim Überreichen eines kleinen Geschenks, küsste sie ihn auf die Wange, und Händchenhalten kam schon gar nicht infrage.

Gegen Ende des zweiten Hauptschuljahres stellte er sie diesbezüglich zur Rede. Sie versprach, im nächsten Jahr mit ihm Händchen zu halten, doch der Zufall wollte es, dass Arnold Fischer in die Klasse kam, der eigentlich schon in der vierten Hauptschulklasse hätte sitzen sollen. Er machte nun die Hausaufgaben für Petra Siegel.

Mit dem Alkohol kam Peter Sehn das erste Mal im Alter von vierzehn Jahren in Berührung. Sein Großvater, ein passionierter Jäger und schwerer Trinker, hatte ein volles Schnapsglas auf dem Tisch stehen lassen. Martin zögerte nicht lange und leerte das Glas nach der Art seines Ahnen in einem Zuge. Der Korn brannte in seiner Kehle und dann seine Speiseröhre hinunter, doch als er den Magen erreichte und sich dort auszubreiten begann, war alles anders. Ein Gefühl von wohliger Wärme durchströmte Martins Körper. Er fühlte zwar ein wenig Benommenheit, doch ermöglichte ihm diese, einen milden Blick auf die Fährnisse seines Alltags zu richten. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass der Alkohol eine gute und wohl auch hilfreiche Sache sein musste.

Nachdem er die Hauptschule abgeschlossen hatte, begann er eine Schmiedelehre. Sein Lehrherr tolerierte den Konsum von zwei Flaschen Bier täglich, schließlich mussten seine Lehrlinge schwere Arbeit in heißen Räumen verrichten.
Mit den anderen Lehrlingen kam Martin gut aus, ohne jedoch echte Freundschaft mit ihnen zu schließen. Seinen Eltern blieb nicht verborgen, dass er oft mit einer Bierfahne aus der Schmiede nach Hause kam, doch da sein Lehrherr nur das Beste über ihn zu berichten wusste, nahmen sie diesen Umstand kommentarlos hin.

Ein Mädchen brachte Martin nicht nach Hause. Eines Tages, im dritten Lehrjahr, als die Bezahlung besser war als in den Jahren davor, überredeten ihn die anderen Lehrlinge, am Samstagabend mit in die Stadt zu fahren, um Frauen kennenzulernen. Martin lernte tatsächlich eine Frau kennen. Sie hieß Shin und kam aus China. Ihre gemeinsam verbrachte Zeit dauerte zwar nur exakt sechzig Minuten, doch reichten die aus, ihn erkennen zu lassen, wie leicht ein Mann mit ein bisschen Geld in der Tasche Erfolg bei den Frauen haben kann.
Nachdem Martins Lehrlingsentgelt nicht allzu üppig war, konnte er es sich lediglich einmal im Monat leisten, eine Frau auf diese Art und Weise kennenzulernen.
Den Rest seines Geldes wandte er für den Ankauf alkoholhaltiger Getränke an den Freitagen und Samstagen auf. Sein Großvater hatte für diesen speziellen Hang seines Enkels durchaus Verständnis und griff ihm finanziell nach Kräften unter die Arme.

Nach seiner Gesellenprüfung begann Martin Sehns langsamer aber stetiger Abstieg.
Er sehnte sich nach einer Frau, nach der Wärme und Geborgenheit, die ihm eine solche würde bieten können, aber gleichzeitig sehnte er sich nach der vergänglichen Wärme und der trügerischen Geborgenheit, die ihm die Flasche immer öfter bot. Nachdem sich beides gegenseitig ausschloss, entschied er sich für die Flasche.
Sie war billig, jederzeit verfügbar und willig, wenn ihn nach ihr gelüstete, außerdem hatte er von ihr keine Widerrede zu befürchten.

Martin Sehn ging keiner geregelten Arbeit nach. Ab und zu half er seinem Freund Peter Mierz aus Dankbarkeit dafür, dass dieser ihm durch seine Beziehungen den Militärdienst erspart hatte. Geld nahm er dafür nicht, er lebte bequem vom Erbe seines Großvaters.
Peter Mierz hatte das Gymnasium abgeschlossen und den Hof seiner Familie übernommen. Da auch sein Erfolg bei Frauen ausgeblieben war, genoss er es, ab und an mit Martin in die Stadt zu fahren, um welche kennenzulernen. Der Trinkerei seines Freundes stand er ablehnend gegenüber. Er selbst trank höchstens eine Flasche Wein pro Woche, doch ihre Freundschaft hielt und besteht bis heute.

Martin verbrachte seine Tage auf folgende Weise: Er erwachte um elf Uhr, bereitete sich ein Mittagsmahl zu und dann trank er. Er fing mit Bier an, das er den Nachmittag über konsumierte, am Abend trank er Wein und vor dem Schlafengehen Korn.
Seine Eltern hatten den Kontakt zu ihm, ihrem einzigen Kind, abgebrochen. Martin wurde zum Gespött des Dorfes. Er ging keiner Arbeit nach, lebte von seinem Erbe und war ein haltloser Säufer. So sahen ihn die Leute, und so sprachen sie auch über ihn.
Im Grunde seines Herzens war und ist er ein freundlicher, großzügiger Mann. Jeder im Dorf hätte ihn um Hilfe fragen können – er hätte geholfen und würde es noch immer tun.

Er gab einige Kontaktanzeigen auf, doch die Frauen, die sich auf diese meldeten, waren wenig angetan von seiner Lebensführung. Martin hatte bereits in den Erstgesprächen nicht damit hinter dem Berg gehalten, dass er trank.
Eine einzige Frau, Greta Ponisch, hatte sich auf eine Beziehung mit ihm eingelassen. Sie gab vor, kein Problem mit Alkoholikern zu haben, denn sie wäre von Natur aus tolerant veranlagt.
Wie sich bald herausstellte, stimmte das, zum Teil wenigstens. Tolerant war sie allemal, auch wenn sich ihre Toleranz lediglich auf den Füllstand der vor ihr stehenden Gläser beschränkte. Die durften ruhig bis zum Rand gefüllt sein.
Anfangs kamen sie gut miteinander aus, dies vor allem aus einem Grund: Sie waren meist zu betrunken, um ein ernsthaftes Gespräch miteinander zu führen. Hätten sie ein solches geführt, wären sie schnell dahintergekommen, dass sie lediglich durch das Laster der Trunksucht miteinander verbunden waren.

Sie hatten nichts gemein. Greta Ponisch war sechs Jahre älter als Martin Sehn und hochverschuldet. Ihr Mann, ebenfalls ein Alkoholiker der übelsten Sorte, hatte sie im Stich gelassen. Erst hatte er Kredite aufgenommen und seine Frau mit Versprechungen auf eine rosige Zukunft, welche diese in ihrer Trunkenheit nur allzu gern geglaubt hatte, dazu gebracht, als Bürgin zu fungieren. Dann hatte er sich das von den Banken bewilligte Geld auszahlen lassen und es mit Alkohol und Frauen von schlechtem Ruf durchgebracht. Nachdem alles aufgebraucht war, hatte er sich auf dem Dachboden einen Strick um den Hals gelegt. Greta sah in Martin einen Rettungsanker, ein Tau, das sie aus ihrer misslichen Lage hätte befreien sollen.

Anfangs lief es gut. Sie wachten gegen Mittag auf und starteten mit Bier in den Tag. Danach saßen sie auf der Veranda, spielten Karten, und Greta lauschte gebannt Martins Erzählungen. Er erzählte ihr von seiner Lehrzeit, seinem Großvater und wurde nicht müde ihr zu sagen, wie glücklich er war, endlich eine zu ihm passende Frau gefunden zu haben. Sie glaubte ihm nur allzu gern, doch jedesmal wenn er anklingen ließ, dass er es für an der Zeit hielt, mit dem Trinken Schluss zu machen und eine Familie zu gründen, schenkte sie ihm ein weiteres Glas ein.
Eine Sommergrippe warf ihn für drei Wochen aufs Bett. Während dieser Zeit durfte er nicht trinken, denn der Dorfarzt hatte ihm Antibiotika verschrieben. Greta Ponisch indes trank weiter.
Nach diesen drei Wochen war er völlig ausgenüchtert und vom Alkohol entwöhnt. Währenddessen hatte er erkannt, mit welcher Frau er sich eingelassen hatte. Er führte ein ernstes Gespräch mit ihr, welches in einem bösen Streit endete. Am nächsten Tag warf er sie aus dem Haus.

Peter Mierz beglückwünschte ihn zu dieser Tat und hoffte insgeheim, dass das unschöne Ende dieser Beziehung der Weckruf für seinen Freund gewesen wäre, den Alkohol bleiben zu lassen.
In der Tat brachte Martin es fertig, weitere drei Wochen nüchtern zu bleiben. In dieser Zeit dachte er jedoch oft über seine nunmehrige Einsamkeit nach und griff doch wieder zur Flasche. Er war es leid geworden, in die Stadt zu fahren, um Frauen in Nachtlokalen zu treffen, also verlegte er sich auf das Frequentieren der drei Gasthäuser des Dorfes.
In allen wurde er freundlich aufgenommen, denn aufgrund seiner im Ort bekannten Trinkfestigkeit galt er von vornherein als guter Gast. Allerdings war Martins Beweggrund, die Wirtshäuser aufzusuchen, mitnichten das Trinken großer Mengen – die konnte er ebensogut zu Hause zu sich nehmen, ohne fürchten zu müssen, sich lächerlich zu machen oder gar Lokalverbote zu erhalten. Er besuchte die Spelunken, um Frauen kennenzulernen.

Hierbei tat er sich schwer. Ihm fehlte es an Erfahrung, und er war sich dessen bewusst. Um sich Mut zu machen, trank er vor den Lokalbesuchen jeweils ein paar Gläser Korn. Kam er dann mit Frauen ins Gespräch, so war deren erster Eindruck stets der in ihre Nasen dringende widerliche Geruch von Schnaps. Dies sagten sie ihm in deutlichen Worten, was dazu führte, dass er seinen Mut verlor.
Als er Peter Mierz davon erzählte, erbot sich dieser, Martin zu begleiten und ihm die Frauen vorzustellen, bei welchen sein Freund seiner Meinung nach würde landen können.
Es dauerte nicht lange und die beiden hatten den zweifelhaften Ruf eines Duo Infernale. Peter bekam Wind davon und verzichtete fortan darauf, Martin zu begleiten. Bald gab auch dieser auf.

Als er dreiunddreißig Jahre alt war, war Martin Sehns Sucht so weit vorangeschritten, dass er ein körperliches und seelisches Wrack war. Letzteres, weil seine Gedanken einzig um ein Thema kreisten – Alkohol. Ersteres, weil sich körperliche Verfallserscheinungen zeigten, die nicht einmal der ihn ständig umgebende Dunst von Fusel zum Verschwinden bringen konnte. Die Schmerzen wurden einfach zu stark, und eines Tages klappte er zusammen. Peter fand ihn reglos auf dem Küchenboden und alarmierte die Rettung.
Im Krankenhaus wurde eine akute Entzündung der Bauchspeicheldrüse diagnostiziert und Martin in künstlichen Tiefschlaf versetzt. Als er nach vier Wochen aus dem Koma geholt wurde, führte der behandelnde Arzt ein ernstes Gespräch mit ihm. Martin gab sich einsichtig und stimmte einem stationären Alkoholentzug zu. Er wurde in eine dafür geeignete Klinik verlegt und musste sich erst einmal an einen geregelten Tagesablauf gewöhnen. Die Monate in der Klinik empfand er keineswegs als Qual oder Strafe, er nahm sie vielmehr als Hilfe wahr, um in ein neues Leben zu finden.

Er hatte erkannt, dass er ein großes Problem hatte, und auch, dass er damit nicht alleine war. Männer und Frauen unterschiedlichen Alters und aus allen Gesellschaftsschichten ließen sich dort helfen. Martin nahm an Einzeltherapiestunden ebenso teil wie an Gruppensitzungen und sportlichen Aktivitäten. Nach drei Monaten wurde er entlassen, als für den Moment geheilter, doch lebenslang gefährdeter Alkoholiker.
Peter Mierz fuhr ihn nach Hause, wo Martin als erste Handlung alle alkoholischen Getränke wegschüttete.

Es war noch genug Geld von seinem Erbe übrig, also ließ er sich in einem Nebengebäude eine Schmiede einrichten und übte zum ersten Mal in seinem Leben seinen erlernten Beruf aus. Er wurde Kunstschmied.
Es dauerte einige Zeit, bis er wieder sämtliche handwerklichen Fähigkeiten erlangt hatte, die sein Lehrherr ihm beigebracht hatte, doch danach wurde er zu einem gefragten Handwerker.

Seine Eltern nahmen wieder Kontakt zu ihm auf, und allmählich wurde er zu einem im Ort geachteten Mann. Wann immer über ihn gesprochen wird, findet die Tatsache, dass er dem Alkohol verfallen war und beinahe an ihm gestorben wäre, Erwähnung, doch ist es so, dass ein Mann mit Ecken und Kanten seinen Mitmenschen im Allgemeinen mehr gilt als ein aalglatter.
Vom Alkohol hat er sich seit seinem Aufenthalt in der Klinik ferngehalten, wohl wissend, dass ein einziger Tropfen ihn zurück in die Hölle der Trunksucht befördern könnte.

Eine Frau hat er, wie auch sein Freund Peter Mierz, noch nicht gefunden. Er hat jedoch die Hoffnung nicht aufgegeben. Im Bezirksanzeiger steht unter der Rubrik Vermischtes / Kontakte seit ein paar Monaten folgender Text zu lesen: ‘Sehn sucht! Erfolgreicher Kunstschmied, 37, 180 cm, sucht Frau im Alter von 35 bis 37 Jahren zum gemeinsamen Altwerden. Strikte Antialkoholikerin erwünscht!’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17037

Nächte im Herbst

Kalt und nicht steril
Nachts im beleuchteten U-Bahn-Schacht
Im Hintergrund blinkt weißes Licht,
rolle auf kalten Eisen
Beton und kaltes Gitter im Herbst
Müde Betrunkene
schlafen im Stehen oder schreien
Glas zerspringt,
wie in jeder dieser Nächte,
so oft gehört

Schlafenszeit, der Wecker gestellt,
zähle den Schlaf,
der Stoff schläft darüber,
und die Katze hat auch noch Hunger

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig| Inventarnummer: 16173

Barbara

Vor drei Tagen stand ich am Rande des Bächleins, das neben meinem Elternhaus fließt und die Grenze zwischen zwei Äckern bildet. Seit ich denken kann, also seit etwa fünfunddreißig Jahren, fließt es dort vor sich hin, ruhig, seicht und unbegradigt. Ich starrte auf die Oberfläche des Wassers und dachte an Barbara.
Sie war mit mir aufgewachsen und hatte in ihrem Leben, das nach nur dreißig Jahren geendet hatte, nie Glück gehabt. Ihr Elternhaus liegt bloß zweihundert Meter von meinem entfernt, und doch liegen Welten dazwischen.

Ich entstamme einer wohlhabenden Familie. Meine um zwei Jahre ältere Schwester und ich hatten alles, was wir uns wünschten. Ich gebe zu, dass wir damals die größte Freude an Sachen hatten, die wir uns eben leisten konnten. Heute jedoch weiß ich, dass das Wertvollste, was wir erhalten hatten, die Liebe unserer Eltern und der Zugang zur Bildung waren. Meine Schwester ist Ärztin, und ich verteidige Menschen vor Gericht, deren Leben aus welchen Gründen auch immer aus dem Ruder gelaufen sind.

Barbara wuchs in einem Elternhaus auf, in welchem es an allem fehlte. Zuneigung, Liebe und Verständnis erfuhr sie nie von ihren Eltern. Ihr Vater war ein Trinker der schlimmsten Sorte, der seine Frau und sein einziges Kind schlug, wenn er betrunken war. Barbaras Mutter war eine erzkatholische Frau, die ihre Tochter züchtigte, sobald sie auch nur den leisesten Verdacht hatte, dass diese etwas getan oder gedacht haben könnte, was im Widerspruch zur strengen Auslegung der Bibel gestanden hätte.

Wenn ich an die Zustände denke, die in Barbaras Familie geherrscht haben, so wundere ich mich noch heute, dass sie sich zu einem derart sanftmütigen und liebenswerten Menschen entwickelt hat, wie sie einer war.

Bevor wir in die selbe Klasse in der Volksschule kamen, hatten wir losen Kontakt zueinander. Wir spielten ein paarmal auf der großen Wiese, die noch immer zwischen unseren Elternhäusern liegt, Abfangen und Fußball. Ihrer Mutter war es gar nicht recht, dass ihre Tochter mit einem Buben spielte, doch ließ sie dies zu jener Zeit noch zu.
In der Volksschule saßen wir nebeneinander. Wir lernten gut und wollten auch an den Nachmittagen Zeit miteinander verbringen, doch ihre Mutter erlaubte das nicht mehr.
Zu dieser Zeit begann Barbaras aufgezwungene Isolation.
Ich sah sie zwar im Unterricht, doch nach der Schule wurde sie von ihrer Mutter abgeholt und nach Hause gefahren. Keinem in der Klasse, auch der Lehrerin nicht, blieben die blauen Flecken verborgen, die Barbara auf den Armen trug, doch fand es nicht einmal die Lehrerin der Mühe wert, auf diese Schandmale einer lieblosen Erziehung zu reagieren.

Heute weiß ich, dass sie nicht das einzige Kind war, das geschlagen wurde. Damals, vor über dreißig Jahren, wurden Züchtigungen in kleinen Dörfern noch übersehen, selbst wenn ihre Spuren unübersehbar waren.
Gerüchte hatten die Runde gemacht, über die Trunksucht von Barbaras Vater und die Strenge ihrer Mutter, doch war es für alle Menschen im Dorf bequemer zu reden als zu handeln.

Nach der Volksschule besuchte ich das Gymnasium im Nachbarort, während Barbara auf die örtliche Hauptschule geschickt wurde. Ich weiß nicht allzu viel über diese vier Jahre in ihrem Leben, denn ich war in ein neues Umfeld gekommen und außerdem sehr mit Lernen beschäftigt. An den Nachmittagen traf ich mich mit Klassenkameraden zum Fußballspielen oder Angeln, und so verlor ich Barbara aus den Augen, ohne dies gewollt zu haben.
Nachdem sie die Hauptschule abgeschlossen hatte, begann sie eine Friseurinnenlehre im einzigen Frisiersalon unseres Dorfes. Ich war damals bereits Kunde dort, also hatten wir wieder etwas mehr Kontakt zueinander. Ich besuchte den Salon etwa alle zwei Wochen und ließ mir von ihr die Haare schneiden.
Über Privates unterhielten wir uns dabei kaum. Einmal fragte ich sie, ob sie mich auf eine Party begleiten wollte, doch sie sagte mir seufzend ab. Ihre Mutter hatte ihr verboten, Feste zu besuchen.
Nach ihrem Lehrabschluss änderte sich Barbaras Situation. Ihr Vater war an einer Leberzirrhose gestorben und ihre Mutter, die gezwungen war, einer Arbeit nachzugehen, um das Haus erhalten zu können, hatte weniger Zeit, sie mit Argusaugen zu überwachen.

Eines Tages zog Barbara aus ihrem Elternhaus aus und mietete eine Wohnung unweit des Gemeindeamtes. Sie hatte einen Mann kennengelernt und zog mit ihm dort ein.
Dieser Mann war, wie ihr Vater, ein Trinker, der zur Gewalttätigkeit neigte. Die Nachbarn des Paares beschwerten sich bald über lautstarke nächtliche Auseinandersetzungen, und so kam es heraus, dass Barbara auch von ihrem Freund geschlagen wurde.

Als ich sie eines Abends zufällig in einem Gasthaus traf, lud ich sie auf ein paar Gläser Wein ein und hörte ihr zu. Heute bin ich mir sicher, dass ich der erste Mensch war, der ihr zugehört hat.
Sie erzählte mir von den Zuständen in ihrem Elternhaus. Wie schlimm diese wirklich gewesen waren, hätte ich mir niemals träumen lassen. Barbara sprach über ihre Mutter, die sie in ihrem religiösen Wahn immer noch terrorisierte, und über ihren Freund, der ihrem Vater in puncto Gewaltbereitschaft um nichts nachstand. Ich war schockiert über das Ausmaß an Leid, das diese Frau ertragen musste, doch auch fasziniert über die Worte, mit welchen sie all das Schreckliche schilderte. In ihren Ausführungen lag keine Bitterkeit, kein Zorn und auch kein Selbstmitleid. Sie beschrieb in warmen Worten, was sich in ihrem Leben zugetragen hatte und immer noch zutrug. Ihre Sicht auf die Menschen, die ihr all das angetan hatten und antaten, war, so seltsam es klingen mag, menschlich. Sie sah sie nicht als Scheusale, sondern als Menschen.
Ich bot ihr meine Hilfe an, doch sie lehnte dankend ab.

Eines Tages jedoch wurde es auch Barbara zu viel. Sie warf ihren Freund aus der Wohnung und begann selbst zu trinken.
Ich weiß nicht ob es die Einsamkeit war, die sie zur Flasche greifen ließ, oder ob sie durch die Gene ihres Vaters ohnehin vorbelastet und gefährdet war. Jedenfalls konnte Barbara nicht mehr mit dem Trinken aufhören. Sie hatte im Alter von sechsundzwanzig Jahren massiv zu trinken begonnen und mit dreißig damit aufgehört.
Es ist keineswegs zynisch von mir zu sagen, dass sie mit dreißig Jahren den Alkohol hat bleiben lassen, obgleich ich eingangs erwähnt habe, dass ihr Leben in diesem Alter geendet hat.
So traurig das ist, es war eben so.

Barbara brachte es eine Zeitlang fertig, ihrer Arbeit nachzugehen, obwohl sie trank, doch irgendwann war es damit vorbei. Sie verlor ihren Job und trank nur noch. Sie verbrachte Tage und Wochen in ihrer abgedunkelten Wohnung und verließ diese nur, um Schnaps und Fertiggerichte zu kaufen.
In dieser Zeit wollte ich sie zweimal besuchen, doch sie öffnete ihre Türe nicht. Sie fragte zwar leise, wer davor stand, doch so bald ich meinen Namen nannte, rührte sich dahinter nichts mehr. Ich vermute, dass es nicht an meiner Person gelegen hat. Ganz gleich welchen Namen Barbara gehört hätte, sie hätte nicht aufgemacht.

Niemandem im Dorf blieb verborgen, was mit ihr los war. Wenn sie mit ungewaschenen Haaren in den Supermarkt kam und Schnaps kaufte, wandten sich die Leute ab. Ihre Mutter ließ jeden, der dies hören wollte, wissen, wie sehr sie sich für ihre gottlose Tochter schämte und dass diese in der Hölle enden würde.
Ich weiß nicht, ob Barbara die Äußerungen ihrer eigenen Mutter zu Ohren gekommen waren. Eines weiß ich jedoch sicher: Die Hölle, die von der katholischen Kirche als das Schrecklichste alles Vorstellbaren bezeichnet wird, diese Hölle ist ein Paradies, verglichen mit der Hölle, in welcher Barbara zu leben gezwungen war.

Im Alter von dreißig Jahren starb Barbara und wurde auf dem Dorffriedhof beerdigt. Ihre Mutter war der Beisetzung ferngeblieben und hatte sich auch geweigert, ihre Tochter dort ruhen zu lassen, wo ihr Vater lag.
Barbara hatte kein Geld hinterlassen, somit stand die Frage im Raum, wer für das Grab aufkommen würde. Ein Mitglied des Gemeinderates ging von Haus zu Haus, um Spenden für Barbaras Grab zu sammeln. Da ich von meinen Großeltern nicht wenig Geld geerbt hatte, erklärte ich mich bereit, für die Kosten ihres Grabsteins aufzukommen.
Ich verzichtete darauf, ein Kreuz in diesen meißeln zu lassen, denn Barbara hatte die Kirche gehasst. Stattdessen ließ ich ein Zahnrad in den Stein einarbeiten. Es symbolisiert, dass es oft die kleinen Räder sind, an welchen von anderen Menschen gedreht wird, die ein Leben gelingen lassen oder eben nicht.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16146

Der Knecht von Modriach

Für Simona und Jürgen.
Danke für die Inspiration.

Gleich nach dem Aufstehen gönnt er sich einen Literkrug Most, der Albin Breitschwengler. Das macht er gerne und täglich.
Dann streicht er einen großen Klotz Bauernbrot auf beiden Seiten fingerdick mit Grammelschmalz ein und macht sich über die Kronen Zeitung her.
“Du dummer Hund! Du Gauner, Halunke und Dieb!”, brüllt er dann oft, wenn er etwas lesen muss, das ein anderer Mensch gemacht hat und das ihm gegen den Strich geht. Und das passiert halt oft.
Fluchen tut er übrigens fast immer, aber mit sechsunddreißig Jahren darf er das wohl.

In Modriach in der Steiermark, wo er herkommt, macht das aber nichts, weil in dem Ort eh nur ein paar Menschen leben.

Er selbst, der Breitschwengler, wohnt auf dem Breitschwenglerhof, den sein Papa Adolf und seine Mama Trudl ihm vermacht haben. Die beiden sind seit vier Jahren unter der Erde, und manchmal denkt ihr Sohn an sie.
‘Ja ja, der Vater und die Mutter – die haben keine Sorgen mehr!’, denkt er dann und erschlägt ein paar Ratzen auf seinem Hof.
Ratzen hat er nämlich viele, aber er hat ja auch viele Sauen und sogar zwei Ochsen im Stall, und viele Henderln, die frei herumrennen.
Nach der Kronen Zeitung braucht Breitschwengler meist einen Schnaps. Aber keinen normalen, sondern einen Obstler – Ehrensache.
Aber weil ein Stamperl halt nicht so viel fasst, sind es meistens zwei oder drei.
Dann macht er sich gestärkt an die Arbeit.

Breitschwengler ist nämlich der Knecht auf seinem Hof, also ist er sein eigener Herr.

Seine Schwester, die Sopherl, hat nie was mit der Landwirtschaft zu tun haben wollen. Sie ist Schneidermeisterin in Peggau und kommt nicht mehr nach Modriach.
Als Adolf und Trudl Breitschwengler noch gelebt haben, ist sie schon ab und zu gekommen, doch seit der Albin alleine auf dem Hof ist, traut sie sich nicht mehr dorthin.
“Du bist ein Depp und ein gefährlicher Irrer!”, hat sie ihrem Bruder auf den Kopf zugesagt. “Eingesperrt g‘hörst!”
Dann ist sie gefahren.

Breitschwengler wurde auf dem Hof geboren.
Als seine Mama gesehen hat, was für ein prachtvolles Kind sie bekommen hat, da hat sie sich gefreut und gleich gerufen: “Der wird Knecht!” Es war nämlich immer schon ihr Traum, einen Knecht zum Sohn zu haben.
Seinem Papa war das egal. Er hätte es schon gerne gehabt, wenn sein Bub etwas Anständiges wird, ein Pfaffe oder ein Kiberer vielleicht, doch hat ihm der Mut gefehlt, der Trudl zu widersprechen.
Einmal hat er das zwar schon gemacht, aber da die Trudl immer, wirklich immer und egal wo sie war, ein Stamperl oder gleich eine Flasche in Griffweite hatte, nahm er sich danach vor, keine zweite Beule auf seinem Kopf zu riskieren.
Also wurde Breitschwengler Knecht. Die Trudl hat das in die Hand genommen, weil es war ja ihr Wunsch gewesen.
Albin war ein kräftiger Bub, schon mit zwei Jahren hat er seinen ersten Ratz erschlagen, und seine Mama war sehr stolz. Da hat sie es endgültig gewusst: “Der wird ein echter Knecht!”

Am Anfang wollte er seinen Schnuller nie in den Mund nehmen, wenn sie diesen vorher in ihr Stamperl getaucht hatte.
Wie oft hat sie gesagt: “Jetzt nimm den Zutz in den Mund, Albin! Sonst wirst nie ein gescheiter Knecht!”
Dass er dann doch ein gescheiter Knecht geworden ist, daran sind wohl die Tachteln schuld. Denn die haben es ihm leichter gemacht, den Schnuller in den Mund zu nehmen.
Einmal hat der Breitschwengler seiner Mama einen Vorwurf gemacht, da war er zehn Jahre alt.
“Mutter”, hat er gesagt, “wenn du den Zutz in den Most getaucht hättest und nicht in den Obstler, würde vielleicht ein noch besserer Knecht aus mir.”
Da hat die Trudl gelacht, ihrem Bub die Hand ausnahmsweise sanft auf die Backe gelegt und gemeint: “Das passt schon, Bub. Du bist eh auf dem richtigen Weg.”

Die Gisela Bartler, seine Lehrerin in der Modriacher Volksschule, hat das anders gesehen.
“Warum hat der Albin immer so glasige Augen?”, hat sie die Trudl Breitschwengler oft gefragt.
“Gisi”, hat Trudl dann gesagt, “du weißt ja eh, wie das ist. Er wird halt ein Knecht. So wie der Manfred, dein Bruder, der ist ja auch Knecht geworden.”
“Ja!”, hat die Bartlerin dann immer gerufen. “Er ist ein Knecht geworden, weil er der Stärkste von den Buben war. Da war es ja klar, dass es um seinen Kopf nicht schade ist. Aber der Albin ist dein einziger Sohn! Also hör in Gottes Namen damit auf, ihm Alkohol zu geben!”
“Der Bub wird Knecht – und basta!”
In der Volksschule war Breitschwengler keine Leuchte.
Zwei Jahre hat er gebraucht, bis er es geschafft hat, in die Klasse seiner jüngeren Schwester zu kommen. Die war darüber gar nicht froh, denn so hat ganz Modriach erfahren, dass Albin die Volksschule nur geschafft hat, weil sie alle Hausübungen doppelt hat machen müssen – einmal für sich selbst und einmal für ihn.

Nach der Volksschule ist er in die Hauptschule gegangen und hat dort Rupert Schröll kennengelernt.
Schröll kommt auch von einem Bauernhof, aber aus der Ortschaft Edelschrott. Er war ein schmächtiger Bub, der nie hätte Knecht werden können, also wurde er ein Tischler und ein Jäger.
Die beiden Buben haben sich gut verstanden, und so wurde eine Freundschaft daraus.

Eine Lehre hat Breitschwengler nicht machen dürfen.
Nach der Hauptschule, für die er fünf Jahre gebraucht hat, ist er Knecht geworden.
Unter den Habichtsaugen seines Papas und den Bärentatzen seiner Mama hat er gründlich alles gelernt, was ein gescheiter Knecht wissen und können muss.
Er hat sich um das Vieh gekümmert, und ganz besonders um die Ratzen.
“Die Viecher hab ich gern”, hat er oft gemurmelt, wenn seine Mama nicht dabei war. “Aber die Ratzen mag ich nicht!”
Folglich hat Breitschwengler viele von ihnen mit dem erschlagen, was er gerade in der Hand gehabt hat.

Nachdem er sich also einen Liter Most und ein paar Stamperln Obstler eingeschenkt und sein Grammelschmalzbrot so weit verdaut hat, dass er sich wieder rühren kann, was um circa elf Uhr der Fall ist, macht sich Breitschwengler an die Arbeit.
Er geht in den Stall, mistet ihn aus, geht dann in den Stadl Heu holen und wieder in den Stall, den Viechern das Heu geben.
Dann sammelt er noch die Eier von den Hendln ein und denkt sich: ‘Ich hätte den Fuchs nicht abschießen sollen! Wenn ich das nicht gemacht hätte, hätte ich zwar keinen schönen Fuchsschwanz auf dem Schlüsselbund, aber der Fuchs würde sich nach und nach die Hennen holen und ich müsste nicht immer Eier klauben!’

Breitschwengler ist ein großer Jäger. Seine Gewehre hat er von seinem Papa vererbt bekommen, aber er hat dessen Jagdschein nicht auf sich umschreiben können. Er hat zwar dreimal versucht, die Jagdprüfung zu machen, aber ein viertes Mal wollte er sich den Stress nicht antun.
Er hat schon viele Tiere geschossen, sogar einen Uhu und einen Habicht.
Das mit dem Ara der Schmitzers war ein Versehen, wie er Otto Kipf, dem Dorfgendarmen, glaubhaft versichert hat.
“Mach dir keinen Kopf wegen dem lauten Mistvieh”, hat Kipf gesagt. Und dann hat er noch etwas gesagt, aber ein bisschen leiser: “Was glaubst du, wie oft ich schon auf den Vogel gezielt habe? Aber mit so einer Dienstpistole triffst ja nichts.”

Nach der Arbeit ist es für Breitschwengler an der Zeit, ins Gasthaus zu gehen.
Die einzige Gastwirtschaft, die es in Modriach noch gibt, ist die Hütte zum immer vollen Krug, aber sie wird von den Modriachern der Einfachheit halber Windn genannt.
Die Windn betritt Breitschwengler stets, also wirklich täglich (weil einen Ruhetag kann sich der Besitzer der Windn, der von den Modriachern einfach Wirtn genannt wird, nicht leisten) mit einem Ruf, mit dem er kundtut, in welcher Verfassung er sich befindet.
Es kommt oft vor, dass er in die Windn geht, den Wirtn anschaut und “Durst!” ruft. Der Wirtn stellt ihm dann schnell einen großen Krug Most hin, und Breitschwengler nimmt gut fünf große Schlucke. Dann rülpst er und ist fürs Erste zufrieden und begrüßt die anderen Gäste in der Windn.
Es kann aber auch passieren, dass er “Vögeln!” ruft.
Dann ist es besser, wenn Irmi Motschger nicht im Lokal ist, denn die brüllt dann immer: “Dann geh halt nach Edelschrott ins Puff!”
Daraufhin wird Breitschwengler zuverlässig sehr zornig und heißt die Motschgerin entweder “Wabe!”, “Trutsche!”, “Hexe!”, “Voglscheuche!” oder “Trampel!”, aber immer sagt er dazu, dass sie das in der betagten Ausgabe ist.

Breitschwengler hat nämlich keine Frau.
Er hat es nie mit einer festen Freundin probieren wollen, sondern immer nur die genommen, die er in Modriach, oder eben in Edelschrott, abbekommen hat.
Einmal hat Breitschwengler eine Frau im Wald getroffen, nämlich die Claudia Möslinger. Sie ist auf ihn zugegangen und hat ihm auf den Hosenstall gegriffen, was ihn zuerst sehr erschreckt hat, aber dann hat es ihn sehr gefreut.
Er hat ihr dann auf ihren Busen gegriffen, was sie gar nicht erschreckt, dafür aber sehr gefreut hat.
Bald darauf haben sie sich ausgezogen und auf den weichen moosigen Waldboden gelegt. Zuerst hat Breitschwengler sich bewegt, dann hat die Möslinger die Sache in die Hand genommen, weil er keine Erfahrung gehabt hat und dementsprechend rustikal ans Werk gegangen ist.
Seit diesem Tag ist Breitschwengler bei den Frauen in Modriach als Grobian verschrien und kriegt kaum noch eine ab.

Dann, wenn die Motschgerin das gesagt und er geantwortet hat, will er keinen Most, sondern bestellt gleich ein Stamperl beim Wirtn, aber vom Obstler – Ehrensache.
Der Wirtn schaut Breitschwengler dann skeptisch an, schenkt zur Sicherheit gleich ein sehr großes Stamperl ein und stellt die Flasche auch gar nicht zurück ins Regal, sondern auf den Tresen, damit sein Gast sieht, dass eh noch genug Obstler da ist.
Aber auch wenn er zuerst Most nimmt, so bestellt Breitschwengler dann immer ein Stamperl, denn der Obstler ist ihm im Blut.
Jedesmal wenn er ihn trinkt, denkt er zurück an seinen Schnuller und wird nostalgisch: ‘Ach, mein Zutz!’, und dann kommt es vor, dass er an seine Mama denkt, wie sie ihm den Zutz weggenommen hat, als er alt genug war, um ein Stamperl zu halten.
Aber dann wischt er schnell diese Gedanken weg und will die Speisekarte haben, denn nach der harten Arbeit ist er hungrig.
Das ist das spezielle Gasthausritual des Breitschwengler, dass er die Speisekarte haben will, weil er bestellt ja eh immer den Schweinsbraten.
“Wie ist der Braten heute?”, fragt er dann.
“Gut”, meint der Wirtn dann.
“Gut”, repliziert der Breitschwengler dann. “Ich will einen Schweinsbraten! Aber eine ordentliche Portion!”

Sein Essen verputzt er immer am selben Tisch, nämlich an dem, an dem seine Mama oft eingeschlafen ist, wenn sie zu viele Stamperln genommen hat.
Die anderen Gäste beim Wirtn schauen ihm immer beim Essen zu, denn er hat die Tischmanieren eines gescheiten Knechts. Das gut zwei Finger dicke Stück Schweinsbraten kommt auf Breitschwenglers Teller nämlich nie mit einem Messer in Berührung – ein kräftiger Stich mit der Gabel, und den Rest erledigt sein Gebiss. Die Beilagen isst er nie.
Dann wischt er sich mit dem Ärmel seines Hemdes den Mund ab, rülpst und stellt sich wieder an die Bar zu den anderen Modriachern.
Der Pfarrer, Pater Engelbert, ist immer gerne dabei, wenn ein neuer Obstler aufgemacht wird, und auch Otto Kipf, der Gendarm, schätzt den Schluck aus der frischen Flasche.
Dann reden sie über das, was sich in Modriach so ereignet hat, in den letzten vierundzwanzig Stunden.
Ein Holzknecht von auswärts hat sich mit der Hacke ins Schienbein gehackt – “So ein Tollpatsch!”, meint Breitschwengler -, der pensionierte Direktor der Raiffeisenkassa war beim Schwarzfischen im Packer Stausee gesehen worden – “So ein Dieb und Wilderer, der Gamsbartkommunist!” – und dem Huberbauer hat der Fuchs vier Hennen gestohlen – “Ich könnte ihm helfen! Ich habe einen zweiten Schlüsselbund. Da passt noch ein Schwanz rauf!”
Nachdem Breitschwengler überall seinen Senf dazugegeben hat und eh schon wieder auf seinen Hof gehen muss, um dort nachzuschauen, ob es eine Arbeit gibt, die er verrichten muss oder könnte, ruft er: “Ich muss arbeiten gehen!” Dann zahlt er seine Zeche und ruft noch etwas, aber nur dann, wenn die Irmi Motschger beim Wirtn ist: “Dich würde ich eh nicht nehmen!”, bevor er schnell das Gasthaus verlässt.

Auf dem Heimweg geht er noch zu Waltrauds Nah und Frisch, wo er sich mit einer Flasche Obstler und mindestens drei Doppellitern Most eindeckt, und dann ist er auch schon wieder daheim.

Dort hat er meistens keine Arbeit, also holt er eine der Mannlicher-Flinten seines Papas von dort hervor, wo er sie lagert, nämlich unter seinem Bett, lädt die Waffe und entsichert sie bei dieser Gelegenheit auch gleich, weil er weiß, dass man nie wissen kann, ob nicht doch ein Rehbock oder eine Wildsau vor der Haustür steht, und geht in den Wald.

Weil er keinen Jagdschein hat, kann Breitschwengler naturgemäß nicht wissen, wann welche Tiere abgeschossen werden müssen, also geht er auf Nummer sicher und zielt auf alles, was sich bewegt.
Es kann vorkommen, dass er auf andere Jäger trifft.
In Modriach gibt es nicht viele von diesen, und die, die es gibt, wissen natürlich, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat.
Normalerweise haben sie kein Problem damit, dass er in ihren Revieren herumkoffert und Tiere abschießt, weil es dort ja eh zu viel Wild gibt und weil er besonders gerne auf Vögel zielt. Dann denkt er sich immer: ‘Na, den Vogel hab ich mir aus der Luft gegriffen!’ und freut sich.

Einmal aber ist er einem Jäger über den Weg gelaufen, der die Tatsache, dass Breitschwengler keinen Jagdschein hat, streng sieht: Rupert Schröll, seinem besten, weil einzigen Freund.
Der hat ein Jagdrevier in Modriach gepachtet und Breitschwengler ist, ohne das zu wissen, in dieses eingedrungen.
“Sag, bist du jetzt endgültig verrückt geworden, Breitschwengler?”, rief Schröll.
Der Angesprochene errötete. Zuerst wollte er sich als harmloser Schwammerlsucher ausgeben, aber die Mannlicher, die er um die Schulter gehängt gehabt hat, war, das wusste er, ziemlich eindeutig.
“Das ist mir jetzt aber schon sehr peinlich!”, rief er.
“Aber geh!”, sagte Schröll. “Jeder im Umkreis von zehn Kilometern weiß, dass du ein Wilderer vor dem Herren bist!”
“Also, ein Wilderer? Ich weiß gar nicht.”
“Nein, du eh nicht”, sagte Schröll in einem Ton, der Breitschwengler zu verstehen gab, dass er soeben auf den Arm genommen worden war. “Und der Papagei, den du geschoss’n hast?”
“Das war ein Unfall, bitteschön!”
“Wie auch immer, Albin. Sag, warum gehst du denn jagen? Ich meine, du isst das Wildbret ja eh nicht. Du isst doch jeden Tag deinen Schweinsbraten beim Wirtn und kannst ja nicht einmal kochen.”
“Es geht mir einfach ums Schießen, Bertl.”
“So geht das aber nicht, Albin! Ich meine, mir ist das ja wurscht, wenn du mir ein Reh aus dem Revier herausschießt, aber du kannst als Wilderer Probleme kriegen, große Probleme.”
Breitschwengler überlegte kurz und dabei sah er, dass aus Schrölls Rucksack Blut tropfte.
“Sag einmal, Bertl, was hast du denn in deinem Rucksack?”
Nun errötete der Schröll.
“Einen Feldhasen”, sagte er und schaute auf seine Schuhe.
Da erkannte der Breitschwengler, dass er die Gelegenheit hatte, einen Volltreffer zu landen.
“In der Windn haben sie gesagt, dass die Feldhasen gerade Schonzeit haben”, log er.
Da nahm der Schröll Haltung an und sagte: “Albin, ich bringe dir morgen drei Liter Obstler und ein bisschen Most vorbei, und du vergisst die Geschichte.”
Breitschwengler fühlte, dass er bei diesem Handel der Gewinner war.
Und in der Tat, am nächsten Tag kam der Schröll auf den Breitschwenglerhof und brachte das Versprochene vorbei – und nicht nur das.
Er hatte auch zwei Flobertgewehre dabei, und sie machten Jagd auf die Ratzen, die in großer Zahl auf dem Hof vorkommen.

Wenn Breitschwengler ein Vieh abgeschossen hat, dann lässt er es nicht einfach im Wald liegen.
Er nimmt es mit nach Hause und verarbeitet es so, wie er es von seinem Papa gelernt hat. Er nimmt die genießbaren Tiere aus und legt ihr Fleisch in eine seiner Kühltruhen im Keller, die seine Mama angeschafft hat. “Für schlechte Zeiten”, hat sie gesagt, als sie sie gekauft hat.
Wenn er Viecher abschießt, die er für ungenießbar hält, gibt er sie seinen Sauen – und das funktioniert. Am nächsten Tag sind sie weg.

Nach der Jagd, die bis zum Abend dauern kann, geht Breitschwengler heim und wäscht sich. Meistens macht er das in seiner Duschkabine, die er in einem Baumarkt erstanden hat.
Sein Freund Schröll hat sie ihm heimgebracht, weil er selbst keinen Führerschein hat.
Den Führerschein hat Breitschwengler zweimal angefangen, aber dann doch nicht gemacht.
Dass er Jonas Muck, seinen Fahrlehrer, als “Edelschrotter Filzlaus” bezeichnet hat, hat dabei eine Rolle gespielt.
Nach dem Waschen hat Breitschwengler sozusagen frei.
Dann sitzt er in seinem bequemen Wohnzimmersessel, auf dem das Fell des ersten von ihm gewilderten Keilers liegt, und genehmigt sich einen Maßkrug voll Most. Und weil es schade ist, einen Most offen stehenzulassen und er immer Dopplerflaschen kauft, nimmt er eben noch einen Krug.
Dabei schaut er fern und wundert sich über das, was so gezeigt wird.
Liebesfilme mag er gar nicht, auch mit Dokumentationen kann er nichts anfangen. Am besten gefallen ihm Gruselfilme.
Die schaut er sich an, trinkt dabei Most und Obstler und freut sich, dass er auf seinem Breitschwenglerhof sicher ist vor Vampiren und so Zeug.
Wenn er aber ein Stamperl zu viel intus hat, kriegt er es manchmal mit der Angst zu tun: Was, wenn wirklich einmal ein Untoter vor seiner Haustür oder gar vor seiner Schlafzimmertür steht?
Dann liegt Breitschwengler in seinem Bett, unter dem die Mannlicher-Flinten lagern, und fragt sich: “Soll ich die Knochenhacke, die die Waltraud im Nah und Frisch hat, vielleicht doch kaufen?”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16136

Der Fremde

Die Bar ist nicht gut besucht, nur ein Pärchen sitzt stumm vor den Gläsern, deren Rest sie problemlos mit einem halben Schluck leeren könnten. Sie warten damit, schließlich ist der Abend lang und die Geldbörse dünn. Der Kellner wird sie nicht fragen, ob sie noch ein weiteres Bier haben wollen, solange im Glas noch etwas drin ist, sich noch irgendein Bläschen an die Oberfläche schwindelt.

Nein, es ist zu früh für eine neuerlich Bestellung, sie haben das schon vor dem Eingang ausführlich diskutiert: Wenn sie zusammenlegen, reicht es für fünf Krügel für sie und sieben für ihn. Das ist etwa die Menge, die sie zum Einschlafen brauchen, zu Monatsbeginn ist das Verhältnis 8:12.
Der Kalender da hinten über dem brummenden Kühlschrank behauptet, dass heute Mittwoch ist, Mittwoch der 24. September. Da hat wohl wer vergessen, den Mittwoch, den Donnerstag und den Freitag abzureißen, denn das stimmt nicht ganz, die beiden haben kurz gekichert, wie sie das gesehen haben, wissen sie doch, dass heute bereits Samstag ist, der 27., es also nur mehr drei Tage dauert, bis die Renten am Konto landen. Auch das haben sie sich schon vor der Tür ausgerechnet, schon um die heutige Ration und deren Einteilung zu berechnen.

Der Kellner, er ist nicht von hier aber trotzdem nett, kommt von irgendwo aus dem Süden – aus Serbien, Albanien oder dem Kosovo, oder noch weiter südlich, Griechenland, Türkei, Tunesien, oder vielleicht mehr aus dem Osten, Tschechien, Ungarn, Ukraine … ist ja aber auch scheißegal, in ein paar Wochen wird wieder wer anderer da sein, und auch wieder nach ein paar Wochen weiterflüchten, nach England, nach Schweden, nach Amerika.

Adam und Eva sind sehr liberal: Es ist ihnen egal, woher der Typ kommt, sie wollen nur nicht angesprochen werden, der soll weiter und zum wiederholten Mal die Gläser polieren, auch wenn sie trotzdem nicht sauber werden wollen, sie aber in Ruhe lassen. Die beiden tauschen diese Gedanken völlig ungeniert aus – sollte sie der Mann verstehen, wäre es ihnen auch egal, schließlich soll er froh sein, was zu tun zu haben, und immerhin ist hierzulande immer noch der Kunde König. Und die Kundin Königin, wie Eva kurz lächelnd feststellt.

Ahmed poliert weiter Gläser, die schon lange keine Flüssigkeit oder ein sauberes Tuch gespürt haben, aus dem Hintergrund tönt Musik mit deutschen Texten, in denen es um verlorene Liebe und Mütter geht, um den Juchaza, der auf hohen Bergen automatisch, quasi wie von selbst, der Brust entspringt und so ins tiefe Tal tönt, wo es dann alle hören, um die inbrünstige Liebe zum Heimatort mit Seitenhieben auf die beiden Täler daneben, denen – etwas verklausuliert – die Pest an den Hals gewünscht wird.

Die Lautsprecher sind aber schon ziemlich desolat, nur wirkliche Kenner könnten aus dem akustischen Brei heraushören, dass es sich dabei um österreichische Folklore handelt. Adam und Eva vermuten jedenfalls, dass es sich dabei um arabische Lieder mit ketzerischem Inhalt handelt, mit dem dieser Moslem, oder was immer er ist, sie übers Unterbewusstsein zum Tschihad oder irgendeinem anderen heiligen Krieg hypnotisieren will. Sie sind auch deshalb etwas angespannt, lange sitzen Adam und Eva vor ihren Gläsern, blicken immer auf die große Uhr hinterm Tresen, auf der die Zeit korrekt abgebildet zu sein scheint: Zehn Minuten vor neun, also noch zehn Minuten bis zur nächsten Bestellung – sie haben sich ausgemacht, um neun Uhr den nächsten halben Liter reinzuleeren, die anderen dann im Halbstunden-Takt: So kommen sie noch vor eins nach Hause, wo sie dann übereinander herfallen werden.

Dabei: Adam will schon seit längerer Zeit gar nicht mehr so sehr über Eva herfallen, macht es eigentlich nur ihr zuliebe, würde am liebsten gleich so richtig schlafen. Eva geht es nicht anders: Sie spielt nur mit, um Adam den Gefallen zu tun, eigentlich würde auch sie lieber nur einfach schlafen. Gut, von Zeit zu Zeit will sie es ja auch, an den christlichen Sonn- und Feiertagen beispielsweise. Der exakt gleiche Gedanke schleicht zeitgleich durch Adams Kopf. Obwohl sie sich so viele Sachen ganz genau ausmachen – das haben sich noch nicht ausgemacht, dieser Abend im Pub sollte ihnen aber die Gelegenheit geben, dieses Thema endlich einmal anzusprechen, Adam hat sich das für heute vorgenommen, Eva auch.

Beide wollen damit die paar Minuten bis neun noch warten, mit einem frischen Bier lässt es sich besser reden. Gleichzeitig holen sie sich zur Überbrückung ihr Handy, Eva aus der Handtasche, Adam aus der Jean, beide tun, als würden sie daraus wichtige Erkenntnisse gewinnen, sind glücklich, ein paar Minuten nichts sagen zu müssen. Der Kellner poliert ein nächstes Glas, die Boxen leeren neuen Brei drüber, Eintagsfliegen hauchen freiwillig vorzeitig ihr Leben aus, dabei hätten sie sich dafür noch ein paar Stunden Zeit lassen können.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16126

Der Schlafsack

Die Party ist aus, die Musiker haben längst ihr Instrumente verpackt und nach Hause gebracht, Martin ist noch mit ein paar Leuten am Lagerfeuer gesessen, das dann auch irgendwann ausgegangen ist wie das Bier, es dämmert bereits, der neue Tag bricht an, Martin sucht seinen Schlafsack, merkt, dass er zu viel getrunken hat, gegen Schluss haben auch Joints die Runde gemacht, er hat sich erstmals dran probiert und wird schon deshalb nicht mehr genau sagen können, wie lange er nach seinem Schlafsack gesucht hat.

– Hallo, Schlafsack! –
– Hallo Massa. –
– Schlafsack, wärme mich, aber nicht übermäßig … Es ist ohnehin warm da. –
– Wie Massa wünschen … Massa, darf ich mir eine Frage erlauben? –
– Na sicher, sag, was du mir sagen willst, Schlafsack. –
– Sie werden mir auch sicher nicht böse sein, Massa? –
– Nein, aber leg jetzt bitte los, ich bin müde. –
– Also, Massa … –
– Und red mich nicht mit Massa an … Ich bin der Martin. –
– Das freut mich, Herr Martin. –

– Jetzt sei nicht so steif, Schlafsack. Wir können doch ‚Du’ zueinander sagen – immerhin werden wir miteinander die Nacht, oder das, was von ihr noch da ist, verbringen … –
– OK, Martin. Per Sie und mit ‚Massa’ hätte ich mir aber leichter getan … –
– Jetzt komm schon raus damit: Was willst du von mir? Wenn du willst, kannst es mir ja auch in ein paar Stunden sagen … Ich leg mich jetzt jedenfalls in dich rein. –
– Darum geht es ja auch … irgendwie … –
– Wieso? –
– Ich mag heute nicht. Mir geht‘s nicht so gut und würde gerne einmal alleine schlafen. –
– Bist du völlig durchgeknallt, Schlafsack? –

– Ich heiße Severin, Schlafsack ist nur mein Gattungsname … und wir sind ja per Du. –
– Na gut. Aber pass einmal auf, Severin, es ist ja so: Du bist der Schlafsack und ich bin müde. Also werde ich mich jetzt in dich reinlegen. Das wär ja auch das Letzte, wenn mir der Schlafsack sagt, wann er, unter Umständen, bereit wäre, mich reinzulassen … Als Nächstes kommt dann der Kühlschrank und sagt, er will einmal Ferien machen … –
– Das kann dir durchaus blühen … und ich bin der Severin. –
– Jetzt halt endlich das Maul, ich will schlafen! –
– Ich hab ja nicht mit der Kommunikation angefangen. –
– Gusch, Schlafsack … Sever … –
– Schlaf gut, Martin. –

– Weißt du was, Severin? Ich rede nicht mit Schlafsäcken! –
– Tust du aber gerade … –
– Jetzt aber nicht mehr. –
– My Bonnie lies over the ocean, my Bonnie lies over the sea, My Bonnie lies over the ocean, O bring back my Bonnie to me. –
– Halt jetzt bitte dein Maul! Ich rede nicht mehr mit dir. –
– Ich rede ja gar nicht, ich singe … –
– HÖR AUF!!! HÖR BITTE AUF!!! –

– OK, komm schon rein, Martin. Ich wollte dich nur verarschen … –
– Ah, so … Danke. Ich hab schon geglaubt … –
– Komm rein, ich hab dich lieb. –
– Ja, ich dich auch. –
– Schlaf gut, Martin. –
– Danke, du auch, Severin. –

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 16113

Morgenröte

In jener langen, kalten Nacht
Von der bei mir bis heut
Manch graues Haar
Und leider auch
Das eine oder andre
Zähneweh
Bände voller Worte spricht
In dieser furchtbar finst‘ren Nacht
Genau gesagt zu deren
Allerpeinlichst düst‘ren Stunde
Leuchtet mir
Ich fass es nicht
Comtesse, ihr güldenroter Schopf –
Die Fahne einer Übermacht.

Dies Lockengeläut
Ist es denn wahr?
Und, wenn ich näher komme auch?
Könnt‘s nicht, wenn ich zu ihm wandere
Sein, herrjeh,
Dass dieser Schopf erlischt!
Und wieder grottenfinst‘re Nacht
Immerwährend währt?
So sitz ich in der Biertisch-Runde
Da trifft mich ihrer Augen Licht
Da denk ich, steh schon auf, du Tropf!

Und draußen in der Winternacht
Es war schon eine heitere
Eine, die ein wenig lacht,
War dann alles Weitere
Eigentlich schon abgemacht.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig | Inventarnummer: 16044