Schlagwort-Archiv: hin & weg

Fahrradlieder 3 – Rhinos-Zerross

(Eine klassische Ode nach Schiller)

Doch du, Rhinos-Zerross, woher kamst du?
Dich schufen wir in den Kellern, wo das Radvolk sich birgt, um Kräfte und Räder zu nähren. Gegen den täglichen Feind der Menschen und Räder, gegen die alleszerfressenden Autos zu wehren sollt’st du uns helfen, ein Rammbock uns werden, wie sie ihn noch nicht gesehen. Dass schon dein Anblick die blechernen Heere allen Mutes beraube und bis ins Getriebe macht zittern.

Doch was wuchs uns Verweg‘nen entgegen aus dem treibenden Brodeln der untergründigen Fahrradküchen? Wurdest du, wie viele sagen, vom prometheischen Funken des Analog-Schweißgeräts mit göttlichem Geiste beseelt? Oder ließest du selber dich, oh großer Rhinos-Zerross, schaffen durch uns, durch unsere sterblichen Hände?
Sie sagen, unsere dreisten Feinde, nur ein totgebor‘nes Reptil seist du. Ja, wahr: Du wurdest aus Fahrradurzeitgerippen errichtet – doch von Neuem zum Leben erwecktest du dich und stehst nun da, Vielfachgeborener vor uns, einem Dionysos gleich.

Ein unbegreifliches Rätsel ist deine bloße Gegenwart und nimmer wagen wir dich zu brauchen, zu den schnöden Zwecken des Krieges. Immer werden wir staunen und zaghafter Zweifel Opfer, wie deine Schweißnähte halten, verzeih, wir können‘s nicht ahnen, oder wie deine Formen den Gesetzen der gyroskopischen Kräfte hohnlachen
und doch sie nicht brechen.

Deine ehrfurchtserweckende Größe zieht alle Blicke auf sich, und du weißt es, doch bleibt dein Geheimnis in dir, ja muss es dort bleiben, gleitet doch unser armer Verstand daran ab, wie der hungrige Fuchs auf dem Eise. Und lächelst du heimlich dazu und verzeihst tatsächlich und schweigst und trägst uns noch willig und voll erhab‘ner Geduld auf deinem kräftigen Rücken, den Autofirmen zum Schrecken.

Ein göttlicher Freund der Menschen bist du, Rhinos-Zerross.
Ob geschaffen aus prometheischen Funken, ob durch dich selbst zwiefach geboren.
Doch manchmal, hab Nachsicht, macht deine Größe uns schaudern.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15140

Fahrradlieder 2 – Columbina

 (frei nach Rilke)

Aus den schattigen Hallen des Händlers hab einst ich dich freigekauft
In einer auch mir dunklen Stunde
Frei nun, lehrtest du mich, was Freiheit doch ist
Lässig die tägliche Bedrängnis umspielend.
Nicht der buckligen Ölfresser eifernd sich wehren, nein!
In gelassener Ruhe spöttisch umkurven sie – nach Taubenart.

Du zeigtest mir die Wege der anderen Räder
Die in den Straßen sich finden
Und ewig dank ich dies dir.
Ach könntest du weiter mit mir
Die uns gewonnene Freiheit doch teilen
Wie bitter wird mir ums Herz
Wenn ich dich finde so grausam entseelt
Am Dachboden aufgebahrt,
Wo täuschend lebendig du liegst

Dann schreit es in mir:
Nein und nie und nimmer, sie ist nicht tot, wie kann Columbina denn sterben!
Nun reiß ich sie an mich, doch kraftlos fällt ihr
Das vordere Laufrad zu Boden.
Dass auch das Leben der Räder ewig nicht währt, wie könnt ich‘s nicht wissen,
Ich der’s so schmerzvoll erfahren. Doch hört und empört euch mit mir:
Nicht so, nicht auf die Weise,
nicht so zur Unzeit,
nicht aufgrund eines schnöden, billigen Schlampigkeitsfehlers aus Kostengründen der Produktion! Heilige Graziella,* lass mich ihn finden, den schurkischen Dämon, den schnöden Outsourcer, der solches verbrochen. An Columbinas Speichen, ich schwör‘s, werd‘ ich ihn rädern!
Tränen vergieß ich bis dahin über dich, Columbina, und dein viel zu früh
zerbrochenes
Ausfallende!

*Italienisches Klapprad

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15139

Fahrradlieder 1 – Expressionistische Überlandfahrt

Rrrr, rrr, tk, tk, tk pfeifst du, tönst du, singst du mir,
wenn der Wind dir, sirr, durch die Speichen fährt,
singst du windgenährt
Mein musikdurchdrungenes Alurennrad.
Dein frisch gehäutetes Kirschrot leuchtet und glänzt schelmisch (matt) bei Tag
und glüht in der Nacht, ich weiß es, wenn du träumst von der Jagd durch die Stadt,
vom Sprung über die Schwelle vom schräggebissenen Straßenbahngleis.

Dann werden wir überlandfahren,
wenn das Land vom Winter befreit.
Wie Windräder im Sturm
deine Laufräder schwirren,
sphärische Klänge erzeugend.
Die rasende Wut in den Naben gefangen
macht dich rotieren.
Dein Kopf vibrierend gesenkt,
blitzende Kreise in den gespannten Rädern,
gegenläufige Räder aus Licht.

Ja, lass uns überlandfahren!
Die autogeschundenen Städte werden wir meiden
– solang‘s dich nicht nach andren Rädern sehnt, nach Kettenöl oder einem neuschneefrischen Lenkerband, das kühlend und fest um deine stolzen Hörner ich wickle.

Mein mir gefundenes, musikdurchdrungenes Alurennrad.
Einst hab ich dich getragen aus dunklen Kellergewölben, nun trägst du mich ans Licht.
Lass uns nach Holland fahren, wo alle Räder frei!
Und dort an den Grachten
werden wir
die silberbespiegelten Wasser betrachten.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15138

Wiener Hafen

Legst du dich
Mit dem Bauch nach unten
Flach auf die Stadt
Sind die schräggestellten Dächer
Rote Wellenberge
Und im Winter bricht
Ihr Kamm als weißer Rauch
Ist doch die Dächersee zu dieser Zeit
Besonders stürmisch

Doch frag mich nicht, was unter den Wellen
Oder dazwischen
Da tun sich Abgründe auf
Und du wärst nicht der Erste
Dem das Herz so schwer wird vom Gesehenen
Dass es ihn abwärts zieht
Wie einen gekappten Anker

Frag lieber, wo der Wiener Hafen liegt
Denn der ist nicht leicht zu finden
Dort warten nur Schiffe auf Passagiere wie dich
Du weißt schon, solche, welche die ferneren Ziele hatten
Und noch immer nicht in Anspruch nahmen
Ihre Plätze
Im Ober- , Unter- und Zwischendeck

Zahlst du mir meins, rat ich dir eins!

Du musst erstens auf den Höhepunkt
Der niedrigsten Erniedrigung der Stadt steigen
Sagen wir auf irgendeinen Flakturm
Oder den Milleniumstower

Dann muss zweitens die Sonne ganz flach stehen
Und die Dächer anstrahlen, dass sie aussehen wie
Rote Wellenberge
Also am Abend oder besser am Morgen
Nach einer durchzechten Nacht
Denn es hilft, betrunken zu sein
Dann wirst du dich umsehen und erkennen
Du bist schon auf einem Schiff
Das gerade einfährt
In den Wiener Hafen

Und wenn du dann drittens Kurs hältst
Die Augen streng nach Süden
(Es hilft dabei, in Richtung Bug zu geh’n
Und wie erwähnt, nicht nach unten zu seh‘n)
Wird der Hafen vor dir liegen.

Und dann?
Ja, wenn du dann gelandet bist, suchst du dein Schiff.
Ob man dir ohne Karte den Zutritt verwehrt?
Aber nein!
Von allen, denen ich bisher auf die Sprünge half
Hat sich keiner je beschwert.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15134

Die keltische Kriegerfürstin aus Sizilien

Verdammt, Paolo, du weißt doch ganz genau, dass ich es nicht ausstehen kann, wenn du mir wildfremde Leute an den Tisch setzt, selbst wenn deine Taverne gerammelt voll ist, du sogar schon ein paar Stühle von drinnen hier auf der Terrasse aufstellen hast müssen. Ja, ich weiß, Kinder sind nicht billig, besonders deine, die ja unbedingt in dem teuren Rom vor sich hinstudieren müssen, aber inzwischen solltest du deinen treuen Stammgast kennen, der dich seit ein paar Wochen Tag für Tag beehrt, solltest du wissen, was ich von ungebetener Tischgesellschaft halte, überhaupt von diesen Touristen, die einem den Abend lang die Ohren vollschwärmen, wie schön der Ausblick von deiner Terrasse doch ist, wie edel sich der Sonnenuntergang hier über den Horizont neigt, wie erhaben überhaupt das ganze Italien bis zur untersten Stiefelspitze. Andererseits, alles sei dir verziehen, Paolo, nach diesem unübertrefflichen Wildragout, mit dem du mich heute verwöhnt hast, dessen Nachgeschmack meinen Gaumen noch den ganzen Abend verzücken wird, und damit sei dir auch das Häuflein Elend verziehen, das mir nun gegenübersitzt und mir die verdiente Aussicht über die tausend Hügel der Toskana versperrt.

Nicht einmal zu einem anständigen Gruß ist sie imstande gewesen, oder zu Dank für den Platz an meinem Tisch, und auch jetzt verliert sich ihr Blick an der Unterkante des Tisches, in Gedanken versunken an irgendetwas Zerbrochenes. Und passend zum ersten Eindruck zerknittert ihr Sommerkleid, als hätte sie die letzte Nacht in einem Auto zugebracht, oder in Paolos Scheune, und zerdrückt auch ihr schon länger nicht mehr gepflegtes Haar. Aber dennoch eindrucksvoll diese Mähne, das Feuerrot, das ihr in ungebändigten Naturlocken ins Gesicht fällt, und welch ein Kontrast dazu ihre porzellanbleiche, ja nahezu wasserleichenhafte Haut, gut sichtbar das Netz der blauen Venen auf der Innenseite ihrer Arme; Haut, die sich nicht mit den Breiten hier verträgt, auf der sich die toskanische Sonne unbarmherzig in Form zahlloser rotbrauner Sommersprossen ausgetobt hat. Und als wäre all den Kontrasten nicht schon Genüge getan, fängt das Abendlicht sich in ihren stahlgrünen Augen, bündelt sich im leuchtenden Widerschein darin.

Woher sie wohl kommen mochte? Immer weiter fährt mein Finger die geistige Landkarte hoch, immer weiter gegen Norden, über die Alpen hinweg, über den Ärmelkanal hinweg, und erst als es mir ausreichend feucht wird, hält er inne: Schottland, Hebriden, Irland, ja, auf einer windumtosten, regengepeitschten Insel, dort, wo die Sonne nicht so recht scheinen will, dort sehe ich die Blasshäutige zu Hause. Ist wohl dem Ruf eines glutäugigen Italieners in den Süden gefolgt, diese Irin, und nun von ihm sitzen gelassen, auf einem namenlosen Hügel der Toskana, er ihrer überdrüssig, nachdem er sich nun auch einer rothaarigen Trophäe brüsten kann. Wie alt sie in ihrer Gutgläubigkeit wohl sein mochte? Geschätzte neunundzwanzig seit drei, vier überfälligen Jahren, auch wenn die vorwitzigen Sommersprossen ihr einen Hauch unbedarfter Jugendlichkeit zurückzugeben vermögen.

Zu einem Excuse me? setze ich an, der Höflichkeit halber, aber da überrascht sie mich, als sie wie ein sizilianischer Ziegenhirte murmelnd vor sich hin flucht, während sie in ihrer Tasche kramt, einer dieser unförmigen Taschen, weitläufiger und unergründlicher als der Wilde Westen. Und um sich die Suche zu erleichtern, stellt sie ungeniert eine Schachtel Tampons auf den Tisch, und danach eine Dose, die ich erst auf den zweiten Blick als Pfefferspray ausmache, und weiter flucht sie und kramt sie und flucht sie. Hier, Mädchen, nimm eine von meinen, weiß ich doch deine fahrigen Bewegungen zu deuten als jemand, der auch nicht die Finger von den Zigaretten lassen kann.

Tatsächlich, fließendes Italienisch in deinen verlegenen Dankesworten, wie nur ein Einheimischer es zu sprechen vermag, und manchmal rutscht dir ein sizilianischer Unterton dazwischen, auch wenn du ihn zu unterdrücken versuchst. Und kurz schießt dir verlegene Röte ins blasse Gesicht, als du mich noch um Feuer bittest – Maler müsste man sein, das perfekte Rot ließe sich in deinem Antlitz finden, in der spektralen Palette rotblonder Haarlocken, rotbrauner Sommersprossen und dem rötlichen Violett auf deinen Backen; und zu allem Überfluss im Hintergrund noch der Abendrotkitsch der untergehenden toskanischen Sonne.

Keine Sorge, du brauchst gar keine so ablehnend missmutige Miene zu ziehen, keine dummen Fragen werde ich dir stellen, schon gar nicht diese eine, die dir wahrscheinlich jeder stellt, der dich kennenlernt, nein, meine eigene Geschichte reime ich mir im Zusammenhang mit dir zusammen: Operation Husky, die Landung der Alliierten in Sizilien, und im Gefolge des unverwüstlichen Generals George Patton auf seinem unverwüstlichen Panzer auch der gutaussehende amerikanische GI mit irischen Wurzeln, mit den roten wuscheligen Locken und dem lebenslustigen Blitzen in seinen stahlgrünen Augen. Keine Dorfschönheit hat ihm widerstehen können, deinem Großvater, dem schönsten GI von Palermo bis Texas, und weidlich wusste er dies auszunutzen, von einem eroberten Dorf zum anderen, den halben italienischen Stiefel hinauf bis vor die Tore Roms: seine persönliche Rache an Mussolini und anderen Rassenwahnvorstellungen, und beeindruckend in ihrer Nachhaltigkeit, diese Rache, wenn selbst in dritter Generation es dir noch auferlegt ist, sie auszutragen.

Wie bitte, mit welchem Namen hast du dich gerade vorgestellt? Besonders rauschend wohl das Fest, auf dem deine Eltern ausgeglitten sind, als sie sich auf diesen Namen verschworen haben, wo mag das gewesen sein, Woodstock, oder noch abgefahrener, Burning Man? Jedenfalls als ein erlesenes Vergnügen stelle ich es mir vor, Boudicca, benannt zu sein nach einer keltischen Kriegerfürstin, die sich zweitausend Jahre zuvor so verwegen, so todesmutig und so vollkommen aussichtslos den Römern in den Weg gestellt hat, schlussendlich von ihnen zu Tode getrampelt. Ja, wenn du als junges Mädchen mit diesem Aussehen, dieser Herkunft und diesem Namen einen sizilianischen Schulhof überlebt hast, dann hast du deiner Namensvetterin alle Ehre gemacht, dann musst du ganz schön hart im Nehmen sein.

Paolo, ich habe dir Unrecht getan, der Abend beginnt unterhaltsamer zu werden als anfangs gedacht, und verzeih mir, denn du hast natürlich gewusst, dass dieses rotlockige Geschöpf meine Neugier wecken und mich den Ausblick auf die tausend Hügel der Toskana vergessen lassen würde. Und jetzt, wo du dieser zerknitterten sizilianischen Irin namens Boudicca einen Berg dampfender Pasta vor den Mund stellst, und ein Glas Weißwein dazu, ohne dass sie einen Blick in die Speisekarte geworfen oder eine Bestellung aufgegeben hätte, werde ich noch neugieriger, denn dazu kenne auch ich dich zu gut, Paolo, an die Saiten deiner Gutherzigkeit rührt diese Frau. Und wie sie die Pasta heißhungrig in sich hineinschaufelt, beweist, wie sehr sie dies zu schätzen weiß, und wie der Wein ihr die Zunge löst und sie sich alles von Seele schnattert, zeigt mir, Paolo, dass auch du auf meine Gutherzigkeit zählst, auf die Gutherzigkeit meiner Ohren.

Für das Feuilleton einer namhaften Mailänder Zeitung schreibst du also, Boudicca, und das Funkeln in deinen grünen Augen verrät mir, wie stolz du darauf bist, den steinigen Weg geschafft zu haben von einem sizilianischen Provinzblatt in das arrogante Mailand. Und noch mehr abenteuerlustiges Grün blitzt dir aus deinen Augen, als du erzählst, dass du gerade dabei bist, den großen Coup zu landen, das große Interview mit einem großen Schriftsteller, der allerdings auch darin groß ist, sich allen Interviews zu verweigern, ja, von dem man nicht einmal weiß, wo er sich seit dem letzten Jahrhundert herumgetrieben hat, von zeitgemäßen Fotos ganz zu schweigen. Und so verworren du mir auch alles erzählst, verstehe ich sie jetzt, die ganze Geschichte, die dich hierher verschlagen hat, als Ausgangspunkt dein Status als freie Mitarbeiterin bei dieser Mailänder Zeitung, von Artikel zu Artikel mit ein paar Euro abgespeist, zu wenig zum Leben und erst recht zu wenig zum Sterben.

Und dann der Tipp, aufgeschnappt vom Freund einer Freundin des Halbbruders einer Cousine, dass dieser geheimnisvolle Schriftsteller hier in der Gegend, hier in der schönen Toskana seine Zelte aufgeschlagen haben soll. Und da bist du in dein altersschwaches Auto gesprungen, Boudicca, und bist den weiten Weg bis hierher gefahren, aufs Geratewohl, mit nicht mehr als ein paar Hundertern in der Tasche, Vorschuss vom Chefredakteur deiner Zeitung, Almosen, die kaum für das Benzin gereicht haben. Zu groß ist die Verlockung gewesen, denn wenn du diesem großen Schriftsteller tatsächlich ein Interview abschwatzen könntest, würdest du den Paradiesvogel deiner innigsten Wunschträume abschießen, der da heißt: Festanstellung.

Tja, ist wohl nicht so glatt gelaufen wie erhofft, Boudicca, wenn ich mir dich so anschaue, hat wohl deine rostgeplagte Karre auf halbem Weg den Dienst versagt, hast du dich mit dem Daumen hoch am Straßenrand durchschlagen müssen, und das Geld ist inzwischen auch schon aufgebraucht, bist wohl froh, wenn die Bäckerin im Dorf dir mit mitleidigem Blick ein paar Brötchen zusteckt oder Paolo dir eben mit einem Teller Pasta aushilft. Und die letzte Nacht hast du wahrscheinlich in der Laube im Park über die Runden gebracht, noch ist das möglich, noch sind die toskanischen Nächte mild genug. Dennoch, von dem Schriftsteller nach wie vor keine Spur, keiner kennt ihn, einige wenige wollen ihn vor Jahren zwar gesehen haben, aber alles nur falsche Fährten, nichts als trügerische Sackgassen.

Und, wer ist denn nun dein auserwählter Schriftsteller, scheu wie ein Reh? Lachen muss ich, als ich den Namen des Gesuchten höre, tut mir leid, Boudicca, aber vielleicht hättest du für den Anfang einen leichter aufzustöbernden Künstler wählen sollen, Thomas Pynchon, zum Beispiel, oder vielleicht Banksy. Ist deiner nicht schon lange tot? Jedenfalls habe ich schon seit Jahren nichts mehr von ihm gehört, geschweige etwas Neues gelesen. Bitte fang jetzt nicht zu weinen an, Boudicca, vom anderen Tisch sehen sie mich schon so merkwürdig an. Ein Bild geben wir ab, als würde ich meiner etwas einfältigen Geliebten erklären, dass nun doch nichts aus der Scheidung wird: Die Kinder, das musst du verstehen, und das Haus gehört auch meiner Frau, ich weiß nicht, wie ich mir das alles leisten soll.

Lächle, Boudicca, ja, lächle wieder, und nimm es dir nicht so zu Herzen. Warum erfindest du es nicht einfach, dein großes interview, erzählen einem doch eh immer das Gleiche, diese Schriftsteller, von der großen Herausforderung gerade bei ihrem letzten Wurf, gleich Fußballern sind sie, aufgeregt und noch nicht zu Atem gekommen nach dem Spiel ihres Lebens. Aber verschwiegen darin, was ihnen die Schreiberei tatsächlich abverlangt, anfangs mag sie ja noch Vergnügen bereiten, aber dann entwickelt sie sich zur Qual, und zum Schluss artet sie nur in noch Schlimmeres aus, nämlich Arbeit. Und noch etwas, weil ich gerade so schön in Fahrt bin, hüte dich vor dem Nachlass, Boudicca. Alles, was nie zu einer Veröffentlichung getaugt hat und dem Künstler zu Lebzeiten nicht zu verbrennen vergönnt war, das findest du in einem Nachlass. Nichts als alte Skier im Keller, so ein Nachlass.

Jetzt habe ich dich also doch zum Lachen gebracht, Boudicca, und ein anerkennendes Nicken von Paolo habe ich mir damit verdient. Nein, Paolo, damit allein gebe ich mich nicht zufrieden, eine neue Flasche Wein stellst du uns auf den Tisch, ja, ja, du hast meine Handbewegung schon richtig verstanden. Und morgen werde ich es bereuen, dass ich zu schnell zu viel getrunken habe, aber du langst ja auch ganz schön zu, Boudicca, erweist deiner keltischen Herkunft als Kriegerfürstin alle Ehre, hier, nimm noch eine von meinen Zigaretten. Auf den Leim beginne ich dir zu gehen, und auch das werde ich bereuen, aber zugegeben, du spielst dich mit Geschick: einerseits deine kecke, vorlaute Art, andererseits etwas von treuherzigem Kindchenschema, wenn dir wieder die Röte in die Wangen schießt, so wie eben. Aber besonders bereuen werde ich, was mir jetzt über die Lippen kommt:

Überredet, liebe Boudicca, morgen machen wir uns mit meinem Wagen gemeinsam auf die Suche nach deinem Schriftsteller, wir werden ihn schon finden, irgendwo in den tausend Hügeln der Toskana – oder vielleicht einen Hügel mehr, nämlich den, auf dem sein Grabstein steht.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15130

 

Der ewig Reisende

Alte Wäscheständer, mein erster nachhaltiger Eindruck in dieser Wiener Wohnung, nachlässig in sich geklappt an die Wände gelehnt, schon lange haben sie keine Wäsche mehr gesehen, die ihnen zum Trocknen auferlegt worden ist, alte Wäsche, die ich verborgen in den hintersten Reihen des mächtigen Einbauschranks vermute, wahrscheinlich nur unpersönliche Wäsche, wie Bettlaken und Handtücher. Eine Durchgangsstation diese Wohnung, einem Bahnhof gleich, so ziemlich jedes mir bekannte Familienmitglied hat einmal hier gehaust, zum Durchschnaufen, Atem holen für einen neuen Sprung auf das Fließband des Leben. Und auch ich nicht davon ausgeschlossen, nur zu gut kann ich mich an meine paar Monate hier erinnern, damals, auf der Suche nach Asyl und Exil und Durchatmen, nach einem viel zu langen Durchrauschen von Gedächtnislücken, nach einem Leben, das es mich fast gekostet hätte. Und wie knapp ich damals davongekommen bin, ruft mir das flaue Gefühl im Magen angesichts dieser Mauern wieder ins Gedächtnis, trotz der langen Zeit nach wie vor nicht getilgt von der Flut inzwischen neu angesammelter Lebenseindrücke.

Jetzt habe ich sie also geerbt, diese Wiener Wohnung, fast zehn Jahre später, glücklich und unvermutet aus verworrenen Schicksalsfügungen heraus, und wie unvorbereitet ich darauf bin, macht mir die verlorene Geste bewusst, mit der ich nach einem der Wäscheständer fasse, der lieblos gegen ein Bild an der Wand lehnt, und mich nicht entschließen kann, wo ich ihn abstellen soll. Genauso, wie es mir an Entschlusskraft fehlt, was nun anzufangen, mit dieser Wiener Wohnung, sie zu vermieten, zu verkaufen oder wiederzubeleben, angesichts all des wertlosen Plunders aus einem vergilbten Jahrhundert, wahllos zusammengestellt, ein paar verwaiste Betten hier, ein abgesessenes Sofa da, abgesessen von Hintern, die keinem Lebenden mehr zuzuweisen sind, daneben ein zerkratzter Schreibtisch, der Rest abgeräumt von zu vielen Durchgangsgästen, von Fernseher oder anderer Form von Abendunterhaltung ganz zu schweigen.

Dennoch, ein Hauch von Gemütlichkeit hat sich in der Ecke des Wohnzimmers erhalten, aus der ich noch immer die glaszarten Klänge einer Zither hören zu können vermeine, auf der mir meine Großmutter vor mehr als einem Vierteljahrhundert vorgespielt hat: „Harry Lime’s Theme“ an diesem stillen Novemberabend in einem späten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts, als Wien sich noch immer in Grau und Schwarz wie aus dem „Dritten Mann“ geschnitten gezeigt hatte, nach wie vor nicht erwacht aus seinem albtraumhaften Dornröschenschlaf. Als man in dieser Stadt noch mit einem Schaudern über den Rücken von dem Gefühl heimgesucht war, dass sich hier das Leben anschickte, diejenigen sich zu holen, für die bislang nicht einmal der Tod Interesse gezeigt hatte.

Und mit einem Seufzer wird mir bewusst, vor der Entscheidung zu stehen, mich in den Strudel weiterer trübsinniger Stimmungen ziehen zu lassen, in Schichten immer tieferer Melancholien – oder doch dein Paket zu öffnen, tesoro, mein Schatz, das stumm auf dem angestaubten Esstisch vor mir liegt. Dieses mit Aufklebern eines Schnellzustelldienstes bedeckte Paket, dem ich seinen langen Weg über die Alpen, aus dem fernen Italien ansehen kann, leicht abgestoßen der Karton in der linken, unteren Ecke, offensichtlich mit einem nachlässigen, fahrlässigen Wurf auf die Ladefläche eines Kleinlasters befördert. Dein Paket, mia cara, von dem ich zwar nicht weiß, was seine Schale im Konkreten umschließen, aber ich mir ausmalen kann, was aus seinem innersten Inneren auf mich zuströmen wird: Verharren in Ungewissheit, Sehnsucht, Verständnislosigkeit, Anklage, wie alle deine Pakete, wie alle deine Briefe, die du mir an meine jeweiligen Aufenthaltsorte bisher nachgeschickt hast.

Und mit einem weiteren Aufseufzen fasse ich jetzt nach dem Paket, ziehe und reiße ich an seiner Hülle aus steifem Karton, an den widerspenstigen Klebebändern, meine Ungeschicklichkeit verfluche ich, aber nur um Unwilligkeit handelt es sich, weiß ich doch, dass mir sein Inhalt wieder einen Stich ins Herz versetzen wird, wie immer, mia carissima, so gut wie du mich kennst. Endlich will es mir gelingen, den Mund des Pakets aufzureißen, mit der Hand lange ich hinein, mit unbewusster Vorsicht, als könnte es noch nach mir schnappen, bekomme seinen Inhalt in seinem Schlund zu fassen, etwas Kompaktes, etwas im Ganzen, etwas Rechteckiges, was ich da ans Licht zerre:

Ein Fotoalbum, ganz in der Machart des letzten Jahrhunderts.

Tatsächlich, bohrend tief der Stich ins Herz, als mir beim Aufschlagen des Albums bewusst wird, welchen Preis du dieses Mal bezahlt hast, welch unumkehrbares Risiko du dieses Mal eingegangen bist, mio amore, denn glückliche Kindheitsfotos lachen mir entgegen, die originalen Bilder aus deiner Kindheit, aus deiner stolzen italienischen Heimatstadt. Agfacolor, der leicht überbelichtete Stich der Farben auf den Fotos, so wie sie überhaupt waren, leicht überbelichtet die hoffnungsfrohen Farben der Siebziger, ganz im Gegensatz zu dem feigen Pastell der beiden vorangegangen Jahrzehnte. Nur das Schwarz so, wie Schwarz auch in Wirklichkeit damals war und es immer noch ist, das Kohlrabenschwarz in deinen Augen, im Schwung deiner Augenbrauen und das Kohlrabenschwarz in den Locken deiner Haare, schon damals als Kind, tesoruccio.

Auf eine italienische Zeitreise entführst du mich, auf der Rückbank der legendären Alfa Romeo Giulia deiner Eltern, die mit den Doppelscheinwerfern, Baujahr ´70, schätze ich, um ein vom Smog schwarz getünchtes Kolosseum fahre ich mit dir in deinen Urlaub, und besonders schief erscheint uns der Turm von Pisa, aus Kinderperspektive, und die einsetzende Flut umspült unsere Sandburg am toskanischen Strand, mit dem Einwickelpapier der damals beliebtesten Eismarken haben wir sie beflaggt. Und auf vielen der Fotos trägst du so hinreißend ein einfaches glattes weißes Kleid mit satten roten Punkten, aber noch viel hinreißender dein vergnügtes Kinderlachen, aus dem später einmal dein eigentümliches, einzigartiges Lächeln geboren werden wird.

Und schmuck auch dein Elternhaus mit Vorgarten, mia cara, das auf so vielen deiner Fotos den alles zusammenhaltenden Hintergrund bildet, immer in einladender Frische getüncht das Haus, und hingebungsvolle Pflege ist dem Garten anzusehen. So ganz anders als der hastig auf einen Acker hingeworfene, in Beton geworfene Wohnblockwürfel aus der Nachkriegszeit, in dem ich aufgewachsen bin, ein Wohnblock in einer Vorstadt zu einer Stadt, der das Schicksal auferlegt ist, Bindeglied zwischen zwei bei weitem bedeutenderen Städten zu sein, also ein Wohnblock in einer Vorstadt einer Vorstadt. Der erbaut im billigen Nachkriegsbeton schneller feucht ergraut ist als jedes andere Haus, und der inzwischen einer Autobahnumfahrung gewichen ist, also mit der Zeit gegangen ist, im wortwörtlichen Sinne, von ihr plattgemacht und ausradiert. Kein Foto könnte ich dir von ihm zeigen, tesoro, denn sein feuchtes Grau ist von niemanden jemals einer Aufnahme wert befunden worden, nur zu der Kurve in der Autobahnauffahrt könnte ich dich führen, dort wo der Wohnblock sein trostloses Dasein abgesessen hat, eine Achtzigerbeschränkung ist ihm als Denkmal geblieben.

Ähnlich meiner Familie, zusammengewürfelt aus den Resten einer aus der Zeit gefallenen k. und k. Monarchie, deren Vergangenheitsbewusstsein sich spätestens mit drei Generationen in einer böhmischen Schuhfabrik, einem ungarischen Steppenstreifen oder einem galizischen Grenzdorf verliert. Und beim Aufblitzen in der Landschaft der Zeit ist es für meine Familie geblieben, in unserem Wohnblock in der Vorstadt einer Vorstadt, denn mittlerweile auch ihre Kinder, meine Geschwister entschwunden in den Ecken Europas, den einen verschlagen auf eine feuchte Insel mit ungenießbarem Essen, den anderen in ein Donautal, dessen einzige Abwechslung zur geistigen Einöde die alljährliche Überschwemmung bringt; und von meinem mir abhandengekommenen Sohn ganz zu schweigen, Norwegen, sein erklärtes Wunschziel, als wir uns vor Jahren das letzte Mal gesprochen haben. Und mich, zu was mich dies alles gemacht hat, deine ewige Frage, mia cara carissima, zwischen all deinen Zeilen, all deinen Briefen und Paketen?

Ja, mit der Zeit habe ich mich gewandelt, vom ewig an der Theke Klebenden, einer Theke so lange wie die Einsamkeit, zum ewig Reisenden, il Viaggiatore, der nunmehr seine Theken wie die Socken wechselt, Stadt für Stadt.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15124

Zwiespältig, sein Lächeln

Ein Tisch, irgendwo in Italien.

„Zu welch Unsinnigkeiten man sich doch hinreißen lässt, aus Gründen der Einsamkeit –!“

Was meinen Sitznachbar zu einem Lächeln veranlasst, Alessandro an seinem italienischen Stammtisch. Fahr fort, deutet still seine Handbewegung.

„– sogar deine Sprache versuche ich mühsam zu erlernen.“

Amüsiert hebt er nun die Augenbraue, dieser Alessandro, im Schweigen lässt er mich sterben.

„Du hast wohl nie das Bedürfnis verspürt, eine andere Sprache zu erlernen, Alessandro, nicht wahr?“

Zuviel Lärm und Aufruhr beherrscht mittlerweile unseren Tisch, als dass ich eine Antwort seinerseits verstehen könnte, eine Geste begleitet von seinem Lächeln beantwortet mir die Frage, seine Geste über den Tisch weisend, an dem ein einziges Kommen und Gehen herrscht, sei es eine verflossene Freundin oder eine Schwester dritten Grades, sei es der taube Opa aus Sizilien oder die Mailänder Tante mit dem unvermeidlichen Pinscher, immer Neues gilt es zu besprechen und zu beschwätzen, hier an diesem überlauten Tisch.

„Hätte ich dich doch nie erfunden, Alessandro“, murmle ich mich geschlagen gebend, den Kopf gesenkt vor mich hin: nicht dich, nicht diesen Tisch, nicht all diese Leute, zu wohlgelaunt, so nahe um mich. Und als hätte er meine Worte hören können, fasst Alessandro mich an der Schulter.

„Nicht doch, du hast mich nicht erfunden“, beschwichtigt mich sein Zuraunen in mein Ohr, „du hast nur etwas zu viel getrunken.“

„Vielleicht haben wir alle etwas zu viel getrunken“, entrinnt mir, als wollte ich diesem Abend zu vieler Willkür noch etwas Versöhnliches abringen.

Aber nun ist es entschwunden, das Lächeln aus Alessandros Gesicht, ernst und kalt seine zuvor noch so belustigten Augen. Entgangen ist mir die Bewegung im Augenwinkel, vielleicht ein angedeutetes Schnippen mit seinen Fingerspitzen, das den zuvor noch so bewegten Tisch schlagartig innehalten lässt. Still ist es mit einem Mal um uns, eingefroren die Gestalten zu Schemen, die Gesichter zu offenen Mündern erstarrt.

„Sieh dich um, Fremder“, durchschneidet Alessandros Stimme die gemäldehafte Stille, „sieh ihn dir an, diesen Kreis der ewig wiederkehrenden Leute, diesen Kreis der ewig kreisenden gleichen Worte, heute hat jemand geheiratet, und heute ist jemand gestorben, morgen jemand schwanger und morgen eine andere geschieden.“

Zurückgekehrt sein Lächeln, aber es hat nicht mehr die sanfte Subtilität von zuvor, süffisant gekräuselt sind seine Lippen jetzt.

„Und aus diesem Grund bist du der Erfundene, Fremder aus dem Norden. Als Gegengewicht zu all dem Inzest, der mich hier umgibt.“

Wach werde ich an dieser Stelle, nicht zu Missbrauch aus so nichtigen Beweggründen bereit. Zu sehr aus Fleisch und Blut fühle ich mich, als dass ich mich zu einem bloßen Gedankenspiel eines Alessandro erniedrigen zu lassen bereit wäre.

„Unmöglich!“ schreit es aus mir aus Protest, „Nur zu gut, in aller Deutlichkeit kann ich mich an die mühselige Fahrt über die Alpen hierher erinnern, an all die Hitze und den Schweiß. Unmöglich, dass du, Alessandro, der nie einen Schritt vor deine Stadt setzt, dies alles in mich hineinerfinden hättest können.“

Jetzt ruht seine Hand nicht mehr auf meiner Schulter, angewachsen an ihr scheint sie zu sein, so schwer lastet sie auf mir.

„Wo du doch mit allem Nachdruck von dir behauptest, nicht erfunden zu sein, wer bist du dann, Fremder mit dem unaussprechlichen Namen?“

Und so ziehe ich das mir selbst auf den Leib geschneiderte Manifest aus dem Gedächtnis, Wort für Wort, so wie ich es mir jenseits der Alpen steif vorübersetzt habe:

„Im wirklichen Leben arbeite ich als Softwareentwickler, beschäftige mich also mit virtuellen Sprachen, programmiert zwischen Mensch und Maschine. Im privaten, intimen, also virtuellen Leben widme ich mich der Literatur, also wirklichen Sprachen, gesprochen von Mensch zu Mensch.“

Und nun ist es spöttisch geworden, Alessandros Lächeln, widerlich spöttisch.

„Schön gesprochen, Fremder. Aber auf mich wirkst du, als wolltest du die beiden tauschen, dein reales Leben gegen dein virtuelles. Also doch nur alles erfunden?“

Und als hätte er alldem nichts mehr hinzuzufügen, setzt mit einem Mal der Trubel an diesem Tisch wieder ein, das lärmende Rauschen mit all seinem Geschnatter und Geschwafel, Gelächter und Prostest, hier ein anklagender Zeigefinger, dort eine entschuldigende Geste, rechts von mir der Griff nach der Weinflasche, links wird Brot gebrochen.

Verdammt fühle ich mich, einerseits dazu verdammt, jedes noch so sinnentleerte Wort an diesem Tisch verstehen zu wollen, und andererseits dazu verdammt, den Stummen abgeben zu müssen, nicht mächtig mit meinem hilfsbedürftigen Italienisch, in diesem reißenden Strom viel- und schnellgesprochener Worte mithalten zu können.

„E tu? Chi sei tu? Che fai tu?“

Und, wer willst du schon sein, Alessandro? Wie eine Anklage, wie eine Bedrohung fauche ich ihm dieses „fai“ verächtlich entgegen. Aber mittlerweile ist sie schon gekippt, die Sprache an diesem Tisch, Furlan vermag ich aus ihr herauszuhören, diesen mysteriösen rätoromanischen Dialekt, den niemand versteht, der nicht in ihm geboren ist, und der mich nun erst recht stumm und taub zurücklässt, mich erst recht dazu verdammt, den Fluss der Worte verständnislos an mir vorüberziehen zu lassen.

Zur vollen Stunde schlägt der Glockenturm nebenan, und es ist mir, als sei eine Schar Fledermäuse aus ihm hochgestoben, bereit zur nächtlichen Jagd, aber als ich meinen Blick zu Erden senke, ist der Spuk um mich vorbei, leergefegt der Tisch, an dem ich sitze, wie überhaupt alle Tische rund um mich.

Nur Paolo, der Schankwirt, steht im Türrahmen, und wahrscheinlich hat er mich schon seit geraumer Zeit im Blick, denn nun ist es an ihm, ein subtiles Lächeln auf den Lippen zu tragen.

„Piano, piano.“

Nur ruhig Blut, mein Freund, Paolos Worte, mit denen er auf mich zukommt und mir die Hand beruhigend auf die Schulter legt. Und dann reicht er mir die Rechnung – hoch ist sie, als hätte ich eine ganze Sippe zum Abendmahl geladen.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15113

Straßengedanken

Halbgedanken, Luftgedanken, Dunstgedanken, mehr an Angedachtem will mir nicht durch den Kopf gehen, hier auf diesem pfeilgeraden Autobahnstrich knapp hinter Villach, diesem sonnenüberfluteten Band Asphalt im Niemandsland vor der Grenze zu Italien. Nicht mehr als ein Gedankenrauschen, das mich durchflutet, eingeharkt den Tempomaten auf milde Hundertdreißig, geistig zu nichts anderem angespannt, als ein Lenkrad schnurgerade in der Spur zu halten.

Spurgedanken, Schnurgedanken, die sich wie Perle an Perle reihen, Erinnerungsperlen an ähnliche Straßenfahrten, denn es ist wohl der Einfall des Sonnenlichts, die Art, in der es auf dem hitzigen Asphalt widerprallt, die Frequenz, mit der es durch die Windschutzscheibe bricht und mich im Augenwinkel blendet, was mich in eine Erinnerung zurück nach Sizilien wirft, die Strecke Palermo – Catania durch einsam hügeliges Hinterland einige Wochen zuvor.

Non sono stato io – das war ich nicht!“

Blitzgedanken, Schockgedanken, Schuldgedanken durchfahren mich, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke. Zugegeben, werte Autovermietung, das mit den Stoßdämpfern, das nehme ich auf meine Kappe, in bemitleidenswerter Erinnerung ist er mir noch, der zartbesaitete Kleinmietwagen, konzipiert für feingliedrige Hausfrauenhände auf dem Weg zum nächstgelegenen Supermarkt, sein Aufstöhnen der Stoßdämpfer ist mir noch im Ohr, gleich einer Elefantenfamilie angesichts des rettenden Wasserlochs nach Durchqueren der Wüste. Rauch und Dampf vermeinte ich damals aus den Seitenkästen der Radaufhängung aufsteigen zu sehen, nachdem ich den Wagen schonungslos über die Rippen der Autobahn Palermo – Catania und zurück gejagt hatte, gnadenlos durchgeholpert war ich, die Nadel nicht unter hundertvierzig, hundertfünfzig. Als Bandscheibenvorfall hatte ich den Wagen damals der Autovermietung zurückerstattet, unbrauchbar für den Nachmieter, wahrscheinlich nun statt meiner zur Verantwortung gezogen.

Aber nicht das mit der Brücke, das bin nicht ich gewesen, dass sie ein paar Tage nach meiner Überfahrt in sich eingeknickt ist. Verstörte Gesichter von Brückeningenieuren, Brückenstatikern, Brückenbegutachtern habe ich noch vor Augen, abgebildet in der Internetzeitung, in ihrem Rücken der geborstene Stahlbeton, die in die Höhe gereckten nackten Stahlstreben, die in sich verkeilten Straßenstückplatten inmitten der fröhlichen Frühlingshügel Siziliens. Selbst den Verkehrsminister hatten sie eingeflogen, aus dem fernen, ansonsten mit sich selbst beschäftigten Rom, vor einem geschundenen Pylon hatte er salbungsvolle Worte des Trostes, der Hoffnung und des Wiederaufbaus für die Brücke übrig gehabt, Worte, die der Frühlingswind, sanft das Mikrofon umspielend, sogleich ins Reich des Vergessens getragen hatte – wie auch immer, das bin ich nicht gewesen, das mit der Brücke.

„Das war ich nicht, das war schon so.“

Fließend der Gedankenübergang zum Lieblingssatz meines Sohnes, seine Satzperle gegenüber einer von ihm hinter sich gelassenen Sintflut, und kurz fällt mein Blick hinüber auf den Beifahrersitz, der ihm auf so vielen Fahrten mit mir sein Reich gewesen ist. Dieses Mal ist er allerdings leer, der Sitz, auf der jetzigen Fahrt, auf dem schnurgeraden Straßenabschnitt knapp hinter Villach, knapp vor Italien. Sein Beifahrertum hat er dieses Mal abgesagt, aus Pubertätsgründen, denn wer will schon sich mit fünfzehneinhalb im Beisein seines skurrilen, aus der Zeit gefallenen Vaters ertappen lassen, in Fleisch und Blut, in Zeiten peinlich überraschter Schnappschüsse im Internet? Was soll‘s, schon als Kind die Undankbarkeit schlechthin als Beifahrer gewesen, Müdigkeit, sein erster Einstiegsgedanke ins Auto immer schon gewesen, kaum angegurtet schon entschlafen, kaum dass mir die Zeit geblieben ist, das Auto anzulassen. Verziehen sei dir, mein Sohn, ist er mir wenigstens erspart geblieben, der Lieblingsspruch deiner Altersgenossen, beim Halt an der ersten Ampel:

„Sind wir schon da?“

Achtung! Ein Ordnungsgedanke, ein Aufmerksamkeitsgedanke, ein Habachtgedanke, der mich wachruft, aus dem Bann des Tempomaten und meiner an ein schnurgerades Lenkrad gehefteten Hände, da ist doch etwas gewesen, rechter Hand von mir, ein Verkehrsschild. Von einer Zählstelle hat es gesprochen, mich ermahnt, nicht die Spur zu wechseln, damit hier gezählt werden kann, automatisch wohlgemerkt, der Autodurchfluss, das sogenannte Verkehrsaufkommen, das, wenn ich unbedarft vor mich und durch den Rückspiegel hinter mich blicke, sich allein auf mich beschränkt. Mit dicker Sperrlinie auf dem Asphaltband mahnt sie nochmals zur Aufmerksamkeit, die automatische Zählstelle im Laufe des nächsten Kilometers.

Daseinsgedanken, Existenzial- und Sentimentalgedanken füllen meinen Kopf, denn schwermütig, so male ich mir den Zählstellenbeauftragten aus, wenn er wöchentlich mit einem orangegetünchten Einsatzwagen der Straßenwacht auf dem Pannenstreifen entlangtümpelt, auf dem Weg zu seiner Zählstelle, ebenfalls in Orange ein eintönig kreisendes Warnlicht auf dem Dach über seinem Kopf, und auf der Ladefläche neben unzähligen anderen Utensilien der unvermeidliche Schneebesen, hochgestakt wie eine Fahne. Mittlerweile ein kleines Bäuchlein angesetzt, so stelle ich ihn mir vor, den Zählstellenbeauftragten, wie er vor dem Zählstellenkasten hält und ihn entriegelt, ihm ein Kästchen voll angesammelter Daten entnimmt, und dann steckt er etwas in den Kasten zurück, ein frisches Kästchen, das nun Daten für die nächste Woche sammeln darf. Ja, damals in den Achtzigern, da war das noch etwas gewesen, der letzte Schrei der Technik, diese vollautomatische Zählstelle, besonders seine Vollautomatik, vorbei die Zeiten verschmierter Strichlisten von Hand. Und jetzt? Kontrolldaten, erklären sie ihm seinen archaisch analogen Aufwand, Kontrolldaten zu Datenfluten, die Satelliten in Blitzeseile aus dem Weltall herabschießen, genauer, akkurater, keine die Autobahn querende Ameise, die ihnen entgeht. Alles in allem keine Karriere, deren Früchte mein Zählstellenbeauftragter eines Tages an seinen Erstgeborenen würde weiterreichen können.

Und den Schalk im Nacken bin ich nun erst recht versucht, mich in Schlangenlinien durch diese Zählstellenpassage zu winden, trotz aufwarnender Sperrlinie. Wie wird der auf Automatik geeichte Zählautomat wohl auf mein aufsässiges Mäandern reagieren, wird er mich doppelt, vierfach, achtfach ankreuzen? Oder noch verwegener, nur halb, zu einem Viertel, zu einem Achtel? Oder noch schlimmer, lächle ich vor mich hin, wird am Pannenstreifen wie ein Pappkamerad ein Verkehrspolizist mit Kelle aufklappen, der zu allem Überfluss auch noch mein schwächelndes Rücklicht links hinten entlarvt?

Kreisgedanken einerseits, die sich wohlgefällig abrunden, deren Gedankenkettenglieder sich in sich schließen, und andererseits Scherengedanken, die, bereit zum Ausscheren, mit ihren Scheren nach weiteren Gedanken schnappen, um sie in den Kreis ihres Einflussbereichs zu ziehen, immer tiefer lullt es mich in Gedankenwelten so vieler abgefahrener Straßen, jeder Straßenmeter mit einem Straßengedanken behaftet, der noch daran klebt, wenn ich ihn wieder abfahre. Einen neuen, reiferen Gedankensplitter klebe ich dann hinzu, in den teerigen Asphalt, auf dass er dort haften bleibe, bereit zum Aufklauben bei der nächsten Durchfahrt.

Und an dieser Stelle kleben sie im Dutzend, hier auf dieser endlos zeitlosen Geraden dieses Autobahnabschnitts knapp hinter Villach, knapp vor der Grenze zu Italien, so oft bin ich hier durchgefahren, wie ein treuer Pilger. Zu einem schweren Gedankentropfen haben sie sich zusammengeklebt, teerig wie der Asphalt. Und in diesem Tropfen des Stillstands fühle ich mich gefangen, keine zwei Kilometer vermeine ich auf diesem Autobahnband im Niemandsland während der letzten gefühlten halben Stunde hinter mich gebracht zu haben, im unendlichen Fluss von Halbgedanken und Gedankensplittern.

Zurückversetzt in eine ähnliche Gedankenblase wähne ich mich, zurück an den langen Tisch einer Abendgesellschaft unter freiem Sternenhimmel, umtönt vom Geklirr sich zuprostender Gläser und dem Klappern der Gabeln, dem Schwätzen der Alten und dem spitzen Lachen der Frauen. Und dann stimmen die Jungen die Gitarren an, stacheln sich gegenseitig zu immer steileren Kadenzen hoch, und die Mädchen drehen sich im Rausch der Musik, ihre Hüften schwingen in der Trance des Tanzes, und mit einem vergessenen Lächeln verfolge ich das Schauspiel heraus aus einem Tropfen stillgewordener Zeit. Genauso fern und vergessen auch hier zwischen Villach und Italien der Gedanke an ein Ankommen, an das Erreichen meines Ziels, was auch immer es gewesen sein mag, ob Udine, Triest, Venedig oder gar ein entlegenes Ravenna, auf Wesentlicheres hat sich all meine Gedankenkraft konzentriert, einzig und allein dem Dazwischen gilt jetzt meine Aufmerksamkeit.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15115

Vom mangelnden Gespür der Basler für die Feinheiten des Wiener Idioms

Vor ein paar Tagen hab ich die Marta getroffen auf der Thaliastraße. Schräg, sie nach so langer Zeit zufällig wiederzusehen und noch schräger, dass wir uns gleich angesprochen haben, denn eigentlich hätten wir mit gesenkten Köpfen aneinander vorbeirasen sollen, ohne uns umzudrehen, bei unserer Vergangenheit.

Aber offenbar verbinden nach einer gewissen Zeit böse Erinnerungen genauso wie gute, und wir sind dann gleich ins Weidinger auf einen Kaffee. Als wir dann eh gleich Bier getrunken haben, war auch bald alles von damals verziehen. Das war leicht, weil wir heute sagen können, das waren nicht wir, das waren die damaligen Umstände. Diese Umstände waren – wie soll ich sagen, zukunftsweisend: kein Job, kein Plan, keine Wohnung, wenig Schlaf, dafür alles, was einem den Verstand rauben kann. Insofern gutes Training für unser Prekariat heute. Ende der 90er hörte ich dann, dass die Marta sich den Tim geangelt hat, einen von diesen „überaus erfolgreichen IT-Managern“, wie es damals in den Magazinen immer hieß. Der wusste privat ihre Qualitäten als Damen-Catcherin und beruflich die als Hobby-Hackerin zu schätzen, nahm sie gleich mit nach Basel wie eine originelle Trophäe und lebte da mit ihr in einer Art offenen Beziehung. Zum ersten Mal hatte die Marta eine fixe Adresse und ein sorgenfreies Leben.

Ich frage mich nur, wie sie das all die Jahre ausgehalten hat. Weil, zum Beispiel der Comic-Andi – der heißt so, weil er mit vierzehn in eine Buchhandlung eingebrochen ist, um die Prachtausgabe von „Zettel’s Traum“ vom Arno Schmidt zu klauen, bloß um dann beim intensiven Studium von „Wonder Woman“ in der Comicabteilung erwischt zu werden – der Comic-Andi hat das jedenfalls auch nicht ertragen, das Butterseiten-Leben, als er auf einmal der große Boss vom Fahrradbotendienst war, mit unendlich viel Geld, oder mit dem, was wir auch heute noch dafür halten würden, wie ich fürchte. Das hat ihn dann, das ist jetzt meine Theorie, psychisch enorm belastet, einfach weil er Erfolg nicht gewohnt war. So belastet, dass er hingegangen ist und die Scheibe vom Juwelier in der Herrengasse eingeschlagen hat – und dann stehen geblieben, bis die Polizei kam.

Also, das mit dem Basler Luxusleben als IT-Promi-Begleitung, dass das jetzt vorbei wäre, hat mir die Marta im Weidinger erklärt. Sie lebe jetzt wieder in Wien und zwar von der Sozialhilfe. Das hat sie so richtig mit Stolz gesagt und mir ihren neuen Krankenkassen-Kunststoff-Schneidezahn präsentiert. Den hätte ihr der Tim auch nicht bezahlen wollen, nachdem er sie rausgeschmissen habe. Aber sie hätte ohnehin genug gehabt von diesem Calvinisten-Bobo und der ganzen Spießer-Schweiz, dort würde ja die Caritas sogar den Obdachlosen nur Anzug und Schlips aushändigen. Auf meine Frage, wieso sie denn einen neuen Schneidezahn gebraucht hätte und wieso sie der Tim denn rausgeschmissen hätte, hat sie mir dann ungefähr Folgendes erzählt:

Vergangenen Oktober erhält der Tim den Auftrag, das Image seiner Firma wieder mal ordentlich aufzupimpen. Dem fällt aber nichts Gescheiteres ein, als ausgerechnet die Marta nach einer Idee zu fragen und die redet ihm eine mehrtägige LAN-Party ein. Aus Nostalgie wollte sie die, hat sie mir erklärt. Solche LAN-Partys sind ja jetzt wirklich nicht mehr der heißeste Scheiß. Seit es diese fetten Internetverbindungen gibt, braucht man ja kein lokales Netzwerk mehr und außerdem, hunderte Nerds auf Speed, die schweigend vor ihren Monitoren sitzen und sich gegenseitig in digitalen Blutbädern hinmetzeln: Party? Echt jetzt? Andererseits, an den Börsen geht’s schon lang so zu und richtig out sind die auch nicht. Also, warum nicht wieder mal eine LAN-Party?

Den Iro hochtoupiert und auf Hochglanz gewachst, ausgestattet mit ihrem Laptop – Uncle Sam (alt aber aufgerüstet) –, Schlafsack, Isomatte, diversen Kabeln etc. wird die Marta vom Tim, der gleich zu einem wichtigen Termin weiterfährt, vor einer aufgelassenen Lidl-Halle in der Basler Vorstadt abgesetzt. Am Eingang zeigt sie wichtig ihre Freikarte, und weil nicht halb so viele gekommen sind wie erwartet, hat sie es echt easy einen perfekten Tisch zu erobern, mit genügend Raum unter der Platte, zum zwischendurch Schlafen. Man sieht: Profi, die Marta.

Alles angesteckt und hochgefahren, merkt sie, dass es keine LAN-Verbindung gibt. Sie sieht sich um und tatsächlich, die wenigen Anwesenden spielen nur mit sich selbst – um jetzt nicht das von Marta verwendete Verb zu gebrauchen.

Blutjunge Wichtigtuer, die mit Orgateam-Schildchen verziert herumlaufen, geben nur die üblichen Antworten. Es tue ihnen leid, blabla, technische Panne, blabla usw.

Als das eine Weile so geht, spürt die Marta, sie kriegt wieder ihre Wut und um das zu vermeiden, geht sie sich ein Bier holen, obwohl sie Tim zuliebe eigentlich nichts mehr trinkt. Andererseits ist genau der mit seiner schlechten Vorbereitung schuld an ihrer aufsteigenden Wut und so ist das dann wieder voll okay.

Dabei stellt sich aber heraus, dass es in dieser elenden Lidl-Halle nicht nur kein LAN, sondern auch kein Bier in Halbliter-Bechern gibt. Nur in Viertelliter- zum Preis von Halbliter-Bechern. Dafür Rauchverbot. Ihre aufsteigende Wut schlägt um in ergreifende und das bedarf sofortiger Sedierung. Etwa acht Viertelliter-Becher später zieht sie durch die Spieltische und sucht Verbündete gegen diese „Oaschpartie“: „Geh Oida, wos soi des füra LAN-Party sein, ohne LAN? Und tschuldige, wos soi des füra Bier sein, in an Zahnputzbecha?“ und dergleichen wird von der nichtrauchenden Jeunesse dorée Basels und Umgebung natürlich nur als bedrohliche Lautwolke begriffen, vor der sie sich instinktiv wegduckt. Marta versucht es mit gesteigerter Ausdruckskraft und wird dabei immer rüder, aber diese „spielsüchtigen Zombies“, wie sie sich ausdrückt, gehen auf ihre durchaus berechtigte Kritik der „Oaschveranstaltung“ einfach nicht ein.

Aus einigen herablassenden Erkundigungen, ob sie denn nicht des Englischen mächtig sei, folgert Marta schließlich, dass hier wieder diese verdammte Sprachbarriere vorliegen müsse. Sie weiß: unüberwindbar. Immer wenn sie ein wenig getrunken hat, klebt sie an ihrem Wiener Idiom fest wie an einem Fliegenfänger, und das, obwohl sie in ihrem Kopf auschließlich reinstes Hochdeutsch denkt, sagt sie. Daraufhin, und weil sie nur noch grummelnden Groll in sich verspürt, beschließt sie, den Aufruhr aufzugeben und bloß zweckfrei pöbelnd durch die Tischreihen zu ziehen – l’art pour l’art sozusagen.

Dummerweise wird jetzt das Orga-Team auf Martas Treiben aufmerksam. Dieses Orga-Team ist zuständig für eh alles und besteht aus unbezahlten Informatik-Studenten, denen mit mehr oder weniger leeren Versprechungen ein ebenso unbezahlter Praktikantenjob in Tims Firma in Aussicht gestellt wurde. Ein Vorgehen, das auf Marta zurückgeht, welche weiß, dass derlei Vorschläge zur Kostensenkung ihren Kontostand erhöhen. Dieses zweifelhafte Personal also sendet einen Boten, der sie auffordert – Marta kann es gar nicht fassen – sowohl das Stänkern als auch das Saufen und Rauchen umgehend zu unterlassen. Ein Ultimatum! Sofort beginnt ihr Groll wieder zu grimmen. Sie sieht sich nach Bekannten aus der Firma um, die ihren Rang bestätigen könnten, nur, eben aufgrund ihres Vorschlags wurde von der Firma selbst niemand zur LAN-Party abgestellt und freiwillig ist offenbar nur sie hier, und sie gehört nicht zur Firma, jedenfalls nicht offiziell. Marta ist daher gezwungen, erneut auf ihre Doppelstrategie der Selbstberuhigung zurückzugreifen: Sie beschleicht in einem unbeobachteten Moment die Bar, bestellt vier dieser Zwergenbiere auf einmal und erledigt blitzartig davon zwei noch während des Zahlens. Nun, diese beiden kann ihr schon mal keiner mehr nehmen und versetzen sie außerdem in die Lage, ihre Tischgespräche fortzusetzen. Des Ultimatums wegen nimmt sie sich aber diesmal vor, nicht lauthals zu stänkern, sondern nur mäßig zu mosern.

Leider muss sie dabei irgendetwas falsch gemacht haben, denn noch während der allerersten Moserrunde wird sie von gleich vier Orga-Kräften bedrängt: einem Mädchen und drei, wie sie findet, nicht sehr attraktiven Burschen. Zwei davon packen sie unter den Armen und schleifen sie rücklings zur Tür. Der Rest läuft im Gleichschritt, wie Marta sich wohl einbildet, nebenher. Ihr Protest, gar nicht gestänkert, sondern eh nur gemosert zu haben, erzielt dabei keinerlei Wirkung. Das ist es eben wieder, dieses mangelnde Gespür der Basler für die Feinheiten des Wiener Idioms, denkt Marta während des geschliffenen Abgangs und beobachtet, wie ihre Doc-Martens immerwährende Streifen über den Estrich ziehen. Sie schafft es aber – in Sorge, sie könnten verschüttet werden – die zwei restlichen der teuer bezahlten Biere auszutrinken, von denen sie noch je eines in der Hand hat. Ein junger Typ sieht ihr nach. Es ist ausgerechnet der Laurin, zwar ebenfalls ein gekeilter Student, aber, wie Marta findet, einer der wenigen Hoffnungsschimmer hier. Der sieht ihr jetzt zu, wie sie sich, während sie rausgezogen wird, gleichmäßig mit Bier überschüttet, weil leicht ist das nicht, so zu trinken. Peinlich, den hat sie doch gerade noch angebraten, indem sie ihn auf ihre besonders hohe Position hier hinwies, denkt Marta und findet Laurin scharf. Sie weiß, dass das daran liegt, dass sie alle scharf findet, die jung, blond und vor allem schlank sind, und sie ist nicht gerade stolz darauf. Aber sexuelles Begehren ist eben keine Aquarell-Ausstellung, kein Hegelseminar und auch kein Töpferkurs. Während Marta so über die Attraktion der Gegensätze sinniert, wird sie plötzlich auf den rauen Asphalt des Parkplatzes vor der Halle fallengelassen und, wenn ihre Kenntnisse des Baslerischen sie nicht trügen, aufgefordert, das Weite zu suchen. Eher fettleibig, diese Burschen, denkt Marta. Es ist ihnen anzusehen, dass sie vorm Bildschirm aufgewachsen sind. Das ist schon die Generation, die nicht ständig, von Polizeihunden oder Nazis oder Fahrscheinkontrolleuren gejagt, sich im Messerkampf bewähren, kühn über Dachfirste balancieren und katzengleich über Mauern springen musste. Die holen sich den Kick längst nur noch vom Bildschirm, und das macht auf die Dauer natürlich unsexy. Sie könnte denen jetzt sagen, dass sie praktisch ihre Chefin ist, aber der bloße Gedanke daran macht sie müde, und was soll sie schon auf einer scheiß LAN-Party? Und der Laurin findet sie jetzt sicher unmöglich nach diesem Abgang. Sie fordert also nur ihre Sachen und die dreißig Franken für den Eintritt zurück, den sie nicht bezahlt hat. Marta kann erstaunlich vernünftig sein, aber nur dann, wenn man es am wenigsten erwartet. Umgehend verschwinden alle fünf und kurz darauf werden tatsächlich ihre Sachen, exklusive der dreißig Franken, aus der Türe geworfen, und zwar so unsanft, dass dabei eine Ecke ihres Uncle Sam abbricht.

Das wäre besser nie geschehen, das mit Uncle Sam’s Ecke. Weil das ist ihr Bruder, ihr Freund, ihre Familie und eben ihr „Onkel aus Amerika“. Zwar hat er, wie sich später herausstellte, den Knacks locker weggesteckt, aber das konnte da noch niemand wissen. Ich denke, alles Kommende hätte vermieden werden können, wenn diese halbstarken Basler auf ihren hohlen Machtgestus verzichtet und der Marta den Uncle Sam nicht nachgeschleudert, sondern ihr beipielsweise sorgsam zu Füßen gelegt hätten.

Marta scheut Wischhandys aus ortungstechnischen Gründen, steht jetzt aber vor dem Problem, nicht zu wissen, wo im Umkreis Basels sie sich befindet. Sie könnte natürlich Uncle Sam fragen, aber sie hat Angst davor. Vielleicht stellt sich dabei heraus, Uncle Sam ist kaputt. Sie spürt wieder ihre Wut aufsteigen, nur heißer als vorher und vermischt mit dieser prickelnden Zerstörungslust – und kein Bier da! Sie überlegt, schnell ein Taxi zu rufen, bevor sie auf dumme Ideen kommt, aber sie hat alles Geld versoffen und der Trick mit dem Eintritt hat nicht funktioniert. Tim könnte sie holen, aber der lässt dann wieder seine lässig-genervte Art raushängen und schon gar nicht will sie ihm erklären, warum sie schon wieder wegen eines sprachlichen Missverständnisses wo rausgeworfen wurde. Ihr wird bewusst, wie sehr sie diesen aufgeblasenen Streber-Typen doch hasst. Marta kräht: Fick mir doch, fick mir doch, ein Schweizer Schweizerkäseloch! Und tritt dabei rhythmisch auf parkende Autos und einen alten Einkaufswagen ein. Ja, so ist das eben mit ihr. Zum Glück kommt in dem Moment ein junger Typ (schlank) aus der hell erleuchteten Halle, je zwei Bier in den Händen balancierend, die er nun Marta hinhält: Es ist Laurin und es ist Engelsmusik, als er schüchtern flüstert: „Das isch für di.“ Es folgen, laut Marta, ausdrückliches Lob für Martas Betragen und scharfe Kritik am Orga-Team etc. Marta zieht aus dem Gesagten, was auch immer es tatsächlich war, eh klar, den Schluss, von dem Kleinen umworben zu werden und schlägt ihm vor, die drolligen Bierchens zu sich zu nehmen, um anschließend in die Büsche zu gehen.

Der hingegen meint, er würde ja gerne mit ihr schlafen, aber er fürchte, dass das seine Aussichten auf die Praktikantenstelle mindern könnte. Dass er nicht blöd sein solle, erwidert die Marta, weil sich alle seine Aussichten erheblich verbesserten, wenn er sie umgehend beschliefe, flüstert ihm zärtliches Wienerisch ins Ohr und zwickt ihn da und dort ein wenig. Sie denkt immer noch, dass Männer auf Zwicken stehen. Daraufhin wirkt der Laurin auf einmal unkonzentriert und fahrig und muss plötzlich wieder hinein. Marta findet das sehr traurig, leert deshalb eines der vier ganz neuen Biere und beschließt, ihre Sachen einfach in den alten Einkaufswagen zu stecken und ganz relaxed in die Richtung zu schieben, in der sie die Stadt vermutet. Danach trinkt sie zur Belohnung noch eins, und weil der Tim ein Arschloch ist und der Laurin ein Schlumpf und um möglichst wenig von dem teuren Bier zu verschütten, trinkt sie auch gleich noch das dritte. Als sie eben beim vierten Bier vor der Entscheidung steht, dieses als Proviant zwischen Schlafsack und Isomatte zu verstauen oder einfach zur Sicherheit auch auszutrinken, sieht sie sich schon wieder mit den Fünfen konfrontiert. Sie solle jetzt „es bitzeli fürschi mache“, meinen diese, sie habe hier schon „sit Stunde nüt meh verloore!“ In Marta kocht die Wut jetzt endgültig über, gerinnt allerdings in einer eiskalten Woge der Bösartigkeit sofort zu einem niederträchtigen Plan. Wie Bleigießen ist das und selten wie Silvester, sagt sie. Sie trinkt erst ganz cool, steckt den halbleeren Becher nun doch in den Wagen und erwidert zur Überraschung der Fünfe mit einer ihnen nicht gerade verständlich aber dennoch zusammenhängend erscheinenden Rede, des Inhalts, dass sie alle mal so klein werden sollten wie ihre lächerlichen Biere, weil erstens hätten sie Uncle Sam schwer verletzt und zweitens ohne ihre Wenigkeit würde hier so ziemlich gar nichts stattfinden und sie alle, wie sie hier aufgeganselt herumliefen, sie alle könnten hier auch nicht den Kapo raushängen lassen, wenn Marta Montana nicht wäre und ihnen ihre unbezahlten LAN-Party-Jobs beschert hätte.

Marta Montana – das ist ihr Kampfname aus ihrer Zeit als Damen-Catcherin; praktisch eine déformation professionnelle, wenn die Marta anfängt, von sich als Marta Montana zu reden und immer ein ganz schlechtes Zeichen.
Außerdem, fährt sie fort, sei es traurig und erbärmlich, dass niemand hier gegen diesen läppischen Praktikantenstellen-Schmäh aufbegehre, sondern alle für ein bisschen Jobhoffnung bereit zu jeder Demütigung wären. Wie die Strebernaturen, die damals zu den Nazis überliefen und heute. Während ohne Marta Montana hier logischerweise gar nichts wäre, tote Hose, leere Halle, heulender Wind, nicht mal Hitler! Und wenn sie jetzt die Güte hätten, den Weg freizugeben, sie sei nämlich eben dabei, ein Wolkerl zu machen und hätte keine Lust auf Geschwätz mit niedrigem Personal!

Aus welchen Gründen auch immer, vermutlich aufgrund eines sprachlichen Missverständnisses, umringen die Fünfe mit erstaunlicher Geschwindigkeit die arme Marta, die so etwas ja noch nie mochte. Auch als ehemalige Damen-Catcherin empfindet sie Umringtwerden als unangenehm und bedrohlich, was sie auch immer gern zugibt – aber man muss sie halt schon direkt danach fragen, und die Fünfe haben ziemlich sicher nicht gefragt, ob sie jetzt was dagegen hätte, ein wenig umringt zu werden. Man kennt das ja. Einer von ihnen knurrt etwas von „Polizei, handkehrum abchlopfe“ und „zämenschloo die Nazibraut“, wenn sie nicht sofort das Gelände verlasse, dieses Gelände nämlich sei Privatgrund! Marta, die kein Wort verstanden hat, entgegnet, dass man sich ihr gegenüber bitteschön ein wenig zuvorkommender zu benehmen hätte, denn schließlich stünden sie alle immer noch bei ihr in Lohn und Brot, theoretisch zumindest! Aber nach der dilettantischen Performance sehe sie punkto Praktikantenstelle eher schwarz und sie könne ihnen auch sagen warum: Hätte Marta Montana denn bisher irgendetwas getan, wofür sich all der Aufwand auch lohne? Sie meine mit Aufwand: Verwarnungen ohne Anlass, unsinnige Verbote und Drohungen, unnötige Rauswürfe, kindische Indianerspielchen auf dem Parkplatz usw. Aufwand eben, unnützer, weil unverhältnismäßiger Aufwand. Man bedenke doch die andere Schale der Waage: eventuell etwas zu laut geäußerte Kritik, aufgehoben schon durch den selbstlosen Bierkonsum zu Wucherpreisen. Das aber ärgere sie wiederum als potenzielle Arbeitgeberin. Das sei durch und durch unökonomisch, weil gegen jede Marktgerechtigkeit! Mit so viel Aufwand vielleicht ein wenig übel gelaunte, dafür gut zahlende Gäste zu belästigen, sei sogar unökonomisch, dass einer Sau graust! Und man sähe ja, was aufgrund einer solchen Misswirtschaft alles geschehen kann: Man hat Uncle Sam ein Eck ausgeschlagen! Und da bestätige sich wieder mal ihr Hass auf alles Unökonomische, direkt ungezügelt könne sie da werden und da unterscheide sie sich in nichts von Hayeks freiem Spiel der Kräfte, Schumpeters schöpferischer Zerstörungskraft und überhaupt der ganzen Österreichischen Schule plus Milton Friedman!

Die Fünfe überlegen mittlerweile, ob sie nicht die Basler Nervenheilanstalt anrufen sollten.

Jedoch, Marta Montana sei vieles, aber nicht unbarmherzig und immerhin sei sie ja dafür, dass man überall und jederzeit Österreichische Schule unterrichten könne. Könne und solle! Daher zeige sie ihnen jetzt auch gerne nachträglich, wie sie’s alle richtig ökonomisch haben könnten. Und mit dem Ruf „Für ökonomische Verhältnisse!“ schnappt sie einen der Burschen so, dass es ihn rücklings quer auf den Einkaufswagen hebelt, gibt dem Wagen mit einem schmetternden „Überall!“ einen Tritt und befördert ihn derart quer über den Parkplatz.

Nur rollt dieser unsportliche Basler Student so kreuzblöd zwischen die parkenden Autos, dass er sich dabei mit dem Kopf in einem Rückspiegel verfängt, der ihm beinah den Hals abreißt. Zum Glück fällt der Einkaufswagen dabei um und gibt ihn frei. Trotzdem bleibt er liegen. „Joki!“, schreien die anderen und stürmen zu ihm. Das heißt, bis auf das Mädchen, das zu langsam reagiert und sich nun ganz allein einer sehr betrunkenen Bestie gegenüber sieht.

„Jetzt hani aber ändgültig gnueg!“, schreit das Mädchen zurückweichend, mit ungefähr so viel Überzeugungskraft, mit der man einer leinenlos rasenden Dogge gegenüber versucht, das Herrchen zu markieren. Das merkt sie auch selbst und darum zückt sie ihr Handy: „Ich lüt dr Polizei aa!“

„Aber aber!“, schmeichelt Marta dem Mädchen, sie solle doch bedenken, dass es durchaus hätte sein können, sie transportiere auf diese Weise nur ihre Sachen zum Auto, freilich mit dem jetzt leider etwas beschädigten Teddy dazu, aber den würde sie sich eh nur ausborgen, viel zu dick. Doch wenn bezüglich des Burschen schon andere Pläne existierten, hätte Marta Montana auch nichts gegen einen flotten Dreier. Damit wäre wohl allen am meisten geholfen …

„Hallo, Polizei?“

Moment, sie suche gerade ihren Autoschlüssel, noch ein Sekündchen, dann habe sie ihn. Sie solle das mit der dummen Polizei doch sein lassen, dann könnten sie alle drei gleich losdüsen. Dabei lässt die Marta ihre Hand sehr sexy in ihrer Hosentasche spielen und flötet zärtlich etwas über die Notwendigkeit der Überwindung der sozial konstruierten Geschlechter, wie sie meint: „Net leicht, so augsoffn wos Hoates zum findn inda Hosntoschn!“ Und verschwörerisch zwinkernd: „Oba es geht ah ohne, net woa, Mauserl?“ Ja, als Draufgabe wirft sie ihr einen ihrer saftigsten Kussmünder zu.

„Ich ha ihne mini Date doch scho gsait“, plärrt das Mädchen ins Handy. „Sie mien mir ändlig zueloose!“

Sie möge sich und der „Schwiezer Polizei“ die Mühe doch sparen, grölt die Marta. Andererseits wieder, solle sie die Kapplständer nur holen, sie sei ja direkt gespannt, wie die in der Schweiz so seien, ob die einen auch so super nehmen könnten wie die in Wien.

„Aber, so loose si mir doch ändlig zue, mir wärde do vonere gföhrlige Verruggde terrorisiert!“ Und mit einem Blick zu Joki und überschlagender Stimme: “Und mir bruuche au dr Notarzt!“

Aber das könne sie sich nicht vorstellen, meint Marta weiter, wenn sie sich so umschaue, nein, unwahrscheinlich. Besonders ihre vier Wappler, die sähen ja aus wie wandelnde Sitzsäcke! Ob die Schweizerinnen ihre Männer denn ganz verwahrlosen ließen?

Irgendwie scheint die Marta nun doch die Basler-Wiener Sprachbarriere durchbrochen zu haben, denn plötzlich wird sie von dem größeren der beiden zurückkehrenden Burschen am Kragen gepackt. Sie schultert ihn aber mit einem ihrer leichtesten und unsaubersten Wurfgriffe und lässt ihn vor sich aufklatschen, wo er bewusstlos liegen bleibt. Der andere weicht unsicher zurück. „Alex“, zischt das Mädchen, „du feigs Arschloch!“ Derweil steigt Marta etwas wankend über den Geworfenen. „Schod, dass dabei imma de Daumen brechn“, murmelt sie dabei selbstkritisch, steuert auf das schreckensstarre Mädchen zu, reißt ihm das T-Shirt vom Kragen bis zum Bund entzwei, nimmt die derart frei gewordenen Brüste und verpasst beiden je einen kräftigen Schmatz.

„Jetzt lohnt sich dea gonze Aufwand, jetzt herrscht hier endlich eine Marktgerechtigkeit!“, schreit Marta beinahe hochdeutsch in den Himmel. Stille. Fragende Töne aus dem Handy. Marta wendet sich dem Alex zu, der aber durch den Anblick der geküssten Brüste in eine Art Trance verfallen ist. Ob er das mit dem freien Spiel der Kräfte und der daraus resultierenden Marktgerechtigkeit jetzt auch verstanden hätte? Wenn dem so sei und wenn er sich dann mal langsam fertig begeilt hätte, dann könnten sie Marta Montana jetzt bitteschön und im vollen Einklang mit den Gesetzen der Ökonomie Österreichischer Schule vom Gelände entfernen. Abwartend bleibt sie stehen.

Der Wind weht über den Parkplatz, Joki beginnt leise zu jammern, Alex starrt. Langsam, ganz langsam holt das Mädchen aus, scheint noch kurz zu überlegen, da fährt ein Ruck durch sie und wie ein vorwärtsschnellendes Katapult kracht ihre Faust auf Martas Gebiss. Marta taumelt einige Schritte zurück und mit dem Blut spuckt sie auch ein Stück Schneidezahn aus.

Da explodiert ihr Kinn durch einen weiteren Schlag. Das flackernde Blaulicht kann sie aber gerade noch Einsatzfahrzeugen zuordnen. „Das müsste reichen“, denkt sie, bevor es endgültig schwarz um sie wird.

Wegen der ganzen LAN-Party-Sache wurde der Tim diskret nach Neuseeland versetzt. Um Anwaltskosten zu sparen und des Images wegen, gab die Firma den Fünfen eine unbezahlte Praktikantenstelle, worauf sie ihre Anzeigen zurückzogen. Dem Joki musste allerdings zusätzlich eine Privatklinik bezahlt werden. Der Marta gegenüber hat der Tim erklärt, dass er ihre offene Beziehung als abgeschlossen betrachtet.

Nur dass er ihr den Schneidezahn nicht ersetzen wollte, das ärgert sie, wie gesagt, noch immer.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15101

Hochseilakt

Seiltänzer gehören zu meinen Favoriten unter den Artisten. Als ich in die erste Klasse ging, kam eine Seiltänzergruppe in mein Dorf. Sie spannten das Seil vom Giebelfenster des alten Schulhauses zu einem Mast, der sich auf dem freien Platz unterhalb der Kirche befand. Früher hatte dort ein noch älteres Schulhaus gestanden, das bereits abgerissen war. Ein freier Platz war der Gewinn.
Ich durfte in die Abendvorstellung gehen. Es war bereits dunkel, als sich die Zuschauer versammelten. Alle standen an der Häuserzeile vor der Limonadenfabrik aufgereiht. Man schob mich nach vorne. Alleine hätte ich mich nichts zu sagen getraut. Mein Bruder hatte mich mitgenommen, und ich spürte an seinem ironischen Lachen, dass er total aufgeregt war. Ich war völlig gebannt von der gesamten Situation. Die fremden Menschen, die so ganz anders waren, die durch die Welt zogen, Kunststücke darboten, die wahnsinnigen Mut, ja schon Tollkühnheit verlangten, und durch nichts mit der mir bekannten Welt verbunden schienen. Junge Frauen und Männer und Kinder, unerschrocken, mit Kostümen bekleidet, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Alles ging wahnsinnig schnell.
Die nächste Nummer wurde von einem Herrn angesagt, der seiner Stimme einen seltsam aufregenden Klang zu geben bemüht war, der Floskeln verwendete, die ihm in seiner manierierten Kunstwelt normal erschienen. Die Worte, die er sprach, waren unwichtig. Es war nicht nötig, den Inhalt der Worte zu verstehen. Nur der Klang, der Eindruck hüllte mich ein. Die Ansprache war ein Ritual, das dem ehrwürdigen Senior vorbehalten war. Seine Zeit auf dem Hochseil war unwiederbringlich vorbei. Jetzt konnte er nur noch im abgewetzten Anzug Ansprachen halten. Alle Augen starrten auf das Seil in schwindelerregender Höhe, das nicht gesichert war. Eine junge Frau balancierte mit einem Schirm, machte eine Verbeugung, einen Knicks, eine Rolle vorwärts und rückwärts. Ochs und Achs waren zu hören, dann Applaus. Ein Raunen ging durch die Menge und ich vergaß fast zu atmen, so aufregend war alles.

Jetzt fällt mir das wieder ein, Jahrzehnte später. Ich bin nie zu einer Artistin geworden. Da fehlt mir das Talent. Das Hochseil ist dennoch verlockend. Es wird gespannt, um Kunststücke darauf vorzuführen, um Zuschauern einen Schauder ins Herz zu zaubern. Die einen sind zum Risiko bereit, auf dem Seil zu tanzen, den anderen ist das Beobachten vom Boden aus schon genug. Hochseil ohne Sicherung, das bedeutet, sein Leben ständig aufs Spiel zu setzen, einen Genickbruch, eine Wirbelsäulenverletzung in Kauf zu nehmen. Nie mehr auf das Seil können, das restliche, vermutlich noch lange Leben. Aber ohne dieses Risiko geht es nicht, gar nicht.
Und immer müssen die Kunststücke noch gesteigert werden. Es genügt nicht, mit dem Schirm in der Hand über das Seil zu gehen, was eigentlich schon mehr als genug Mut fordert. Es werden Sprünge eingebaut, die viel Kunstfertigkeit verlangen. Dann folgt eine Rolle vorwärts, eine Rolle rückwärts.
Leicht ist es möglich, abzurutschen, das Gleichgewicht zu verlieren. Der Körper muss total angespannt sein. Jeder Muskel ist wichtig. Es gibt keine Partie, die sich gehen lassen darf, nicht der kleine Zeh und nicht der Hals oder gar das Gesicht. Der Geist muss konzentriert sein. Der Bruchteil einer Sekunde, den man in Nachlässigkeit verbringt, kann den Tod bedeuten. Man darf das Seiltanzen nicht unterschätzen!

Es gibt noch Steigerungen, die den Männern vorbehalten sind: Ein Junge fährt mit einem Fahrrad über das Seil. Die Reifen sind extra präpariert, dass sie nicht so leicht abrutschen können. Die Fahrt muss schnell gehen, mit Schwung bergab und auf der anderen Seite wieder hoch aufs Podest. Die Zuschauer halten den Atem an. Um mich herum herrscht angespannte Stille. Ich sauge den Atem durch die Nase ein, immer weiter, und starre auf das Seil. Ein Klatschen hebt an, Begeisterungsrufe.
Der Junge lässt sich mit dem Rad zur Mitte des Seils rollen. Es dauert, bis es zum Stehen kommt. Einige Male rollt er vor und zurück, dann schwingt er seinen Körper zum Handstand hoch, die Hände stemmen sich auf Lenker und Sattel. Das Staunen und die Bewunderung steigern sich. So etwas erlebt man selbst als Zuschauer nur wenige Male. Nun kommt der ultimative Höhepunkt der Vorführung, der Motorradfahrer. Der Motor heult auf, der Auspuff raucht, der hagere Mann mit dem Glitzerhemd steht auf den Pedalen und fährt auf dem Seil. Zuerst einmal die ganze Strecke in Windeseile, dann der gekonnte Sprung vom Motorrad auf das Podest. Begeistertes Applaudieren. Das gefährliche Gefährt erhöht die Spannung. Der Mensch allein kann nicht so viel Dramatik erzeugen.

Gefahr betört, am besten, wenn es eine fremde Gefahr ist. Man partizipiert, genießt den Nervenkitzel und weiß gleichzeitig, dass man keine Angst haben muss. Alles ist gut.
Wer würde sich schon ohne Not aufs Hochseil wagen, ohne gelernt zu haben, auf ihm zu tanzen?
Warum schauen wir uns dann solche waghalsigen Kunststücke an und erinnern uns noch Jahrzehnte später daran?
Wohl, weil plötzlich die Entsprechung dazu im Leben eingetreten ist.

Claudia Kellnhofer

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15092