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Let’s go

Dunkelheit, im Hintergrund schnelle Piano-Jazzklänge, darauf folgend Applaus

Djamal spielte Oboe in Damaskus.
Vor einem Jahr noch.

Zwanzig Jahre alt.
Ohne Mittel.
Ohne Familie.
Ohne Zuversicht.
Aber mit Oboe.
Djamal spielt nun in Österreich.

Es wird heller, drei Personen betreten eine Künstlergarderobe in einem Kulturzentrum einer oberösterreichischen Kleinstadt.
Saxophon, Flügelhorn und Kontrabass liegen/stehen herum.

Djamal:
Oh, Kurt, du Unglücksvogel, so sagt ihr doch?

Hanna:
Pechvogel heißt es, oder Unglücksrabe.

Djamal zu Kurt:
Was war mit deiner Brille?
Wieso hattest du sie überhaupt auf?

Kurt entschuldigend:
Meine Kontaktlinse hat gekratzt, ich musste sie in der Pause herausnehmen und dann hab ich eben die Brille gebraucht.
Und die ist mir dann immer wieder von der Nase gerutscht.

Hanna schiebt sich mit der Hand eine imaginäre Brille zurecht und sagt leicht tadelnd zu Kurt:
Ein Schlagzeuger braucht beide Hände.
Das hat schon komisch ausgesehen, als du die Brille immer wieder rasch zurechtgerückt hast.

Kurt:
Das war schon stressig, aber das Konzert war trotzdem ein schönes Erlebnis!
Das Improvisieren am Schluss hat richtig Spaß gemacht. Auch dem Publikum.

Djamal:
Ja, zwei Extras!
Die Menschen wollten zwei Songs mehr hören.

Djamal hatte Glück.
Hanna und Kurt fühlten sich verantwortlich.
Zwanzig Jahre alt.
Mit Oboe.
Hanna und Kurt fühlten sich verantwortlich.
Und Djamal erlaubte sich, wieder zu träumen.

Hanna:
Djamal, du hast ganz wunderbar experimentiert beim zweiten Stück.
Das hat mir besonders gut gefallen!

Djamal:
Und es war sold out, completely ausverkauft – so sagt ihr doch?

Hanna:
Ja, ja, genau, alle Karten restlos, so kann man das auch sagen.

Djamal zu Hanna:
Und du hast wieder so schön gesungen!

Kurt zu Hanna:
Bei deiner Gesangstechnik im Arabischen merkt man nicht, dass du eigentlich im Operngesang zuhause bist.

Djamal zu Hanna:
Das Arabische ist nicht dein Zuhause. Du machst, dass sie es aber nicht merken.

Hanna:
Seit ich dich kenne, Djamal, ist die arabische Musik für mich allgegenwärtig.
Sie fließt deshalb ganz automatisch in meine Improvisationen ein.

Djamal:
Im Jazz, da ist viel Freiheit.
In der Oper spielst du eine Rolle.
Und in der arabischen Musik liegt Passion <englisch ausgesprochen>, also Passion <deutsch ausgesprochen>. Wie sagt man?

Kurt:
Leidenschaft.
Natürlich hat jede musikalische Richtung ihre eigene Technik.
Aber entscheidend ist, den Charakter der Musik zu verstehen.
Denn jedem Stil liegt eine bestimmte Idee zugrunde, und wenn du die verstanden hast, kannst du die Musik auch darbieten.

Djamal ironisch:
Lucky me! To understand the character of music, I don’t need to understand German.

Lachen

Hanna hatte sie sich richtig feingemacht für diesen Abend.
Es waren viele Bekannte im Publikum.
Wenn sie auf der Bühne steht oder vor dem Klavier sitzt, dann möchte Hanna einfach hohe Schuhe anhaben.
Es fühlt sich gut an, seine Kunst in hohen Schuhen darzubieten.
Es ist eine Gratwanderung, sich größer zu machen, als man ist.
Und es ist immer eine Gratwanderung, mit solchen Schuhen Klavier zu spielen.
Jetzt aber die Haare hochbinden und die High Heels abstreifen.

Djamal:
Ich bin so froh, dass ich euch habe.
Ihr habt mir so geholfen und ich freue mich, dass ihr meine Freunde seid.
Und ich durfte anfangs sogar bei euch wohnen, ihr seid sehr herzlich.

Hanna berührt Djamal freundschaftlich an der Schulter:
Auch wir haben in dir einen Freund gefunden.
Warum denn auf einmal so ernst und nachdenklich, Djamal?
Du hast uns geholfen, in der Musik.
Ohne dich hätten wir heute nicht so einen Erfolg gehabt.
Jeder hat was beigetragen.
Alle sind wir unverzichtbar.

Kurt grinsend zu Djamal in scherzhaftem Unterton, und zu Hanna deutend:
Schon gut, dass ihr arabischen Männer jetzt endlich auch akzeptiert, dass bei uns eine Frau den Takt angibt.

Djamal mit einem schiefen Grinsen:
Meine Freunde verstehen das ehrlich nicht, aber ich muss es wohl …

Hanna unterbricht ihn und sagt scherzhaft drohend:
Hey, Djamal! Überleg dir, was du jetzt sagst!

Lachen

Djamal jetzt mit ernster Miene:
Ihr wisst doch, dass ich mein Studium der Oboe damals in Damaskus nicht abschließen konnte …

Hanna unterbricht:
Das wird dir dort in diesem Leben wohl auch nicht mehr gelingen.

Djamal:
Aber …. was ich sagen will …

Kurt unterbricht:
Gehen wir doch was trinken! Und Hunger hab ich auch.

Hanna:
So lass doch Djamal ausreden …

Djamal:
Habt Ihr diese elegante ältere farbige Frau gesehen in der ersten Reihe?
Diese große Erscheinung, hochgewachsen – so sagt man doch?

Kurt:
Die mit dieser Sonnenbrille mit den blauen Gläsern, ja großartig sah sie aus.

Hanna:
Und die kurzen weißen Haare. Der weiße Hosenanzug. Edel.
So cool möchte ich später auch einmal aussehen.

Djamal:
Ich wollte euch sagen, dass sie …

Kurt unterbricht wieder:
Also ich hab Hunger, so lasst uns doch essen gehen.
Djamal, du kannst uns das doch auch später erzählen.

Adrenalin im Übermaß.
Erschöpft. Verschwitzt. Zufrieden.
Durstig.
Hanna trinkt ein paar Schlucke aus der Wasserflasche.
Kurt schlingt ein Handtuch um den Hals.
Djamal legt das Sakko ab und streckt die Hemdsärmel hinauf.
Überdreht und zufrieden.
Alles ist gutgegangen.

Hanna:
Was wir da heute gespielt haben, das war eine ganz besondere interkulturelle Mischkulanz.

Djamal:
Ein Mischmasch – so sagt ihr doch?

Hanna:
Ja, genau.

Djamal:
Eine Mischung, aus allem, was wir gerne hören, und was unser Leben musikalisch ausdrückt.
Die Miles-Davis-Interpretation nach der Pause, die war very american.

Kurt:
Die Improvisation am Schluss hingegen war mehr arabisch.
Aber irgendwie auch klassisch.

Djamal:
Mischmasch.

Lachen

Seine Eltern haben ein Bild vor Augen: Djamal mit Oboe.
Ihr Sohn Djamal mit einer Oboe in Händen.
Eigentlich hätte Djamal in den Libanon gehen wollen. Das wäre nicht weit weg gewesen.
Aber dann ging alles ganz schnell: alle Ersparnisse dem Schlepper, dem verlässlichen, aus dem Nachbarort.
Damit ein anderes Bild nicht Wirklichkeit wird: Djamal mit der Waffe.
Ihren Sohn kämpfen zu sehen, das haben sie sich erspart.
Seine Eltern hatten ein Bild vor Augen: Djamal mit seiner Oboe.

Hanna:
Ich lese euch kurz nochmals vor, was über uns in der Zeitung stand:
Anregung zum interkulturellen Austausch: Ob kontemplative oder temporeiche Stücke – das Repertoire des Ensembles ist vielseitig und fasziniert nicht zuletzt durch seine mit Leidenschaft und Spielfreude vorgetragenen improvisierten Teile.

Djamal:
Kontemplativ?

Kurt:
Mehr besinnlich, voller Gedanken

Hanna liest weiter:
Das Trio verbindet traditionelle arabische Musik mit Jazz und klassischen Klängen, bricht traditionelle Genregrenzen auf und vereint Elemente unterschiedlicher Musikkulturen zu einem unverwechselbaren Klang. Die ursprüngliche Idee der Musiker war die eines musikalischen Dialogs: dass jeder relativ einfaches musikalisches Material auf unterschiedliche Art und Weise aufgreift und mit seinem Vokabular weiterentwickelt.
Das interkulturelle Jazztrio wurde vom Publikum begeistert gefeiert. Auch eine erste CD- soll in Kürze folgen.

Djamal lächelnd:
Ein musikalischer Dialog also.

Kurt:
Das hast du schön gesagt, mein Freund.

Djamal:
Listen to me, ich muss euch etwas sagen.
Aber ihr werdet es nicht hören wollen.

Hanna:
Sag schon, Djamal.

Kurt:
Heraus damit, so rede doch.

An Montagen in der Mittagspause zwischen den Vorlesungen an der Musikuniversität immer zu Tante Tamina.
Selbstgemachte Falafel und Tisqiye, ein Auflauf aus Kichererbsen mit viel Knoblauch und Pinienkernen.

Die orientalische Altstadt.
Die große Freitagsmoschee.
Der antike Kultbezirk.
Staubige Steinfassaden.
Dazwischen sein Herz, seine Sprache, seine Wurzeln.

Neben dem Basar ihr prächtiges Hofhaus.
Der Innenhof mit Brunnen.
Der Zitronenbaum. Sein Großvater hat ihn gepflanzt.

Fußballspielen mit Khaled und Halim, nach der Schule.
Sich nach der Uni mit Khaled und Alisar vor der Bibliothek treffen.
Ein Blickwechsel mit Alisars Schwester Faizah wäre schön.

Als kleiner Junge einkaufen mit der Mutter im Suk.
Farbenpracht.
Gemüse, Gewürze, Damaststoffe.

Sich durch enge Gassen drücken.
Ein klebriges Stück Baklava in der kleinen Hand.
Der Geschmack nach Honig und Pistazien.
Musik. Vertraute orientalische Klänge.
Dazwischen sein Herz, seine Sprache, seine Wurzeln.

Apokalyptische Zerstörung.
Verheerungen.
Verwüstungen.
Geschändete Heimat.
Verlassene Steinhaufen.
Dazwischen sein Herz, seine Sprache, seine Wurzeln.

Djamal:
Ihr habt mir so geholfen, die Musik mit euch hat mich gerettet damals, als ich mir am Anfang hier in Österreich so klein vorkam. Ich fühlte mich wie ein Nichts.
Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht.

Kurt:
Welche Entscheidung?

Djamal:
Soll ich bleiben oder gehen?
Ich überlege schon viele Tage.

Hanna:
Was meinst du, Djamal?

Djamal:
Ich habe wirklich gedacht, ich habe hier in Österreich meinen Platz gefunden.
Aber … das ist nicht meine Endstation.
Ich liebe euch und ihr müsst mich besuchen kommen.

Kurt:
Wo? Was meinst du?

Djamal:
Die Amerikanerin ist wegen mir hier, sie ist auf der Suche nach Talenten und hat mir ein Stipendium angeboten, ich kann an der Universität von New Orleans promovieren, in Komposition und Oboe.
Das Angebot ist reizvoll, ihr müsst das verstehen.
So let’s go, hat sie gesagt.

Kurt:
Was redest du da?

Einige Sekunden vollkommene Stille.

Hanna:
Djamal verlässt uns.

Djamal:
Ich mache mich auf den Weg.
Let’s go, hat sie gesagt.

Michaela Swoboda
Szenisch dargeboten bei Theaterzeit Freistadt 2016

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16080

Im Labyrinth der Zeit

Se vogliamo che tutto rimanga come è, bisogna che tutto cambi.
– Tomasi di Lampedusa: „Il gattopardo“

„Parlare, parlare, parlare, so lösen wir die Probleme hier in Sizilien.“

Und die Erleichterung steht meinem Zimmervermieter ins Gesicht geschrieben, dass mein Fernsehanschluss wieder funktioniert, dass das Kabel gefunden worden ist, über das die minderbemittelten Maurer von der Baustelle nebenan gestolpert sein müssen, dass der Nachbar des einen Nachbarn den richtigen Stöpsel gefunden hat und ein anderer Nachbar das richtige Kabel dazu. Ein paar Worte über die Niederträchtigkeit der Maurerzunft im Allgemeinen fallen noch, dann löst sich die Hausgemeinschaft, die vorher noch so wortreich aufgeregt das schmale Gässchen vor meinem Quartier bevölkert hat, in Wohlgefallen auf, um einer sinnvolleren Tätigkeit nachzugehen, wie zum Beispiel fernsehen.

Und trotzdem will ein Anflug schlechten Gewissens angesichts des stundenlangen parlare nicht aus seiner Miene weichen, meinem Zimmervermieter, und so fragt er mich, ob er mir noch irgendwie helfen könne, mir als Reisendem von nördlich der Alpen, angesichts dieser fremden Stadt hier.

„Eine Bar mit einem ordentlichen Wein könnte mir jetzt nicht schaden.“

Breit sein Grinsen, seine Lieblingsbar will er mir zeigen. Und los marschieren wir, quer durch Ortigia, dem auf einer Insel vorgelagerten Stadtteil von Siracusa, quer durch das Gassenwerk der alten Viertel. Und angesichts der Einfachheit meiner Bitte scheint sich seine Zunge gelöst zu haben, den Fremdenführer im Schnelldurchgang spielt er, hier der normannische Teil, schau dir nur die gotischen Spitzbögen an, da der bourbonisch-spanische, siehst du ja an den prächtigen Palazzi, und dort der arabische, ja, die Bauweise gleicht einer Kasbah. Keine zehn Minuten lässt er mir Zeit für die Verdauung einer tausendjährigen Kulturgeschichte, die Völker aus allen Herren Länder auf diese Insel gespült hat, mir schwindelt es im Kopf vor lauter Zeitscheiben, gnädigerweise erspart er mir die tausend Jahre davor, die Phönizier, Griechen und Römer, damals als Wien noch ein Sumpf an der Donau gewesen war.

„Dein Quartier ist übrigens im ehemaligen jüdischen Viertel.“

Ja, das habe ich mir schon gedacht, angesichts der Tatsache, dass mein gewundenes Gässchen in eine kaum weniger gewundene, kaum weniger breite Gasse namens Via Giudecca mündet, überhaupt die gesamte Anlage meines Stadtteils, der so gar keine Anstalten zeigt, etwas mit der Außenwelt zu tun haben zu wollen, in sich verschroben und verdreht wirkt, und dessen Gässchen bis auf wenige Ausnahmen in sich selbst zu münden scheinen. Kein Wunder, sind es die Juden doch schon seit Jahrhunderten gewohnt, als Erste den Kopf hinhalten zu müssen, wenn die Menschen um sie wieder einmal etwas aus der Bahn wirft.

Unser Ziel erreicht haben wir, so scheint es, denn unvermittelt ist er stehengeblieben, voller Enttäuschung in seiner Miene.

„Chiuso.“

Ich wiederum mag seine Enttäuschung nicht teilen, denn als ich die Fassade seiner Lieblingsbar genauer in Augenschein nehme, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass sich dahinter nichts anderes als ein ordinäres Puff verbirgt. Und mir steht das Verlangen tatsächlich nicht nach mehr als einem Glas Wein, nicht heute, nicht nach der ganzen Aufregung wegen eines Fernsehkabels.

Dass er es eilig habe, dass er noch etwas Anderes erledigen müsse, damit verabschiedet er sich hastig, dann ist er um die Ecke verschwunden, in einem der verwunschenen Gässchen. Und hat mich stehengelassen, in einem dunklen Winkel des labirinto von Ortigia, an dem ich nie zuvor gewesen bin, von dem ich nicht einmal sagen könnte, in welche Himmelsrichtung ich schaue, vielleicht hat er mich gar in einem anderen Jahrhundert ausgesetzt. Egal, setze ich ein paar mich selbst beschwichtigende Schritte, so groß ist die Inselstadt mit ihren Gassenschluchten nun auch wieder nicht, alle Wege führen einen irgendwann an die windige Stadtmauer, an die ein Mittelmeer wütend seine Brecher schlägt, so ganz anders, als es beispielsweise in der Bucht von Venedig vor sich hindümpelt.

Keine zwei Gassenwindungen weiter umspült sanfter Jazz meine Ohren, wie von Sirenen lasse ich mich von ihm dazu verführen, seinen Klängen zu folgen, und tatsächlich, da ist sie leibhaftig, die Bar, die ich mir in meinen Wünschen ausgemalt habe. Schnell komme ich mit dem Barbesitzer ins Gespräch, mit dem ersehnten Glas vino in der Hand, und stelle ihm die unvermeidliche Touristenfrage, wie es Ortigia so ergangen ist, seit der Anerkennung als UNESCO-Weltkulturerbe – eine Frage, die ich sogleich bereuen sollte.

„Peggiora, peggiora, peggiora.“

Und weiter geht sein Sermon, wie hier alles vor die Hunde geht, sich nichts ändert, zur Fußgängerzone hätte Ortigia schon längst umgebaut werden sollen, aber dass die Reichen sich dagegen sträuben, weil sie mit ihren Autos weiterhin hereinfahren wollen, obwohl es doch sowieso keine Parkplätze gibt, und außerdem scheißen die Hunde die Gassen voll und keinen kümmert es.

Unverkennbar gehört der Barbesitzer zu der jungen zornigen Generation von Sizilianern, die auf Grund der miserablen wirtschaftlichen Lage schon die halbe Welt gesehen haben und mit dem frischen Wind ihrer Ideen ihre Heimat umgestalten wollen. Ein zweischneidiges Schwert, so denke ich mir im Stillen, einerseits kann ich seinen Unmut nur allzu gut nachvollziehen, andererseits überkommt mich das traurige Gefühl, die Insel in dieser Form zum letzten Mal gesehen zu haben: In spätestens zwanzig Jahren wird Ortigia von den Geschäftemachern vereinnahmt worden sein, zur zona turistica verkommen sein, durch dessen Gassen sich quengelnde Deutsche und rosige Engländer vorbei an Läden voller Souvenir-Schnickschnack schieben; und abends in internationalen Bars beschallt von internationaler Hitparade mit internationalen Longdrinks in der Hand um sich grölen.

„Österreicher?“, fragt mich jemand in den Rücken, in einer mir unerwartet heimatversöhnlichen Sprache, die mich nach einer Woche mit schwierigem Italienisch und unverständlichem Sizilianisch einige Sekunden kostet, um den richtigen Schalter in meinem Kopf umzulegen. Zwei Mädchen sind es, die am Tisch hinter mir sitzen, und wie mich die eine, eine Tirolerin, als ihren Landsmann entlarven konnte, wird ewig ein Rätsel vor dem Herrn bleiben. Aus der Po-Ebene die andere, Padova, um genau zu sein, also beide Ausländer der ersten Kategorie gleich mir, hier in Ortigia, der Siracusa vorgelagerten Insel im tiefsten Süden Siziliens.

Nach meinem Glas Wein fasse ich und setze mich an ihren Tisch, und nach dem ersten Schlagabtausch der üblichen Klischees, was das Leben nördlich und südlich von Hannibals Alpen unterscheidet, nach einiger Vertrautheit und einigen Gläsern schließlich die gegenseitige Beichte, welche Winkelzüge des Schicksals uns jeweils hierher verschlagen haben. Eine Heirat die eine, Schafehüten auf einer sizilianischen Alm die andere, aber den mir gebotenen Erzählungen fehlt es an lässiger Glattheit, komplizierte Lebensgeschichten einschließlich erlittener Niederlagen spiegeln sich darin.

Und während ich Glas für Glas Wein die Groteske unseres Dreiecks klarer in Augenschein nehme, einerseits das Mädchen aus Padova, das sich hierher geflüchtet hat, um in einer Zeitscheibe Urlaub vom Leben zu nehmen, andererseits die Tirolerin, aus deren Mienenspiel ich ablesen kann, dass sie hier festklebt, nicht mehr weg kann, ihren Aufenthalt hier Monat für Monat hinauszögern wird, und schließlich mich mittendrin, den ein zerbrochener Lebensabschnitt bis in den südlichsten Winkel Siziliens flüchten hat lassen, um wieder zu einem klaren Gedanken zu gelangen, kommt mir ein Zitat aus einem berühmten sizilianischen Roman in den Sinn:

„Wenn wir wollen, dass alles so bleibt, wie es ist, wird sich alles ändern müssen.“

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16077

Kusch

Endlich ein warmer Tag! Nach einem halben Jahr Winter sehnen sich Körper und Seele nach der Sonne wie die Blumen nach dem Wasser. Da ist mein Rad. Mein italienisches Rennrad. Nicht unbedingt das neueste Modell. Muss ja nicht unbedingt sein. Den Winter über in der Garage gestanden. Von Spinnweben überzogen befreie ich es erstmal davon. Ich fahre immer wieder dieselbe Strecke. Egal. Ich werde nicht müde dabei. Im Gegenteil. Ich kenne jetzt beinahe jeden Maulwurfshügel, der den Radweg säumt. Ok, die neuen unter ihnen natürlich nicht. Aber immerhin jedes Schlagloch. Die Reifen meines Bikes sind sehr schmal. Jeder größere Stein könnte die Felge beschädigen. Man muss höllisch aufpassen, damit das nicht passiert.

Unglaublich, wie viele Grüns die Landschaft zu bieten hat. Dort vorne ist ein Rapsfeld. Das ist gelb. Und wie gelb! Der süße Geruch steigt in die Nase. Über mir fiept ein Falke. Hat wohl ein Mäuschen ausgemacht im Acker. Arme Maus. Jetzt bist du dran! Ich aber schon auch, gell. Denn da vorne ist ein Gartentor offen und auf der Rasenfläche steht ein – ein Dobermann. Nein, ein Rottweiler, dessen Hinterteil mir zugewandt ist. Ich höre kurz zu treten auf. Die Zahnräder meines Rades surren munter weiter. Ob er das hört? Was tu ich, wenn der herausrennt? Ich habe eine kurze Hose an. Die nackten Waden drängen sich förmlich auf, hineinzubeißen. Gleich bin ich vorüber. Bis jetzt hat er sich nicht umgedreht. Er bemerkt mich gar nicht, der Unhold, der nachlässige. Ich würde ihm heute das Futter verweigern. Was für eine Dienstauffassung! Uff! Vorbei. Das ist nochmal gutgegangen. Jetzt aber Gas und nichts wie weg. Unmöglich, dass er mich noch einholen könnte. Ich erwäge einen anderen Rückweg zu nehmen.

Mein Freund hatte einen Berner Sennenhund, der auf den Namen Panz   n i c h t   hörte. Ein hochsensibles Tier. Immer dann, wenn er das Mopedgeräusch des Postlers vernahm, raste er durch den Garten den Zaun entlang und setzte jedes Mal mit einem kühnen Sprung über denselben, sobald der Mann daran vorbeifuhr. Naturgemäß hatte er den armen Kerl dann an der Hose. Irgendwann hat der Briefträger das Handtuch geworfen und gekündigt, habe ich erfahren.

Nun, mit etwas Feingefühl könnten Hundebesitzer die zahlreichen Differenzen um ihr Getier vermeiden, denn schließlich haben Spaziergänger, Jogger oder Radfahrer ein Recht,  die Natur genießen zu können und auf einen gesicherten Auslauf, ohne sich gleich in die Hose machen zu müssen, wenn so ein unberechenbares Monstrum wütend bellend mit aufgerissenem Maul auf sie zu kommt. Man darf also erwarten, dass Hundebesitzer ihre Bestien an die Leine nehmen, oder zumindest für geschlossene Pforten in ihren Refugien sorgen. Was soll man denn schließlich in so einem Fall selbst tun? Man sucht in der Regel nach Hilfe. Nur woher soll die kommen? Von einem hohen Baum vielleicht? Den zu ersteigen sind manch freilaufende Naturliebhaber körperlich oft nicht mehr imstande. Und woher soll man wissen, ob das Luder gefährlich ist oder bloß neugierig oder gar nur spielen will?

Die ganz G’scheiten sagen, man muss die Warnsignale „dös Türes“ beobachten. Ob es die Nackenhaare aufstellt etwa. Ob das Biest knurrt oder die Lefzen hochzieht. Wird es steif und bewegt sich vorerst ganz langsam, dann ist normalerweise Gefahr im Verzug. Wedeln wäre gut, dann is’ es friedlich. Aber die gaaanz G’scheiten meinen, das is‘ nix, es kann wedeln wie es will und schnappt dann trotzdem zu, das Sauviech. Also was jetzt? Wie sollst du dich da richtig verhalten, frag ich mich? So tun, als ob das Untier gar nicht da wäre? Eh, versuch das mal bei einem achtzig Kilo Rüden. Der zeigt dir schon, dass er da ist, darauf kannst du Gift nehmen. Andere raten, langsam weitergehen, so ganz normal. Und bloß nicht ansprechen. Stehenbleiben schon gar nicht. Und auf keinen Fall anfassen! Also das wär ganz falsch. Davonlaufen tät ich auch nicht. Das nährt bloß den Jagdtrieb. Und den wollen wir sicher nicht wecken, wenn wir schon wie Beute aussehen.

Da vorne ist ein Bauernhof, man riecht es. Die haben dreißig Kühe im Stall und die Tür ist offen. Davor ist eine Mistlacke, so schwarz wie das Wasser in einem schottischen Hochmoor. Im Dartmoor angekommen, will sich der verzweifelte Henry erschießen. Er kann jedoch von Sherlock Holmes und John davon abgehalten werden. Holmes erklärt diesem, dass er den Hund zwar gehört, aber nicht gesehen hätte, der seinen Vater getötet hatte. Aber er hätte einen Mann gesehen. Da plötzlich ertönte ein furchtbares tiefes Bellen und eine unheimlich aussehende riesige Bestie mit tigerartigen Zähnen im weit aufgerissenen Maul kommt auf sie zu. Sherlock bemerkt, dass nicht der Zucker im Kaffee die Wahnvorstellungen ausgelöst hat, sondern der Nebel rund um sie herum. Aber Dr. Watson ist auf der Hut. Er und Kommissar Lestrade erschießen die Bestie, die in Wirklichkeit nur der Hund von Gary und Billy war, den die beiden freigelassen hatten, da sie es nicht übers Herz gebracht hätten, ihn einschläfern zu lassen. So, oder so ähnlich ging die Geschichte wohl.

Verdammt, jetzt bin ich doch auf einen größeren Stein aufgefahren, in Gedanken wie ich war, ohne auf den Weg zu achten. Meine arme Felge!, denke ich und steige kurz ab, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Aber sie ist nicht verbogen, Gott sei Dank. Dann also weiter, den Hügel dort hinauf und die Bundesstraße entlang, parallel am Radweg.

Wenn ich diesen Weg zurückfahre, ist das Tor hoffentlich geschlossen, leide ich vor mich hin. Hund an der Leine, fällt mit ein, macht den Raufer in ihm erst so richtig stark. Der ist aber nicht an der Leine. Also finde ich mich gedanklich mit geschlossenem Tor ab. Sind jedoch zwei solcher Brownies und Blackies und Waldis und wie sie alle heißen in eine Beißerei verwickelt, sollte man sich lieber nicht einmischen und dazwischengehen. Blöd würde ich sein, denke ich. Eventuell dann, vielleicht, wenn einer eindeutig der Schwächere ist. Den muss man retten. So ein Schmarren! Was gehen mich die Hunde an! Ich habe schon genug mit meinem inneren Schweinehund zu tun. Die Chance, dass man dabei gebissen wird, ist relativ gut. Wer das will, na bitte! Wenn die im Blutrausch nicht Freund vom Feind unterscheiden können, selber schuld, sage ich.

Da! Da vorne ist mein Wendeplatz. Genug für heute. Zehn Kilometer, macht zwanzig hin und retour. Reicht fürs Kreislauftraining, finde ich, bleibe kurz stehen und nehme einen Schluck aus der Wasserflasche. Strecken ist wichtig danach, ich bin schon ganz verbogen wegen des Rennlenkers. Ja, Sport ist Mord! Ich wende und trete wieder voll rein. Vor meinem geistigen Auge steht der braune Rottweiler. Rostbraun, denke ich. Wieso ist der rostbraun? Ich kenne nur schwarze. Aber noch bin ich ja nicht da. Dort drüber stehen zwei Rehe. Is’ ja süß. Jetzt bemerke ich, ein Junges ist auch dabei. Entzückend! Sie sehen zu mir rüber. Hi! Ich hebe den Arm und winke. Scheint sie nicht im Geringsten zu berühren. Ich habe nicht erwartet, dass eines von ihnen den Huf hebt. Trotzdem.

Wieder beim Kuhstall vorbei. Jetzt sind es nur noch ein paar Minuten, dann passiere ich den mysteriösen Garten mit seinem nachlässigen Wächter. Ich gehe nochmals die Regeln durch. Den Kläffer also nicht ansehen. Normal weiterfahren. Nur dann langsamer werden, wenn das Ungeheuer bellt oder sich anschickt, hinterher zu jagen. Ruhig mit ihm sprechen. Ich dachte, nicht anreden? Was jetzt? Vielleicht ein Kommando loslassen, so wie „geh Platz“ oder „aus“! Oder mit der Hand nach unten weisen und ihn kurz und streng anschauen. Ich muss lachen. Grade, wenn der mich am Wadel hat, werd’ ich „Platz“ rufen. Eh klar. Ich ziehe den Mund zu einem breiten Grinsen. Der wird sich einen Dreck um meine Kommandos scheren, so sieht’s aus, weil der mitnichten auf sein Herrl hört, wenn’s ihn juckt, das kenn ich schon. Auf gar keinen Fall mit den Armen herumfuchteln. Hände am Rücken oder in die Taschen. Schwachsinn, geht gar nicht, sonst flieg ich vom Rad.

Mit ausreichendem Abstand nicht allzu schnell vorbeifahren, überlege ich mir. Damit ich den Hund nicht erschrecke. Genau! Ich lache wieder, diesmal laut. Wer da wen erschreckt, möchte ich wissen! Eventuell klingeln. Wieso? Ich dachte, kein Geräusch verursachen? Was mir so alles einfällt in der Angst, ich muss mich doch sehr wundern. Außerdem hab ich gar keine Klingel, jedes noch so kleine Gewicht wäre zu viel für so ein schnelles Rad, habe ich beschlossen. Am besten etwas bremsen. Bloß nicht. Mit genügend Tempo kriegt er mich vielleicht nicht, oder? Der Hund ist in jedem Fall schneller, höre ich immer. Stehen bleiben und auf der anderen Seite vom Rad in Deckung gehen. Rad ist also zwischen mir und dem Bastard, wenn sich kein Besitzer zeigt. Aber der ist nicht deppert, der riecht den Braten und rennt hinten herum, schneller als ich wenden kann, und dann bin ich’s!

Als kleiner Junge war ich mit dem Vater einmal um Zement im Bauhof. Wir hatten eine Schiebtruhe mit, ich war beim Vater eingehängt, am Rockzipfel sozusagen, denn dort lief ein semmelblonder Schäferhund herum mit schwarzen Flecken, und es war bekannt, dass der Kinder nicht mochte. Warum sollte er also gerade mich mögen? Also musste es kommen, wie es kam. Wir hatten schon aufgeladen und schoben die Karre eben zum Tor hinaus, da wetzt der Köter gerade auf mich zu und beißt mich in den Oberschenkel. Ich brülle aus Leibeskräften (völlig falsche Reaktion, heute weiß ich es), bis der Besitzer gelaufen kommt und ihn an die Leine nimmt. Hätt’ er das nicht schon vorher tun können? Mein Oberschenkel wird rotblau. Ich muss zum Arzt und kriege eine Tetanusspritze. Super!

Die Luderviecher riechen seit damals schon von weitem, dass ich ordentlich Spundus hab vor ihnen und nützen das alle weidlich aus, mir Angst zu machen. Heute noch, als Erwachsenem! Schönes Trauma hab ich mir da zusammengeträumt! In einem klugen Hundebuch habe ich einmal gelesen, besser auf den Besitzer warten, wenn’s brenzlig wird, das ist witzig! Und jetzt wird’s langsam brenzlig. Hinter der nächsten Kurve liegt schon der verflixte Garten mit dem überdimensionalen Rollmops darin. Ich werde mich auf kurze Kommandos festlegen, wenn er rauskommt. „Steh!“ Oder „geh in Oasch!“, grinse ich. Nein, das sagt man nicht, würde mich meine Gattin ermahnen.
Diesmal ist mir das Lachen im Halse stecken geblieben, denn ich kann   i  h  n  bereits auf der kurz geschorenen Rasenfläche erkennen. Er steht noch genauso da wie vorhin, fällt mir auf. Seine Lieblingsstellung nehm ich mal an. Wie der wohl von vorne aussieht? Grauenhafte Visage mit rasiermesserscharfen gefletschten Zähnen. Speichel trieft aus seinem entsetzlichen Maul.

Vater hat immer gesagt, stets vorher fragen, wenn man einen Hund streicheln will. Wer will ihn streicheln, zum Geier? Wenn kein Besitzer zu sehen ist, ganz einfach nicht hingehen. Tu ich sicher nicht, das Gegenteil ist der Fall. Wenn schon, dann erst die Hand beschnüffeln lassen. Zack, hat er dich schon! Wie ich mir das so vorstelle! Und dann erst streicheln, aber nicht fest anfassen. So bled (sic!) werd ich sein! Ich gehöre zu den ängstlichen Kindern, also muss ich lernen, ruhig zu sein und darf nicht quietschen. Wie, davor oder nachdem er mich gebissen hat? Und hinter den Eltern verstecken geht gar nicht, das ist unfair, sagt der Moppel, komm sofort hinter Mamas Kittel hervor, das gilt nicht! Wie soll ich dich denn dort schnappen, nicht? Noch schlimmer ist es, wenn die zu zweit oder zu dritt sind. Dann stacheln sie sich gegenseitig an, den vermeintlichen Gegner fertigzumachen. Aber man muss es listig anstellen, den Auslöser für ihr instinktives Jagverhalten ausschalten, und das heißt: nicht laufen, nicht schreien, stehen bleiben und ganz ruhig sein. Rad fahren schon gar nicht! Das Ruhigsein müsste ich vorerst einmal üben. Vielleicht mit Hinfallen und den Hals mit angewinkelten Armen schützen.

Oh Gott! Mir wird übel. Es kann jetzt nicht mehr weit sein, bis zum offenen Gartentor. Die Superg’scheiten sagen auch, es wäre äußerst selten, dass scharfe Hunde Menschen so ganz wahllos angreifen. Wahllos? Der da wählt sicher aus, und zwar mich! Weiß meiner da vorne das auch, dass er selten beißen soll, frag ich mich? Vielleicht hat er schon lange nicht gebissen und will an mir bloß üben? Egal, denn dann habe ich ohnehin nur zwei Möglichkeiten, entweder es kommt wer, der ihn wegholt, oder ich kann abhauen. Fifty-fifty. Wegfahren in diesem Fall, versteht sich. Ich übe also schon mal Blick abwenden und Arme entspannt am Lenker liegen lassen. Sollte ihn das kalt lassen, dann eben ein „Kusch“ oder so ähnlich. Ich kann nur hoffen, dass er deutschsprachig abgerichtet wurde, und nicht serbokroatisch. Da müsste ich passen. Wenn er zupackt, dann jedenfalls „nein!“, aber überdeutlich.

Dann geht noch – möglichst Distanz schaffen. Ich trete also wie irre in die Pedale. Is’ er noch immer da, vielleicht besser ablenken. Ich könnte ja meine Trinkflasche wegwerfen und rufen, „hol das Stöckchen, blödes Vieh!“ Nein? Wenn nicht, dann eben nicht. Bleibt nur noch, Arme hochwerfen und Hals schützen. Wie bereits erwähnt, endet so etwas am Rad meist mit einem Mordsstern. Ich glaube, mich an jener Stelle an etwas Schotter auf der Fahrbahn zu erinnern. Wie auch immer. Jedoch keine Abwehrbewegungen, das reizt den Mordgesellen in ihm. Also ruhig reinbeißen lassen, bis das Blut warm die Waden hinuntersudelt. Beiß nur, lass dir’s schmecken, heut Abend gibt’s dann nichts mehr, klar? Sich wehren, ihn auf die Nase treten oder so sollte man besser sein lassen, diese Fiffis spüren im Kampf keine Schmerzen, so bei der Sache sind die.
Na, und dann sollte man auch nicht deren Kraft unterschätzen und das, was sie da vorne im Maul haben, ist nicht unbedingt eine Prothese. Eine Laufleine im Garten wäre schon eine nützliche Sache, überlege ich. Aber was soll’s, wenn er keine hat. Und der hier hat mit Sicherheit keine. Klar findet der es klasse, wenn ich da vor seinem Bewegungsmelder vorbeiwetze. Hat ja sonst nichts zu tun, die Töle, als den ganzen Tag auf die Straße starren. Fad ist das, versteh ich eh. Aber wie kommt unsereins dazu, für ihn den Pausenclown abzugeben? Soll sich ein Gummientlein aus seinem Körbchen holen, das quietscht auch, wenn er es zwickt. Aber nein, es geht ihm ja ums Hinterherrennen, klar. Das hält fit. Stehenbleiben gilt als sicherste Methode für den Nichtangriffspakt.

Dadurch mache ich mich für ihn völlig uninteressant, oder? Der will ja, dass ich abhau, wo bliebe denn sonst die Erfolgsquote? Wenn ich stehen bleib, fällt er um diese um, dann muss er sich fragen, wozu er überhaupt noch gut ist. Kriegt womöglich die Krise und muss zum Hundepsychologen. Kann ich das verantworten? Nein, was wäre ich denn für ein Ekel. Aber wenn ich stehen bleib, dann denkt er womöglich, ich will was von ihm. Und dann geht das ganze Theater von neuem los. Dann wacht der Wächter des Hauses in ihm auf. Na na na na, stehengeblieben wird nicht!, beschließe ich. Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich werde ihn ganz einfach ignorieren. Genau! Ich sehe ihn nicht an, nehme ihn nicht wahr, schaue an ihm vorbei und zähle die Schäfchenwolken am Himmel so lange, bis ich an ihm vorüber bin.

Laut Statistik sind es die Männer, die immer gebissen werden, weil sie ihr eigener Ehrgeiz plagt, diesem Hundehund zu entgegnen. Das geht meist an die Hose. Frauen seien im Übrigen viel diplomatischer, heißt es. Die gehen da einfach ruhig vorbei und haben es nicht notwendig, ihren Mut, den sie gar nicht haben, unter Beweis zu stellen. Wir Männer, wir lassen uns da viel zu sehr emotionalisieren, nehmen alles persönlich, schreien das Tier an, beschimpfen es und so. Ich kann das gut verstehen. Schließlich bin ich ja einer von ihnen.
Ich könnte natürlich auch körperliche Präsenz vor dem Tier zeigen, mich vor ihm aufbauen und wichtigmachen, wie die Eingeborenen ihren Kindern in der Kalahari beibringen, sich mit zwei Holzstücken an den Kopf gehalten, größer zu machen als sie sind, um so Hyänen zu vertreiben. Die fallen auf den Schmäh rein, gewiss. Der Rotti da lacht sich einen Ast, wenn ich das mach. Aber – bloß mit dem Körper imponieren – der Haken dabei ist, ich wiege kaum achtundsechzig Kilo und in der Landschaft bin ich ein Strich. Das wäre also keine so gute Idee. Vor so einem wie mir hat   d  e  r    da  sicher keinen Respekt.

So, jetzt aber wird es wirklich ernst, da vorne. Schon sehe ich das offene Tor. Also gut, du willst es ja nicht anders, denke ich. Gleich, gleich bin am Tor. Ja, jetzt. Dort hinterm Busch die Bestie. Steht ganz ruhig da. Der Doggy muss mich doch schon riechen können? Ich fahre ruhiger, passiere das Tor. Bin daran vorbei. Jetzt hab ich schon einen kleinen Vorsprung. Ich schiele im Augenwinkel auf sein Hinterteil. Steht immer noch so da wie vorhin. Starrt der die ganze Zeit über die Mauer an? Aber gleich, gleich wird er herausgaloppieren. Ich überlege schon mal ein Schimpfwort. Nein, besser dieses „Platz“ oder „Aus“ oder „Verschwind“!
Aber der Wauwau kommt nicht. Ein ganz Gerissener! Der will, dass ich mich in Sicherheit wiege und dann… Ich schwitze wie ein Firmling. Der Schweiß rinnt mir über die Stirn, die Wangen, an der Nase vorbei direkt in den Mund. Ich schmecke Salziges. Mein Herz rast. Soll ich mich umdrehen? Merkt er das? Nimmt er das als Herausforderung für eine Attacke an? Nimmt er mir das übel? Ich wende also meinen Kopf rasch nach hinten. Dort steht das Luder. Regungslos. Wieso? Ich versteh nicht. Langsamer. Ich werde langsamer und bleibe vorsichtig stehen, Pedal nach oben, bereit sofort loszutreten. Mein „bester Freund“, mein vierbeiniger, steht dort am Rasen und rührt sich nicht. Eigenartige Farbe hat er, denke ich. Irgendwie… das ist… das gibt’s nicht! Irgendwie rostig. Ich werd verrückt!    N e i n !    Eine Attrappe! Der ist aus Metall! Der Hundsfott ist reine Deko! Ich halt’s nicht aus!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16064

On the Road Again

Einen Spaziergang machen. Zum Nachdenken, zum Runterkommen, zum Erholen, und um alles von sich abzuschütteln, was so an einem unangenehm haften geblieben war die letzten Tage. Alles loswerden, was einen so vereinnahmt. Die kleinen Histörchen, Skandale, die Familiengeschichten, Songtexte und und und. Wenn das so leicht wäre! Landschaft. Konzentrieren auf die Landschaft. Dort ein Baum, ein Strauch, ein Vogel am Himmel. Ein Vogel? Ein Flugzeug. Dahingehen auf einer Straße.

Wieder auf der Straße
Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, irre Sachen mit meinen Freunden zu machen…

Seine Schritte über die nahen parallel zum See liegenden hügeligen Weingärten lenken. Auf einem – Güterweg, immerhin asphaltiert, mitten im Grünland, wie überall hier. Beinah eine Straße. Das Wetter war gar nicht so mild wie anfangs erwartet. Ein ziemlich kalter Wind fegte von Westen her über die blattlosen Weinstöcke. Wo er auf Widerstand traf, pfiff er sein Lied unaufhörlich an den dünnen Drähten der Weinstöcke. Über den Himmel zogen, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette, Flugzeuge im Dreiminutenabstand ziemlich tief ihre Anflugsrunden auf den nahen Flughafen. Kinder hätten vielleicht gewinkt oder ein Taschentuch geschwenkt, das die Passagiere hätten sehen sollen. Erwachsene unterlassen solchen Unsinn. Die Welt der Erwachsenen ist zumeist eine nüchterne. Es findet sich oftmals kein Platz für Träume und Fantastereien darin. Weit hinten am Horizont war der bewölkte Himmel etwas aufgebrochen und ließ den einen oder anderen Sonnenstrahl auf das schwache Grün darunter herniederblitzen. Tief Luft holen und nach oben blicken. An manchen Stellen klarte es etwas auf. Nachdenken. Ein Gefühl, als stünde man barfuß auf dem Rücken zweier Pferde im Galopp, die unaufhörlich weiterlaufen, während man die Zügel zwar in der Hand hält, es aber Mühe macht, die beiden Tiere beisammen zu halten, da sie jederzeit nach links oder rechts ausbrechen könnten. Und alles ist so unaufhaltsam – wie die Zeit, die nicht zu stoppen ist, die einem nicht sagt, wohin denn die eigene Reise geht. Einmal anhalten können. Verschnaufen können. Überlegen, ob der richtige Kurs vorliegt. Korrekturen anbringen.

Wieder ein Airbus über dem Kopf. Der Wind trug Fetzen eines Liedes vom Ortsfriedhof an die Ohren heran. Blasmusikkapelle. Ich hatt´ einen Kameraden! Der junge Mann, den sie begruben, war erst zweiundfünf-zig, wie zu erfahren war, und sie spielten ein Soldatenlied! Zweitau-sendundsechzehn! Nicht etwa Yesterday oder wenigstens Time To Say Goodbye. Weiter auf der Straße, die den Weg bedeutet.
Da kletterte irgendein Junge aus der Fantasie der Erinnerungen, der einmal in Los Angeles ein Kleinflugzeug entführt hatte und mit diesem über Death Valley geflogen war. Die Polizei suchte ihn wegen Mordes an einem Cop.

Sich in Fantasien er- und eine Straße entlanggehen. Sich in die Lage eines solchen Jungen versetzen. So eine Piper selbst starten und über die Rollbahn fegen. Abheben. Über den Wolken sein. Sonne putzen. Wieder bloß ein Lied. Oder doch Wirklichkeit? Seine Blicke dem Kreisen eines Bussards über dem Acker folgen lassen. Die Welt von oben betrachten. Die Sorgen unten lassen, auf der Erde. Alles Irdische der Erde überlassen. Eine Liebesgeschichte träumen.

Daria, ein junges Mädchen, fuhr im Wagen ihres Freundes in Richtung Denville, oder Glenville. Oder war´s Merryville? Egal. Irgendwo in Phoenix, irgendwo in der Wüste. Ein fantastischer Ort zum Meditieren, telefonierte sie ihrem Chef, der sie lieber in seinem Privatflugzeug mitgenommen hätte, als sie alleine durch die Wüste fahren zu lassen. Was sie denn dort mache? Meditieren, antwortete sie. Was sie damit meinte, fragte ihr Vorgesetzter. Über Dinge nachdenken, sagte sie, kurz angebunden, und hängte auf. In irgendeiner Bar in einem Wüstenkaff. Während die Sonne gnadenlos herunterbrennt, gerät die Geschichte in die Gegenwart. An der Bar hängt ein von Wind und Sonne gegerbter alter Mann herum, der sein Bier trinkt und in einem fort Zigaretten raucht. Wissen Sie, wo Merryville ist? Er schüttelt wortlos seinen Kopf. Aus der Musikbox ertönt Tennessee Waltz. I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz. When an old friend I happened to see. I introduced her to my loved one. And while they were dancin,‘ my friend stole my sweetheart from me. Daria setzt ihre Fahrt mit dem grauen alten Zwölfzylinder fort.

Ich kann es kaum erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.
Wieder auf der Straße…
Orte besuchen, an denen ich noch nie gewesen bin.
Dinge sehen, die ich danach vielleicht nie mehr wieder sehe.
Ich kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.

Daria fährt in dem alten Buick über eine endlose Landstraße. Vom Autoradio ist Hillbilly-Musik zu hören. Da plötzlich – das Flugzeug des Jungen über ihr! Daria steigt aufs Gas. Was will der Verrückte denn? Er wendet und kommt im Tiefflug direkt auf sie zu. Daria duckt sich hinter dem Volant und schüttelt ungläubig den Kopf. Der hat sie doch nicht alle! Der Junge zieht die Maschine abermals hoch, fliegt einen weiten Bogen und rast aufs Neue frontal auf sie zu. Daria flucht leise. Nun kippt er das kleine Seitenfenster des Flugzeugs auf und wirft ein T-Shirt über Daria ab. Dann beobachtet er, wie sie hinläuft und es aufhebt, es mit beiden Händen an ihren Körper anlegt und zu ihm herauflacht. Der Junge landet das kleine Flugzeug sicher auf dem Highway. Er steigt aus, sie sehen sich in die Augen. Ob sie ihn mitnehmen könne, in die nächste Siedlung. In zwanzig Meilen Entfernung wäre die nächste. Er braucht Benzin. Seine braunen Augen spiegeln sich in ihren blauen.

Wieder auf der Straße
Wie Landstreicher streunen wir den Highway hinunter.
Wir sind die besten Freunde, sagen wir, und toll, dass die Welt sich in unseren Wegen kreuzt.
Und unser Weg ist wieder die Straße.

Da wäre ein Polizist erschossen worden. Daria hätte es im Radio gehört. Der Junge sieht zu Boden. Und dass die Pflanzen hier im ewigen Sand nicht eingehen. Ein Wunder auch, bei der Hitze. Rauchst du?, fragt Daria. Nein, ich gehöre einer Gruppe an, die auf Wirklichkeitstour ist. Das heißt, sie können sich nichts vorstellen, lacht Daria und dreht einen Joint. Der Junge erzählt ihr über sein gescheitertes Uni-Leben und von den Studentenunruhen und er fügt an, ja, da sei ein Polizist erschossen worden.

Aber schon laufen sie schreiend und singend eine Geröllhalde hinunter und legen sich in den heißen Sand eines ausgetrockneten Flussbettes, wo sie im Schatten gemeinsam den Joint rauchen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man steht, sagt Daria und man könnte alles anders machen, wenn man nur wollte. Der Junge sieht sie ungläubig an. Es ist friedlich hier. Es ist alles tot hier, entgegnet der Junge. Tun wir so, als wären deine Gedanken Pflanzen, muntert sie ihn auf. Wie sehen deine aus?, fragt sie neugierig. Wie Unkraut? Oder Gänseblümchen? Sie lachen. Es wäre schön, wenn man eine glückliche Kindheit pflanzen könnte. Und liebevolle Eltern, sagt er. Dann beginnen sie, im Niemandsland um die Wette zu schreien.

Als sie die Steinrinne wieder emporgeklettert sind, steigen sie in den alten Buick und fahren weiter. Unterwegs halten sie an einer herunter-gekommenen Hütte. Ein alter Mann mit weißen Bartstoppeln hilft ihnen, das Flugzeug, das der Junge geklaut hat, bunt zu bemalen. Niemand versteht, wie die Piper plötzlich hierhergebracht worden war. Ich werde es zurückbringen, sagt der Junge. Du kannst es nicht einfach zurückbringen, versucht Daria ihm das Wagnis auszureden. Aber der Junge lässt sich nicht beirren. Er küsst Daria auf den Mund und steigt ins Flugzeug. Während es abhebt, winkt sie. Ihr Winken ist das eines Kindes. Danach setzt sie ihre Fahrt fort. Der Radiosender meldet, dass ein junger Mann auf dem Rollfeld in L.A. erschossen worden sei, als er ein gestohlenes Flugzeug gelandet habe.

Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, so Sachen mit meinen Freunden zu machen und so…

Daria folgt der Aufforderung ihres Chefs, sich bei ihm mitten in der Wüste in einer Luxusvilla einzufinden, in der eine wichtige Konferenz stattfindet. Aber Daria empfindet nur Leere und Einsamkeit. Es interessiert sie nicht, was hier gesprochen und verhandelt wird. Sie kann unbemerkt in ihr Auto zurückkehren. Sie setzt sich hinein und starrt auf das Gebäude. Ihre Gedanken sprengen ihr Bewusstsein. Ihre Gedanken sprengen dieses Gebäude. Heftige Explosionen erschüttern die karge Gegend. Sessel, Lampen, Tische, Bücher, Tassen, Teller Schränke, Einrichtungsgegenstände, zahllose Trümmer fliegen in Zeitlupe vor ihren Augen in die Luft, schweben eine Zeit lang im Raum und sinken lautlos zu Boden. Musik von Pink Floyd begleitet den irren Trümmertanz. Als es still wird um sie, ist ihr, als hörte sie eine Stimme in ihr:

I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz
When an old friend I happened to see
I introduced her to my loved one
And while they were dancin‘
My friend stole my sweetheart from me.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16038

 

 

 

Trauriges Beispiel

Einst, stolzgebläht, der Stürme Fahrgast
Hängst du nun da an einem Baumast

Ein toter Ast ist’s obendrein
Er fing dich schon vor Jahren ein

Oft auf meinen Arbeitswegen
Sah ich dich vergeblich regen

Freiheit! Ächzt’s aus deinen Falten
Doch der Baum, er wird dich halten

Sturmflug! Flatterst du im Wind
Dieweil die Regenträne rinnt

Oh, Plastiksack, dein Los ist hart
Einst warst du weiß und frisch und zart

Ich sah dich kühn die Himmel stürmen
Jubelnd über Häusern, Türmen

Du wolltest nur ein wenig landen
Schon schlug man dich in hölzern Banden

Dein Schicksal, Sack, ist arge Lehre
Gib niemals nach der Eigenschwere!

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Dieser Text ist auch als Song zu hören, interpretiert von Alicia Edelweiss.
Diesen Text können Sie seit Dezember 2018 auch hören, gelesen vom Autor.

www.verdichtet.at | Kategorien: hin & weg und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16020

Dunkles Land

Mathis – schon sein Name verhieß die wohl konservativste Sexfantasie aller Frauen: ein heißer, französischer Sommerflirt.
Auf einer Interrailreise mit Freundinnen traf ich ihn und hatte mich vom ersten Moment an unsterblich in seine großen, dunklen Augen verliebt. Er war mit seinen Kumpels gerade Richtung Italien unterwegs, und wir hatten eine Rundreise in Frankreich geplant. Er war aufregend, schön und der erste Mann, bei dem ich mich selbst auch so gefühlt hatte.
Wir teilten uns Schlafsack und Frühstück, beschlossen schließlich wagemutig, unsere Freunde per Zug weiterziehen zu lassen und zu zweit noch einige Wochen am Meer zu verbringen.
Die klischeehafte Vorstellung eines französischen Sommerflirts versetzte mich in einen Glücksrausch, der nur dadurch gesteigert wurde, dass die Realität genau jener Vorstellung entsprach. Die Wochen vergingen im Liebesrausch und waren voller klebrig-süßer Erinnerungen.

Nach einer emotionalen Trennung, bei der ich von dem Moment an, als Mathis mich zum Flughafen Marseille brachte, nur Rotz und Wasser geheult hatte, begann der Alltag meines Studiums im nebeligen Wien.
Ich sehnte mich so sehr nach der Wärme, der Sonne und seinen Berührungen, dass ich mich in einer Art Trancezustand befand, aus der ich nur für die täglichen Skypeanrufe von Mathis, die oft bis tief in die Nacht dauerten, erwachte.
Die Trance hielt an und überdeckte für lange Zeit alles, was um mich herum und in der Welt geschah. Fast hungernd nach Liebe wartete ich sehnsüchtig auf Mathis, der mich Mitte Oktober für einige Tage in Wien besuchte. So verliebt wie ich war, merkte ich trotzdem, dass sich etwas verändert hatte. Die zwanglosen Plaudereien und die tiefgründigen Gespräche hatten schleichend einen bitteren Beigeschmack bekommen, denn trotz unserer jugendlich naiven Offenheit vermieden wir ein Thema, bei dem wir uns beide wohl zu unsicher waren, wie der andere darüber dachte.
Als Mathis zurückflog, fand ich mich wieder in der Rolle der unglücklich Leidenden, die ich über die Wochen perfektioniert hatte. Meine Mitbewohnerin Marie reagierte auf mein Leiden jedoch nicht mehr wie am Anfang des Herbstes mitfühlend liebevoll sondern abweisend und kurz angebunden. Ihre kaltschnäuzigen Reaktionen brachten mich zum Grübeln. Vielleicht lag es daran, dass sie keinen Freund hatte. Ich beschloss, dieser Version meinen Glauben zu schenken und Maries schlechte Meinung bezüglich Mathis auf ihre Eifersucht zurückzuführen. So erwähnte ich Mathis kaum mehr in ihrer Gegenwart.
Wie sehr ich mich täuschte, erfuhr ich erst Wochen später.

Nun kam für mich die Zeit der Ereignisse, die bereits unaufhaltsam über Europa hereinbrachen, für die mein verklärter Verstand allerdings kein Interesse aufbringen konnte.
Marie war schon vor einiger Zeit sehr aktiv geworden, sie hatte beim Roten Kreuz als freiwillige Mitarbeiterin bei der Koordination und der Verpflegung von Flüchtlingen mitgeholfen. Ich begriff das Ausmaß dieser humanitären Katastrophe erst, als sie Freunde zu uns eingeladen hatte, die davon berichteten, dass sie im Sommer bereits gestrandete Flüchtlingsboote auf Lesbos gesichtet hatten und nun gerade aus Slowenien zurückkamen, wo sie gewesen waren, um Hilfsorganisationen zu unterstützen.
Alle schienen in Bewegung, alle schienen zu wissen, dass sie etwas tun sollten und sie taten es, ohne dabei ihre moralische Überlegenheit zur Schau zu tragen. Es war ein bereits begonnener Prozess, und obwohl dessen Ende kaum absehbar war, hatten sich alle mit Enthusiasmus und nie vermuteter Energie daran beteiligt. Ich kam mir vor wie der letzte Idiot und der größte Egoist.
Schließlich fand auch ich, dem Schicksal einer vom Leben gelangweilten und zugleich verwöhnten Göre entkommend, eine Aufgabe, die mich vollends ausfüllte und zugleich auch von Mathis ablenkte. Ich half eine Zeit lang am Wochenende in Nickelsdorf mit und gab, als es mein Studium nicht mehr erlaubte, Deutschnachhilfestunden für minderjährige Flüchtlinge.

Meine hitzigen Gefühle für Mathis nahmen stetig ab, und das Skypen war nun längst nicht mehr das Wichtigste in meinem Leben. Im Gegenteil: Häufig hielten wir uns beide kurz angebunden und riefen uns vielleicht jeden zweiten, dritten Tag an.
Als die Terroranschläge Paris erschütterten, rief ich Mathis sofort an, er war schockiert, doch er war in Sicherheit. Hilflos und zugleich wortkarg wehrte er jedes meiner Angebote ab, ihn zu besuchen.
Es sei zu gefährlich, es sei momentan einfach das Chaos. Es sei dunkel im Land geworden.

Letztendlich kam der Dezember und mit ihm erstmals eine Erschöpfung in den Augen meiner Freunde. Marie hatte kaum Zeit gefunden, neben ihren Job in der Bibliothek und ihrer Freiwilligenarbeit für ihr Studium zu lernen und auch ich hatte einen Zustand der Erschöpfung erreicht.
Als ich Mathis wieder einmal am Abend hörte, war ich gereizt und präsentierte mich nicht, wie sonst, von meiner besten Seite.
Von meinem erwachten Interesse am Geschehen der Welt lenkte ich unser Gespräch weg von den üblichen Belanglosigkeiten hin zu einem brisanteren Thema: Frankreich und die Regionalwahlen.
Im Hintergrund der Terroranschläge verstand ich die allgemeine Unruhe und das Misstrauen, allerdings fand ich es keine Rechtfertigung für die Wahl einer rechtskonservativen Partei.
Zum ersten Mal stritten wir uns heftig, diskutierten laut, wovor wir beide so lange die Augen verschlossen hatten: unsere unterschiedlichen politischen Ansichten.
Ihm war die Front National zu „weich“, er forderte ein Frankreich, das nur für Franzosen war und nun spürte ich auch seine Verachtung gegenüber meinem erwachten Mitgefühl und meiner freiwilligen Arbeit.
„Euch wird das alles einmal über den Kopf wachsen, ihr werdet noch sehen, was euch eure scheiß liberale Einstellung gebracht hat!“
Seine Worte hallen mir noch immer nach, und ich weiß noch immer nicht, wo sich Europa hin entwickeln wird. Aber ich weiß, dass die Sehnsucht nach Mathis, meiner großen Sommerliebe, nicht mehr andauern wird.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer:  16015

 

Geisterzug

Dieser Zug schleicht raubtierhaft
Durch die Raubtierkatzennacht

Katzenaugen der Signale
Warnen vor
Der Bahngeleise-Schreckensmacht

Der Geisterzug setzt geisterhaft
Setzt zum Sprung an durch die Nacht
Rot erschreckte Autolichter
flüchten vor des Untiers Kraft

Und schon erlegt
Und wirklich kraftlos
liegt das schwarze Alpentier

Mit abgeschabten Hügelbrüsten
Mit ausgefransten Waldfellbüscheln
Säugt es dir
Kein Junges mehr

Eingespannt in Lichterketten
Hochgestellten Starkstrom-Zäunen
liegt’s, erlegen, einfach hier.

Aber schau, auch der Zug vergisst den Sprung
Und fällt, ermattet, einfach um.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 16001

 

Zwei Fremde im Bus: Von Aleppo nach Laaanderthaya

Am 27. August 2015 stieg der Mann in den weißen Bus mit drei grünen Rebstöcken an der Seite, bezahlte beim Fahrer 15 Euro: „Laa- an- der-Thaya, please“, ging die Reihen entlang und wählte einen der hinteren Plätze. Den kleinen Koffer legte er ins Gepäckfach, auf den leeren Sitz neben sich stellte er die Papiertasche mit den goldenen Bögen einer großen Kette. Hinter ihm lagen viele große und kleine Städte, und seine Reise aus dem Osten in den Norden dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Er war an vielen Orten gestrandet, länger oder kürzer. Von Aleppo weg ein Jahr in Beirut und Istanbul, dann eine griechische Insel, in Athen ein ganzes Jahr Tellerwäscher bei Nikolas, dem Tavernenwirt, der wollte wirklich helfen, obwohl es ihm selbst gar nicht gut ging. Später kurz Skopje, Belgrad und Budapest, die ganze schreckliche Balkanroute samt ungarischem Mörderdraht, schließlich Hauptbahnhof Wien. Die Hauptstadt von Austria ist etwas größer als Aleppo einmal war. Vienna war ihm in der alten Heimat schon ein Begriff gewesen, weil er etwas von Sigmund Freud gelesen hatte. Laaanderthaya kannte er natürlich nicht, und er wiederholte dieses schwierige Wort immer wieder – sollte das vielleicht einmal seine neue Heimat werden?
Er versuchte, Assoziationen zu seiner Muttersprache zu finden: La-andertaya. Er drehte das Wort um: Al-redna Ayat, das klang ja fast Arabisch, freute sich der Mann und lächelte auf den Notizzettel im Schoß hinunter: Wien-Hauptbahnhof – U1 bis Stephansplatz- U3 – Landstraße-Waldviertel-Bus Laa-an-der-Thaya – Kirche-Pfarrhof-Seniorenheim-Caritas. Hau-ptb-ahnhof, das ging gar nicht – ptb, das war unmöglich auszusprechen, genauso wie das -ldv- und das -pf-, für ihn waren das keine erkennbaren Laute, und seine Sprechwerkzeuge sträubten sich dagegen wie gegen eine tote Maus. Am Hauptbahnhof hatte eine junge Frau mit Kopftuch, eine „helping hand“ – so stand es in mehreren Sprachen auf dem Klebeschild ihrer grünen Weste – schon ein bisschen mit ihm geübt. Die offizielle Zuweisung der Caritas an das „Seniorenheim“ trug er tief in der linken Innentasche des neuen Sakkos, dort, wo er auch das Foto seiner Frau und der zwei Töchter aufbewahrte. Kein aktuelles Foto, weil seine ältere Tochter schon früher aus Aleppo weggegangen war.

Der Syrer, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mittelgroß und hager, mit Hornbrille, blauen Augen und Halbglatze, ist auf seinen vielen Stationen seit Aleppo ein geduldiger Reisender geworden. Es war überhaupt seine erste Reise außerhalb Syriens, sogar in der Hauptstadt Damaskus ist er nur einmal gewesen. Und auch diese Reise hätte er nicht angetreten, wenn ihn der Krieg nicht dazu gezwungen hätte. Davor war es ihm und seiner Familie gut gegangen in Aleppo, seiner Frau Rikhiel und den beiden Töchtern Daliah und Myrnah. Schweiß trat auf seine Stirn, als ihn die Erinnerungen ohne Schutz überfielen.
Er stöhnte lautlos, senkte den Kopf tief über die Knie und rieb sich die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben. Es war nicht heiß im Bus, aber er zog das Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne. Die schwarze Hose war ihm viel zu weit und zu lang, er zupfte immer wieder vorsorglich die scharfe Bügelfalte hoch, wenn er seine Beinstellung änderte. Es war ein feiner, glatter, angenehm kühler Stoff. Mit einem weißen, zusammengefalteten Stofftaschentuch wischte er über die Oberschenkel, als ob er unsichtbare Tabakkrümel, Asche oder Staub beseitigen wollte. Er nestelte mit leichten Gesten an der Hemdbrust und klopfte mit so beweglichen Fingern auf den Knien herum, als hätte er sein Leben am Klavier verbracht. Aber er war kein Pianist, sondern nur Masseur, ein Handaufleger und Wunderheiler. In Aleppo hatte er einen guten Ruf genossen, er galt als ein Meister, als Künstler, manche sagten sogar Magier, seine Praxis war überlaufen, sogar Ausländer kamen zu ihm und die Herren und Damen des innersten Machtzirkels der Stadt durfte er von ihren Leiden erlösen.
Er saß allein in seiner Reihe mit den blau-rot-gemusterten Sitzen, mit einer Fußstütze, einem aufklappbaren Tischchen und einem Netz an der Rückseite des vorderen Sitzes, ein Luxus, wie er ihn noch in keinem Bus erlebt hatte. Die ehemaligen Aschenbecher in den Sessellehnen waren verklebt. Aha, es hatte auch hier andere Zeiten für Raucher gegeben. Aus den Lautsprechern drang leise Musik, vielleicht klang so Wiener Walzer. Ihm gefiel es, und es überkam ihn kurz ein behagliches Gefühl. So ging also Reisen, so sollte es immer sein.

Die Kleidersachen hatte er heute am Morgen am Hauptbahnhof bekommen. „Train of Hope“ (ToH) nannten die Leute ihre Hilfsaktion. Er kam so früh aus der Caritas-Notunterkunft zum ToH, dass die Schlange vor dem Zelt mit Männerbekleidung noch relativ kurz war. Er staunte, so vieles war da, häufte sich in Stößen und Schachteln und quoll aus den Regalen, von allem genug und in großer Auswahl, vor allem jugendliche Sportbekleidung, Anoraks, Schuhzeug, Wäsche, Mützen, Rucksäcke und Taschen aller Art. Als Erstes hatte er seinen Plastiksack von Billa-Budapest gegen einen kleinen, aber seriösen Koffer eingetauscht.
Es entsprach ihm, David Al-Bahri, dem Juden aus Aleppo, dass er sich für diesen altmodischen Anzug entschied, dazu ein blass-blaugestreiftes Hemd und eine orientalisch gemusterte Seidenkrawatte. Wahrscheinlich war sie an allem Schuld, erinnerte sie ihn doch an Ornamente der Umayyaden-Moschee, oder waren es die Stoffe im Basar oder ein Mosaikfries der frühbyzantinischen Helena-Kathedrale von Aleppo? In seinem Leben hatte er so etwas noch nicht getragen, aber ihm kamen diese fremden Kleidungsstücke auf geheimnisvolle Weise vertraut vor. Irgendwann, irgendwo wollte er jemanden fragen, was die in die Krägen und Stulpen eingenähten Bändchen „KNIZE“ bedeuteten.
Dem Anzug entsprechendes Schuhzeug hatte er im Gedränge nicht finden können. Deswegen trug er jetzt schwarz-weiße, etwas zu große Sportschuhe an den Füßen mit dem eigenartig arabisch klingenden Namen Adi-das. Er genierte sich, wenn er an seinen Beinen hinuntersah, wie sich die weiten Hosenröhren in mehreren Lagen über den Turnschuhen wölbten. Er war in löchrigen Straßenschuhen und mit abgelaufenen Badeschlapfen in Wien angekommen, lächerlich, wofür sollte er sich noch schämen.

Im spärlich besetzten Weinviertel-Bus merkt niemand, wie er zu kämpfen hat, dass er nicht rauchen darf, wie ihm der Schweiß auf dem Gesicht steht und über Hals und Nacken läuft. Er öffnet das Hemd und wischt mit dem Taschentuch über die Brust, nimmt die Seidenkrawatte ab, kaut an einem Zündholz und schiebt es mit der Zunge ständig von einem Mundwinkel in den anderen. Für einen starken Raucher wie ihn war das Rauchverbot eine Qual, noch eine zu den vielen der Flucht. Aber David Al-Bahri ist ein geduldiger Fahrgast. Und ein aufmerksamer. Als sie aus der Stadt heraus waren, stiegen immer wieder Menschen vorne ein und hinten aus, sehr diszipliniert, langsam und immer in Reih und Glied, fast alle Passagiere waren älter als er, alt oder sehr alt, aber rosig und gut gelaunt.
Wo war die Jugend dieses Landes, wunderte er sich. Zwei Frauen in der Reihe vor ihm hatten bunte Taschen mit Einkäufen bei sich, redeten laut, lachten und schwatzten wie Junge, offenbar miteinander vertraut, obwohl sie an verschiedenen Stationen eingestiegen waren. Alle sprachen den Fahrer an, als wäre er ein Familienmitglied. Am rechten Vordersitz unterhielt sich ein schwerhöriger Mann lautstark und gestenreich mit sich selbst und legte immer wieder die linke Hand ans Ohr, als wollte er sich selbst zuhören.
An einem Halt – er konnte die Ortstafel nicht so schnell entziffern – beobachtete er eine Szene: Der Fahrer bekam ein zwitscherndes Lautsignal, ähnlich einem Vogelruf, da stieg er aus, kam zur Mitteltür und klappte eine Plattform so exakt aus dem Boden des Busses, dass eine einzige Rollstuhlfahrerin, grotesk deformiert an Gesicht und Körper, fast ebenerdig hereinrollen konnte; sie war in Begleitung einer jungen Frau, die den Rollstuhl an dem vorgesehenen Platz in einer leeren Ecke mit einem Riemen befestigte. Gab es irgendetwas, was sie nicht vorhersahen? So viel Aufwand für eine einzige Invalide. Nach nur zwei Stationen stiegen sie genauso wieder aus.
An einem anderen Ort – Ober- oder Unter-Hollabrunn? – schwang sich ein lauter Schwarm von bunten Teenagern in den Bus, Schüler und Schülerinnen mit Rucksäcken. Sie besetzten die hinterste Sitzreihe und wälzten sich so hungrig und durstig über ihre elektronischen Geräte, als seien sie gerade mit dem letzten Wasserschluck der Wüste entkommen. In einem größeren Ort mit zwei Kirchtürmen stiegen sie genauso lärmend wieder aus.

Ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine 25, mit einem nagelneuen Seesack über der Schulter stieg zu. Der schaute sich suchend um, ging in den hinteren Teil des Busses und setzte sich genau hinter David. Die lächelnden Augen in dem jungenhaften, rotbackigen Gesicht grüßten ihn beim Vorbeigehen stumm, und David nickte zurück. Als sich der junge Mann auf seinem Platz eingerichtet hatte, griff David neben sich und wandte sich mit dem geöffneten Sack nach hinten. „Please, take some.“ Der junge Mann errötete tief und sagte: „Danke, thank you, very nice, sehr freundlich. My name is August.“ „David, very pleased.“

Der Junge schämte sich ein bisschen dafür, dass er nichts anzubieten hatte, und wurde noch röter. Aber er fuhr ja nur 85 Kilometer bis nach Hause.
Am Bahnhof hatten David ein paar freundliche Jugendliche zwei gigantische, in Stanniol verpackte Veggy-Burger, zwei Apfeltaschen, zwei Bananen und zwei Wasserflaschen „Vöslauer mild“ überreicht. Sie trugen den Proviant in großen Plastikboxen durch die Menge und lächelten jeden an. Bitte, please, bitte please und das noch in Arabisch und rund zwanzig östlichen Sprachen, die an den Plastik-Aufklebern ihrer Westen angeschrieben waren. David kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer waren diese Jugendlichen, warum waren sie nicht in der Schule oder in der Arbeit? Was war das hier überhaupt, wohin war er geraten?

Bahnhofshallen und ein Vorplatz, Fahnen mit OeBB, auf einem Container eine Regenbogenfahne, über anderen Containern wehte eine mit dem Roten Kreuz und „Arbeitersamariterbund“, ein schon etwas vergilbtes Transparent mit der Aufschrift „Refugees WELCOME“, daneben ein großes, weißes Zelt mit aufgedruckten Äskulapnattern, „First Aid“ und vielen in Arabisch geschriebenen Zetteln mit hingekritzelten Notizen und Telefonnummern, davor einfache Holzbänke, alle vollbesetzt mit Wartenden. Die meisten hatten offenbar Fußprobleme, sah er mit einem schnellen Blick.
David war gut davongekommen, er musste damals, vor einem Jahr, nur auf seiner ersten griechischen Insel dreißig Kilometer gehen, um in die Hauptstadt Mytilini zu kommen und auf eine Fähre nach Athen gebracht zu werden. Aber er war ja schon vor einem Jahr aus Aleppo aufgebrochen und hatte in Athen bei Nikolas gearbeitet, gehofft, dass er seine Familie zumindest bis Athen nachholen könnte. Die Neuankömmlinge dieses Sommers haben es viel schwerer als er.

Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofshalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und jene mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit T-Shirts und Socken.
Am lautesten und engsten war es bei der Handy-Ladestation in einer Ecke beim Eingang. Jeder wollte nur seine Verbindungen herstellen, dorthin, wohin sie wollten und woher sie kamen. David hatte kein Handy und kein iPhone. Als er am Stand der LAWYERS an die Reihe kam, stellte sich heraus, dass er eine Erstzuweisung entweder nach Traiskirchen oder nach Laa an der Thaya bekommen könnte; er entschied sich für das unaussprechliche Laaanderthaya. Im Treck von Athen nach Wien hatte er aufgeschnappt, dass in Austria Traiskirchen zu vermeiden sei, es sei ein Lager, ein Camp. Camp klang nicht gut in Davids Ohren. Dort sei es nicht gut, und von dort komme man schwer wieder weg, lautete das Gerücht. Hinter dem Tisch der lawyers saß eine ältere Frau, zu der er sagte: „Please, Laanderthaya, please.“
Sie gratulierte ihm mit einer vorgestreckten Hand, die er nicht annehmen konnte, aber sie lachte und überreichte ihm ein dickes, abgenutztes rotes Buch in der Größe eines Ziegels, das Cassels-Wörterbuch Classical Oxford Dictionary, Deutsch-Englisch/Englisch-Deutsch. „It could be useful to you, maybe.“ Und lächelte. David nahm den Schatz an sich, er war glücklich, wollte er doch so schnell und so gut wie möglich die Landessprache erlernen, damit er sich selbst erhalten und seine Familie nachholen konnte. Die österreichischen lawyers erklärten ihm, wie das ging, der Arabisch-Dolmetsch, ein junger Syrer, der neben Deutsch auch noch Englisch, Kurdisch und Türkisch sprach, übersetzte so, dass er meinte, alles verstanden zu haben.
Er würde in einem „Seniorenheim“ der Caritas ein Zimmer bekommen, als Pfleger und vielleicht später in seinem Beruf arbeiten dürfen, aber außer einem kleinen Taschengeld noch nichts verdienen, solange er keinen positiven Asylbescheid hatte. Dass das schnell ging, diesbezüglich hatten sie ihm keine großen Hoffnungen gemacht. Warten, Monate, vielleicht Jahre, aber für einen Juden aus Syrien wahrscheinlich mit positivem Ausgang – „eine gute Bleibeperspektive“ hatte er. Was sie ihm in der Kürze nicht vollständig erklären konnten, war der Begriff „Seniorenresidenz, Altenheim“.
Bei ihm zu Hause blieben die Alten in der Familie, wurden von allen gemeinsam gepflegt bis zum Ende. Niemand wurde in ein Heim oder eine Residenz gebracht. Wohin sollte er also kommen, was sollte er dort machen, und was war eine „Caritas“? Oh Gott, wie viel hatte er noch zu lernen. Aber David dachte an seine Wunderheilerhände, breitete sie vor sich im Schoß aus und schaute zuversichtlich auf sie herab. Hatte er seine Gabe mitnehmen können in die unbekannte Zukunft?

Der junge Mann griff in den angebotenen Sack mit dem goldenen M und nahm sich von allem die Hälfte, nur die Banane ließ er liegen. Er strahlte ihn mit einem Dankedanke, thank you! an. So aßen und tranken sie schweigend, bis der Junge seine Finger an den Jeans abwischte, und der Fremde Hosenbeine, Lippen und Fingerspitzen mit dem Taschentuch abtupfte. David schaute aus dem Fenster und hätte gerne gewusst, was das für Pflanzen waren, lange Reihen von blattreichen, niedrigen Büschen mit weißen und rosa-bläulichen Blüten. Schnell blätterte er im Wörterbuch und deutete mit dem Kinn auf die Felder hinaus: „What is that?“ Der junge Mann strengte seine Augen an und verstand nicht. Was wollte der Mann, da war nichts, Felder eben. „Tobacco?“, versuchte es David, der leidenschaftliche Raucher. Jetzt fiel der Groschen, und der junge Mann lachte herzlich: „Nein, nein, Tabak wächst hier nicht, nicht bei uns! Das sind Erdäpfel, potatoes, patates, pommes.“
Der junge Mann konnte ein wenig Englisch und einige Bruchstücke von anderen Sprachen. Er hatte Kellner gelernt und war mehrere Jahre auf einem deutschen Frachtschiff als Küchengehilfe zur See gefahren. Seine Kollegen waren meist Asiaten, und ihre gemeinsame Sprache war das Kitchen-English. Jetzt kehrte er nach Hause zurück, in seine Heimat Gnadendorf bei Laa an der Thaya, zu seiner schwangeren Schwester, und der Schwager konnte vielleicht Hilfe auf dem kleinen Hof gebrauchen.

Es war auch sein Heimatort gewesen, so lange die Eltern gelebt hatten. Schön ist es dort, ruhig und viel Grün, es gab viele potatoes dort und trees, Bäume, viel Wald. Er würde sich im Dorf ein hübsches, tüchtiges Mädchen suchen, heiraten, eine Familie gründen und ein Haus bauen. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Da musste David so herzlich lachen, dass sich sein Gesicht völlig veränderte. Der Junge lachte mit, obwohl der Spaß auf seine Kosten ging. Dann spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte, schnalzte mit der Zunge und schmatzte mit den Lippen.
Sie verstanden einander und lachten gemeinsam mit zurückgeworfenen Köpfen. Dann beugte er sich zwischen den Sitzen wieder zu dem Mann vor und machte noch einen Versuch, diesmal mit tiefer, verstellter Stimme, um höflich zu wirken: „Sie sind Ausländer – Araber, Muslim?“ David zuckte zusammen. Ja und nein, wie sollte er es diesem jungen Mann aus der Provinz erklären – ein syrischer Jude aus Aleppo, das war schon in Syrien schwer zu verstehen. Und was und wer war er überhaupt, seit er ohne seine Familie auf der Flucht war? Ein Syrer, aber kein Araber, seit zwei Jahren auf einer Odyssee und nun auf dem Weg zu einem Caritas-Heim Sancta Monica in Laa an der Thaya, Weinviertel, Niederösterreich. Sicher kein Araber, aber was für ein Jude war er, der noch nie in einer Synagoge gewesen war und dessen Vorfahren aus Marrakesch stammten?
Der junge Mann seufzte, gab aber noch nicht auf, sondern versuchte eine doch ziemlich peinliche Frage zu formulieren: „Wo sind Sie daheim?“ Auch diese Frage war schwer zu beantworten. David stach mit dem Zeigefinger auf seine Brust und sagte: “I am from Syria, I am jewish, I am a masseur, now in Laa- an- der-Thaya“ – das ging ihm schon ganz gut von den Lippen. Es entstand eine längere Pause, und beide Männer wandten ihre Blicke aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft, auf saubere Dörfer, Kirchtürme, Hügel, Wälder und grüne Wiesen, soweit das Auge reichte, und die weiß-rosa-lila blühenden Stauden. Es gab auch noch andere Felder, Getreide und Pflanzen mit runden Kapselköpfen, die kannte er aus seiner Heimat, aber er wunderte sich, dass Mohn hier abwechselnd mit potatoes wuchs.

Er wird diesem freundlichen, neugierigen Provinzjungen jetzt noch nicht erklären können, was es bedeutete, kein gewöhnlicher Reisender zu sein so wie er, auf einem Handelsschiff in der Ostsee oder wie jetzt auf dem Weg zur Schwester in Gnadendorf.
Er war ein Flüchtling auf Reisen. Dass seine Reise nicht nach Stunden gemessen wurde, sondern nach Jahren, nicht nach Hunderten von Kilometern, sondern nach Tausenden. Die Reise des Flüchtlings glich eher einem Geisteszustand als einem Reisestadium, das sich mit Landkarten und Fahrplänen errechnen lässt. Laa an der Thaya-Caritas. Und wieder seine Marotte, die Worte umzudrehen, Satirac, um vielleicht eine Sprachverwandtschaft zu finden. „Do you have family? Where are they?“ Der Junge steckte wieder den Kopf zwischen die Sitze nach vorne. David atmete tief durch, als müsste er einen Anlauf nehmen, setzte seine Hornbrille ab und wischte mit dem Taschentuch daran herum.
Er nickte: „Yes, over there, back in Turkey“, und holte das Foto aus der Tasche. Der Junge fand seine Frau und die Töchter nice, very nice. David betrachtete lange das Bild und steckte es wieder zurück. Das hätte er nicht tun sollen, sein Herz schien doppelt so schnell zu schlagen und wollte das Jackett sprengen, so sehr regte es ihn auf, direkt in ihre Gesichter zu sehen. Als sei sie ein Rettungsring, hielt er sich mit beiden Händen an der Wasserflasche fest, dass die Sehnen an den Händen hervortraten. Mehrmals schlug er die Beine in den schwarzen Knize-Hosen übereinander, zupfte die Bügelfalte sorgfältig zurecht und betrachtete seine lächerlichen schwarz-weißen Sportschuhe.

Seine Frau Rikhiel und die kleine Daliah würden früher oder später nachkommen, darüber sorgte er sich weniger. Aber seine Große, die jetzt zwanzigjährige Myrnah, war schon vor drei Jahren weggegangen, sie wollte nach Israel und Schauspielerin werden. Ich bin Jüdin, hatte sie selbstbewusst gesagt, sie müssen mich reinlassen. Ja, hübsch und klug war Myrnah auch noch, aber von allem zu viel, für diese Zeiten. Diese alten, düsteren Sorgen. Zuletzt hatte er von ihr in einem abgebrochenen Telefonat aus Kairo gehört. Später viele Anrufversuche mit Krachen und Rauschen, ohne dass eine Verbindung zustande kam. Er wollte glauben, dass diese schon aus Israel kamen. Wann und wo würden sie noch einmal zu viert zusammenkommen? Er würde mit Rikhiel und Daliah seinen Weg machen, ob in Laa an der Thaya oder anderswo, wenn ihn seine Zauberhände nicht im Stich ließen, wenn sie auch hier ihre Kraft entfalten würden, so wie in seinem früheren Leben.
Der Junge hinter ihm schien zufrieden zu sein, er hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wenn der Bus rüttelte oder in eine Kurve ging, fiel ihm der Kopf auf die Brust. Sie hatten zusammen gegessen, getrunken, geredet und gelacht. David breitete das Taschentuch zwischen die Kopfstütze und das Fenster und spürte, wie sich zum ersten Mal seine Beine entspannten und unter dem Vordersitz ausstreckten. Als der Bus an der Endstation hielt, legte er dem schlafenden Jungen die Hand auf die Schulter, und sie stiegen gemeinsam aus.

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung im Standard im November 2015

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 15156

 

In Sand gemeißelt

Hinter uns die Nacht, im Schlafzimmer eines alten Bauernhofs inmitten der Toskana, die Nacht, in der es uns nach ungezügelter Liebe gelüstet hatte, jetzt am Morgen gelüstete uns nach Zahnbürsten, wer von uns schneller war, an der Regenrinne im Hof, grinste umso breiter. Und weggeputzt der Nachgeschmack der Nacht, gelüstete uns nach einem Nachspiel, nur weicher, gefühlvoller, sie jetzt obenauf. Und als auch dies vollbracht, umfiel uns die Langweile der Sprachlosigkeit zwischen zwei Fremden, die ein Schnellwaschgang aus Zufall und Schicksal zusammengespült und ins gleiche Bett hatte fallen lassen.

Die Hand entzog sie mir, mit der ich gerade noch gespielt hatte, Finger, über die ich gerade noch hinweggestreichelt war, Finger, die so ganz anders waren, als alle Finger der Frauen bislang, mit denen ich mich eingelassen hatte. Früher einmal gegossen aus Milch und Glas, aber nun schwielig und schwülstig mit Marmorstaub unter den eingerissenen und angebrochenen Nägeln, geschundene Finger, die den stundenlangen Umgang mit dem schweren Eisen von Hammer und Meißel gewohnt waren, entschlossene Finger, im Fassen, Führen und Fühlen geschult. Mit einem letzten Blick auf sie wurde mir bewusst, dass es diese Finger gewesen waren, mit denen ich schlafen hatte wollen, als ich gestern wie zufällig in ihre Werkstatt geschneit war, neugierig geworden durch die Skulpturen im Hof davor. Und nun, da sie mir ihre Hand entzogen hatte, fehlte mir jegliche Grundlage, eine Fortsetzung mit dieser Filomena zu finden und zu knüpfen, und auch sie war in abgekühltes Schweigen verfallen.

„Ans Meer könnten wir fahren.“

Mit der Kraft der Lustlosigkeit schließlich in die Leere des Raums geworfen dieser Satz, und wer ihn von uns beiden von sich gestoßen hatte, ließ sich nicht mehr nachvollziehen, den Gedanken ließen wir einige Zeit im Schlafzimmer kreisen, bis wir ihm das nötige Maß an Gefallen abgewinnen konnten, in Ermangelung einer anziehenderen Idee. Und so waren wir eben hinunter ans Meer gefahren, weil uns nichts Besseres eingefallen war, aus Langeweile und Sprachlosigkeit, und auf einer Düne waren wir zu sitzen gekommen, still und schweigsam, und mit Wohlwollen hatten wir bemerkt, wie leer der Strand unter uns war, leergefegt von jeglichen Sonnenölgerüchen, Liegestühlen und Kindergeschrei. Denn von übler Laune zeigte sich das Meer, verärgert von dem scharfen Wind in seinen unberechenbaren Böen, der unablässig an seiner Oberfläche zog und zerrte und kratzte, und auch uns Haar und Hörsinn zerzauste. Und in dieser Welt, in der wir nun schweigend vor uns hinsaßen und hinblickten und in der nur das Meer zu atmen schien, übernahm schließlich ich das erste Wort:

„Weißt du, Filomena, es gibt einen Alpenfluss in meiner Heimat, Inn wird er genannt, ein uraltes Wort für Wasser aus längst vergessenen Zeiten, wie auch immer, an diesem Inn gibt es ein verschlafenes Städtchen, und in diesem verschlafenen Städtchen gibt es ein nettes, kleines Lokal, das auf diesen Inn hinausschaut. Und dort sitze ich gerne, schaue dem Fluss nach, bei zu großer Gedankenschwere, und dieser Fluss, der Inn, spült dann meine Gedanken weg, einen nach dem anderen. Besonders im Frühling liebe ich diesen Fluss, zu Zeiten der Schneeschmelze, denn dann reißt er mir wild die Gedankenketten aus dem Leib, nutzlos angesammelt über einen langen, gnadenlosen Winter. Aber das Meer, besonders wenn man es hier vom Strand aus betrachtet, spült einem die Gedanken immer wieder zurück, einen nach dem anderen, in einem fort –“

„Ich hasse das Meer“, unterbrach sie mich, setzte mich dem Gefühl aus, dass sie mir nicht eine Sekunde zugehört hatte, mich nicht mehr als ein Raunen im Wind wahrgenommen hatte.

„Ich hasse das Meer, denn es lässt sich nicht meißeln. Mit jedem neuen Blick rutscht es einem hinweg, mit jedem Ansatz des Meißels kräuselt es sich grinsend davon.“

Und dann wusste ich, was sie so fern und fremdartig machte, jene Filomena, nämlich, dass sie es nicht zu ertragen wusste, jemandem lange in die Augen zu sehen oder in die Augen gesehen zu werden, sondern den Blick zur Seite schlug, versunken in ihrer Gedankenwelt, die sich ihre eigenen Bilder ausmalte, Bilder, mit denen sie leichter zu Rande kam. In ihrem Falle Standbilder, die zum Meißeln geschaffen waren, von Standbild zu Standbild dachte sie, zeitlupenhaft, nicht für die Ruhelosigkeit des Meeres geschaffen, das sich in unablässiger Bewegung ausdrückte, das keine Ruhe kannte, das ganz unruhig wurde, wenn es zur Ruhe hätte kommen sollen. Aber nun wandte mir Filomena doch ihr Gesicht und ihren haselnussbraunen Blick zu, lächelte mich mit der Gewissheit einer verschwörerischen Verbundenheit an, nämlich der, dass wir beide das Meer nicht leiden konnten.

„Gehen wir hinunter zum Strand“, sagte sie, und nun reichte sie sie mir wieder, ihre harte, geschundene Hand. Das Meer züngelte nach unseren Füßen, verärgert über die Nichtachtung, die wir ihm entgegenbrachten, denn der vom Vortag noch warme Sand hatte es uns angetan, mit jedem Einsinken der Fußballen hob sich unsere Laune, bald übermütig wie kleinen Kindern wurde uns zumute. Und aus diesem Übermut heraus wagte ich es, sie endlich danach zu fragen, denn auch wenn ich sie gestern erst von Angesicht zu Angesicht kennengelernt hatte, kannte ich doch ihren Ruf, die Gerüchte, die ihr vorauseilten, die Geschichten über die Klinikaufenthalte, ausgelöst durch unbeherrschte Wut, mit der sie, Hammer und Meißel in der Hand, auf die Gesichter Fremder losgegangen sein soll. Und tatsächlich, auch sie zu einer Antwort bereit, getragen von einer Welle des Übermuts:

„Und ähnlich dem Meer geht es mir mit Gesichtsausdrücken der Menschen, der Leute, die nicht in der Lage sind, mehr als einige Sekunden ihren Blick, ihren Gesichtsausdruck zu halten, die es nicht schaffen, sich zurückzuhalten, die es nicht schaffen, zurückzulügen, was sie vor nicht allzu langer Vergangenheit vorgelogen haben, und diesen Augenblick versuche ich zu meißeln, diesen Augenblick festzuhalten, und in die Wangen könnte ich ihnen den Übergang hineinmeißeln, ihre falschen Augen möchte ich ihnen dann festkratzen –“

Eilig unterbrach ich sie, bevor ihre Welle zu hohe Größen erreichen konnte, sie zu übermannen und über ihr zusammenzubrechen drohte.

„Und, hast du es jemals zustande gebracht, die Vergangenheit zurückzumeißeln, in einen festen Zustand, zurück zu ihrem Ausgangspunkt?“

Und zu meiner Überraschung rollte sich ihre Welle in einem Lächeln aus, fernentrückt dieses Lächeln, das sich über das Meer vor uns zu breiten schien, kein Wort kam ihr über die Lippen, vergessen schien sie mich zu haben. In die Hocke war sie gegangen, und sie begann sich damit zu beschäftigen, einen Kegel aus Sand aus dem meerumspülten Strand aufzurichten. Sinnlos und kindlich dieses Unterfangen, und viele Worte hätte ich zuvor gesagt haben wollen, zu einem besseren Zeitpunkt, und diese Möglichkeit verpasst zu haben, reizte mich umso mehr zu widerspenstigem Trotz, und so warf ich ihr entgegen:

„Würdest du mich meißeln? Ich meine, würde es dich jemals reizen, mich aus einem Stein hervorzumeißeln?“

Kindlich der Blick im Ansatz, der langsam der Fratze von Belustigung wich, je länger sie mich betrachtete, mich von oben bis unten in meiner Festigkeit, mich in meiner Persönlichkeit bemaß, und schließlich kehlig ihr Gelächter.

„Wie sollte man Sand je meißeln können?“

Und wie zur Bestätigung ihrer Antwort schlug sie mit aller Kraft ihre Faust in den Sandkegel, sodass mir der Sand bis in die Augen spritzte, zu ihrer Schadenfreude. Und als ich mir den brennenden Sand endlich aus den Augen gerieben hatte, war sie mittlerweile den Strand weiter entlanggelaufen, schon zwanzig, dreißig Meter von mir entfernt, mich schon längst in Sand und Dünung vergessen.

In der Zeitung hab‘ ich’s gelesen, Filomena, gerade jetzt, wo ich hier im Warteraum sitze, ob in einer Bahnhofshalle oder an einem Flugplatz, weiß ich nicht zu sagen, denn ganz in den Bann bin gezogen von dem Foto von dir, hier in der Zeitung, links unten auf dritten Seite des Lokalteils. Und auch wenn unter dem Foto von dir ein mir unbekannter Name steht, so bin ich mir dennoch vollkommen sicher, dass du darauf abgebildet bist, unverkennbar dein Gesicht, und unverwechselbar deine Finger, die am unteren Bildrand noch zu erkennen sind. Lang ist er ja gerade nicht, der Artikel, der deinem Foto folgt, mehr ein Lückenfüller scheint er mir, aber dennoch deutlich genug in seiner Ausführung der Umstände. Scomparsa, das Wort darin, das einem immer wieder in die Augen springt, verschwunden und vermisst, aber die weißen Lücken zwischen den Zeilen wollen eigentlich suicidio andeuten. Dennoch, Selbstmord kann ich mir bei dir nicht wirklich vorstellen, Filomena, gar nichts kann ich dem Bild abgewinnen, dem Sonnenschirm an einem toskanischen Badestrand mit deiner Tasche mit Geld, Dokumenten und Telefon in seinem Schatten, und dann stehst du auf und gehst zum Meer ohne einen Blick zurück, und dann gehst du ins Meer, tief hinein, für immer. Nichts da! Zu banal, geradezu lächerlich erscheint mir, was dieser Schreiberling in seinem Artikel im hinteren Lokalteil andeuten will, auch wenn ihn entschuldigt, dass er dich nicht kennt, dass er nichts über dich wissen kann, Filomena, die das Meer nicht zu meißeln vermag, und schon gar nichts über deine Finger. Dass du unmittelbar aufgestanden bist, du dem schützenden Schatten des Sonnenschirms entflohen bist, so weit bin ich bereit, der Geschichte zu folgen, aber irgendein sturer Gedanke muss dich gepackt haben, ein Gedanke, der dir einerlei sein ließ, ob du Geld, Dokumente und Telefon im Sand zurücklässt. Dass du einfach drauflos gegangen bist, ja doch, so kann ich es mir ausmalen, geradewegs nach Süden, den Strand entlang, das Meer zur Rechten und die Pinienwälder zur Linken. Und ich vermag zwar nicht zu beurteilen, wie stur dein Gedanke gewesen ist, aber während sie jetzt diesen toskanischen Strandabschnitt mit Tauchern, Küstenwache und Hubschraubern nach dir absuchen, nichts anderes als den einen oder anderen armen ertrunkenen Teufel von illegalem Einwanderer aus dem Meer fischen, wirst du wahrscheinlich schon die Region Latium erreicht haben, oder sogar schon Kampanien. Zu Fuß, immer den Strand beziehungsweise die Küste entlang, denn so wie ich dich kenne, hast du dir nichts Geringeres als den südlichsten Punkt am Stiefelschaft Italiens in Kalabrien in den Kopf gesetzt. Oder gar Sizilien.

Gib’s zu, Filomena, du schwimmst gerade über die Straße von Messina, du ewiger Sturkopf!

Harald Schoder
derewigreisende.net

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Fahrradlieder 4 – Fieselotte

(frei nach Brecht)

1)
Da lachst du dazu, Fieselotte
Und bist schon wieder ganz blau:
Zum Kotzen dies Getue, diese ach so hohen Gefühle
Interessieren doch keine Sau!
Wer ist´s denn am Ende des Tags
Der dich Trunkenbold
Bei jedem Wetter nach Hause bringt,
Während du davon schwärmst, wie Columbina dir hold
Oder wie schön die kirschrote Lady dir in die Schweinsohren singt?
Nein, weich mir diesmal nicht aus, diesmal sag ich‘s im Ernst:
Was hilft denn dir deine noble, musikalisch verzärtelte Fee,
wenn‘s mal Eis regnet oder auch nur ein klein wenig Schnee?
Ach was, ich weiß, dass du ja doch nichts draus lernst.
Nein, eins noch, dann wird’s mir schon fad:
Wie lange willst du noch klagen
Über die längst verflossene Erste?
Ein zerbrochenes Rad
Wird dich ja doch nicht nach Hause tragen!
Ja, ich weiß, du begehrst sie!

2)
Doch noch eins, ein letztes noch bloß:
Es geht um den läppischen Gernegroß
Das ist´s was mich am meisten stört:
Dein mystisches Herumgetue
Um das fette Rhinozeross,
Das ja noch nicht mal dir gehört.
Hätt‘ ich abgetragene Schuhe
Ich würf‘ sie ihm auf die Kurbel
So viel auf deine Mystik und dein mystisches Rhinos-Zerros-Geschwurbel.
Sag, gibt´s in dieser Stadt irgendein anderes Rad
Das eitler noch sich gebärdet, bei jeder noch so kurzen Fahrt?
Zum Beispiel als du Bier hol‘n warst in jener langen Juninacht
mit diesem Urzeitgerippe
Da hatte dich doch ziemlich schnell die Streife an der Strippe
Das hat dir Alko-Strafe eingebracht!
Du grinst?
Was hast du noch bezahlt als Fron?
Einen ganzen Monatslohn, den du ohnehin nie
Uns unversehrt nach Hause bringst.
Doch sing nur ruhig weiter, du närrischer Tor,
Wenn‘s mal wirklich um was geht,
Ziehst du ja doch nur mich
Allen anderen Rädern vor.

3)
Schweigend sitz ich nun da in meines Fahrradschuppens Kühle
Wie hätt ich´s nicht ahnen sollen: Auch Fieselotte hat Gefühle
Und doch: Ich unbereifter Esel hab sie blindlings übersehen
Daher ihre ständigen, kleinen und fiesen Gebrechen:
Bremse, Schaltung, Politur,
Sie wollte mir nur, ganz nach Fahrradnatur,
Aufrüttelnd ins Gewissen stechen.
Doch ich, oh träf‘ mich doch der Höhenschlag,
Seh nur wie ich mich müh´und plag
An ihren Zärtlichkeitserweisen
Und bin verroht genug,
Ihr andere Räder hochzupreisen!
Ja, sie ist nicht mehr die Schönste
Und war‘s vermutlich auch nie
Ja, wirft ihr Lack schon Falten
Doch würd‘ ich mich, genau wie sie sagt,
Nie an eine and‘re halten.

Da fühle ich eine Woge schmerzlichster Liebe von mir auf sie übergeh‘n
Und weiß es genau und ganz unbesehen
Noch nie fühlt‘ ich so rein und so echt
Und sag zu ihr mit bebender Stimme: Fieselotte, du hast ja so recht!
Und als ihre Augen ganz ölfeucht blinken:
Was ist, fahr‘n wir noch, an die Ecke – was trinken?

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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