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Der schreckliche Herr Kaplan

Nur in seltenen Fällen wird man vom Tod eines Menschen, den man einmal kannte, durch die Zeitung erfahren. Ich lese Todesanzeigen, diese schwarz umrandeten Verlautbarungen eines wirklichen oder angeblichen Verlustes haben etwas rührend Altmodisches, als gäbe es noch so etwas wie Mitbetroffenheit, einen Sozialkörper; ich soll Bescheid wissen, ich gehöre dazu. So schön aufgereiht standen sie da wie die schwarz verhangenen – oftmals leeren – Kutschen eines neapolitanischen Trauerzuges.
Vor nicht allzu langer Zeit las ich eine solche Todesanzeige. Ein gewisser Monsg. A. ist hoch in den Achtzigern und treu versorgt und mit geistlichem Beistand in P. gestorben. Ich ertappte mich bei dem Wunsch, so etwas auch in meiner eigenen Todesanzeige zu lesen.

Jedes Kind lernt es schon ganz früh. Niemand darf sich über das Unglück anderer freuen, über den Schmerz, den Kummer oder den Tod eines Menschen oder Lebewesens. Sicher wurde dieses wichtigste Lebensprinzip auch mir eingebläut. Ich erinnere mich, dass ich gemäß dieser Regel nicht nur für tote Regenwürmer und Schmetterlinge, sondern auch für Blumen Begräbnisse veranstaltet habe.

Und trotzdem ist es passiert. Ich gebe es zu, offen und freiwillig, dass ich mich gefreut habe, als ich es in einer Zeitung las.
Wie kam es zu dieser Gefühlsregung zu einer Person, die ich sicher vierzig Jahre nicht gesehen, an die ich nie wieder gedacht, von der ich nie etwas gehört oder gelesen habe?
Er war Kaplan, der Herr Kaplan in unserer Kleinstadt, Religionslehrer und Führer der katholischen Jungschar, er leitete die Heimabende und die Sommerlager.

Obwohl die katholische Jungschar eine Neugründung nach dem Zweiten Weltkrieg war, verraten die Namen schon, woher der Geist noch heftig wehte. Ich war begeistertes Jungscharmädchen und ließ keinen Heimabend und kein Jungscharlager aus. Wir sangen, musizierten, spielten Theater, wanderten und betrieben Sport. Wir Mädchen waren alle kindlich ein bisschen verliebt in den Herrn Kaplan, wir schwärmten für ihn, wir fanden ihn sehr schön, er hatte volles, schwarzes Haar, konnte wunderbar singen und Gitarre spielen. In der Kirche schritt er so wunderbar feierlich in vollem Ornat aus, auf der Fußballwiese balgte er sich mit den Buben, beim Wandern drängten wir uns an ihn heran, jeder wollte an seiner Seite gehen und mit ihm reden. Ich erinnere mich noch an seine weichen Hände, mit denen er uns über Haar und Wangen strich.

Die Pfarrhelferin, Fräulein Annemarie B., ein altes, unscheinbares Mädchen, tat ungleich viel mehr und Wichtigeres für uns, wir waren alle ihre Kinder. Sie gab die Bücher aus der Pfarrbibliothek aus, studierte Lieder und Theaterstücke mit uns ein, kam aber gegen unseren Helden nicht an. Sie blieb im Allgemeinen unbemerkt, obwohl ich ihr mein erstes Bühnenerlebnis verdanke. Sie besetzte mich mit dem siebten Zwerg in der Schneewittchen-Produktion, obwohl ich eigentlich noch zu klein war fürs Theater. Die Jungschar war nach der Schule die wichtigste soziale und erzieherische Einrichtung in meinem Leben, gefolgt von Sportverein und Musikschule.

Mit diesem kleinen, schwarz gerahmten Viereck in der Zeitung kamen die Erinnerungen zurück.

Wir waren einmal auf Sommerlager im Waldviertel, ich schätze, dass ich acht oder neun Jahre gewesen sein werde. Lagerfeuerromantik gehörte dazu. Wir saßen im Kreis, und das Gespräch kam auf das Sterben und den Tod – sehr romantisch. Jeder sollte von seinen Erfahrungen damit erzählen. Ich erinnere mich noch, wie ich in ein begeistertes Schwärmen geriet, als ich meine Beobachtungen vom Sterben der Erdäpfelkäfer und Larven zum Besten gab. Bei meiner Großmutter im Mühlviertel wurden wir Kinder eingesetzt, um in Gläsern mit Äther getränkten Stoffstreifen die Schädlinge einzusammeln. Wir kamen uns wichtig vor und wurden sogar dafür entlohnt, ein paar Groschen, für die Käfer natürlich mehr als für die Larven.
Die ausgewachsenen Tiere nannten wir Vater und Mutter, die Larven Kinder.

Ich hatte besonders schnelle Augen, mir entging keiner, und ich war immer für einen guten Wettbewerb zu haben. Die roten Larven starben unauffällig, aber das Sterben der ausgewachsenen, schwarz-gelb gestreiften Käfer, der schlimmsten Feinde unseres Erdäpfelackers, war langsam und ließ sich gut beobachten. Ich fand das interessant und lustig, das Zappeln und Zucken und letztendliche Strecken der Beinchen nach oben. Das muss ich lebhaft und zu lustvoll geschildert haben. Denn der Herr Kaplan brach eine Verdammungsrede auf mich herab, dass ich ein grundböses und gottloses Kind sei, das einmal in der Hölle braten werde, wenn ich nicht sofort bereuen und versprechen würde, solche Lustmorde nie wieder zu begehen. Ich weiß nicht mehr, ob er mir aufgab, diese Sünden zu beichten.

Natürlich verstand ich damals nicht, wie es sein konnte, dass ich bei meiner Familie im Mühlviertel eine nützliche und belohnte Arbeit vollbrachte, im Waldviertel bei der Jungschar für genau das gleiche Handeln Höllenqualen angedroht bekam.
Von Doppelmoral wusste ich damals noch nichts. Ich glaube heute, dass der Kaplan nicht so sehr das Töten selbst verurteilte, sondern meine lustvollen Beobachtungen.
Hätte ich sie mit Leichenbittergallenmiene und Trauer im Herzen töten müssen?

Die zweite und letzte Begegnung mit dem schrecklichen Herrn Kaplan wird sich etwa fünfzehn Jahre später ereignet haben. Ich ging mit meinem Freund in der Kärntner Straße spazieren, als nicht weit vom Stephansplatz ein Herr in schwarzer Soutane mit roten Litzen auf mich zustürzte und mich zu beschimpfen begann: Wie ich das meinem Vater antun könne, er werde sich im Grab noch einmal umdrehen, ich hätte ihn umgebracht und bringe ihn weiter ständig um, weil ich mich dem Antichrist verschrieben hätte.
Er schwang dabei in heftiger Erregung eine schwarze Aktentasche in meine Richtung, war hochrot im Gesicht und spuckte vor mir aus. Es war dieser schreckliche Kaplan, damals schon in höheren Würden, aber ich erkannte ihn sofort, er hatte immer noch sein äußerst markantes Gesicht mit einer schwarzen Haarfülle. Mein Freund verstand gar nichts, er dachte wahrscheinlich, ein zufälliger Irrer hätte mich angesprochen und fand das komisch.

Mein Vater war erst vor Kurzem an einem Herzinfarkt gestorben, und ich damals Aktivistin bei einer marxistisch-leninistischen Sekte. Wir standen trotzdem in engem Kontakt und führten viele Diskussionen. Ich war verbohrt und militant, mein Vater verständnisvoll und tolerant, in dem Sinne: „Wenn einer mit zwanzig kein Sozialist war, war er kein Idealist, wenn einer mit vierzig noch immer ein Sozialist ist, ist er ein Trottel. Du wirst auch von dem Baum der Weltrevolution wieder herunterkommen.“
Und Recht hatte er.

Eine solche Flut von Erinnerungen und Gefühlen kann also das einfache Lesen einer Todesmeldung auslösen.
Dass sich der schreckliche Kaplan überhaupt irgendwo in meinen Gedächtnisspalten erhalten hatte, darüber staune ich noch immer.

14.12.16

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17016

Der Rehbock

Martin Möstl war schon oft gefragt worden, ob er nach dem Mittagessen einen Spaziergang machen wollte. Stets hatte er abgelehnt, denn die Menschen, die ihn begleitet hätten, waren ihm als denkbar schlechte Gesellschafter vorgekommen.

Eines Tages, es war ein regnerischer Nachmittag, ging Martin doch spazieren. Das schlechte Wetter ließ ihn hoffen, dass er auf dem weitläufigen Areal alleine sein würde. So war es dann auch, er war alleine, wenigstens sah er keine Menschen.
Er verließ Pavillon 10, seine Unterkunft, und schlenderte den Waldweg entlang. Bald kam er auf eine freie Fläche, die von hohem Gras bewachsen und von einigen Apfelbäumen bestanden war. Martin kämpfte sich durch die vom Regen nassen Halme und verfluchte sich dafür, dass er eine kurze Hose angezogen hatte, denn so machten seine Beine die Bekanntschaft mit Brennnesseln, die auf der Wiese zahlreich wuchsen.

Einer plötzlichen Eingebung folgend änderte er die Richtung und hielt sich nicht mehr bergan, sondern stapfte nach links. Er hörte Rascheln im Gras und stand wenige Sekunden später einem Rehbock gegenüber.
Martin Möstl war nicht überrascht; er wusste, dass es auf der Baumgartner Höhe Wildtiere gab. Wenige Tage zuvor hatte er einen Dachs neben seinem Pavillon gesehen.
Er blickte dem Rehbock in die Augen, und nachdem er gerade nichts Besseres zu tun hatte, setzte er sich vor ihm ins Gras und genoss den Anblick des schönen und offensichtlich an Menschen gewöhnten Tieres.

Der Rehbock erwiderte Martins Blick, und so kam es, dass der Patient, der Rehe bis zu diesem Tag lediglich kulinarisch wahrgenommen hatte, mit ihm zu sprechen begann.
„Du hast es gut, Rehbock“, sagte er mit leiser, ruhiger Stimme, um das Tier nicht zu erschrecken. „Ich bin hier eingesperrt, und du bist frei.“ Martin dachte ein paar Sekunden lang nach. „Das war Unsinn, entschuldige bitte. Du bist natürlich ebenfalls eingesperrt, denn du hast keine Möglichkeit, dieses Areal zu verlassen.“

Der Bock blickte ihn an, schüttelte sich und fuhr dann fort, ihm zuzuhören.
„Solltest du ausbrechen, würdest du wohl von einem Auto überfahren werden. Auch ich wäre wohl in Gefahr, sollte ich von hier abhauen. Nicht nur, dass mich die Polizei einfangen und in die Psychiatrie zurückbringen würde. Die Freiheit würde mir augenblicklich wahrscheinlich gar nicht guttun.“

Das Tier, so kam es Martin vor, hörte ihm gerne zu.
„Seit vier Wochen bin ich nun hier, auf der Baumgartner Höhe, weil ich unter Schlafstörungen leide und angeblich depressiv bin. Weißt du, Rehbock, vierunddreißig Jahre habe ich, oft mehr schlecht als recht, vor mich hin gelebt, und plötzlich bildet sich meine Mutter ein, dass ich verrückt bin. Zugegeben, es war nicht besonders klug von mir, ihr einen Abschiedsbrief mit der Post zu schicken, aber das war bloß meiner Schlaflosigkeit geschuldet. Wenn du kaum schlafen könntest, würdest du dir doch auch wünschen, auf einem Teller zu landen, oder?“

Der Rehbock reagierte nicht.
„Nein, das würdest du nicht“„, seufzte Martin. „Du erfreust dich deines Lebens hier im Park, wo es keine Jäger und andere Fressfeinde gibt. Ich frage mich, ob ich dich berühren darf.“
Er streckte seinen Arm aus, doch er reichte nicht bis zum Rehbock.
„Nein, das ist keine gute Idee.“ Martin zog den Arm wieder zurück. „Es genügt, wenn du mir zuhörst. Wenn du berührt oder gar gestreichelt werden möchtest, kannst du ja näherkommen. Es würde mich freuen. Jedenfalls, es ist sehr angenehm, zu dir zu sprechen. Du stellst keine dummen Fragen wie Frau Dr. Malic, meine behandelnde Ärztin. Ständig will sie von mir wissen, warum ich nicht umziehe, wenn ich in meiner Wohnung nicht schlafen kann. Ich meine, Straßen gibt es in Wien doch überall. Was soll es also bringen, meine Wohnung aufzugeben?“

Der Rehbock starrte ihn an.
„Du bist ein ziemlich attraktiver Bock. Ich kann mir gut vorstellen, dass alle Geißen hier glücklich sind, dass du ihnen Gesellschaft leistest. Na ja, auch wenn du hässlich wärst, hättest du vermutlich Erfolg beim weiblichen Geschlecht. Wie auch nicht? Der Park ist schließlich eingezäunt. Ich hingegen muss damit leben, dass es keine Mauer um den Bezirk gibt, in dem ich wohne. Mir laufen alle Frauen weg. Meine Psychiaterin hier meint, dass meine Schlaflosigkeit daran schuld ist.“

Das Tier neigte den Kopf zur Seite.
„Du fragst dich sicherlich, was es ist, das mich nicht oder nur schlecht schlafen lässt. Nun, ich weiß, dass es am Verkehr liegt. Meine Wohnung liegt nämlich an einer stark befahrenen Straße. Klar, ich könnte mein Bett in das hofseitig gelegene Zimmer schaffen und meiner Arbeit als Schriftsteller im jetzigen Schlafzimmer nachgehen. Daran habe ich sogar schon gedacht, denn im ruhigen Raum zu schreiben ist ohnehin nicht meine Sache. Es ist nunmal so, dass ich ein viel zu glücklicher Mensch wäre, wenn alles in Ordnung ist. Ich brauche die Unzufriedenheit einfach für meine Arbeit. Der Straßenlärm passt schon, denn er raubt mir den Schlaf und macht mich unglücklich, und wahrscheinlich auch depressiv.“

Der Rehbock wandte sich um, und Martin war nicht eben erfreut, die Kehrseite des Tieres betrachten zu müssen.
„Willst du mir etwas Bestimmtes mitteilen, indem du mir deinen Hintern zeigst?“
Der Bock begann als Antwort Losung abzusetzen. Dann drehte er sie wieder um und sah Martin in die Augen.
„Gut, ich habe verstanden. Du sagst mir dasselbe wie die Ärztin. Vielleicht sollte ich tatsächlich meine Wohnsituation ändern.“ Ein ärgerlicher Ton lag in seiner Stimme. „Erst sagt mir das die Psychotante, und jetzt der Hornträger.“

Martin dachte zwei Minuten lang nach, dann trat ein sanfter Ausdruck auf sein Antlitz und er sagte mit einer Stimme, in der milde Resignation lag: „Ach, ich gebe mich geschlagen.“
Der Rehbock schüttelte sich, dann trottete er mit langsamen Schritten davon.
„Danke, Rehbock!“, rief Martin ihm nach und ging, nachdem das Tier aus seinem Blickfeld verschwunden war, zurück zu Pavillon 10.

Dr. Malic erwartete ihn in seinem Zimmer. Sie bedachte ihn mit strengen Blicken, und ein Blick auf seine Armbanduhr offenbarte ihm den Grund dafür.
„Frau Doktor, es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Es wird Sie aber sicherlich freuen, dass ich beschlossen habe, meine Situation zu ändern und an mir zu arbeiten.“
„Was hat Sie denn zu diesem Meinungsumschwung bewogen, Herr Möstl?“, fragte sie. In ihren Augen lag der Ausdruck der erstaunten Freude.
„Ein Gespräch mit einem Freund, der mich so angenommen hat, wie ich bin.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17004

Entrisch

Wenn man von Linz aus Richtung Norden fährt, an Gallneukirchen vorbei, durch Neumarkt und schließlich Freistadt links liegen lässt, kommt man in eine Gegend, in der es nicht mehr viel gibt.
Irgendwo dort, noch vor der tschechischen Grenze, im absoluten Niemandsland vor, hinter oder zwischen Mühlviertel und Waldviertel, gab es ein kleines Bauernhaus, versteckt hinter Tannen und in meiner Erinnerung eine stundenlange Autofahrt von jeglicher Zivilisation entfernt.
„Ab jetzt wird’s entrisch“, ließ mein Vater verlautbaren, sobald wir Linz verlassen hatten.
Und als wir endlich aus dem stickigen Auto herauskamen, hatte sich meine Mutter aufgrund der kurvigen Straßen schon zum wiederholten Mal erbrochen und mein Vater hatte es jedes Mal sarkastisch kommentiert. Doch meine Mutter hinters Steuer zu lassen, wäre ihm nie eingefallen.

Für ein verträumtes Mädchen wie mich war dieser Ort ein geschütztes Fleckchen Paradies, wo ich stundenlang ungestört durch die hochstehenden Felder wandern und über plätschernde Bäche hüpfen konnte. Die umgefallene Kiefer hinterm Haus barg ein faszinierendes Sammelsurium von Käfern, Würmern und anderem Getier, das ich mit dem kalten, naturwissenschaftlichen Interesse eines Kindes beobachtete, quälte und schließlich tötete.
Immer wenn wir ankamen, stand meine Großmutter in der Tür und winkte. Sie hatte schon Knödelsuppe zugestellt, das ganze Haus roch danach. Die alte Frau hatte ein fast zahnloses Grinsen und eine riesige Nase, sodass sie mir zunächst mächtig Angst einflößte. In meiner unbegrenzten, kindlichen Vorstellungskraft verglich ich sie beim ersten Treffen mit der bösen Hexe aus Hänsel und Gretel.

Meine Eltern schliefen in der „guten Stube“ auf einem breiten Kanapee. Meine Großmutter schlief die Treppe hoch in einem winzigen Kämmerchen, und für mich war ein kleines Klappbett in der Küche beim warmen Holzofen vorgesehen.
Völlig selbstverständlich ließen mich meine Eltern bei einer mir fast Unbekannten und fuhren am nächsten Tag selbst weiter Richtung Wien, um „Kultur zu tanken“, wie es meine Mutter ausdrückte. Nach etwa drei Wochen holten sie mich ab, und die quälend lange Autofahrt zurück verschlief ich meist, vollgesogen mit glücklichen Sommererinnerungen.

Meine Großmutter ließ mich meinen Erkundungen und Spielen draußen vorm Haus ungestört nachgehen, rief mich nur zum Essen ins Haus und deckte mich am Abend mit einem hastig gemurmelten Gebet und einem klebrigen Kuss auf die Stirn zu.
Kopfschüttelnd wehrte meine sonst auch so wortkarge Großmutter fast jeden meiner Gesprächsversuche ab und murmelte nur leise vor sich hin. Manchmal hörte ich sie jammern, wenn ihr das Knie wehtat. Ein paar Mal nahm sie mich in den Arm, wenn ich hingefallen war oder ich weinend Sehnsucht nach meinen Eltern bekam. Dann roch sie nach Seife und Milch.

Ich gewöhnte mich schnell an die verschrobene Alte und an meinen neu erweckten Freiheitsdrang, dem ich während der tristen Tage in der Volksschule kaum nachgehen konnte.
Insgesamt waren es wohl einige wenige glückliche Wochen in den darauffolgenden Sommern, in denen ich zwar nicht verhätschelt wurde, an denen es mir aber auch an nichts fehlte.
Das Frühstück bestand meist aus Brot mit Marmelade und einem Glas Milch. Mittags gab es oft Wurst, Käse und Butter zum Brot und am Abend eine kräftige, fettige Suppe mit Kartoffelknödeln darin. Manchmal erhaschte ich ein Stück vertrockneten Kuchen oder gedörrtes Obst.

Es gab einen Mann, dessen Gesicht von der Sonne genauso zerknittert war wie das meiner Großmutter, der kam zweimal in der Woche mit seinem knatternden Traktor vorbei und brachte Kisten voll Lebensmittel und Zeitungen und holte Pfandflaschen und selbstgemachte Marmelade ab.
Er hatte ein freundliches Gesicht, trotz der vielen Fältchen, und er hatte noch alle Zähne im Mund, was mir sehr an ihm gefiel.

Meine Großmutter kochte, buk Brot, pflegte den Gemüsegarten hinterm Haus, kehrte, hackte Holz und wusch die Wäsche im Trog, da sie keine Waschmaschine hatte. Generell hatte sie nur einen Stromgenerator, mit dem sie am Abend das schwache Licht in der Stube und ab und zu das Radio betrieb.
Bei all ihren Tätigkeiten beobachtete ich sie fasziniert. „Kind“, brachte sie dann manchmal plötzlich zwischen all dem Schweigen heraus. „Hilf mit oder geh.“ Manchmal half ich ihr, manchmal trollte ich mich, und beides ließ sie unkommentiert.
Was mir an sozialen Kontakten fehlte, machte ich schnell durch meine fantastischen Abenteuer wett.

Die Kaninchen, die meine Großmutter in einem kleinen Gehege züchtete, waren schwer zu fangen, aber manchmal erwischte ich eines und dann drückte ich vor lauter Zuneigung die kleinen, ängstlichen Nager fast zu Tode.
Ein paar Hühner und ein arroganter Gockel rannten frei rund ums Haus, und einige scheue Katzen schlichen manchmal beim eingefallenen Stall herum, um Mäuse zu fangen. Auch an zwei Ziegen kann ich mich erinnern, die schon zu alt waren, um sie zu melken.

Irgendwann im letzten Sommer dort begann das Schlafwandeln. Ich wachte in der Nacht auf und war aus dem Bett gefallen oder stand in der Mitte des Raumes und zitterte am ganzen Leib.
Meine Eltern waren erst vor ein paar Tagen weiter nach Wien gefahren, und ich vermisste sie.
Irgendetwas schien in diesem Sommer anders zu sein. Das Haus war kühler, dunkler geworden, meine Großmutter jammerte noch mehr vor sich hin, und ihr sonst so akkurater Dutt war nachlässig nach hinten geflochten, sodass ihre grauen Haare in wüsten Büscheln abstanden.
Auch brachte sie vieles durcheinander. Sie vergaß die Wäsche im Trog, versalzte die Marmelade völlig und begann mich nach einiger Zeit des Diebstahls zu beschuldigen.
Ich hätte Kuchen, Eier, Milch oder sogar Geld gestohlen. Ich konnte fühlen, wie sie mich misstrauisch beobachtete, wenn ich bei ihr am Tisch saß, und ich begann sie zu meiden. Sie schimpfte mich wegen Kleinigkeiten, die ihr früher egal gewesen waren, oder die sie einfach in ihrer stoischen Gelassenheit zur Kenntnis genommen hatte.

In den Nächten hörte ich sie auf den knarzenden Holzdielen herumwandeln, flüstern. Ich bekam Gänsehaut, als ich ihr Gemurmel verstehen konnte.
Es war das „Ave Maria“, zehnfach, nein, hundertfach hintereinander gewispert. Ohne Unterlass. Ohne Luftholen.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unsres Todes.

Meine letzte Nacht in jenem Haus verbrachte ich unruhig. Mitten in der Nacht schreckte ich aus dem Schlaf hoch und zitterte furchtbar.
Still war es auf einmal; kein Knarzen, kein Flüstern.
Wie in Trance stand ich auf und wankte zum Treppenabsatz. Meine Großmutter stand oben, die elektrische Laterne in der einen Hand, den Rosenkranz in der anderen und starrte mich stumm an. Ich starrte zurück. Auf einmal lächelte sie mild. „Komm, liebes Kind. Es tut mir leid. Bring mich ins Bett, ich will schlafen. Morgen ist ein neuer Tag.“
Ängstlich wankte ich zu ihr hinauf. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und ich ergriff diese zögernd. Im Schein der Lampe betrachtete sie mich. Ihr Lächeln gefror und verwandelte sich plötzlich in blankes Entsetzen.
„Du bist nicht mein Kind!“, schrie sie mich an und stieß mich die dunkle Treppe hinunter. Ich stolperte kopfüber hinunter und knallte mit Kopf und Arm hart gegen den Flur. Nie werde ich diese Nacht vergessen. Ihre aufgerissenen, starren Augen, ihr wirres Haar und ihre kreischende Stimme haben mir noch jahrelang im Schlaf Angst eingejagt.

Damals habe ich mich aufgerappelt und bin gerannt, den Flur entlang, aus dem Haus in die schwarze Nacht. Nur der Mond schien über die Felder.
Ich rannte über Bäche und Felder zum Heuschober am Waldrand, dort brach ich weinend zusammen und verbrachte den Rest der Nacht in ruheloser Angst. Verstört wachte ich im Morgengrauen auf und hatte fürchterliche Armschmerzen. Ich kroch aus dem Heuschober und lief den Schotterweg entlang bis zum nächsten Bauernhaus.
Die Bäuerin hatte mich rennen sehen, sie war gerade aus dem Stall herausgekommen und musste bei meinem Anblick fürchterlich erschrocken sein.
Ein Arzt wurde verständigt, der auch am Nachmittag kam. Ich müsse ins Krankenhaus. Ich hätte hohes Fieber und außerdem lauter blaue Flecken am ganzen Körper. Darauf begann ich hysterisch zu weinen und so wurde beschlossen, damit auf meine Eltern zu warten.
Diese waren bereits informiert worden und hatten sich sofort auf den Weg gemacht. Einigermaßen verständlich konnte ich die Verwandtschaft nennen, bei der sie in Wien untergekommen waren, und der Bauer konnte durch die Vermittlung rasch ihre Nummer erfahren.
Sie holten mich, und meine Mutter trug mich die ganze Zeit über bis ins Auto. Dort angekommen zwängte sie sich mit mir auf den Rücksitz und streichelte mich die ganze Fahrt über bis ins Krankenhaus.

Das Haus und das Land meiner Großmutter wurden vermutlich verkauft – ich habe nie mehr einen Fuß in diese Gegend gesetzt.
Meine Großmutter selbst wurde in ein Heim gebracht, aus dem sie bei jeder Gelegenheit ausbrach. Verwirrt und unglücklich verbrachte sie ihre letzten Jahre auf Erden.
Meine Eltern besuchten sie ein paar Mal, zwangen mich aber nie mitzugehen, und so tat ich das auch nicht.
Bis zum heutigen Tage habe ich, wenn ich die Augen schließe, noch ihr erstarrtes Gesicht vor Augen und ihr endlos gewispertes „Ave Maria“ in den Ohren.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16159

Meine (Un)Tat

Lange hatte ich versucht, gegen diesen Drang anzukämpfen, die längste Zeit, zwanzig Jahre um präzise zu sein, sogar erfolgreich, doch an diesem sechsundzwanzigsten Mai im Jahr 2011 habe ich versagt. Ja, ich habe schlicht versagt, meine Skills haben mich im Stich gelassen. Diese Handlung, die ich letzten Endes, also am heutigen Tag gesetzt habe, hatte ich bereits viele Male erwogen, doch hatte ich es stets fertiggebracht, sie nicht zu setzen, auch wenn dieses Nichtsetzen mir sehr oft kaum auszuhaltende Schmerzen bereitet hatte, sozusagen als Resultat der Nichtausführung.

Jahrelang habe ich zu mir gesagt, also in Gesprächen mit mir selbst: „Michael, das darfst du nicht tun! Eine derartige Handlung steht nicht dafür, sie ist einfach keine Lösung. Denke an deine Mutter! Du darfst ihr so etwas einfach nicht antun! Das hat sie nicht verdient. Michael, bitte denke daran, was deine Mutter im Supermarkt hören müsste. ‘Frau Timoschek, ich habe gehört, was Ihr Sohn getan hat. Bitte erlauben Sie mir, dass ich Ihnen mein Mitgefühl ausspreche. Nach allem, was ich über Michael gehört habe, war seine Tat vorprogrammiert, doch dass er sie zu Lebzeiten seiner Mutter setzen würde, also das hätte ich mir nicht träumen lassen.’ Siehst du, Michael”, sagte ich zu mir selbst, „was du deiner Mutter antun würdest mit einer solchen Tat? Was könnte die arme Frau denn dann nur antworten? ‘Vielen Dank, Frau Pimpelhuber, für Ihr Mitgefühl. Ich bin entsetzt über das, was mein Sohn getan hat, doch es ist nun einmal geschehen. Bitte haben Sie Verständnis, Frau Pimpelhuber, dass ich im Moment nicht über Michaels Tat sprechen möchte!’ Nein, Michael, so was darfst du nicht machen!”

Doch ich habe es gemacht. Heute. Und es war, das gebe ich freimütig zu, die schlimmste Untat meines Lebens. Ich konnte einfach nicht mehr. Diese Tat war, das darf ich ehrlich zugeben, der Schlusspunkt eines langen Leidensweges. Ich habe heute ja versucht, ruhig zu bleiben respektive mich selbst zu beruhigen, denn ich sah diese Tat heraufdräuen. Wie ein Wolfsrudel, das sich langsam nähert, sah ich sie kommen. Was soll ich sagen? Nun ist es passiert.

Es handelte sich um Monika, das Mädchen, das mir gegenüber gesessen hatte. Die Distanz zwischen ihr und mir war gering, und es hätte ein schöner und ruhiger Nachmittag werden sollen. Die Sonne schien und es war warm. Monika ignorierte mich. Sie hatte kein Interesse an Augenkontakt, obwohl ich sie mit freundlichen, interessierten Blicken musterte. Dass das Mädchen Monika war, erfuhr ich in dem Moment. in dem sie einen Anruf entgegennahm und sich mit ihrem Vornamen meldete. „Hallo, Monika am Apparat”, sagte sie halblaut. Das Telefonat dauerte nicht lange, es ging um ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. Aus dieser Tatsache schloss ich, dass eben zwei Studentinnen ein Gespräch geführt hatten. Monika führte den anscheinend mit der Lautstärke des Gehörten überforderten In-Ear-Kopfhörer wieder in ihr rechtes Ohr ein. Aus diesem hatte sie ihn zuvor gezogen, um die Person, die sie angerufen hatte, besser verstehen zu können, was mir logisch schien. Monika schwieg mich weiter an, doch ich ließ mich davon nicht beeindrucken, und das trotz des Drucks, der sich in mir aufzubauen begann. Tapfer versuchte ich, Blickkontakt herzustellen, doch sie brachte es nicht fertig, mir in die Augen zu sehen.

Monika schwieg, doch war der Raum von Lärm erfüllt. Nicht bloß vom üblichen Lärm in solchen Räumen, an den ich gewöhnt bin und den ich notgedrungen akzeptiere. Es handelte sich um eine Art von Lärm, die ich seit langer Zeit als hochgrässlich, und somit als überaus störend empfunden hatte. Und ich hatte keine Chance zu entkommen, denn in meinem Inneren hatte sich ein Schalter umgelegt, auf dessen Funktionsbeschreibungsschildchen wahrscheinlich stand: ‘Michael – gefangen. Flucht unmöglich!’ Der Druck erhöhte sich, wie das bei sogenannten Druckkochtöpfen der Fall ist.

Meine Blicke wurden eindringlicher, doch Monika schien sie nicht zu bemerken. ‘Sie will meine Blicke nicht bemerken’, dachte ich. ‘Ja, das ist es. Sie ignoriert mich einfach. Und dazu kommt noch dieser unerträgliche Lärm. Immer schlimmer wird er, mit jeder Sekunde unaushaltbarer. Ich kann nicht entkommen, ich sitze hier wie die Maus vor der Schlange und kann nicht weg! Ich befürchte, dass heute der Tag ist, an welchem ich diese Handlung setzen werde, ja muss.’ „Michael,” sagte ich zu mir, „bitte führe diese Tat nicht aus! Das darfst du deiner Mutter einfach nicht antun! Denke auch an deine Freunde! Auch die wären fürchterlich enttäuscht von dir. Sie würden diese Tat niemals verstehen können!” Doch es half nichts.

Das mir gegenüber sitzende Mädchen ignorierte mich weiterhin, und die Kraft, die junge Frau anzusprechen, hatte ich einfach nicht mehr, zu sehr hatte der Lärm mich bereits gequält und ausgelaugt. Ich warf Monika hilfesuchende Blicke zu, doch sie sah teilnahmslos aus dem Fenster. In einem Tunnel spiegelten sich unsere Köpfe in der Fensterscheibe, in exakt dem Augenblick, in dem ich meine Augen von ihrem Antlitz abwandte und, wie auch Monika, aus dem Fenster sah. Für den Bruchteil einer Sekunde war ich mir sicher, dass wir einander in die Augen gesehen hatten, wenigstens über die spiegelnde Scheibe, doch das Mädchen wandte seinen Blick schnell ab und sah in das schwarze Nichts.

Ich war verzweifelt. Der Lärm, die Ignoranz und der Druck begannen, mir zu viel zu werden. „Nein, Michael, tu das nicht!”, sagte ich zu mir. Doch es war zu spät. Das Schicksal wollte seinen Lauf nehmen, und so nahm es ihn.
Ich zog mein Schweizer Offiziersmesser aus der Hosentasche, klappte dessen große Klinge auf und hielt sie vor Monikas Augen.

Ich trage stets ein Schweizermesser bei mir, man kann ja nie wissen. Oft schon hat mir ein solches gute Dienste erwiesen, beispielsweise wenn ich einen Apfel von seiner mit Wachs überzogenen Schale zu befreien hatte. Oder wenn ich in der Verlegenheit war, ein Steak, das die Tenazität einer ledernen Schuhsohle aufwies, zu zerteilen, da sich das mir für diese Handlung vom Restaurant zur Verfügung gestellte Schneidewerkzeug als ein in die Jahre gekommenes, und somit entsprechend unscharfes, gewöhnliches Fleischmesser entpuppt hatte. Des Weiteren hatte ich Erfahrung gemacht, dass ein Mann, der stets ein Offiziersmesser bei sich trägt, von der Damenwelt als ‘patenter Kerl’ angesehen wird.

Monika blickte mich aus vor Schreck geweiteten Augen an. Sie öffnete ihren Mund, ganz so, als ob sie schreien wollte, doch brachte sie bloß keuchende Laute heraus. Dann öffnete und schloss sich ihr Mund abwechselnd, und sie zog einen der In-Ear-Kopfhörer aus dem Ohr.

So etwas hatte ich in meiner Jugend gesehen. Ich war mit einem Freund angeln gegangen und er hatte einen ziemlich großen Karpfen am Haken. Nach einigen Minuten harten Kampfes hatten wir es fertiggebracht, den Fisch an Land zu ziehen. Er hatte sich daraufhin auf die selbe Art und Weise geriert wie Monika, was die Mundbewegungen anlangte.

„Es hat keinen Sinn, zu schreien, Monika”, sagte ich mit ruhiger Stimme. „Woher wissen Sie”, setzte sie an, doch ich fiel ihr, wieder mit ruhiger Stimme, ins Wort: „Ich weiß, wie du heißt.” „Was”, stammelte sie, „haben Sie mit mir vor?” „Jetzt, in wenigen Augenblicken, ist es so weit, Monika. Zu lange hat sich der Druck in mir bereits aufgestaut.” Sie sah mich erschrocken an. „Keine Sorge, Monika. Ich verspreche dir, dass du nichts spüren wirst. Ein Schnitt, und schon ist alles vorbei.”

Das Versprechen, dass ich nichts spüren würde, also keine Schmerzen würde erdulden müssen, hatte man mir im Laufe meines Lebens viele Male gegeben. Zahnärzte, praktische Ärzte und sogar ein Militärarzt hatten es mir gegeben. Nun, oftmals war das Aussprechen dieses Versprechens bloß der in Worte gefasste Wunsch des jeweiligen Arztes, nämlich eine schmerzlose Behandlung am Patienten zu vollziehen, denn realiter musste ich bei verschiedenen Gelegenheiten sehr leiden.

Da Monika zu weinen begonnen hatte, wollte ich meine Tat zeitnah hinter mich bringen.
Ich ertrage weinende Menschen nämlich nur sehr schwer, besonders weinende Frauen rühren mich. Ich neige dann dazu, sie in den Arm zu nehmen und zu trösten. Ich durfte einige Male die, dies muss ich offen sagen, überaus positive Erfahrung machen, dass solch tröstende Handlungen durchaus vom Abend bis zum Morgen andauern können, jedoch möchte ich nicht unerwähnt lassen, dass geschlechtliche Handlungen keineswegs meine vorrangigen Beweggründe für tröstendes Verhalten sind. Doch zurück zu Monika, die auf die Durchführung meiner Tat wartet.

Ich holte, das Messer in meiner Hand, aus, Monika erstarrte, und setzte, so schnell es mir möglich war, einen Schnitt, ich darf erwähnen, dass die Klinge meines Offiziersmessers stets die Schärfe einer Skalpellklinge aufweist, und alles war vorbei.
Mit stumpfen Klingen habe ich oft schlechte Erfahrungen machen müssen. Möchte man zum Beispiel eine schmackhafte Hühnersuppe zubereiten und verwendet man für das Zerlegen des Vogels ein Messer mit stumpfer Klinge, so kommt man schnell dahinter, aus welchem Grund diese Art Vogel gerne als ‘Gummiadler’ bezeichnet wird.

Monikas Erstarrung löste sich, verdutzt zog sie den zweiten Kopfhörer aus dem Ohr und sah an sich herab. Sie blutete nicht. Sie befühlte das Kabel, welches die Kopfhörer mit ihrem MP3-Player verband und bemerkte, dass dieses durchtrennt worden war. Sie sah mich fassungslos an und sagte „Was.” Weiter kam sie nicht. Ich steckte mein Messer weg, sprang auf, trommelte mir auf die Brust und brüllte: „Ich hasse volkstümliche Musik!” Dann lief ich aus dem Abteil.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 16150

Ein steriler Mensch

Entweder er stellt seine gefüllten Kisten auf den Dachboden oder aber er geht in den Garten, errichtet eine kleine Feuerstelle und verbrennt sie. Er entschied sich für Letzteres. Denn selbst wenn er, nachdem er den Dachboden verlassen hätte, den Schlüssel aus dem Schloss gezogen hätte, um ihn anschließend wegzuwerfen und nicht wie üblich einmal umzudrehen, um ihn dann in die Schublade neben der Eingangstür zu legen, wären immer noch ein Dutzend Szenarien möglich, in denen der Inhalt der Kisten den Weg zurück in seine oder gar in die Hände eines anderen gefunden hätte. Er wollte kein Risiko eingehen.

Von den Tausenden und Abertausenden Seiten, die sich in den letzten Jahren in den Kisten angehäuft hatten, war er nun befreit und er hatte endlich wieder Platz. Das ist ein Fortschritt, sagte er sich. Alle Altlasten waren entsorgt, und er konnte wieder unbekümmert sein.

*

Während die Mutter hinter ihm saubermachte, beschloss er, im nahegelegenen Park spazieren zu gehen, wie er es mehrmals die Woche tat. An einer geeigneten Stelle setzte er sich auf eine Bank und fing an, sich Notizen zu machen.
Die Seiten füllten sich, doch schon bald hielt er inne, überflog Zeile für Zeile und musste mit Bedauern feststellen, dass es wieder nur Beweismaterial war, wieder nur Zeugnisse seiner selbst, derer er sich schämte.

Manchmal, da faltete er nach Ausführung und Beendigung seiner Gedanken das Papier zusammen. Ein anderes Mal, so wie es heute der Fall war, stand er auf, ging zum nächsten Mülleimer und entsorgte das Geschriebene. Dies kam jedoch eher selten vor. Meist nahm er das Geschriebene mit nach Hause, um es dort zu archivieren. Auf halber Strecke kehrte er heute aber noch einmal um und suchte erneut den Mülleimer auf, griff mit der Rechten hinein und wühlte, bis er die Blätter zwischen seinen Fingern spürte. Er zog sie heraus und zerriss sie zuerst der Länge nach, legte dann die zwei entstandenen Stapel aufeinander und teilte diese abermals. Den Vorgang wiederholte er, bis nur mehr winzig kleine quadratische Stückchen übrig geblieben waren. Er blickte sich um. Der Park war wie ausgestorben.

*

Seine Kleidung war weiß und unbefleckt. Die Mutter wusch sie am sonntäglichen Waschtag. Selbst die übelsten Flecken konnte sie, in dem Fall, dass er sich beflecken würde, was so gut wie nie vorkam, weil er peinlichst darauf bedacht war, seine Kleidung sauber zu halten, reinigen. Ein weißes Gilet, ein weißes Hemd, eine weiße kurze Hose, weiße Socken, blassbraune Sandalen. Er zeigte ungern Haut, doch die Hitze des Sommers verlangte es so. Früher war er es gewohnt, sich auch bei Höchsttemperaturen in schwarze Kleidung zu hüllen, doch das hatte er aufgeben.

So wie viele seiner Eigenheiten nur von kurzer Lebensdauer waren und schon bald nach ihrem Aufkommen verschwanden. Andere wiederum hatten scheinbar kein Ablaufdatum. Sie drangen tief in sein Fleisch ein, sodass sie auch, nachdem sie schlichtweg ihre Notwendigkeit verloren hatten, nutzlos sein Wesen zierten. Es waren kleine Souvenirs vergangener Zeiten, die er nur zu gerne vergessen würde. Manchmal kam einer und versuchte sie aufzudecken. Manchmal gelang es. Manchmal nicht. Wenn es gelang, war er beschämt.

Er erinnerte sich an einen Spaziergang im Park, bei dem er einem entfernten Bekannten begegnet war. Dieser war ein besonders interessierter Mensch, einer, der sich zu gerne in das Leben anderer einmischte, so dachte er, einer, der die Kunst des Fragens beherrschte und der es so vermochte, dem Gesprächspartner mehr zu entlocken, als ihm eigentlich recht war.

Sie hatten sich gegenübergestanden. Der Bekannte war deutlich näher gerückt als es hierzulande die Konvention war. Die Unterhaltung hatte sich zugespitzt und einen unvorhergesehenen Verlauf genommen. Er war in eine Sackgasse gedrängt worden, die ihm jeglichen Handlungsspielraum nahm. Er hatte die Haltung verloren. Seine Augen waren glasig geworden, und eine erste Träne bildete sich. Er wünschte, er könnte sie so wie den Schleim in der Nase hochziehen und hinunterschlucken. Aber das war ihm nicht möglich. Genauso wenig wie es ihm möglich war, den Kloß in seinem Hals durch den Speichel in seinem Mund aufzulösen.

Er hatte sich bei dem Herrn entschuldigt und war davongeeilt auf der Suche nach einem sicheren Ort, der ihn für wenige Momente vor den Augen der Welt verbergen würde. Der Vorfall würde sich schnell herumsprechen. Sie hatten gemeinsame Bekannte. Wahrscheinlich hatte er umgehend nach seinem Mobiltelefon gegriffen und begonnen, das sich eben Zugetragene zu verbreiten.

Er verfluchte den Mann. Am liebsten hätte er kehrtgemacht, um ihm sein Telefon um die Ohren zu hauen. Er fragte sich, wie es so weit kommen hatte können. Wie er die Selbstbeherrschung verlieren und so viel Schwäche zeigen konnte.

Man musste dem Mann jedoch zugestehen, dass auch er ihm gegenüber erschreckend ehrlich gewesen war, dass er allzu Intimes preisgegeben hatte. Allmählich begriff er, dass sie während des Gesprächs eine Art unausgesprochene Vereinbarung getroffen hatten. Er selber war auch offen gewesen, hatte nichts verborgen, hatte sich selbst von seiner menschlichsten Seite gezeigt. Er hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er es nachvollziehen könne, dass er Ähnliches erlebt hätte und ihn auf gar keinen Fall für seine Fehlbarkeit verurteilen würde.

Dennoch hatte er damals beschlossen, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Es mussten zusätzliche Maßnahmen getroffen werden. Vor jenem Vorfall war es seine Art gewesen, gewissen Fragen einfach auszuweichen, beziehungsweise wenn nötig, um den heißen Brei herumzureden. Mit diesem Tag aber hatte er es sich angewöhnt, im Gespräch mit anderen immer weiter von der Wahrheit abzuweichen. Anfangs hatte er Details bewusst weggelassen oder leicht variiert. Schließlich erfand er komplette Geschichten frei. In erster Linie galt dies seinem Schutz, zum anderen jedoch mochte er die Fiktion und wollte ihr nicht nur in seiner dichterischen Arbeit, sondern auch in seinen zwischenmenschlichen Beziehungen Platz einräumen. Es galt, das Fiktionsbedürfnis seiner selbst und das der Menschen zu stillen. Hinzu kam, dass sein Leben schlichtweg nicht darauf ausgerichtet war, erzählt zu werden.

Wenn er einen Bekannten traf, würden im Durchschnitt 2,173 Monate vergehen, ehe er ihn erneut traf. Dieser Umstand ließ ihm beim Erzählen freie Hand, würden sich die Menschen doch nach Verstreichen einer solchen Zeitspanne, wenn überhaupt, dann nur grob an das erinnern, was er erzählt hatte. Dennoch notierte er sich nach jedem Treffen in kurzen Stichworten, was er demjenigen aufgetischt hatte, und überlegte sich sogleich, wie er die Geschichte das nächste Mal fortführen könnte.

Er wurde immer geschickter darin, sein Leben zu verschleiern, seine Gesichtsmuskulatur so zu kontrollieren, dass kein ungewollter Eindruck entstand, innere Regungen zu vertuschen, sie nicht an die Oberfläche gelangen zu lassen, eine Rede zu halten, die es nicht erlaubte, in den Köpfen der anderen ein Eigenleben zu entwickeln. Seine Gesprächsbeiträge waren möglichst der Art, dass schon bei der Verabschiedung der andere das Gesagte sofort vergessen würde.

*

Als er nach Hause kam, war die Mutter bereits mit dem täglichen Hausputz fertig und hatte sich hinaus in den Garten begeben, wo sie unbewegt, den Blick auf einen kleinen Baum gerichtet, auf der Wiese saß. Irgendwann hatten sie aufgehört, miteinander zu reden. Von ihm erfuhr sie nichts. Nur von den hinterlassenen Gegenständen konnte sie Rückschlüsse auf seine Gewohnheiten, auf seinen Alltag, auf seine körperliche und geistige Verfassung ziehen. Er wusste nicht, ob er die täglich anstehenden Arbeiten ohne sie bewältigen könnte. Sie war für ihn von unschätzbarem Wert, wenn es darum ging, die täglichen Aufräumarbeiten zu verrichten. Auf der anderen Seite jedoch war sie seine Schwachstelle. Über sie war er angreifbar. Sie war die letzte Zeugin, die Letzte, die Bescheid wusste und Auskunft über ihn und seine Vergangenheit geben konnte.

Nur sie würde übrig bleiben. Doch während ihr Körper jung geblieben war, war ihr Hirn matschig und weichgespült. Ihr Erinnerungsvermögen ließ stark nach, sie brachte Sachen durcheinander und der Verfallsprozess ihres Geistes hatte bereits erschreckende Ausmaße angenommen. Es war fraglich, ob ihr überhaupt jemand Gehör schenken würde, und wenn, ob ihr überhaupt jemand folgen könnte.

Würde er unerwartet sterben, dachte er sich wiederholt, sie würden nichts finden. Sie wären vollkommen ahnungslos. Der Pfarrer würde bei der Begräbnisrede stumm bleiben und die Handvoll Menschen, die sich in der Kirche versammeln würde, sie würde herumstottern, versuchen, im Gespräch mit anderen Worte zu finden, die seiner Person auch nur im Ansatz gerecht werden könnten. Sie würde kläglich scheitern, dafür hatte er Sorge getragen.

Ernest Perfahl
machwerkminiaturen

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16130

Rückblick eines Priesters

Mein Name ist Pater Reinhard Puswald, ich bin dreiundachtzig Jahre alt und diktiere meinem Mitbruder Pater Franziskus Gruber diese Worte, während ich auf meinem Sterbebett liege. Sie sollen mein Vermächtnis sein und sind möglicherweise dazu angetan, jungen Ordensmitgliedern einen Eindruck zu vermitteln, worauf es meiner Ansicht nach beim Priesterberuf ankommt.
Ich sage bewusst Beruf, denn bei aller Wertschätzung der Berufung, die jeder von uns zu Beginn seiner Ordenslaufbahn verspürt, handelt es sich letztlich um nichts anderes als um einen Beruf, den wir bis zum Ende unseres Lebens ausführen wollen.

Als ich im Alter von neunzehn Jahren in den Zisterzienserorden eingetreten bin, lag ein Leben voller Unruhe hinter mir, eines, das geprägt war von Trunkenheit, kurzlebigen Beziehungen zu Frauen und der Frage nach dem Sinn meines Daseins.
Dennoch fiel es mir leicht, all diesen Trubel hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen, eines, das von Disziplin, Pflichterfüllung und der Liebe zu meinen Mitmenschen und zu Gott erfüllt war.
Aus Egon Puswald wurde Pater Reinhard.
Von einem Tag auf den anderen war ich ein geachteter Mann, denn ich trug die Tracht meines Ordens. Zu einem akzeptierten Gottesmann wurde ich jedoch erst viele Jahre später, als die Menschen erkannten, dass es mir ernst war mit dem, was ich sagte und machte, und vor allem, nachdem ich mir selbst die Torheiten meiner jungen Jahre vergeben hatte.

Das Leben im Kloster hielt viele Aufgaben und Pflichten für mich bereit. Die meisten von diesen bereiteten mir Freude, ein paar nahm ich als gegeben hin und nur sehr wenige bereiteten mir ernstlich Kummer.
Früh am Morgen aufzustehen und sich zum Gebet zu versammeln, fiel mir anfangs schwer, doch nach einer gewissen Zeit erkannte ich, dass der Mensch einfach mehr vom Tage hat, wenn er diesen zeitig beginnt. Das Gebet, in welchem ich früher inbrünstig Zwiesprache mit Gott zu halten glaubte, wurde über die Jahre eine Art Meditation, ein wiederkehrender Anlass, in mich zu gehen, innezuhalten und mich meines Standortes zu besinnen, um meine Standpunkte gegebenenfalls nachjustieren zu können.
Es war oftmals notwendig, diese Standpunkte zu ändern, denn der Beruf des Priesters bringt es mit sich, dass man mit Menschen arbeitet, und Menschen ändern ihre Denkweisen und ihr Handeln. Dies trifft auf alle Menschen zu, also auch auf uns Mönche.

Ich hatte, als ich Pfarrer eines kleinen Dorfes wurde, mit unterschiedlichen Charakteren zu tun. Vielen von diesen konnte ich tatsächlich eine Hilfestellung bei der Lösung ihrer Probleme geben, zum Beispiel wenn ihre Verwandten verstorben waren oder durch die Beichte. Im Zuge des Bußsakraments offenbarten sie nicht bloß ihre begangenen Sünden, sondern erzählten mir von ihren innerlichen Problemen. Früher war es so, dass der Pfarrer ein Stück weit die Arbeit verrichten musste, und dies, so der Idealfall, auch tun wollte, für die heute ein Therapeut zuständig ist.
Ich versuchte nach Kräften, diesen Menschen zu helfen, auch wenn ich dabei etliche Male an die Grenzen meiner eigenen Belastbarkeit stieß oder gestoßen wurde. Ich bekenne, dass ich bei mehreren Gelegenheiten nicht anders handeln konnte, als die betreffenden Menschen mit deutlichen Worten darauf hinzuweisen, dass für ihre Probleme, und vor allem die Schwere, in der diese zutage traten, das Gespräch mit einem Priester nicht ausreichen konnte und sie so schnell wie möglich professionelle medizinische Hilfe in Anspruch nehmen sollten.

Im Falle einer jungen Frau versagte ich und machte mir über viele Jahre Vorwürfe, dass ich eine Mitschuld an ihrem Tod tragen würde. Irgendwann belastete mich dieser Todesfall nicht mehr, denn ich hatte erkannt, dass ich meinem Beruf entsprechend, und somit richtig, gehandelt hatte. Auch wenn es meine Berufung war, und immer noch ist, den Menschen zu helfen, so ist es allein aus Gründen des Selbstschutzes unerlässlich, die Grenzen, die mein Beruf mir setzt, zu akzeptieren und einzuhalten.

Diese Grenzen gibt es natürlich auch im Zusammenleben mit meinen Mitbrüdern. Ich habe es genossen, mit sehr unterschiedlichen Menschen zu leben. Mit den meisten hatte ich ein gutes Auskommen in allen Belangen. Wir zogen an einem Strang und hatten Verständnis für die Eigenheiten und Schwächen, die jeder von uns hatte und hat. Selbst als Mitbrüder Väter wurden, hielten wir zu ihnen und sorgten dafür, dass es ihren Kindern an nichts fehlte.
Mit den Oberen meiner Diözese geriet ich einige Male aneinander, doch nachdem mir klargeworden war, dass sie in ihrem Beruf gefangen waren, kommentierte ich die Ränke, die sie schmiedeten und die von politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Interessen durchsetzt waren, nicht länger und ließ sie gewähren.

Heute bin ich alt und krank, doch habe ich das Glück, sagen zu können, dass ich ein gutes Leben hatte. Ich habe gelernt, die Menschen so zu akzeptieren, wie sie nun einmal sind, und auch dass es Dinge gibt, die der Glaube allein nicht zurechtrücken kann.
Ich bedaure, dass ich mich nicht stärker dafür eingesetzt habe, dass Frauen zu Priesterinnen geweiht werden dürfen, doch bin ich mir sicher, dass meine jungen Mitbrüder die Courage haben werden, diese Grenze zu sprengen, der ich mich aus Gründen der damaligen Weltanschauung innerhalb der katholischen Kirche kaum zu nähern wagte.
Ich weiß nicht, wie viele Tage auf Erden mir noch gegeben sind, doch werde ich mit der Gewissheit einschlafen, dass mein Dasein nicht vergebens war.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16104

Herr Peters darf noch nicht sterben

„Herr Peters, warum glauben Sie, dass Sie sich umbringen müssen, um die Probleme mit Ihrer Frau aus der Welt zu schaffen?”, fragte Maria Knöpfling, die Psychotherapeutin.
Auf das vor ihr auf dem Schreibtisch liegende Blatt Papier schrieb sie ‘schwere Anpassungsstörung; suizidale Tendenzen??’

„Das wäre die beste Lösung”, gab Norbert Peters zurück. „So wären alle Probleme gelöst.”
„Das ist zweifellos richtig. Aber Sie wären doch nicht zu mir gekommen, um ein Erstgespräch zu führen, wenn Sie sich wirklich das Leben nehmen wollten.”
„Das stimmt, zum Teil wenigstens”, seufzte Peters. „Ich habe den Rat meiner Frau und meines besten Freundes befolgt und bin zu Ihnen gekommen, weil Sie angeblich die beste Therapeutin sind. Ich möchte eine Psychotherapie machen.”
„Das klingt schon besser”, sagte Maria lächelnd und notierte: ‘Anzahl der Stunden – Krankenkasse?’

„Es ist nämlich so”, begann Peters. „Mein bester Freund, sein Name tut hier nichts zur Sache, hat mit meiner Frau gesprochen, und beide haben sie mir geraten, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie befürchten nämlich, dass ich mir etwas antun könnte.”
„Das will natürlich niemand!”, sagte Maria und schrieb: ‘bester Freund und Ehefrau; auch Hausfreund?’

„Ihr bester Freund scheint einen großen Einfluss auf Ihre Gattin zu haben”, fuhr sie fort.
„Den hat er in der Tat. Wir sind schon seit Kindergartentagen befreundet, müssen Sie wissen. Wir haben keine Geheimnisse voreinander. Ach, vergessen Sie bitte, was ich vorhin gesagt habe. Er heißt Hugo. Ich kann seinen Namen ja ruhig nennen. Da Hugo mit mir befreundet ist, ist es doch ganz normal, dass er auch mit meiner Frau auf gutem Fuße steht, finde ich.”
„Auf wie gutem Fuße denn?”, fragte die Therapeutin.
„Die beiden gehen alle zwei Wochen essen.”
„Bei diesen Gelegenheiten können sie sich natürlich unter vier Augen austauschen – auch über Sie, Herr Peters.”
„Natürlich. Ich bin sehr froh, dass sie das machen. Als es einmal darum ging, ob ich eine Operation einer Chemotherapie vorziehen sollte, haben sie die Sache besprochen und Hugo hat mir einen Termin beim besten Chirurgen der Stadt verschafft. Heute bin ich gesund.”
„Das ist sehr schön; eine echte Freundschaft eben”, stellte Maria fest. „Möchten Sie die Probleme, die Sie mit Ihrer Frau haben, kurz umreißen, Herr Peters?”
‘bei Verhältnis Frau – Hugo einhaken! (mind. 3 Einheiten!)’, notierte sie.

„Was schreiben Sie da?”, fragte Norbert Peters und beugte sich nach vorn, um das Blatt besser zu sehen.
Maria Knöpfling zog dieses vom Tisch und sagte: „Ich mache mir Notizen, um die Therapie zielgerichtet anlegen zu können, Herr Peters.”
„Nun gut. Sie werden schon wissen, was Sie zu tun haben.”
„Darauf können Sie Gift nehmen”, gab sie zurück und sagte schnell: „Im übertragenen Sinne, natürlich!”
Dann fuhr sie fort: „Sie werden in der Therapie lernen, eigene Entscheidungen zu treffen, Herr Peters. Das wird Sie unabhängig machen von den Entscheidungen Ihrer Frau und Ihres Freundes. Also, wo liegt das Problem?”
„Meine Frau beachtet mich kaum noch. Mir kommt es vor, als wäre ich Luft für sie.”
„Aber Ihren besten Freund beachtet sie?”
„Natürlich.”
„Warum ist das so? Was glauben Sie, Herr Peters?”
„Ich weiß es nicht. Klar, sie ist in den Wechseljahren, das hat man eben kein so großes Interesse am Partner mehr. Ich habe mich ja auch verändert. Vor zehn Jahren hatte ich gut zwanzig Kilo weniger, aber so ist das gute Leben. Man verändert sich. Hugo hingegen, der könnte glatt einen Marathon laufen.”
‘tote Hose; Frau und Freund: Sex?’, schrieb Knöpfling.

„Wo ist Ihre Frau jetzt, Herr Peters?”
„Sie ist in die Sauna gegangen. Hugo hat sie mitgenommen. Es gibt nämlich eine neue gemischte Sauna in seiner Straße.”
„Herr Peters, was ich Sie jetzt frage, ist etwas heikel: Haben Sie je die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Ihre Frau ein Verhältnis haben könnte?”
„Es ist so, dass sie ein Verhältnis hatte, aber das ist zwanzig Jahre her. Dass sie wieder eines hat, erscheint mir unvorstellbar.”
„Gut. Darüber werden wir uns noch ausführlich unterhalten. Sie wissen aber, dass Sie mir gegenüber ehrlich sein müssen. Auch wenn es für Sie unangenehm sein sollte, Sie müssen mir die Wahrheit sagen, sonst macht eine Therapie keinen Sinn.”
„Das hat mir Hugo schon gesagt, Frau Knöpfling.”
„Das freut mich, Herr Peters. Haben Sie von Ihrem Freund auch erfahren, was Sie mir sagen dürfen oder was nicht?”
Norbert blickte sie verständnislos an.
„Wie meinen Sie das?”
„Hat er Ihnen geraten, mir zu bestimmten Themen keine Informationen zu geben?”
Er zögerte seine Antwort hinaus.
„Nun ja, er hat mir gesagt, dass ich Ihnen nicht zu erzählen brauche, dass mein Verhältnis zu meinen Eltern kein besonders gutes war.”
„Herr Peters, so geht das nicht. Sie müssen sich von dem Gedanken lösen, dass Sie das zu tun haben, was Ihnen von Hugo gesagt wird. Sie sind ein erwachsener Mensch, der seine eigenen Entscheidungen zu treffen hat. Es ist schön für Sie, dass Sie einen Freund haben, mit dem Sie seit Ihrer Kindheit über alles reden können, doch sollten Sie sich die Frage stellen, ob er ein wirklicher Freund ist.”
‘Hugo!!!’, schrieb sie auf.

„Ich verstehe nicht, was Sie meinen.”
„Es ist doch ganz einfach, Herr Peters. Sie haben Probleme mit Ihrer Ehefrau. So große Probleme, dass Sie sogar daran gedacht haben, sich etwas anzutun. Ich frage Sie: Konnte ihr Freund Hugo Ihnen bei diesen Problemen helfen? Konnte er etwas zu deren Lösung beitragen?”
„Nein”, stammelte er. „Bis jetzt nicht.”
„Natürlich konnte er das nicht. Und wissen Sie auch, warum?”
„Nein, Frau Knöpfling, das weiß ich nicht.”
„Weil er dazu nicht in der Lage ist.”
„Sind Sie denn dazu in der Lage?”
„Natürlich bin ich das, Herr Peters. Nicht umsonst stehe ich im Ruf, die beste Psychotherapeutin weit und breit zu sein.”
„Die teuerste sind Sie aber auch”, bemerkte Norbert.
„Weil ich gut bin.”
„Wie wollen Sie es anstellen, dass ich wieder glücklich werde in meiner Ehe?”
„Ich werde Ihnen Fragen stellen und Sie durch diese zum Nachdenken bringen. So werden Sie erkennen, wo Ihre Probleme liegen, wer schuld daran ist und wie Sie sie lösen können.”, klärte sie ihn auf und sagte milde lächelnd dazu: „Ohne dass Sie sich umbringen müssen.”
Norbert Peters dachte nach.
„Sie haben wahrscheinlich recht”, sagte er dann. „Mein bester Freund ist zweifellos so sehr an mich gewöhnt, dass er die Dinge nicht von außen betrachten kann. Sie kennen mich nicht, wenigstens noch nicht, und sind daher viel eher in der Lage, mich zu verstehen und mir zu helfen.”
Maria Knöpfling malte einen winzigen Smiley auf das Blatt und übermalte ihn sofort wieder.

„Ich sehe, Sie beginnen zu verstehen, worum es geht, Herr Peters.”
„Können Sie mir denn Verschwiegenheit garantieren?”
„Selbstverständlich. Was auch immer Sie mir erzählen, wird streng vertraulich behandelt. Niemand wird davon erfahren. Dazu sind wir Psychotherapeuten verpflichtet.”
„Gilt das auch für meine Frau?”
„Sie meinen, ob ich Ihrer Frau etwas von dem erzählen darf, was Sie mir anvertrauen?”
„Ja, das meine ich.”
„Nein, Herr Peters. Ich bin nicht Ihr bester Freund. Wenn Sie diesem von Ihren Problemen erzählen, so bleibt es ihm überlassen, Ihre Ehefrau einzuweihen.”, sagte sie milde lächelnd, setzte süffisant hinzu: „Bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch” und beendete ihre Ausführungen zu diesem Thema noch süffisanter: „Oder in der gemischten Sauna.”

Wieder dachte Peters nach.
„Ich habe mich schon gefragt, ob zwischen den beiden etwas läuft, doch kann ich es mir nicht vorstellen.”
„Nein, natürlich ist so etwas nicht vorstellbar. In der heutigen Zeit ist es undenkbar, dass eine Frau sich den besten Freund ihres Gemahls angelt. Ebenso ist es mittlerweile völlig aus der Mode gekommen, dass ein Mann die Gattin seines besten Freundes begehrenswert findet.”
„Denken Sie denn, dass die beiden ein Verhältnis haben, Frau Knöpfling?”, fragte Norbert mit banger Stimme.
„Das weiß ich nicht, Herr Peters. Aber ich weiß, dass wir diese Frage ausführlich besprechen werden. Wir haben nicht mehr viel Zeit, daher möchte ich Ihnen eine Frage stellen, aber zu einem anderen Thema.”

„Nur zu.”
„Als Sie heute zu mir gekommen sind, haben Sie gesagt, dass Sie überlegen, sich etwas anzutun. War das ernst gemeint?”
Peters errötete.
„Lassen Sie es mich so formulieren: Ich spiele seit meinem sechzehnten Lebensjahr mit diesem Gedanken. Natürlich nicht ständig, also nicht täglich oder wöchentlich, aber ab und an überkommt mich der Trieb, mich umzubringen.”
„Das müssen Sie aber nicht tun, Herr Peters. Es gibt für alles eine Lösung, glauben Sie mir.”
„Das weiß ich doch. Es ist nur so, dass ich mich schon immer von der Dunkelheit angezogen gefühlt habe. Und die dunkelste Form davon ist nun einmal der Tod.”
Maria Knöpfling nahm ihren Bleistift und schrieb ‘intensive Betreuung – Boxter?’

„Glauben Sie mir, Herr Peters, wir werden auch dieses Problem lösen. Im Zuge der Therapie werden wir uns diesem Thema ausführlich widmen und Sie von der Dunkelheit zurück ins Licht führen.”
„Das wäre schön”, sagte Norbert und räusperte sich. „Wenn ich ehrlich sein darf, Frau Knöpfling: Es war dumm von mir, Sie nicht schon vor Jahren aufgesucht zu heben. Ich hätte mir viel Kummer erspart. Ich”, er schluckte zweimal, „habe das Gefühl, in Ihnen einen neuen besten Freund gefunden zu haben, Freundin meine ich natürlich.”
„Ich bin Ihre Therapeutin, und nicht Ihre beste Freundin, Herr Peters. Ich pflege meine Patienten zu siezen, damit die professionelle Distanz gewahrt bleibt.”
„Das weiß ich natürlich. Ich habe auch nicht sagen wollen, dass wir nach der Therapie auf ein Bier gehen, oder in die Sauna. Ich wollte damit nur zum Ausdruck bringen, dass es mir gut tun wird, mit jemandem zu reden, ohne dass diese Person alles gleich brühwarm meiner Frau erzählt. Auch wenn Hugo es bestimmt nur gut meint.”
„Gut. Eines müssen Sie mir aber versprechen: Während Sie bei mir in Behandlung sind, dürfen Sie sich nichts antun. Versprechen Sie mir das, Herr Peters?”
„Natürlich. Warum sollte ich mich umbringen, wenn ich doch nun eine Therapeutin habe, mit der ich reden kann und die nichts weitersagt? Versprochen.”
„Das freut mich sehr. Zahlen Sie eigentlich privat, oder übernimmt Ihre Krankenkasse einen Teil der Therapiekosten?”
„Ich zahle privat, denn ich bin in der glücklichen Lage, auf die Dienste einer Krankenversicherung verzichten zu können.”
Sie strich das letzte Wort auf dem Zettel durch und schrieb ‘911 Turbo S!!’

„Ich denke, dass wir mit zwei Einheiten pro Woche beginnen sollten, und nach einem halben Jahr sehen wir weiter. Wenn Sie bis dahin Fortschritte gemacht haben sollten, was zwar schwierig, aber immerhin nicht unmöglich ist, können wir die Frequenz unserer Treffen auf einmal pro Woche reduzieren.”
„Vielen Dank, Frau Knöpfling.”
„Sehr gerne, Herr Peters. Sie werden sehen: Für die Probleme meiner Patienten habe ich immer ein offenes Ohr.”
Als sie dies sagte, lagen ihre Hände mit den Handflächen nach oben auf ihren Oberschenkeln.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16089

Felicitas

Ihr Name war konträr zu ihrer Persönlichkeit. Sie litt unter schlimmen Zuständen, sehr viele Dinge machten ihr Angst, sie zog sich weit zurück.

Felicitas entschuldigte sich ständig: „Entschuldigung, dass ich das sag“, so fingen viele ihrer Sätze an.

Und sie fühlte sich für Katstrophen verantwortlich. An den durchgeschmolzenen Reaktoren von Fukushima und den vielen Toten trug sie Schuld. Am Hochwasser bei Lavamünd mit nicht sehr vielen, aber hiesigen Toten war sie schuld, weil sie nicht in der Heiligen Messe gewesen war. Egal was passierte, Stürme, Vulkanausbrüche, Flugzeugabstürze, Kriege, stets war sie die Person, die das veranlasst hatte. „Ich bin schuld“, sagte sie immer zu sich selbst.

Blödsinn!, Zwangsgedanken, möchte man meinen. Aber bei Felicitas lag man da falsch. Denn sie trug wirklich die Schuld. Weil sie der Teufel war.
Und an einer Heiligen Messe hatte sie noch überhaupt nie teilgenommen.

Johannes Tosin

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16070

Der Kreisel

Ich bin so ausgelaugt.
Ich bin erschöpft.
Mein Körper, mein Geist, mein Herz und meine Seele.

Jeden Tag versuche ich, Kraft zu sammeln
für all diese Aufgaben, die zu erledigen sind.
Aber es sind so viele, dass sie vor meinen Augen verschwimmen
und somit an Bedeutung verlieren.

Ein Kampf gegen Windmühlen?
Der früher oder später emotionslos wird.
Es begleitet mich ständig das Gefühl hinterherzuhinken.
Kaum ist das eine erledigt, tun sich fünf neue Dinge auf, die zu tun sind.

Es macht mich schwach,
zu sehen, dass ich es nicht schaffe, all diese Aufgaben zu bewältigen.
Es macht mich traurig,
zu bemerken, dass meine Motivation schwindet
und von Gleichgültigkeit abgelöst wird.

Es macht mich hilflos.
Und irgendwann ist es, als ob ich mich von außen betrachten würde.
Ein sich ständig drehender Kreisel,
dessen Farben durch die schnelle Rotation in ein Grau verschwimmen.

Es ist Zeit innezuhalten,
den Kreisel umzuschmeißen,
um sich bewusst zu werden,
welche Richtung Priorität hat,
wohin die Kraft gebündelt werden soll,
was wichtig ist und was warten kann.

Es ist an der Zeit, den Kreisel anzuhalten
und ihm die Möglichkeit zu geben,
wieder in allen Farben zu leuchten.
Mal hier mal dort,
doch nie und nimmer überall gleichzeitig.

Maria Buchegger

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16052