Entrisch

Wenn man von Linz aus Richtung Norden fährt, an Gallneukirchen vorbei, durch Neumarkt und schließlich Freistadt links liegen lässt, kommt man in eine Gegend, in der es nicht mehr viel gibt.
Irgendwo dort, noch vor der tschechischen Grenze, im absoluten Niemandsland vor, hinter oder zwischen Mühlviertel und Waldviertel, gab es ein kleines Bauernhaus, versteckt hinter Tannen und in meiner Erinnerung eine stundenlange Autofahrt von jeglicher Zivilisation entfernt.
„Ab jetzt wird’s entrisch“, ließ mein Vater verlautbaren, sobald wir Linz verlassen hatten.
Und als wir endlich aus dem stickigen Auto herauskamen, hatte sich meine Mutter aufgrund der kurvigen Straßen schon zum wiederholten Mal erbrochen und mein Vater hatte es jedes Mal sarkastisch kommentiert. Doch meine Mutter hinters Steuer zu lassen, wäre ihm nie eingefallen.

Für ein verträumtes Mädchen wie mich war dieser Ort ein geschütztes Fleckchen Paradies, wo ich stundenlang ungestört durch die hochstehenden Felder wandern und über plätschernde Bäche hüpfen konnte. Die umgefallene Kiefer hinterm Haus barg ein faszinierendes Sammelsurium von Käfern, Würmern und anderem Getier, das ich mit dem kalten, naturwissenschaftlichen Interesse eines Kindes beobachtete, quälte und schließlich tötete.
Immer wenn wir ankamen, stand meine Großmutter in der Tür und winkte. Sie hatte schon Knödelsuppe zugestellt, das ganze Haus roch danach. Die alte Frau hatte ein fast zahnloses Grinsen und eine riesige Nase, sodass sie mir zunächst mächtig Angst einflößte. In meiner unbegrenzten, kindlichen Vorstellungskraft verglich ich sie beim ersten Treffen mit der bösen Hexe aus Hänsel und Gretel.

Meine Eltern schliefen in der „guten Stube“ auf einem breiten Kanapee. Meine Großmutter schlief die Treppe hoch in einem winzigen Kämmerchen, und für mich war ein kleines Klappbett in der Küche beim warmen Holzofen vorgesehen.
Völlig selbstverständlich ließen mich meine Eltern bei einer mir fast Unbekannten und fuhren am nächsten Tag selbst weiter Richtung Wien, um „Kultur zu tanken“, wie es meine Mutter ausdrückte. Nach etwa drei Wochen holten sie mich ab, und die quälend lange Autofahrt zurück verschlief ich meist, vollgesogen mit glücklichen Sommererinnerungen.

Meine Großmutter ließ mich meinen Erkundungen und Spielen draußen vorm Haus ungestört nachgehen, rief mich nur zum Essen ins Haus und deckte mich am Abend mit einem hastig gemurmelten Gebet und einem klebrigen Kuss auf die Stirn zu.
Kopfschüttelnd wehrte meine sonst auch so wortkarge Großmutter fast jeden meiner Gesprächsversuche ab und murmelte nur leise vor sich hin. Manchmal hörte ich sie jammern, wenn ihr das Knie wehtat. Ein paar Mal nahm sie mich in den Arm, wenn ich hingefallen war oder ich weinend Sehnsucht nach meinen Eltern bekam. Dann roch sie nach Seife und Milch.

Ich gewöhnte mich schnell an die verschrobene Alte und an meinen neu erweckten Freiheitsdrang, dem ich während der tristen Tage in der Volksschule kaum nachgehen konnte.
Insgesamt waren es wohl einige wenige glückliche Wochen in den darauffolgenden Sommern, in denen ich zwar nicht verhätschelt wurde, an denen es mir aber auch an nichts fehlte.
Das Frühstück bestand meist aus Brot mit Marmelade und einem Glas Milch. Mittags gab es oft Wurst, Käse und Butter zum Brot und am Abend eine kräftige, fettige Suppe mit Kartoffelknödeln darin. Manchmal erhaschte ich ein Stück vertrockneten Kuchen oder gedörrtes Obst.

Es gab einen Mann, dessen Gesicht von der Sonne genauso zerknittert war wie das meiner Großmutter, der kam zweimal in der Woche mit seinem knatternden Traktor vorbei und brachte Kisten voll Lebensmittel und Zeitungen und holte Pfandflaschen und selbstgemachte Marmelade ab.
Er hatte ein freundliches Gesicht, trotz der vielen Fältchen, und er hatte noch alle Zähne im Mund, was mir sehr an ihm gefiel.

Meine Großmutter kochte, buk Brot, pflegte den Gemüsegarten hinterm Haus, kehrte, hackte Holz und wusch die Wäsche im Trog, da sie keine Waschmaschine hatte. Generell hatte sie nur einen Stromgenerator, mit dem sie am Abend das schwache Licht in der Stube und ab und zu das Radio betrieb.
Bei all ihren Tätigkeiten beobachtete ich sie fasziniert. „Kind“, brachte sie dann manchmal plötzlich zwischen all dem Schweigen heraus. „Hilf mit oder geh.“ Manchmal half ich ihr, manchmal trollte ich mich, und beides ließ sie unkommentiert.
Was mir an sozialen Kontakten fehlte, machte ich schnell durch meine fantastischen Abenteuer wett.

Die Kaninchen, die meine Großmutter in einem kleinen Gehege züchtete, waren schwer zu fangen, aber manchmal erwischte ich eines und dann drückte ich vor lauter Zuneigung die kleinen, ängstlichen Nager fast zu Tode.
Ein paar Hühner und ein arroganter Gockel rannten frei rund ums Haus, und einige scheue Katzen schlichen manchmal beim eingefallenen Stall herum, um Mäuse zu fangen. Auch an zwei Ziegen kann ich mich erinnern, die schon zu alt waren, um sie zu melken.

Irgendwann im letzten Sommer dort begann das Schlafwandeln. Ich wachte in der Nacht auf und war aus dem Bett gefallen oder stand in der Mitte des Raumes und zitterte am ganzen Leib.
Meine Eltern waren erst vor ein paar Tagen weiter nach Wien gefahren, und ich vermisste sie.
Irgendetwas schien in diesem Sommer anders zu sein. Das Haus war kühler, dunkler geworden, meine Großmutter jammerte noch mehr vor sich hin, und ihr sonst so akkurater Dutt war nachlässig nach hinten geflochten, sodass ihre grauen Haare in wüsten Büscheln abstanden.
Auch brachte sie vieles durcheinander. Sie vergaß die Wäsche im Trog, versalzte die Marmelade völlig und begann mich nach einiger Zeit des Diebstahls zu beschuldigen.
Ich hätte Kuchen, Eier, Milch oder sogar Geld gestohlen. Ich konnte fühlen, wie sie mich misstrauisch beobachtete, wenn ich bei ihr am Tisch saß, und ich begann sie zu meiden. Sie schimpfte mich wegen Kleinigkeiten, die ihr früher egal gewesen waren, oder die sie einfach in ihrer stoischen Gelassenheit zur Kenntnis genommen hatte.

In den Nächten hörte ich sie auf den knarzenden Holzdielen herumwandeln, flüstern. Ich bekam Gänsehaut, als ich ihr Gemurmel verstehen konnte.
Es war das „Ave Maria“, zehnfach, nein, hundertfach hintereinander gewispert. Ohne Unterlass. Ohne Luftholen.
Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade,
der Herr ist mit dir.
Du bist gebenedeit unter den Frauen
und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.
Heilige Maria, Mutter Gottes,
bitte für uns Sünder
jetzt und in der Stunde unsres Todes.

Meine letzte Nacht in jenem Haus verbrachte ich unruhig. Mitten in der Nacht schreckte ich aus dem Schlaf hoch und zitterte furchtbar.
Still war es auf einmal; kein Knarzen, kein Flüstern.
Wie in Trance stand ich auf und wankte zum Treppenabsatz. Meine Großmutter stand oben, die elektrische Laterne in der einen Hand, den Rosenkranz in der anderen und starrte mich stumm an. Ich starrte zurück. Auf einmal lächelte sie mild. „Komm, liebes Kind. Es tut mir leid. Bring mich ins Bett, ich will schlafen. Morgen ist ein neuer Tag.“
Ängstlich wankte ich zu ihr hinauf. Sie streckte mir ihre Hand entgegen, und ich ergriff diese zögernd. Im Schein der Lampe betrachtete sie mich. Ihr Lächeln gefror und verwandelte sich plötzlich in blankes Entsetzen.
„Du bist nicht mein Kind!“, schrie sie mich an und stieß mich die dunkle Treppe hinunter. Ich stolperte kopfüber hinunter und knallte mit Kopf und Arm hart gegen den Flur. Nie werde ich diese Nacht vergessen. Ihre aufgerissenen, starren Augen, ihr wirres Haar und ihre kreischende Stimme haben mir noch jahrelang im Schlaf Angst eingejagt.

Damals habe ich mich aufgerappelt und bin gerannt, den Flur entlang, aus dem Haus in die schwarze Nacht. Nur der Mond schien über die Felder.
Ich rannte über Bäche und Felder zum Heuschober am Waldrand, dort brach ich weinend zusammen und verbrachte den Rest der Nacht in ruheloser Angst. Verstört wachte ich im Morgengrauen auf und hatte fürchterliche Armschmerzen. Ich kroch aus dem Heuschober und lief den Schotterweg entlang bis zum nächsten Bauernhaus.
Die Bäuerin hatte mich rennen sehen, sie war gerade aus dem Stall herausgekommen und musste bei meinem Anblick fürchterlich erschrocken sein.
Ein Arzt wurde verständigt, der auch am Nachmittag kam. Ich müsse ins Krankenhaus. Ich hätte hohes Fieber und außerdem lauter blaue Flecken am ganzen Körper. Darauf begann ich hysterisch zu weinen und so wurde beschlossen, damit auf meine Eltern zu warten.
Diese waren bereits informiert worden und hatten sich sofort auf den Weg gemacht. Einigermaßen verständlich konnte ich die Verwandtschaft nennen, bei der sie in Wien untergekommen waren, und der Bauer konnte durch die Vermittlung rasch ihre Nummer erfahren.
Sie holten mich, und meine Mutter trug mich die ganze Zeit über bis ins Auto. Dort angekommen zwängte sie sich mit mir auf den Rücksitz und streichelte mich die ganze Fahrt über bis ins Krankenhaus.

Das Haus und das Land meiner Großmutter wurden vermutlich verkauft - ich habe nie mehr einen Fuß in diese Gegend gesetzt.
Meine Großmutter selbst wurde in ein Heim gebracht, aus dem sie bei jeder Gelegenheit ausbrach. Verwirrt und unglücklich verbrachte sie ihre letzten Jahre auf Erden.
Meine Eltern besuchten sie ein paar Mal, zwangen mich aber nie mitzugehen, und so tat ich das auch nicht.
Bis zum heutigen Tage habe ich, wenn ich die Augen schließe, noch ihr erstarrtes Gesicht vor Augen und ihr endlos gewispertes „Ave Maria“ in den Ohren.

Nene Stark

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 16159

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