Kategorie-Archiv: Claudia Lüer

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Liebeshymne an meine Kinder

Noch traute ich mich nicht, mit euch zu rechnen, da hab ich schon von euch geträumt,
ließ euer Lachen gegen meine Wände krachen, hab in meinem Leben aufgeräumt,
damit ich bereit war für euch. Hab eure Hände gefühlt
und an euren Haaren gerochen, mich mit euren Worten durchspült,
wollte von eurem Übermut trinken und in euren Augen versinken,
denn mir war schon immer absolut klar, ich hätte das Beste versäumt,
wenn ich am Ende ohne euch wär. – Weil ihr mein Wunder seid,
mir neues Leben schenkt und mich mitnehmt in eine Zeit, in der ohne euch nichts von mir bleibt.

Dann wart ihr da, und nichts blieb so, wie es war.
Ihr habt mich neu programmiert, meine Saiten gestimmt und meine Fehler studiert,
habt mein Herz vertieft, seid in längst vergessene Höhlen getaucht, habt mich analysiert,
mich mit Schwächen konfrontiert, die ich offenbar bisher nicht sah.
So konnte ich wachsen mit euch, mir an euch die Zähne ausbeißen,
all meine Pläne über Bord schmeißen, jeden Tag tanzen,
mich im Sprudelbad eurer Leichtigkeit verschanzen. Und ihr habt mir die Welt neu erklärt,
mir den Mut beschert, das Undenkbare zu denken, habt meinen Blickwinkel umgekehrt.

Ihr seid die Zündschnur für meine Glücksraketen
und die Quelle für meine Tränen,
habt große Träume in mir losgetreten,
seid das Pflaster für mein Sehnen.
Ich seh mich in euren Augen wohnen und hefte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Für euch mach ich täglich zehntausend Schritte und bin auch ohne Yoga in meiner Mitte,
denn ihr zieht an meinen Zügeln, sodass ich innehalten muss
und dann nicht anders kann, als im Moment zu verweilen, ihn zu genießen,
in euch zu fließen, Sternenfunkeln zu teilen und Lachtränen zu vergießen.
Ängste zu dämmen, Sorgen zu hemmen, eure Verzweiflung und euren Verdruss
anzunehmen und zu verstehen. Euch den Rücken zu stärken und ein mutiges Herz zu formen,
dabei nicht zu vergessen, auch mal eigene Wege zu gehen.
Und Hilfe anzubieten, bei der Lösung dessen, was ich für mich bis heute nicht gelöst habe.

Und wenn ich ab und an mal meine Fühler nach innen strecke,
mich kurz besinne und die Fäden rückwärts spinne, dann krieg ich Angst und erschrecke,
weil mein Herz so schnell schlägt, die Zeit an meinem Leben sägt,
und ich mich frage, wo sind die Jahre geblieben, seh euch noch auf dem Wickeltisch liegen,
beginne zu philosophieren wie die Alten, die einst prophezeiten,
ihr werdet schneller groß, als ich denke, und muss mir traurig eingestehen, dass sie recht hatten.
Dann will ich alle Uhren abschalten, die Momente mit euch auseinanderfalten, glatt streichen
und in Marmor meißeln. Und die ganze Welt soll den Atem anhalten.

Denn ihr seid der Leuchtturm in meinem Herzen,
und der Nährboden für meine Falten.
Mit euch geh ich durch die schlimmsten Schmerzen,
kann mein Fühlen auf Höchststufen schalten,
bin um ein Grad wärmer getunt und richte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Doch ihr lauft lachend vor mir her, taucht mich in ein Farbenmeer,
hüllt meine Seele in goldenes Licht und bestickt ihr Gesicht mit Perlen,
die funkeln und schimmern und mich daran erinnern, nicht so viel zu denken,
sondern zu leben, euch Halt zu geben, da seh ich, wie unsere Seelen tanzen vor Glück,
sonne mich in ihrem Schein und mach mir gleichzeitig bewusst, dass ich euch ziehen lassen muss, jeden Tag ein Stück.
Doch ihr schreibt mit blauer Tinte in den Himmel, dass wir trotzdem zusammen weitergehen, auch wenn wir uns nicht immer sehen.
Dass unsere Seelen sich nacheinander sehnen, sich suchen und finden, miteinander verbinden.
Und in meinem Herzen bleibt für immer für euch ein Zimmer.

Kommt, lasst uns die Zeit genießen, die wir haben, uns in den Schlaf lachen und ein wunderbares Leben machen.
Zusammen weinen, verzeihen, staunen und fragen, uns gegenseitig tragen.
Und wenn ich alt bin, dann geht ihr euren Weg. Und ich werde ganz still,
weil ich den Nachhall eures Lachens hören will, mit dem ich meine Seele befüll.
Und es wird mir eine Gänsehaut machen, die Zeit überbrücken, bis wir uns wiedersehen.
Dann streich ich über euer Haar und bin voller Glück und Staunen, strahle im Herzen,
weil es das Beste in meinem Leben war, mit euch zu sein, und freu mich schon jetzt auf unseren nächsten Tanz, halt euch ganz fest und versprech bis dahin über euch zu wachen.

Ihr seid das Konfettibad für meine Seele
und in meinem Herzen die Wunderkerzen,
der Garantieschein dafür, dass ich mein Glück nicht verfehle,
doch den gibt es nicht ohne Sorgen und Schmerzen.
Ich lieb euch mehr als mich selbst und hefte meinen Blick
tagtäglich voller Stolz auf euch, bin fassungslos vor Glück.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: let it grow und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22112

Gegenwind

Es gibt Dinge, die ich nicht ändern kann, doch es dauert lang,
bis die Rebellin in mir schweigt, und solang
lass ich nichts unversucht, wenn ich, das Herz in der Hand,
mit wachem Verstand und Bärenkraft den Wind einfang,
um ihn zu drehn, auch wenn’s sein kann, dass ich ihn dann gegen mich hab.
Doch ich gebe nicht auf, fließe bergauf, tune meinen Gang, maskier meine Hände
und gehe durch Wände. Lass die Luft aus den Wolken und lebe das Leben
von hinten nach vorn, will es durchschaun, in Momente zersägen,
bis ich den einen erwische, die einzige Lücke, in die ich flieh, und mit Macht und Tücke
die Kraft, die mir bleibt, verschwende und alles zum Besten wende.

Doch manchmal reicht das alles nicht aus, weil ich als Sklavin des Systems
längst Teil des Problems bin, die Wildheit in mir dämpfen muss,
das Aufbäumen bekämpfen muss, besser stumpf ertrage, bevor ich mir selbst schade,
mich verliere und mit überhöhter Geschwindigkeit in eine Sackgasse manövriere.
Das zu erkennen, ist nicht leicht und ein bisschen wie Sterben inmitten von Scherben
einer Illusion. Lebendigkeit weicht, anstelle der Rebellion tritt Resignation,
danach eine wachsende Gelassenheit, denn meine eigenen Grenzen sind erreicht.
Doch die fühl ich nur, weil ich nicht stehen geblieben bin, dann aber rechtzeitig erkannte,
dass der Sturm zu stark war, um an ihm zu wachsen, lass in Liebe los, mach meinen Frieden und kann mit offenen Händen und weiten Flügeln schwingend neue Blüten anfliegen.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22111

Wie Herr Zeitlos die Zeit wiederfand

Vor nicht allzu langer Zeit, da erzählte man sich von einem Land, in dem es alles im Überfluss gab.

Es gab so viele Bananen, dass die Äste von Früchten schwer beladen bis zum Erdboden hinabhingen. Die Bäume beschwerten sich mit Klagemienen, weil sie die Last nicht mehr tragen konnten. Da ihr Wehklagen tagein und tagaus unerträglich schrill durch das ganze Land tönte, fingen die Leute an, die Bananen in den Himmel zu werfen, wo sie zu lauter Monden wurden und schon bald so zahlreich am Himmel standen wie die Sterne.
Es gab so viel Papier, dass man sich angewöhnte, nur einen Buchstaben auf ein Blatt zu schreiben, weshalb die Bücher so dick wurden wie alte Burgmauern.
Und es gab so viele Autos, dass man sie in einer riesig langen Kette, die bis zum entferntesten Planeten des Weltalls reichte, eines nach dem anderen zusammenschweißte. So konnte man ein- und aussteigen, wo man wollte, und sich im gesamten Universum fortbewegen.

Von allem gab es mehr als genug in diesem Land. Nur eines gab es nicht: ZEIT!

In den riesigen Lagerhallen der Zeitfabriken standen abertausende von leeren Säcken, die einst bis oben hin gefüllt waren mit genug Zeit und nun schlaff zusammenfielen. Es gab einfach zu viele Menschen in diesem Land, die mit Zeit versorgt werden mussten.
„Es wird höchste Zeit, dass wir uns um eine bessere Zeitproduktion kümmern!“, mahnten die einen.
„Dazu fehlt uns die Zeit“, erkannten die anderen.
Quer durch das Land, wohin man auch kam, fehlte die Zeit an allen Ecken und Enden. Einige sehr kluge Menschen waren bereits auf der Suche nach ihr: „Zeieiit! Wo biist du?“, riefen sie laut und eindringlich. Vielleicht gab es irgendwo noch geheime Vorräte? Doch hinter Mauern sahen sie kleine, grässliche Zeitmonster lauern, vollgefressen mit den letzten Resten an Zeit, die sie noch finden konnten.

Zweifellos! Die ganze Zeit war verbraucht. Und das wurde langsam zu einem echten Problem.
Die Kinder des Landes hatten plötzlich keine Zeit mehr, Kind zu sein. Und die Eltern fanden keine Zeit mehr, sich um ihre Kinder zu kümmern, weshalb sie sie gleich nach der Geburt in Erziehungsanstalten brachten. Niemand nahm sich mehr die Zeit, ganze Sätze zu sprechen. So warfen sich die Menschen im Vorbeigehen nur noch Buchstaben zu. Sie hatten keine Zeit mehr, einander anzusehen, oder zu fragen: „Wie geht es dir?“
Auch zum Altwerden fehlte die Zeit. Die Alten starben allmählich aus, und es lebten nur noch junge Leute im Land.
Aus Zeitnot vergaßen sie sogar, an besondere Zeiten im Jahr zu denken. „Geburtstagsfeiern kosten zu viel Zeit“, hörte man die Menschen reden. „Weihnachten? Nein, Weihnachten fällt dieses Jahr aus. Keine Zeit!“

In diesem armen, trostlosen Land lebte Herr Zeitlos. Er stand ständig unter Druck, hetzte ziellos von hier nach da und hatte nie die Zeit anzuhalten. Seine Zunge, die ihm vor lauter Erschöpfung ständig zum Hals heraushing, wurde so groß und schwer, dass sie schließlich bis zu seinem Bauchnabel hinunterreichte.
Herr Zeitlos hatte aus Mangel an Zeit das Nachdenken verlernt. „Das Essen raubt mir meine Zeit!“, verkündete er empört. Deshalb hörte er auf damit und wurde so dünn wie ein Strich. Weil er keine Zeit mehr zum Schlafen fand, war er nur noch mürrisch und schlecht gelaunt.
Und das tägliche Waschen? Das war ihm zu zeitaufwändig. Darum sprang er schließlich aus Zeitnot in den Ozean und durchschwamm ihn, bis es nicht mehr weiterging. Wie gut, dass die Haie überhaupt keine Zeit hatten, ihn zu fressen!

So kam es, dass Herr Zeitlos, als er den Ozean zum wiederholten Male unbeschadet verlassen hatte, sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfand. Zwei Zeitgeister bewachten mit strengem Blick den Zutritt durch ein stattliches Tor, das so groß und fest war wie eine Burg und etwas sehr Kostbares hinter sich vermuten ließ.
Herr Zeitlos, der in gewohnter Eile unterwegs war, rannte an den Geistern vorbei und sprang mit einem Satz über das Tor hinweg. Da er nur ein Strich in der Landschaft war, hatten sie ihn nicht kommen sehen. „Hinterher!“, brüllten sie wütend. „Ein Zeitloser! Schnell, einfangen!“ Doch ehe sie bis drei zählen konnten, war der raketenschnelle Herr Zeitlos – ach du liebe Zeit! – gegen das Ausgangstor der Insel geprallt, stürzte zu Boden und versank für Stunden in eine Ohnmacht. Wie war es möglich, für etwas derart Nutzloses seine Zeit zu verschwenden? Und wieso war sie plötzlich da, die Zeit?

„Ich habe keine Zeit!“, schrie Herr Zeitlos, aus seiner Ohnmacht erwacht, die Zeitgeister ungeduldig an, die unbekümmert neben ihm saßen. „Haben die Gruselköpfe zu viel Zeit?“, dachte er noch, als er schon im Begriff war, wie gewohnt loszulaufen, doch dann spürte er die Ketten. „Was für eine Unverschämtheit!“, zeterte Herr Zeitlos wenig zimperlich, „Bindet mich gefälligst los! Mir läuft die Zeit davon!“ Unruhige Wellen durchzuckten wie Stromschläge seinen zeitlos jugendlichen Körper.
Die Geister amüsierten sich köstlich. „Keine Panik!“, beschwichtigten sie ihn und grinsten. „Zeit gibt es hier mehr als genug.“
„Äh, wie? In welcher Zeit lebt ihr?“, rätselte Herr Zeitlos verwirrt. „War ich mit einer Zeitmaschine unterwegs?“ Und gleich einen Atemzug später fiel ihm auf, dass er seit langer Zeit wieder einmal Zeit zum Nachdenken hatte.

„Nimm dir Zeit und gehe ein zweites Mal über unsere Insel!“, vernahm Herr Zeitlos die Anweisung der Zeitgeister, die sorglos über ihm schwebten. Sie ließen ihn angekettet ziehen, so dass er, von ihnen geführt, nur langsam vorankam und sehr zeitintensiv wahrnehmen konnte, was ihn umgab.
„Dass man die Menschen aber auch immer zu ihrem Glück zwingen muss“, hörte man den einen Geist noch verständnislos zum anderen sagen, bevor er auf einer Wiese landete, um ein kleines Nickerchen zu machen.

Herr Zeitlos blickte sich unsicher um. „Soll ich jetzt die Zeit totschlagen?“, fragte er sich. Doch kaum waren seine Worte verhallt, da fühlte er schon den magischen Sog, der ihn antrieb, aufzustehen und weiterzugehen. Und dann kam er aus dem Staunen nicht mehr heraus. Auf der Insel gab es Unmengen an Zeit! Überall Zeit, wohin man auch schaute.
Sie hing wie Blätter an den Bäumen, thronte wie Blüten auf Blumenstängeln und lag wie Ziegeln auf den Dächern. Aus den Erdspalten quoll sie hervor, die Zeit, selbst die Wolken am Himmel waren voll davon und hingen schwer bepackt herab.
„Meine Güte, so viel Zeit auf einem Fleck!“, staunte Herr Zeitlos und gaffte nach allen Seiten. Noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gesehen. Und noch nie in seinem Leben hatte er so viel Zeit gehabt, genau hinzusehen. Man konnte sich in diesem Zeitschlaraffenland frei bedienen, sich die Taschen mit Zeit vollstopfen. Man konnte davon nehmen, so viel man brauchte und so viel man tragen konnte.

„Ich bin im Paradies!“, schrie Herr Zeitlos euphorisch, pflückte die Zeit, warf sie hoch in die Luft, tanzte und sprang. Im nächsten Moment fing er sich wieder und wurde nachdenklich. „Oh weh! So viel Zeit kann einem ja richtig Angst einjagen!“ Immerhin hatte er jetzt genug Zeit, seine Fesseln zu lösen.
Er sah sich um wie jemand, der etwas Verbotenes im Schilde führt, hielt kurz inne, blickte noch ein letztes Mal zu den friedlich schnarchenden Zeitgeistern, nahm dann all seinen Mut zusammen und stopfte sich die Taschen voll mit Zeit. Gierig nahm er sich so viel davon, wie er nur kriegen konnte. Als er auch noch den Bauchnabel und die Nasenlöcher mit Zeit ausgefüllt hatte, nahm er seine Beine in die Hand, lief davon wie ein gewöhnlicher Dieb und schwamm durch den Ozean zurück nach Hause.
Dort angekommen, machte er alle Truhen und Körbe randvoll mit der erbeuteten Zeit. „Das dürfte für eine Weile reichen“, sprach er erleichtert zu sich, „vielleicht sogar, bis ich sterbe.“

Und plötzlich hatte er alle Zeit der Welt!
Zeit, in der Nase zu bohren.
Zeit, mit dem Finger im Sand zu malen.
Zeit, mit den Augen Wolkenspaziergänge zu machen.
Er hatte sogar so viel Zeit, dass er sie auch mal eine Weile sinnlos verstreichen lassen konnte. Doch trotzdem fehlte noch etwas, damit es bis in die Fingerspitzen kribbeln konnte. Etwas, das sein Herz zum Hüpfen brachte.

„Die reine Zeitverschwendung!“, dachte Herr Zeitlos, als er gerade dabei war, ziellos aus dem Fenster zu sehen, denn so ganz hatte er sich noch nicht an den Luxus gewöhnt, auch dafür genügend Zeit zu haben. Er beobachtete die Menschen, wie sie vor seinem Haus gestresst auf und ab liefen, den Blick abwesend in die Ferne gerichtet, gehetzt und getrieben wie ein gejagtes Reh.
Und er sah sich selbst, wie er noch vor kurzer Zeit genau wie sie die Straßen entlanggerannt war, dicht gefolgt von der Zeit und immer auf der Hut davor, von ihr überholt zu werden. Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich!

Wie sollte er mit all seiner kostbaren Zeit glücklich werden, wenn er der Einzige im Land war, der großzügig darüber verfügen konnte? „Ich werde allen Menschen in diesem Land Zeit schenken“, beschloss Herr Zeitlos. „Nur so können wir besseren Zeiten entgegensehen.“
Und kurzerhand packte er viele kleine Päckchen voll mit Zeit. Er umwickelte sie mit Goldfolie, damit jeder sofort erkennen konnte, wie kostbar sie waren. Dann stellte er sich damit auf den größten und belebtesten Platz des Landes und pries sie an: „Zeit! Ich verschenke Zeit! Kostenlos kostbare Zeit!“
„Ach du liebe Zeit!“, dachten die wenigen Menschen, die, obwohl sie in großer Eile waren, Herrn Zeitlos bemerkten. Sie waren zunächst skeptisch, tuschelten miteinander und näherten sich nur vorsichtig, so wie man sich eben verhält, wenn jemand etwas ganz und gar Ungewöhnliches tut. Doch dann wurden sie neugierig. Und als die Ersten begannen, ein goldenes Geschenk anzunehmen und sich über dessen Inhalt klar wurden, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer, und die Menschen strömten in Scharen herbei.

„Zeit! In den Päckchen ist Zeit!“ – „Was, Zeit? Die fehlt mir schon so lange!“ – „Endlich! Ich hatte schon geglaubt, wir müssten ohne sie weiterleben!“ –  „Verpackte Zeit? In Zeiten wie diesen?“ – „Dann lasst uns keine Zeit verlieren!“
Und in kürzester Zeit wurde Herr Zeitlos zu einem Helden seiner Zeit. Von nun an hatten alle Menschen im ganzen Land genug Zeit. Und wenn die Päckchen verbraucht waren, wusste man, wo man Nachschub bekam. Kurz gesagt, konnte sich niemand mehr bis zu seinem Lebensende über Zeitnot beklagen.
Da gab es sie plötzlich wieder, die längst in Vergessenheit geratenen Zeitgenossen, Menschen, die einem die Zeit raubten, Zeitlöcher, Zeitmaschinen und die Gezeiten, Zeitfüller, Zeitzonen und Zeitraffer, die Zeitmesser und Zeitverschwender … Und alles hatte wieder seine Zeit.

Doch da man sie einst schmerzlich vermisst hatte, die Zeit, blieb sie stets ein kostbares Gut. Und jeder war glücklich darüber, dass er mit denen, deren Herz im gleichen Takt wie das eigene schlug, endlich ausreichend Zeit verbringen konnte, so glücklich, dass all der Überfluss im Land überflüssig wurde.
Wie gut, dass man nun genug Zeit hatte, alles, was zu viel war, über die gesamte Welt gleichmäßig zu verteilen! Der ganze Erdball hüpfte vor Freude. Fast hätte er mit diesem gewaltigen Ruck die Zeit durcheinandergebracht …
Nur die Bananen warf man auch weiterhin in den Himmel, weil sie dort oben so schön strahlten. Und ihr Licht erhellte die Nacht. Für alle Zeit.

Ersterscheinung in:
Schubladengeschichten 2, Eine Anthologie der Textgemeinschaft,
Verlag epubli, Berlin 2019.

Claudia Lüer

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 22104

Abschied

Wieder einmal geht was Schönes vorbei, und obwohl ich genau wusste, dass es so kommen musste, bin ich nicht frei,
hänge in einer Zeitschleife, noch eh ich begreife, dass ich mit meiner Seele um die Wette schrei,
spüre, wie ich im Nacken versteife, weil sich alle Muskeln und Sehnen dagegen wehren
im Hier und Jetzt zu sein und mit allen Sinnen neu zu beginnen, weiterzuspinnen
und eine Zeitblase zu schließen, fall wider alle Vernunft ins Begehren,
das Glitzern im Gestern mit Goldstaub zu verzieren, einzufolieren und binnen
kurzer Zeit mich darin zu verlieren. Weil es so verdammt schwer ist,
da weiterzumachen, wo es aufgehört hat. Auch wenn’s noch nicht so lang her ist.

Jeder Tag ist ein Abschied, jede Stunde, jede Minute verlässt mein Leben, kommt nicht wieder, denn nichts bleibt, wie es war.
Und meistens hab ich gar nicht die Zeit, darüber nachzudenken, weil das Vergehen so schnell geschah,
und ich, ins Leben vertieft, kann nur noch die Staubwolken sehen von all den Ereignissen,
die schwinden, sich zu meiner Vergangenheit verbinden, und nur, wenn ich mal innehalte, so wie jetzt, kann ich sie wirklich vermissen.
Dann werd ich traurig, wenn der Baum vor meinem Fenster seine Blätter verliert,
weil wieder einmal ein Sommer vergeht und in meiner Erinnerung steht,
dass er so, wie er war, nie wieder passiert. Und mit ihm im Schlepptau zieht die Illusion dahin,
dass ich noch mittendrin im Beginn meines Lebens bin, dass alles noch vor mir liegt und ich resistent gegen das Altern bin.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen.

Es gibt viel mehr Abschiede im Leben, als ich denke, und mir war nicht bewusst,
dass ich mich nicht nur von Herzensmenschen, sondern auch von Träumen, Hoffnungen und Glaubenssätzen verabschieden muss,
von einer Blüte, die mich bis zum November erfreute, von einer Prüfung, die ich scheute,
von Gedanken, die man mir als Kind einbläute, dass eine Liebe ein Leben lang hält,
dass das, was ich tue, mir jeden Tag gefällt, ein Schiff niemals an den Klippen zerschellt
und eine Freundschaft jede Belastung aushält, dass mein Lieblingskäse irgendwann verfällt
und von der Vorstellung, man bräuchte kein Geld, um glücklich zu sein.
Von dem Glauben daran, dass es keine Kriege mehr gibt auf der Welt, von meinem Papa als Held, und dass auch die Zeit nicht immer
alle Wunden heilt, und manchmal macht auch ein Sonnenstrahl alles nur noch schlimmer.

Und ich ertapp mich dabei, wie ich mich in meinen Zimmern einschließe
mit meinem Erinnern, es nicht rauslassen will, meine Zeitschleife genieße
darin döse, in Selbstmitleid zerfließe und so tue, als ob es das Jetzt wäre.
Versuche, in diesem Schein, es mit aller Kraft zu halten, den Lauf der Zeit aufzuhalten,
alle Uhren abzuschalten, es an den Wänden festzunageln, vor den Türen aufzustapeln
und sehe, wie ich die Fähre, die in meinen Adern zirkuliert, damit beschwere,
die mein Herz befüllt, bis es überquillt, weil ich alles aufbewahren will, damit der Abschied bloß nicht endgültig wird.
Sehe, wie das Erinnern wie ein Flimmern durch meine Zellen schwirrt.
Und mein Herz dann, völlig überfüllt, sich in Schweigen hüllt, still steht,
ich an der Erinnerung kleb, und mein Leben kopfnickend an mir vorübergeht.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen,
der dich neu formt und zu dem macht, der du bist, sich durch deine Gänge frisst,
um dich dann von Scherben umrahmt zurückzulassen, Narben zu hinterlassen,
die dich, tief in deinem Innern, für immer an ihn erinnern.
Und vielleicht wird ein Teil von dir in seinen Trümmern niemals ruhen,
weil er in längst verschlissenen Schuhen in dir umherirrt.
Und du setzt deine Scheuklappen auf, obwohl er nicht aufgibt, dir nicht gut zu tun,
bist ein Gewohnheitstier, durch und durch, geblendet von dem Schimmern
der unstillbaren Sehnsucht danach, wie es einmal war.

Wissenschaftlich betrachtet, müssen wir ein schlechtes Gefühl nur 90 Sekunden aushalten, bevor es ganz von allein wieder abfällt.

Wenn ich also meinen Abschiedsschmerz für eine Weile ertrage, ihn nicht blockiere und mit giftigen Pfeilen torpediere,
mich nicht ständig frage und studiere, wie es vorher war, mich darin verliere und nicht kapiere,
dass ich loslassen muss, damit ich den Schmerz überwinde, auch wenn der sichere Boden wackelt,
weil die Veränderung an meinen Toren rackelt und rumpelt, verzweifelt um Einlass fleht
und mir nur die Kraft ausgeht, weil ich so lange gegen sie angekämpft habe,
anstatt mit dem Herzen den neuen Weg zu fühlen, den alten dankbar zu verlassen,
ohne Ungewolltes auszusortieren und die Edelsteine, die ich dort fand, zu verlieren und als besondere Gabe
zu verstehen, als Geschenk des Lebens, das ich mir bewahre, um es dann
in das Neue zu flechten …
Dann geht es voran, weil mein Herz endlich tanzen kann.

Jeder Abschied ist ein bisschen wie Sterben, sagt man
und egal, ob er groß ist oder klein, wird er nie ohne Schmerz und Wehmut sein,
zieht ungeschminkt in deinem Herzen ein, ob du es willst oder nicht,
um es zu stempeln und dich für dein Leben zu prägen.
Doch wenn Schmerz und Trauer verblassen, offenbart die Liebe
ihre eigene Tiefe, die sie bis dahin nicht kannte und unentdeckt bliebe.
Die dir die Kraft gibt, weiterzugehen, Samen im Neuen zu säen und den Segen
der Blüte weiterzugeben, in neuen Farben zu strahlen und für das Leben ein funkelndes Fest zu geben.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: think it over und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22098

Immer am Meer

Immer am Meer wird mein Herz so schwer.
Dann fühlt es sich an, als ob darin nur Ballast wär,
der sich aufgetürmt hat und an den Wänden drückt,
es in die Tiefe zieht und auf den Narben zwickt,
und ich lauf gebückt und mit gesenktem Blick rastlos umher,
kann mein Herz kaum noch tragen, weil sich der Kummer
in jeder Kammer durch die Täler frisst, in die Schluchten gräbt,
will an mir nagen, bis mein Herz vergisst zu schlagen.

Dann hilft mir das Meer und schlägt mit den Wellen
meinen Takt, so horche ich auf und sehe es an,
atme den Wind und fühle dann, wie es aufschäumt in mir,
sich in mir verströmt, und wie die Wellen durch mein Blut schnellen, meine Adern
anschwellen, und das Leben in mich schießt, alles fließt, Gefühle erwachen,
weil die Wellen mein Herz neu entfachen, es am Zipfel packen, daran rütteln,
es ausschütteln, bis mein Kummer weicht, klammheimlich
zu den Wolken schleicht, und ich atme auf.

Und bin federleicht.

Claudia Lüer

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www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg und unerHÖRT!| Inventarnummer: 22096