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Adrett

Paul, so hatte sich der Mann, der das Seminar leitete, vorgestellt, war eine eindrucksvolle Erscheinung, das darf ich sagen.

Seine Körpergröße, etwa ein Meter neunzig, und sein quergestreiftes schweißbeflecktes Hemd, welches einen beachtlichen Schmerbauch umhüllte, ließen mich sofort erkennen, dass wir, also ich und die übrigen drei Männer im Seminarraum, es mit einem Mann von Format zu tun hatten. Er mochte sich jovial geben, doch hinter den dicken Gläsern seiner nicht allzu kostspieligen Brille lauerten listige Augen, die auf Fehler warteten, die wir bei der Beantwortung seiner Fragen machen würden.

Diese Fehler riefen, wie wir bereits an den drei vorangegangenen Tagen des Seminars hatten erfahren müssen, Kaskaden scharfzüngig formulierter Sätze aus dem Mund des Leiters hervor.

Dieser Mund, der Zahnreihen Raum bot, die bereits vor Jahrzehnten eine Regulierung nötig gehabt hätten, wurde umrandet von einem Kranz aus Haaren, die aus Pauls Oberlippe sprießenden waren vom Nikotin gelb gefärbt. Behost war Paul mit speckigen Jeans, die eine Lücke von ungefähr drei Zentimetern entstehen ließen, durch die man seine weißen Socken gut sehen konnte, bis seine grauen Schuhe anfingen. Die Jeans wurden von einem Gürtel aus Kunstleder gehalten, dessen Farbe in herrlichem Kontrast zu den Schreibgeräten aus Plastik stand, die Paul in großer Zahl in der Tasche seines Hemdes stecken hatte.

Wir, also die übrigen drei Männer im Seminarraum und ich, waren tipptopp gekleidet, Anzüge, Krawatten und gewienerte Schuhe. Frisiert waren wir auch.

Nicht so Paul, der sein spärliches Haupthaar auf eine Länge von einem halben Zentimeter gestutzt hatte.

Nachdem das Seminar zu Ende war, sein Thema war übrigens „Ein adrettes Erscheinungsbild, um Kunden zu gewinnen“, waren wir aufgefordert, in wenigen Worten unsere Eindrücke über ebendieses zu Papier zu bringen. Ich schrieb bloß einen einzigen Satz: „Dieses Seminar wäre genauso informativ gewesen, wenn Paul geschwiegen hätte.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 17012

Die Tat meiner Tochter

1

Seit ich im November des Jahres 1989 nach Wien gezogen bin, liebe ich es, den Donaukanal entlangzugehen. Es bereitet mir Freude, nahe am Wasser zu sein, die Vögel, die den Kanal zu ihrem Lebensraum erkoren haben, zu beobachten und mich auf beinahe jedem Spaziergang zu wundern, welche Hunderassen mittlerweile aus den Zwingern der Züchter an den Mann gebracht werden oder vielleicht aus kynologischen Versuchslaboren entkommen konnten.

Ich kam der Liebe wegen in die österreichische Hauptstadt. Ich hatte in Graz an der Universität Bürgerliches Recht gelehrt und mich in eine Kollegin aus Wien verliebt, die ein Jahr lang in Graz unterrichtet hatte.
Sie heißt Brigitte und ist heute meine Ehefrau. Nach drei gemeinsamen Jahren in Wien haben wir geheiratet, und nach zwei weiteren Jahren wurde Martina, unser einziges Kind, im Jahre 1994 geboren.

Anfangs war es natürlich eine große Umstellung, von Graz nach Wien zu ziehen. Das Kleinstädtische der steirischen Landeshauptstadt ging mir einerseits ab, doch genoss ich andererseits die Anonymität der Großstadt. In Graz ist das Leben familiärer, man wird auf der Straße erkannt, gegrüßt und nach dem Befinden gefragt. In Wien geschieht dies nur in Ausnahmefällen, was mir ehrlich gesagt recht ist, denn ich schätze es nicht besonders, angesprochen zu werden, wenn ich meinen Gedanken nachhängend durch die Stadt wandere.
Ein weiterer Vorteil Wiens ist, dass die geistige Trägheit, das Phlegma, kaum zu bemerken ist. In der Steiermark gibt es bei Weitem mehr Menschen, die sich nicht genieren, ihren Stumpfsinn offen zur Schau zu stellen und sogar Unbeteiligte wie auch Uninteressierte durch Lautäußerungen daran teilhaben zu lassen.

Ich gehe gerne alleine spazieren, und der Donaukanal war mein erster Spazierweg in Wien und ist bis heute mein liebster. Die Flora, die Fauna und die dort zu betrachtende Kunst in Form von sich ständig verändernden Graffiti geben mir das Gefühl, dass in der Stadt, in der ich lebe, Kunst und Natur friedlich nebeneinander existieren können.
Brigitte begleitet mich nie auf diesen Spaziergängen. Sie liebt es zu malen und verbringt einen großen Teil ihrer Freizeit in einem Raum unserer Wohnung im siebenten Bezirk, der ihr als Atelier dient und entsprechend eingerichtet ist. Sie malt bevorzugt Tiere und Pflanzen, und das in wirklich guter Qualität. Ich bin kein Kunstkenner, doch etliche Kollegen an der Universität haben das Talent meiner Frau bestätigt, und ich muss zugeben, dass mir ihre Bilder wirklich gut gefallen. Einige von diesen hängen in unserer Wohnung, und das nicht nur, weil sie von Brigitte gemalt wurden.

Sie hat mir geraten, einen Hund anzuschaffen, der mich begleiten könnte, doch ich sehe keinen Sinn darin, mir ein Haustier zuzulegen. Als wir Kinder waren, hatten meine Schwester und ich einen Hund, Moritz hieß er. Er war eine Promenadenmischung, was bedeutet, dass er sowohl von robuster Gesundheit als auch von hoher Intelligenz war. Doch trotz seiner guten Gesundheit war es eines Tages auch für ihn an der Zeit, den Weg alles Irdischen zu gehen, was meine Schwester und mich in eine veritable Verzweiflung gestürzt hatte. So etwas ist immer unschön, und ich möchte das nicht noch einmal erleben.
Darüber hinaus pflege ich auf meinen Spaziergängen die Dinge für mich ins rechte Lot zu bringen. Ich hänge dabei meinen Gedanken nach und kann währenddessen keine Leine in der Hand brauchen, an deren Ende ein Lebewesen befestigt ist, das zieht, zerrt oder sich gar losreißen möchte. Ein derartiges Verhalten würde mir bloß das Denken verunmöglichen, ebenso wie ich die große Verantwortung anderen Menschen und Hunden gegenüber scheue.

Heute Nachmittag habe ich einen wirklich langen Spaziergang hinter mich gebracht, doch konnte ich die Dinge, die mich zu diesem veranlasst haben, nicht ins Lot rücken. Ich hatte einen Kollegen gebeten, meine Vorlesung zu halten. Er hatte sofort eingewilligt, denn ihm war meine Verzweiflung nicht entgangen.
Fünf Minuten bevor ich ihn um diesen Gefallen gebeten hatte, hatte mich meine Ehefrau angerufen und mir mit leiser und bedrückter Stimme eine Neuigkeit über unsere Tochter mitgeteilt. Aus diesem Grund war der ungewöhnlich lange Spaziergang heute vonnöten. Ich wollte die Dinge für mich einordnen, doch ich habe versagt.

Nun, am Abend dieses Tages, steht die Tat meiner Tochter noch immer so deutlich vor meinem geistigen Auge, als ob ich ihr Augenzeuge gewesen wäre.
Meine Frau konnte leichter akzeptieren, was Martina getan hat. Sie hatte nie ein besonders intensives Verhältnis zu ihr.
Mir jedoch treibt es selbst in diesem Augenblick, in dem ich Bericht erstatte, die Tränen in die Augen beim Gedanken an das, was sich mein Kind angetan hat.

 

2

Martina war als Kind unkompliziert. Nachdem wir uns das hatten leisten können, war sie in einen privaten Kindergarten gegangen. Dieser hatte ihr sehr gutgetan. Ich war immer wieder aufs Neue verblüfft, wie schnell sie einzelne Arten von Tieren benennen konnte, und auch darüber, wie bald sie Sätze grammatikalisch richtig zu formulieren gelernt hatte, selbst wenn sich deren Inhalt in der Vergangenheit zugetragen hatte.
Ich war, das gebe ich zu, der Ansicht, dass ein wahres Genie meinen Lenden entsprungen war. Heute weiß ich natürlich, dass Kinder in einem gewissen Alter erstaunlich aufmerksam und lernfähig sind. Außerdem ließ mich der nach dem Kindergarten einsetzende schulische Misserfolg meiner Tochter erkennen, dass meine Theorie mit dem Genie falsch war.

Die Volksschule brachte Martina mit Ach und Krach hinter sich. Immer wieder kam es vor, dass ihre Leistungen mit einem Befriedigend oder gar einem Genügend benotet wurden, und ihre Lehrerin riet uns am Ende der vierten Schulstufe, Martina nicht auf ein Gymnasium zu schicken, da sie dort wohl die eine oder andere Klasse wiederholen müsste.
Das konnten meine Frau und ich auf keinen Fall akzeptieren. Zugegeben, während meiner Schulzeit war ich auf dem Kronleuchter der Strebsamkeit nicht das hellste Licht, doch habe ich es zum Professor gebracht. Meine Frau war in der Schule stets die Klassenbeste gewesen, somit war klar, dass auch Martina das Gymnasium durchstehen würde.

Die Unterstufe überstand sie ganz gut, nachdem sie vom naturwissenschaftlichen Zweig in den bildnerischen übergewechselt war. Es verging zwar kein Sommer, in dem sie nicht für eine Wiederholungsprüfung lernen musste, doch mit Nachhilfeunterricht bestand sie alle diese Prüfungen.
Als Martina in die Oberstufe kam, fingen die Probleme an.
Mir ist natürlich klar, dass junge Menschen in der Phase ihrer Pubertät gegen ihre Eltern rebellieren, ich habe das auch gemacht. Ich hatte mit diesem Verhalten kein Problem, auch nicht damit, dass sie mit gewissen Substanzen experimentierte.
Meine Frau hatte einmal einen Joint in Martinas Schreibtisch gefunden und daraufhin das Ende der Welt verkündet. Ich beruhigte sie und versprach ihr, mit unserer Tochter über Drogen zu sprechen. Ich sprach auch mit ihr. Wir standen auf dem Balkon, rauchten den Joint gemeinsam, und sie versprach mir auf Ehrenwort, keine Drogen mehr herumliegen zu lassen und nicht mehr als einen Joint pro Woche zu rauchen.

Ich kann den Zeitpunkt, ab dem es schlimmer zu werden begann, nicht mit letzter Bestimmtheit festmachen, doch vermute ich, dass es im Sommersemester der sechsten Klasse war.
Meine Frau und ich wurden zum Direktor der Schule zitiert, der versuchte, in seinem Büro ein Tribunal über unsere Tochter abzuhalten. Er führte jede einzelne Fehlstunde Martinas an, ließ sich über ihre schwarz gefärbten Haare aus und mokierte sich über ihre stets dunkle Kleidung. Ich teilte ihm mit, dass Martina ihre Haare nach Belieben färben konnte und auch, dass ihn ihr Kleidungsstil nichts anging. Was jedoch die unentschuldigten Fehlstunden anging, begann ich mir Sorgen zu machen.
Martina hatte ganze Schultage geschwänzt und zu Hause auf Nachfrage schlicht angegeben, dass sie lieber mit Freunden im Kaffeehaus gesessen hätte, als in die Schule zu gehen. Dieses Schuljahr war unrettbar verloren, also mussten Brigitte und ich uns mit der Tatsache abfinden, dass unsere Tochter die sechste Klasse zweimal besuchen würde.
Das Wiederholungsjahr verlief friktionsfrei, wenigstens was Martinas schulische Leistungen anlangte. Im Privaten begann sie sich zurückzuziehen. Sie weihte uns nicht in ihre Aktivitäten ein, ließ sich zum Entsetzen ihrer Mutter einen Nasenring stechen und ihr Haupthaar scheren.

Wir beschlossen, Martina vom Beginn der siebenten Klasse an bis zu ihrer Reifeprüfung kompetente Nachhilfelehrer für alle kritischen Unterrichtsfächer zur Seite zu stellen, denn wir wollten verhindern, dass sie ein weiteres Jahr verlieren würde.
In diesen beiden Jahren stimmten die Noten unserer Tochter. Außerdem ließ sie uns wieder etwas mehr an ihrem Privatleben teilhaben, indem sie uns beinahe jede zweite Woche einen neuen Freund beim Frühstück vorstellte.
Brigitte und ich trugen dies mit Fassung, denn wir hätten ihr unmöglich verbieten können, sich auszuleben.

Nachdem sie ihre Matura im Jahr 2013 abgelegt hatte, zog sie aus unserer Wohnung aus. Meine Frau und ich hatten vor Jahren eine kleine Wohnung als Anlageobjekt erworben, und dort quartierte sie sich ein. Sie begann Anthropologie zu studieren, gab jedoch nach drei Monaten auf und sattelte auf Psychologie um. Wir unterstützten sie finanziell, doch außer Mails mit dem Wort ‘Danke!’ zum Inhalt, die wir erhielten, nachdem unser Geld auf ihrem Konto eingegangen war, hörten und sahen wir nichts von Martina.
Wir waren der Meinung, unserer Tochter ihre Freiheit lassen zu müssen, ohne sie mit Anrufen oder gar Besuchen zu belästigen.
Wir hatten eben nie einen besonders guten Draht zu Martina.
Heute ist mir schmerzlich bewusst geworden, dass dies ein schwerer Fehler war.

 

3

Als ich heute den Donaukanal entlangging, konnte ich meine Gedanken nicht von der Tat meiner Tochter losreißen.
Ich weiß beim besten Willen nicht, wie viele Menschen mir heute entgegengekommen sind und mich mit hängendem Kopf und Tränen in den Augen meinen liebsten Spazierweg entlangschlurfen gesehen haben. Es müssen viele gewesen sein.
Ich habe sie jedenfalls nicht wahrgenommen. Heute habe ich gar nichts wahrnehmen können. Ich habe zwar mitbekommen, wie sich zwei Graffitikünstler in die Haare geraten sind, erst verbal, dann im Wortsinn, doch vermochte ich dem Verlauf des Disputs nicht zu folgen.
Ein großer Hund, ich vermute, dass es eine Dogge war, kam bellend auf mich zugelaufen, doch ich nahm erst Notiz von dem Tier, als dessen Besitzer, der herbeigeeilt war, mich atemlos um Verzeihung für die offensive Spielaufforderung seines Hundes bat. Ich murmelte irgendetwas und ging weiter.

Als ich den Teil des Kanals erreichte, dessen Wände über und über mit Graffiti besprüht sind, blieb ich stehen.
Eines dieser Kunstwerke zeigt, falls es heute Abend nicht übermalt wurde, eine nackte liegende junge Frau in Rückenansicht. Ich stand vor dem Mädchen und musste an das Foto denken, das meine Frau mir nach unserem Telefonat geschickt hatte. Da begann ich zu weinen wie ein kleines Kind.
Auf diesem Foto ist nämlich meine Tochter Martina zu sehen, ebenfalls auf dem Bauch liegend. Ihr nackter Rücken ist voller Blutspuren, die, das ist gut erkennbar, notdürftig weggewischt worden waren. Ihr Kopf ist zur Seite gedreht, ihre Augen sind geschlossen und ihr sichtbarer Mundwinkel ist leicht nach oben gezogen, als ob sie lächeln würde.

Das Zweitschmerzvollste an diesem Foto für mich ist Folgendes: meine eigene, geliebte Tochter so daliegen zu sehen, offensichtlich froh, dass eine schlimme Tortur vorbei ist und sie Ruhe vor ihrem Peiniger hat.
Das Schmerzvollste aber ist, was dieser Unmensch mit ihrem Rücken gemacht hat. Auf dem Rücken meiner Tochter prangt eine riesige Schlange, eine Kobra, die ihre mächtigen Giftzähne drohend dem Betrachter präsentiert.

Nachdem ich geweint hatte, bis keine Tränen mehr kamen, ging ich mit langsamen Schritten nach Hause, wo meine Frau mich schon erwartete. Ich erzählte ihr von meiner Verzweiflung über Martinas Tat und begann wieder zu weinen. Brigitte nahm mich in den Arm, und nachdem ich fertiggeweint hatte, riet sie mir, die Sache als schon geschehen und unumkehrbar für mich einzuordnen.
Brigitte hat sicherlich recht, doch bin ich noch nicht so weit.
Ich frage mich, ob ich es jemals fertigbringen werde, ohne zu weinen an das zu denken, was sich meine Tochter angetan hat.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt |Inventarnummer: 17010

Ein Stück Papier

Gestern saß ich in meiner Stammbuchhandlung und blätterte in einem Buch von Joseph Roth, den ich sehr schätze.
Die Tür ging auf und eine Familie betrat den Laden. Der Mann war westlich gekleidet, seine Frau trug ein langes Kleid und war verschleiert, zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hielten ihre Hände. Ich schenkte den Menschen keine Beachtung und las einige Sätze in verschiedenen Essays und Reportagen Roths. „Was ist ein Mensch ohne Papiere? Weniger als Papier ohne einen Menschen.” Dieser Satz brachte mich zum Nachdenken.
„Wie”, fragte ich mich, „wird diese Familie in Anbetracht der gegenwärtigen Situation in Europa wahrgenommen? Werden diese Menschen als potenzielle Gefahr angesehen, oder werden ihnen Respekt und Mitmenschlichkeit entgegengebracht?” Ich legte das Buch zur Seite und beobachtete die Situation an der Kasse, wo der Mann der Aushilfskraft dahinter in gebrochenem Deutsch verständlich zu machen versuchte, dass er einen Stadtplan von Graz erwerben wollte, um problemlos die Standorte diverser sozialer Einrichtungen ermitteln zu können.

Die Körpersprache der Angestellten, die ich noch nie in der Buchhandlung arbeiten gesehen hatte und die von einem Schildchen auf ihrer Bluse als Hilde ausgewiesen wurde, ließ deutlich erkennen, dass sie keine Freude daran hatte, sich mit offenkundig vor einem Krieg geflohenen Menschen abgeben zu müssen. Sie hatte zwar die freundlichste Miene aufgesetzt, zu der sie in dieser Situation wohl fähig war, doch ihre blauen Augen blickten kalt auf die Kundschaft und sie sprach absichtlich in so schlechtem Deutsch, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass sie den Mann spöttisch nachäffte.
Ich blieb im bequemen Ledersessel sitzen und dachte mir: „Was gehen mich die Probleme dieses Mannes, sich verständlich zu machen, an? Jeder Mensch muss selbst sehen, dass er zurande kommt.” Diese Überzeugung hatte ich mein ganzes Leben lang, also neundreißig Jahre.

Der Mann, der sich im Laufe der Diskussion mit Hilde als Flüchtling zu erkennen gab, hatte sehr wohl bemerkt, dass die junge Frau ihm nicht gewogen war, und wandte sich an seine Ehefrau, die, da ihre Hände in denen ihrer Kinder lagen, mit dem Kopf in Richtung Tür deutete. Ich wandte meinen Blick von der Szene ab und richtete ihn auf die Buchrücken, die mich umgaben. Ich sah Werke von Faulkner und Hemingway in den Regalen, dann die Fitzgeralds, meines Lieblingsautors.
Das kleine Mädchen begann zu weinen, einerseits, weil es die unschöne Szene mitbekam, und andererseits, weil es von seiner Mutter an der Hand gehalten wurde und nicht von Neugierde getrieben durch den Laden laufen konnte. Da fiel mir ein Satz von Fitzgerald ein: „Mit achtzehn sind unsere Überzeugungen Berge, von denen wir herunterschauen; mit fünfundvierzig sind es Höhlen, in denen wir uns verstecken.”

Plötzlich überdachte ich meine Überzeugung, dass jeder Mensch sich selbst zu helfen habe. Mir wurde bewusst, dass ich mich in einer Höhle befand, und das ganze sechs Jahre vor meinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Ich war erschrocken über den Menschen, zu dem ich mich entwickelt hatte, und musste handeln.
Also erhob ich mich aus dem Sessel, ging zu der Familie und kaufte einen Stadtplan von Graz, welchen ich dem Mann gab, und wünschte ihm auf Französisch viel Glück in der Steiermark. Das Ehepaar bedankte sich sehr herzlich, und bevor ich die Buchhandlung verließ, riet ich Hilde, künftig ausschließlich mit ihrem Papagei in bemüht schlechtem Deutsch zu sprechen, denn der Vogel wäre wohl das einzige Lebewesen, das von ihr etwas lernen könnte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16109

Noch Kinder

‘Mit achtzehn sind unsere Überzeugungen Berge, von denen wir herunterschauen; mit fünfundvierzig sind es Höhlen, in denen wir uns verstecken.’
Dieser Satz von F. Scott Fitzgerald ist sowohl tiefe Erkenntnis über das Wesen des Menschen, als auch Aufforderung, den eigenen Standort von Zeit zu Zeit infrage zu stellen und seine Standpunkte gegebenenfalls nachzujustieren, wie es Alois Pichler in dieser Erzählung macht.

Es war ein Morgen wie jeder andere im Leben von Alois Pichler. Er erwachte um neun Uhr, stellte den Wecker ab und ging in den Stall, um nach seinen Schweinen zu sehen. Nachdem er sie versorgt hatte, ging er zum Gartentor, öffnete seinen Briefkasten und nahm die Zeitung heraus. Dann brühte er sich eine große Tasse starken Kaffee und begann mit der Lektüre.
Seit ihn seine Frau sieben Jahre zuvor verlassen und die gemeinsamen Kinder mitgenommen hatte, lebte er alleine auf seinem Bauernhof in Weintarg, einem kleinen Dorf in der Nähe der steirischen Landeshauptstadt Graz. Er hatte ihn von seinen Eltern übernommen und führte ihn so gut es ging, und alle paar Jahre hatte er genug Geld gespart, um sich einen neuen Geländewagen kaufen zu können.

Die Schlagzeile auf der Titelseite ließ ihn erstarren. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt, und er fragte sich, ob diese Wallungen vom Obstler herrühren konnten, den er am Abend zuvor überreichlich genossen hatte.
„Nein, das kann nicht sein”, brummte er. Schnaps hatte er immer gut vertragen.
Aus diesem Umstand schloss er, dass die Schlagzeile ‘Flüchtlinge: Weintarg bekommt Asylzentrum’ ihn aufgeregt haben musste.
„So etwas!”, rief er in den Raum, in dem er alleine saß. „Jetzt kommen die Ausländer zu uns! Nun müssen wir uns warm anziehen!”
Da es ein warmer Vormittag im September war, verzichtete er darauf und ging barfuß und in kurzen Hosen auf seinem Grundstück auf und ab.
‘Ich habe ja nichts gegen Ausländer!’, dachte er immer wieder. ‘Aber diese Fremden sind nicht von hier!’

Er beschloss, zum Gemeindeamt zu fahren und die Sache mit Franz Möstl, dem Bürgermeister, zu besprechen. Wichtige Angelegenheiten klärte Alois stets an oberster Stelle, und da Möstl sein Freund und Trinkkumpan war, war er zuversichtlich, dass seine Intervention das Asylantenheim würde verhindern können.
„Es tut mir leid, Alois, aber da ist nichts zu machen. In diesem Fall beginnt die Befehlskette im Innenministerium und endet hier bei mir”, sagte Möstl.
„Wie kannst du so etwas nur zulassen, Franz?”, rief Pichler, packte den Bürgermeister an den Schultern und schüttelte ihn.
„Mir sind die Hände gebunden”, stöhnte der Politiker und befreite sich aus dem Griff seines Freundes. „Warte erst mal ab, Alois. So schlimm wird es schon nicht werden.”
„Nein, sicherlich nicht”, spottete Pichler. „Es wird noch schlimmer werden!”
„Trink erst mal einen Obstler”, meinte Möstl und stellte eine Flasche und zwei Gläser auf den Tisch.
Nachdem sie einander zugeprostet und ihre Gläser in einem Zug geleert hatten, fuhr er fort: „Übermorgen findet in der Mehrzweckhalle ein Informationsabend zu diesem Thema statt. Da werden alle Fragen beantwortet.”
„Ach, das bringt doch nichts”, seufzte Alois, nahm die Flasche und füllte die Gläser wieder an.
„Du wirst gut mit den neuen Mitbürgern auskommen, Alois”, prophezeite der Bürgermeister zum Abschied.

Wieder auf seinem Hof, bereitete Pichler einen zünftigen Grenadiermarsch zu, seine Leibspeise. Während er aß, dachte er an die seinem Dorf bevorstehende Prüfung und kam zu dem Schluss, dass sich ‘das Ganze nicht ausgehen’ konnte.
Dennoch nahm er am Informationsabend teil. Er saß in der ersten Reihe und lauschte den Ausführungen Franz Möstls. Nachdem dieser fertig gesprochen hatte, forderte er die Anwesenden auf, ihre Meinung zu äußern oder Fragen zu stellen.
Erst wagte niemand, dies zu tun. Dann erhob sich Alois und die Augen aller waren auf ihn gerichtet.
Er errötete und stammelte: „Ich möchte nach Hause gehen, und dazu muss ich eben aufstehen.”
Der ganze Saal begann zu lachen, dann lachte auch Alois und stolzierte in seinem besten Steireranzug aus der Mehrzweckhalle.

Mit den Dorfbewohnern sprach Pichler selten. Er galt in Weintarg als Sonderling, dem man besser nicht zu nahe kam. Schließlich war ihm die Frau davongelaufen und hatte sogar die Kinder mitgenommen. Er musste also ein wenigstens einigermaßen schlechter Mensch sein.
Dass sich das Ehepaar Pichler schlicht auseinandergelebt und die Notbremse gezogen hatte, damit die Kinder nicht leiden mussten, wusste niemand außer Franz Möstl. Alois hatte es nie für notwendig erachtet, den Leuten den wahren Sachverhalt zu erläutern, denn was diese dachten und redeten, war ihm gleichgültig, und Franz hatte sich zur Trennung seines Freundes aus Gründen der Diskretion nie geäußert.

Drei Wochen später kamen die Flüchtlinge.
Sie wurden in einem leerstehenden Gebäude neben der Volksschule untergebracht, das den fünfundzwanzig Menschen genug Platz bot, sodass die vier Familien auch räumlich beisammenbleiben konnten.
‘Was hätte die Gemeinde mit diesem Gebäude alles machen können!’, dachte Pichler und malte sich aus, welchem anderen Zweck das seit Jahren leerstehende Gebäude hätte dienen können. Er wusste, dass es sich um ein schönes Bauwerk handelte, doch konnte er sich nicht mehr an dessen Farbe erinnern, so lange hatte er es weder gesehen noch daran gedacht.

Er fuhr zum Kaufhaus, um Lebensmittel für das Wochenende einzukaufen. Als er in der Schlange vor der Kasse stand und sich umdrehte um zu sehen, wer hinter ihm wartete, sah er ein Ehepaar mit drei quengelnden Kindern. Er erkannte sofort, dass es sich um Flüchtlinge handelte.
‘Jetzt habe ich sie im Rücken’, dachte er, und als er seinen Blick wieder nach vorn richtete: ‘Um Gottes Willen! Die alte Frau Egger erzählt der Kassiererin wieder von ihren Enkelkindern. Das dauert jetzt sicherlich eine halbe Stunde.’
Die drei Kinder hinter ihm wurden immer unruhiger und Frau Egger immer redseliger. Da wurde Alois Pichler zornig.
„Frau Egger!”, rief er. „Erzählen Sie schon wieder von den Kindern Ihrer Tochter?”
Die Angesprochene sah ihn an und erschrak, doch wandte sie sich wieder der Kassenkraft zu.
Alois ließ nicht locker.
„Wann wird denn Ihre Enkeltochter anfangen, in Graz als Tänzerin zu arbeiten, so wie ihre Mutter?”
Frau Egger zog schnell einen Geldschein hervor, bezahlte ihren Einkauf und verließ mit hochrotem Kopf den Laden.

Die Kinder hinter Alois hatten inzwischen zu weinen begonnen und deren Eltern wurden der Lage nicht Herr, denn sie waren zum ersten Mal in Österreich und darüber hinaus in diesem Geschäft im steirischen Weintarg. Sie waren also verwirrt und unsicher.
Pichler fühlte, dass er etwas tun oder sagen musste. Er ging nach vorn zur Kasse, wo die Süßigkeiten in Regalen lagen, nahm drei Säckchen mit Bonbons und sagte zur Kassiererin: „Die rechnest du bei mir dazu.”
Dann ging er zu den Kindern, drückte jedem ein Säckchen in die Hand und sagte: „Bald könnt ihr dieses Geschäft verlassen.”
Die Kinder hörten auf zu weinen und jedes nahm ein Bonbon aus seiner Tüte und steckte es in den Mund.
Die Eltern gaben Alois die Hand und sagten: „Thank you very much, Sir.”

Ein paar Tage später saß Pichler auf der Holzbank vor seinem Wohnhaus und spielte mit den Kätzchen, die seine Katze kurz zuvor geworfen hatte. Eine Familie ging an seinem Grundstück vorbei. Die beiden kleinen Töchter sahen die jungen Katzen, rissen sich von ihren Eltern los und liefen zu Alois, um auch mit den Tieren zu spielen.
Die Eltern liefen ihnen nach, doch als der Besitzer der Kätzchen ihnen mit einer Handbewegung bedeutete, dass die Kleinen die Tiere ruhig streicheln durften, standen sie fünf Minuten neben ihrem Nachwuchs und sahen diesem zu. Dann zogen sie ihre Töchter von Pichlers Grund, was die Mädchen zum Weinen brachte.
‘Das war wohl eine neue Erfahrung für die fremden Kinder’, dachte Alois. ‘Dort, wo sie herkommen, gibt es wahrscheinlich keine kleinen Katzen – und wenn doch, werden sie bestimmt schnell so groß wie Geparde oder so etwas. Na ja, sie hätten sicher gerne länger mit den Kätzchen gespielt, aber so ist nun einmal das Leben.’

Am Abend dieses Tages saß Alois in seiner guten Stube vor einem Glas und einer Flasche Obstler und dachte an die beiden Mädchen.
Da erinnerte er sich daran, welche Tiere und Geräte er als Kind unbedingt hatte haben wollen, jedoch nicht bekommen hatte, weil seine strengen Eltern stets dagegen gewesen waren.
„Wozu brauchst du einen Hund? Richte doch ein Schwein ab!”, hatte sein Vater oft gesagt.
„Wir hatten auch keinen Computer und sind dennoch erfolgreiche Bauern geworden!”, hatte eine der Standardantworten seiner Mutter gelautet.
„Es sind ja noch Kinder!”, rief Alois. „Kinder, die auf dem Land aufwachsen müssen, in der Steiermark!”
Er trank die Flasche aus und nahm sich vor, am nächsten Tag zu handeln.

Nachdem er seine Ferkel versorgt hatte, fing Alois sämtliche Kätzchen auf seinem Hof ein, setzte sie in einen Karton mit Luftlöchern und legte diesen auf den Beifahrersitz seines Autos. Dann ging er in den Keller und holte ein Dutzend Gläser mit eingelegtem Gemüse, welche er im Kofferraum verstaute.
Er startete den Wagen und fuhr zum Gemeindeamt. Dort sagte er zu seinem Freund, dem Bürgermeister: „Komm, Franz! Wir fahren zu den Flüchtlingen.”
Franz Möstl blickte ihn erschrocken an und fragte: „Was hast du vor, Alois?”
„Ich werde den Menschen etwas schenken.”
Sie fuhren zum Asylzentrum und Alois überreichte den Kindern die Kätzchen und den Erwachsenen die Einmachgläser.
Die Freude bei den Flüchtlingen war riesengroß und Alois Pichler fuhr in dem Wissen, etwas Gutes getan zu haben, zurück zu seinem Hof.
‘Es sind ja noch Kinder’, dachte er. ‘Und auch deren Eltern sollen etwas Vernünftiges zu essen haben.’

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16108

Computersprache

 Zu Besuch

„Und, hilft er wenigstens im Haushalt mit?“ Birgit seufzt. Diese Frage stellt ihr jeder, seit sie mit Arif einen 16-jährigen syrischen Flüchtling bei sich aufgenommen hat. Die Skepsis, die ihr entgegenschlägt, kommt von allen Seiten. Von ihrer eigenen Familie erfährt sie diese genauso wie von Arbeitskollegen oder Nachbarn.

Am Anfang war der Tenor zu ihrem Engagement noch sehr positiv, aber nachdem sich die Medienberichterstattung seit den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht im Jahr 2015 völlig gewandelt hatte, ist nicht mehr viel übrig geblieben von der Nächstenliebe und dem sozialen Denken.

„Hast du nichts von dem Mädchen gehört, das von einem Flüchtling vergewaltigt und danach erschlagen wurde? Hast du keine Angst, dass dir das auch passieren könnte?“

Nicht alle Geschichten, die erzählt werden, sind Vorurteile oder Lügen. Manches davon ist auch wahr. Aber Birgit hat keine Angst. Sie braucht Arif nur in die Augen zu sehen, um zu wissen, dass in ihm eine gute Seele steckt.  Sie glaubt nicht daran, dass ihr Arif jemals eine Falle stellen könnte.

„Nein, er hilft nicht mit im Haushalt. Er sitzt die meiste Zeit herum und starrt auf sein Handy. Sein einziger Freund ist zwei Stunden entfernt von uns in Wien. Arif sitzt dagegen bei mir in einem Vorort von Linz fest und hat den ganzen Tag nichts zu tun“, sagt Birgit.

Die junge Mutter ist stets ehrlich, wenn die Familie sie nach Arif fragt. Nur bei den Menschen, die sie auf der Straße auf ihren Hausgast ansprechen, zuckt sie auf solche Fragen lediglich mit den Schultern.

„Ja lernt er denn kein Deutsch?“
„Der nächste freie Kurs ist im Herbst.“
„Spielt er mit deinen Kindern?“
„Eher selten. Er ist sehr nach innen gekehrt.“
„Das macht dir keine Sorgen?“
„Nein. Er hat viel durchgemacht. Man muss ihm Zeit geben.“
„Schreibt er auf Arabisch?“
„Ja, das ist seine Muttersprache.“

Die Fragen enden schnell. Die Familienmitglieder tauschen ein paar sorgenvolle Blicke untereinander aus. Das Thema wird gewechselt. Niemand will Birgit ihr Engagement ausreden, aber Bewunderung erntet sie dafür auch keine. Die Skepsis bleibt.

Zu Hause

Arif sitzt in seinem Zimmer und schreibt mit seinem Freund Hassan Nachrichten am Smartphone hin und her. Hassan erzählt ihm, dass er gestern im Park Fußballspielen war mit anderen Buben aus Syrien. Sie hatten dafür endlich einen echten, runden Ball verwendet und keine selbstgefertigte Kugel, die sie aus alten Lebensmittelkartons gebastelt hatten. Es hat Spaß gemacht, schreibt Hassan. Arif lächelt. Er freut sich für seinen Freund, den er vergangene Woche in Wien besuchen war. Birgit fährt alle zwei Wochen mit ihm nach Wien, damit sich die beiden treffen können. Arif ist ihr dafür unendlich dankbar.

Hassan ist sein einziger Freund aus Syrien. Er hat es ebenfalls bis nach Österreich geschafft. Hassan ist die letzte Verbindung zu Arifs Heimat. Ohne Hassan wäre er ganz alleine auf dieser Welt. Mit Hassan spielte er schon, als sie beide noch ganz klein waren. Wenn Arif Hassan sieht, erinnert er sich an den Staub auf den Straßen, den sie aufgewirbelt hatten, als sie Ball spielten. Oder  an den süßen Geruch von Kuchen, den sie gemeinsam aus dem Ofen von Hassans Großmama gestohlen hatten, kurz bevor er fertiggebacken war.

Plötzlich stürmt Birgits kleiner Sohn, der achtjährige Martin, ins Zimmer. Er öffnet die Tür ungefragt. Arif zuckt zusammen. Sofort fühlt er sich zurückversetzt in eine Stadt, die niedergebombt wurde. Nicht nur eine Rakete ist direkt im Nachbarhaus eingeschlagen. Arif hat viele Leichen gesehen. Und er hat ständig Angst, dass auch hier plötzlich eine Rakete neben ihm einschlagen könnte. Sein Trauma sitzt tief.

„Arif, willst du mir helfen? Schau, was wir meine Tante geschenkt hat! Einen kleinen Computer zum Basteln!“

Martin versteht nicht, dass Arif seine Sprache nicht kann. Er spricht mit ihm trotzdem Deutsch, und Arif tut auch immer so, als würde er es verstehen. Er will den kleinen Buben nicht enttäuschen. Auch dieses Mal nicht. Doch als Arif dieses Mal aufblickt, beginnen seine Augen zu leuchten.

Arif sieht, dass Martin einen kleinen Raspberry Pi in seinen Händen hält. Der Raspberry Pi ist ein billiger Einplatinencomputer ohne Gehäuse, von dem bereits mehr als sieben Millionen Geräte weltweit verkauft worden sind – auch nach Syrien. Arif hatte vor ein paar Jahren auf dem Raspberry Pi das Programmieren gelernt. Es war der einzige Computer, den er je besessen hatte. Er bastelte damals auch selbst eine Hülle für das Teil. Und lernte die Programmiersprache Python.

Arif beugt sich zum kleinen Martin herab und nimmt ihm behutsam die Platine aus der Hand. Gemeinsam geht er mit dem Jungen in sein Zimmer, um sie dort für ihn zu verkabeln, am Bildschirm anzustecken, das Betriebssystem zu installieren und in Betrieb zu nehmen. Als der kleine Computer zu surren anfängt und läuft, freut sich Martin und klatscht.

„Ja, du hast es geschafft. Danke!“

Ein paar Stunden später sitzen die beiden noch immer gemeinsam vor dem Bildschirm. Arif hat damit begonnen, den Raspberry Pi mit einfachen Befehlen dazu zu bringen, Songs, die Martin gefallen, abzuspielen. Als Birgit das Zimmer betritt, sieht sie sofort, dass sich etwas geändert hat. Bei Arif und Martin. Sie sieht Arifs Begeisterung, sein Strahlen in den Augen. Er blickt konzentriert auf den Bildschirm, und seine Finger bewegen sich blitzschnell über die angeschlossene Tastatur. Sie sieht auch die Freude in Martins Augen und den Stolz auf ihren Hausgast.

„Mama, Mama, Arif ist ein Computergenie! Er hat das neue Gerät von Tante Greta zum Laufen gebracht. Und schau, es spielt Helene Fischer ab!“
„Das ist ganz toll, Martin.“

Arif schreibt Martin ein Programm, das ein einfaches Ping-Pong-Spiel mit dem Lieblingssong des Jungen sowie den Figuren aus dem offiziellen YouTube-Video kombiniert. Der kleine Bub umarmt ihn. Arif lässt die Nähe zu. Er zuckt nicht weg und er lächelt. Es scheint ihm gutzutun. Noch nie zuvor hatte Birgit den syrischen jungen Mann lächeln sehen, außer wenn er mit seinem Freund Hassan gespielt hat. Die Mutter ist beeindruckt. Der zuvor so verloren wirkende 18-Jährige blüht dank des Computers regelrecht auf.

Neben Arabisch beherrscht Arif also noch andere Sprachen fließend. Sprachen, mit denen sie nicht gerechnet hatte. Programmiersprachen wie Python, HTML und Java.

Birgit erkundigt sich im Dorf, ob jemand Arifs Fähigkeiten gebrauchen kann. Dann würde sich Arif vielleicht ein wenig nützlicher vorkommen, denkt sie. Und ihr Plan geht auf. Arif programmiert dem Bäcker seine Webseite. Zum Dank bringt er jetzt jeden Morgen frische Croissants vorbei und winkt Arif zu. Arif winkt zurück und lächelt.

Zu Besuch

Als Birgit das nächste Mal gefragt wird, ob „ihr Flüchtling“ denn mittlerweile im Haushalt mithelfe, antwortet sie: „Nein, aber er programmiert meinem Sohn fast jeden Tag ein neues Spiel. Und dem Bäcker die Webseite. Und dem Schuster hat er dabei geholfen, seinen Rechner neu aufzusetzen.“

Schweigen und Staunen. Keiner weiß, was er darauf sagen soll.

„Arif ist ein Computergenie“, sagt Birgit. „Er spricht viele Sprachen. Programmiersprachen. Aber auch sein Deutsch wird immer besser. Weil er den Drucker des Lehrers wieder zum Laufen gebracht hat, unterrichtet ihn dieser jetzt einmal pro Woche kostenlos. Er ist Arif so dankbar, weil er sich mit dem Gerät davor schon seit Monaten herumgeärgert hat. Und Martin ist auch ganz begeistert. Er hilft Arif jetzt ebenfalls beim Deutschlernen. Danach darf er immer seine frisch programmierten Spiele auf dem Raspberry Pi spielen, den du ihm geschenkt hast, Greta.“

„Hoffentlich sind das keine Killer-Spiele?“
„Doch, eines heißt sogar ‚Fallen‘, also, falls es um dein Englisch nicht so gut bestellt sein sollte, das heißt: ‚gefallen‘. Da geht es darum, ängstliche Tanten und Omas abzuschießen. Das wolltet ihr doch hören, oder?“

Entsetzte Blicke und Stille.  Birgit seufzt. Ihr Sarkasmus steigt automatisch mit dem Grad an Dummheit der anderen. Manche, denkt sich die junge Mutter, lernen’s einfach nie.

Barbara Wimmer
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www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16100

Imres Vormittage

In jedem seiner großzügigen Wohnräume war über der Tür eine große Uhr angebracht. Auf rundem Weiß schlichte klare Ziffern in Schwarz, ein nervöser Sekundenzeiger, der pausenlos einem gemächlichen Minutenzeiger hinterherjagte, um ihn und den behäbigen Stundenanzeiger immer und immer wieder einzuholen.
Seit er vor einem Jahr das Gebäude einer ehemaligen Volksschule in einer kleinen Ortschaft erworben hatte, war die Zeit omnipräsent für Imre.
Der Schulbetrieb war seit Jahren eingestellt, die Anzahl der Kinder über die Jahrzehnte überschaubar und das Schulgebäude funktionslos geworden, schließlich zur Vermietung angeboten gewesen.

Die Ereignisse hatten sich geradezu überschlagen, als der Bankbeamte am Ende seiner beruflichen Laufbahn vor einem Jahr pensioniert worden war. Seine Ehe hatte nach vielen Jahren ein abruptes Ende gefunden, sich seiner indessen geballten Präsenz im gemeinsamen Haushalt als nicht gewachsen erwiesen, und seine nunmehrige Exfrau sich außerhäuslich amourös orientiert, was ihn zum Auszug aus dem gemeinsamen Domizil bewegt hatte.

Als ob das nicht schon genug wäre, nein, nicht nur das erwähnte Ungemach, sondern eben auch die schwarzen Zeiger auf weißen Ziffernblättern brachten eine Neuorientierung mit sich, vor allem, weil deren Position immer noch ein durchdringendes Läuten der Schulglocke auslöste.
Am ersten Morgen in seinem neuen Heim weckte ihn die Klingel um 7 Uhr 50. Das schrille Geräusch ließ ihn mit Herzrasen hochschrecken und tat ihm in den Ohren weh. Er drückte sich den Polster auf den Kopf, drehte sich im Bett wieder um und versuchte, nochmals einzuschlafen, schließlich war er im Ruhestand und hatte keine Termine. Doch das unangenehm Grelle klang noch lange nach. Er nahm sich vor, das störende Schellen auf Dauer abzustellen, was ihm aber nicht gelang, obwohl er an diesem Tag einiges an den Einstellungen der Elektrik ausprobierte. Wenn er die Sicherungen ganz herausschraubte, dann blieben die Uhren natürlich stehen, und das behagte ihm auch nicht.

Einer der Gründe für die Konflikte mit seiner Frau war, dass er seit seiner Pensionierung täglich bis 9 Uhr geschlafen hatte. Du lässt dich gehen, hatte sie vorwurfsvoll zu ihm gesagt, als er wieder einmal am helllichten Vormittag im Pyjama in der Küche sitzend seinen Frühstückskaffee getrunken hatte.
Vermutlich hatte sie recht damit. So plötzlich erstens auf sich allein gestellt, weiters der Arbeitswelt und der Gesellschaft seiner Kollegen entrissen und des bisherigen häuslichen Umfelds entwöhnt, musste Imre nun schauen, wo er blieb.
So beschloss er bereits am nächsten Tag nach dem Frühstück, zeitgleich mit dem Pausenklingeln um 8 Uhr 50, klar Schiff zu machen, sein Leben wieder in geregelte, anständige Bahnen zu lenken, möglicherweise würde das Geklingel ja so etwas wie ein Reglement in sein Leben bringen, Strukturen schaffen, denen er nur zu folgen brauchte, ohne selbst disziplinär gegen seinen inneren Schweinehund vorgehen zu müssen. Angewandte Pädagogik – nicht verwunderlich an so einem Ort.

Um 7 Uhr 50 schwang er sich also jetzt täglich aus dem Bett, die folgenden zehn Minuten verbrachte er im Bad und bereits als die Glocke die erste Schulstunde einläutete, war er dabei, sich Frühstück zu machen und danach kümmerte er sich um den Haushalt, der immer noch aus dem Ausräumen von Umzugskartons, Teppichausrollen und Möbelrücken bestand. Er wunderte sich beinahe – in fünfzig Minuten bringt man so einiges weiter.
Das Einläuten der Pause nutzte er dann auch dementsprechend, fürs Nichtstun nämlich: Er legte die Beine hoch und aß einen Apfel. Das Zusammenräumen setzte er in der nächsten, vom Glockengebimmel ein- und ausgeläuteten, knappen Stunde unbeirrt fort.

Und überraschend zügig fand er Gefallen am schrill tönenden Alarm. Die Uhr schwang ihre drei schwarzen Taktstöcke und dirigierte seinen Vormittag. Ein virtueller Regisseur füllte seinen Tag mit einem Plan. Er fühlte sich getaktet und mit Anweisungen versorgt, verstand sein Leben als sinnerfüllt und dachte nie mehr daran, das Geläut zu demontieren.

Imre konnte die Zeit nicht aus den Augen verlieren. Immer wenn die Schulglocke erklang, beendete sie irgendeine Aktivität oder eine Passivität des einzigen Schulbewohners. Ja, oft schnitt sie jemandem das Wort ab, mit dem er gerade ein Telefonat führte. Der letzte Satz musste dann rasch beendet, ja erstickt werden, was ihm bald als befremdliches Verhalten ausgelegt wurde.

Im Theater gäbe es das ja auch, rechtfertigte er sich einmal, als seine Tochter ihn mit der Enkelin besuchte und sich ärgerte, dass das Baby wach geworden war vom schrillen Geläut. Sie sprach von einer fragwürdigen pädagogischen Geißel.

Der Postbote an der Schultür zuckte beim Läuten zusammen, und als Imres Blick zu flackern begann, er rasch die Post entgegennahm und sich nervös verabschiedete, fragte er ihn mit einem Zwinkern: Rechnen?
Ergometertraining
, berichtigte dieser hastig mit einer entschuldigenden Geste und eilte in den früher als Turnsaal dienenden Raum, der vom Adrenalin und der Aufgeregtheit der Kinder immer noch auf fast heitere Weise ein klein wenig muffig roch. Die Sprossenwände zu seiner linken und den niedrig montierten Basketballkorb auf der rechten Seite, zog er nun bis zum nächsten metallischen Ordnungsruf konzentriert seine einsamen imaginären Runden auf dem Fahrrad, in der unumstößlichen Gewissheit, dass Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert.

In der dritten Stunde ab 10 Uhr war immer die Stunde des Gärtnerns. Imres Marotten hatten sich herumgesprochen und die Nachbarin wusste, dass exakt diese Stunde oft ideal war für einen kleinen geselligen Plausch am Gartenzaun, er ließ sich gerne zum Plaudern hinreißen, wohlgemerkt neben der Arbeit, denn gänzlich untätiges Schwätzen während der Stunde war seine Sache nicht.

In den Pausen war es im Gegensatz zu offiziellen Schulen nicht laut und unruhig, sondern diese Auszeit galt wirklich als Rast. Das Militärische hatte er nie gemocht. Den schulischen Rhythmus, die stets gleichmäßigen Vorgaben der 50-Minuten-Einheiten, fand er hingegen äußerst adäquat für sich und seine periodischen Bedürfnisse. Die 10-minütige Unterrichtsunterbrechung bot etwa genug Zeit für Rauch- und Pinkelpause; ja, er rauchte dadurch sogar weniger!

Im Lagerhaus hatte er eines Tages Frieda kennengelernt, er hatte ihr geholfen, einen riesigen Sack Pflanzenerde in ihr Auto zu verfrachten, sie waren ins Plaudern geraten und über die Monate war mehr daraus geworden. Sie war in seinem Alter und alleinstehend, und die beiden unterhielten bald regelmäßigen Kontakt zueinander, sie war angetan von seinem wohlgeratenen Lebenswandel. Außerdem gefiel es ihr, in seinem aufmerksam kultivierten Garten dies und jenes einzelne, noch verbliebene Unkräutlein auszurupfen oder ebendort irgendetwas anderes Nützliches zu bewerkstelligen.
Imre hatte Stabilität und Orientierung gefunden, sein Haushalt war geordnet, sein Garten bestellt, die Kontoauszüge sortiert und vor allem: Er hatte wieder eine Partnerin gefunden.

Nicht nur das, auch eine Katze hatte er sich zugelegt, oder war es umgekehrt? Eines Vormittags – er wollte gerade die Schultüre schließen, denn es schellte zum Ende der Pause – da saß sie einfach auf der Schultreppe und miaute mit der Klingel in unwiderstehlichem Duett. Sie blieb und war willkommen, ganz bestimmt auch, weil sie viel Verständnis für Imres überambitioniertes Verhältnis zur Akustik der Zeit hatte und stets Contenance beim Klingelton bewahrte. Und bald wusste sie, dass sie ihr Fressen täglich am Beginn der Hauswirtschaftsstunde um 8 Uhr bekam. Und auch, dass Zeit für Streicheleinheiten erst der Nachmittag bot, wenn diese merk- und irgendwie unwürdigen Alarmierungen ihren Quartiergeber nicht mehr gänzlich im Griff hatten.

Die Volksschule war immer um eins zu Ende gewesen, daher war zu diesem Zeitpunkt das Läuten zum letzten Mal aktiviert. Die Taktung der fünf geordneten Stunden von acht bis eins entsprach ihm. Frieda – inzwischen nannte sie ihn liebevoll ihren Schulmeister – fand sich meist an Nachmittagen ein, sie bevorzugte die geläutfreie Zeit und schlug vor, die Festlegung zu ändern, in einer Weise, dass das eindringliche Klingeln um ein Uhr Mittag unterbliebe, um in Ruhe gemeinsam kochen und mittagessen zu können, doch eine Umprogrammierung der Uhr auf eine andere Stundenanzahl zog Imre nicht in Betracht.

Den Nachmittag nämlich, in seinem glockenlosen Laisser-faire-Zustand, konnte er zumeist nicht entspannt genießen, der Nachlässigkeit waren Tür und Tor geöffnet, das bereitete ihm Unbehagen, denn Arbeit, Muße oder auch sinnfreies Nichtstun mischten sich so zu einer konturlosen Melange.
Er wunderte sich zwar darüber, aber er liebte die schroff signalisierte Stundentaktung, die Gehorsam und Disziplin einmahnte und seine To-dos verwaltete.
Es kam nur ganz selten vor, dass er in unangenehm nervöser Erwartung des Läutens war. Eigentlich lag in seiner Grundstimmung meist eine freudige Bereitschaft, irgendetwas sofort zu beenden, sei es nun fertiggestellt oder nicht, und was auch immer auf der Stelle neu zu beginnen.
Ob er das Pausenklingeln mehr mochte als das Signal zum Stundenstart? Darüber konnte er lange sinnieren, vorzugsweise an den freien Nachmittagen, wenn er keine Vorgaben zu befolgen hatte.

Frieda drängte auf eine schulglockenfreie Ferienregelung, doch er wollte rein gar nichts davon wissen. Du bist so eingefahren in deinem Denken, musste er sich von ihr freundlich nachsichtig schelten lassen, dabei war er durchaus bereit zu Flexibilität, wenn sie ihm denn angebracht erschien: Beim Erstellen des Stundenplans für den Sommer wollte Imre etwa die ersten beiden Stunden austauschen, also die Gartenpflegeeinheit zugunsten der Hauswirtschaftsstunde gleich als erste disponieren, das könnte sich bei großer Hitze als praktisch, wenn nicht sogar als unumgänglich erweisen.
Jeder ringt auf seine eigene Art um Wohlgefühl.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16042

Housewarming Party

Die Wohnung ist einfach optimal, Walter von der ersten Sekunde an in sie verliebt. Ja, diese Wohnung will er haben, hier will er die nächsten Jahre leben und, wenn es sein soll, auch für immer: Mitten im pochenden Herz der Stadt, also genauer: mitten im pochenden Herz des Bezirks neben der Innenstadt, wo sie noch lauter pocht als mittendrin. Schon vor vielen Jahren haben, vermutlich vom Bauhaus inspirierte, Architekten diese nicht ganz 42,5 Quadratmeter so auf Küche, WC, Bad, Wohn- und Schlafzimmer verteilt, dass es nicht besser sein könnte.

Walter ist, freundlich formuliert, etwas übergewichtig, schafft es aber ganz hinauf, einige der anderen Interessenten haben die Besichtigung der Wohnung schon im ersten Stock abgebrochen.
Ja, Walter unterschreibt, vielleicht auch schon deshalb, weil die Möblierung ungefähr seinen Vorstellungen entspricht und er sich scheut, seine Zeit in Möbelhäusern und Baumärkten zu verlieren. Er unterschreibt mit zitternder Hand, seine Signatur könnte genauso gut von einem x-beliebigen Patienten einer Palliativstation stammen, ähnelt zumindest der in seinem Reisepass und Führerschein keineswegs, Walter ist auch wirklich erschöpft. Der Makler nutzt die Gunst der Stunde, die Unterschrift hat er jedenfalls, der Rest der Geschichte interessiert ihn nicht, er macht sich schnell auf die Socken, streicht Walter schon auf dem Weg nach unten völlig aus seinen Gedanken.
Der sitzt, noch immer schwitzend vom Aufstieg – es kann auch wegen der Aufregung bei der für ihn wegweisenden Unterschrift unter diesen Mietvertrag sein – lange in dem Ohrensessel, der ihm gleich beim Reinkommen aufgefallen ist, weil es das Mobiliar ist, das den meisten Platz in Anspruch nimmt und auch, weil er es keinen Schritt weiter mehr geschafft hätte.

Walter ist nicht besonders groß, aber sehr schwer, also mehr rund, und er hat seine Unterschrift schnell unter den Vertrag gesetzt, die Wohnung ist also seit wenigen Minuten sein Mieteigentum. Eigentlich wollte er sich noch gerne Bad/WC ansehen, den Durchlauferhitzer, die Dichtungen der Fenster überprüfen, den Zustand des Backrohrs und des Stromkastens kontrollieren. Beim Reinkommen hat er schon viele Mitbewerber abgehängt, nur noch wenige haben sich in seinem zukünftigen Domizil etwas unschlüssig umgeblickt, Walter war klar, jetzt gleich, ganz schnell, Nägel mit Köpfen machen zu müssen – er ist gekommen, um zu bleiben. Die genaue Inspektion hebt er sich im Ohrensessel für später auf, es überwiegt die Freude über dieses Erfolgserlebnis, jetzt ist es ihm auch viel wichtiger, seine Freunde zur Housewarming Party einzuladen, schließlich sollen sie den Weg in seine neue Wohnung kennen und immer wieder finden.

Karin ist krank, Max und Petra gesund, aber ihr Kind, die kleine Sandra nicht, Richard, Alina und Hanna haben ihr Handy auf tot gestellt. Er erreicht nur Christian, der ist zwar nicht unbedingt erste Wahl, aber immerhin: Er wird kommen und Freunde mitnehmen und ja, sie werden auch für Speis und Trank sorgen.
Mit ‚seinen‘ Freunden hat Christian seine gemeint, nicht die gemeinsamen, die kleine Wohnung ist jedenfalls wirklich perfekt für eine Fete: Zweiunddreißig Menschen prosten sich zu, tanzen miteinander, auch wenn es noch keine Musik gibt, scherzen, rauchen, trinken, lachen und sind nach zwei Stunden wieder weg. Walter sitzt noch immer im Ohrensessel, außer Christian hat ihn niemand begrüßt, niemand mit ihm geredet. Walter hat die anderen auch gar nicht gekannt, sie noch nie gesehen.
Er steht auf, und auch das nur, weil der oder die Letzte die Tür nicht zugemacht hat, irgendwer hat zwischen Tür und Angel eine rote Handtasche liegen lassen. Walter schleppt sich zurück in den Ohrensessel, es ist schon spät, eigentlich sollte er jetzt schlafen, macht es auch gleich.

Der Morgen ist noch nicht erwacht, die Nacht noch nicht ganz eingeschlafen – Walter ist munter, Walter hat Hunger, findet sich im Ohrensessel und ist glücklich, in seinem neuen Reich aufzuwachen.
Die Inspektion von Durchlauferhitzer, Fensterdichtungen und Stromkasten lässt er bleiben, stolz verschließt er sein neues Domizil, stapft Treppe für Treppe hinunter, was sich leichter anfühlt als der Weg in der anderen Richtung vor ein paar Stunden, wird sich unten, gleich nebenan beim Bäcker frische Semmeln holen.

Walter schreitet die dreizehn mal zwei Stufen vom dritten in den zweiten Stock, weitere dreizehn mal zwei Stufen vom zweiten in den ersten Stock, dreizehn mal zwei Stufen vom ersten Stock ins Obergeschoß, dreizehn mal zwei Stufen vom Obergeschoß ins Mezzanin und diesmal elf Stufen vom Mezzanin ins Erdgeschoß – alles in allem sind es hundertfünfzehn Stufen, die er wieder erklimmen muss, um sich den bequemen Ohrensessel zu wuchten. Diesen Wermutstropfen der ansonsten perfekten Wohnung hat er aber als Medizin für seinen viel zu schweren Körper gerne in Kauf genommen.
Noch bevor er sich in die Bäckerei gleich nebenan schleppt, die ihren Kunden auch auf zwei Tischen Kaffee und ein komplettes Frühstück serviert, sieht er sich das Haus an, in dem er jetzt wohnt, kann an den jetzt unnötig erleuchteten Fenstern erkennen, wo er jetzt leben wird – gleichzeitig kann er sich nicht mehr vorstellen, wie er es bei der Erstbesteigung bis da hinauf geschafft hat, Lift gibt es nämlich keinen.

Beim Hinaufgehen war er getrieben, ihm scheint, die Herde hätte ihn getragen – und er wollte nicht das letzte Schaf sein. Beim dritten Kipferl und einem nächsten Faschingskrapfen kann er sich nicht mehr vorstellen, alleine diesen Aufstieg noch einmal zu überleben. Ein Taxi bringt ihn danach zurück nach Hause, seine Mutter ist froh, ihn zu sehen, tischt ihm auch gleich ein kräftigendes Mittagessen auf, zum Nachtisch gibt es Erdbeeren mit einer doppelten Portion Schlagobers.

Christoph Stantejsky

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16039

Schnee

Es schneit. Seit Tagen fallen, mal größere, mal kleinere, mal schnell, mal langsam, Schneeflocken vom Himmel herab. Am Anfang bildete sich nicht mehr als eine dünne, weiße Schicht am Boden, die in den kurzen Pausen des Schneefalls innerhalb weniger Minuten wieder verschwunden war. Nasse Straßen, wie nach leichtem Regen, waren das Einzige, was zurückblieb. Das ist allerdings schon eine Weile her. Mittlerweile schmilzt der Schnee nicht mehr. Stellenweise liegt er sogar einen Meter hoch. Das ist ungewöhnlich. Jahrelang gab es nicht mehr einen derart starken Wintereinbruch. Zumindest nicht in dem kleinen Dorf im Nordosten Niederösterreichs. Natürlich ist die Gemeinde auf diese Schneemassen nicht vorbereitet, was zur Folge hat, dass die Straßen nicht ordentlich geräumt werden können, was wiederum die Einwohner in ihrer Mobilität sehr einschränkt. Vor allem sind jene Menschen betroffen, die in höher gelegenen Teilen des Dorfes leben, da ein Auto hier noch weniger zu gebrauchen ist, falls man es denn überhaupt schafft, es freizuschaufeln.

Wie auch immer. In diesem Dorf, auf eben einem dieser höheren Plätze, wohnt eine kleine Familie. Sie waren mal zu fünft, also Mutter, Vater und ihre Kinder, aber jetzt sind es nur noch drei Personen, deren Lebensmittelpunkt hier verankert ist. Die beiden Töchter und der Sohn sind nach und nach ausgezogen, vor vier Jahren wurde dann die letzte Kiste aus dem Haus ins Auto gehievt. Jetzt sind nur noch die Eltern übrig. Plus der Vater der Mutter, der nicht mehr alleine leben kann. Alfred ist 86, klein und stämmig gebaut und leidet an zunehmender Demenz. Seit seine Frau vor drei Jahren verstorben ist, geht es immer schneller bergab. Deshalb hat seine Tochter ihn kurz nach dem Tod seiner Gattin zu sich geholt, in den kleinen Ort nahe der tschechischen Grenze. Er fühlt sich wohl. Er muss sich um nichts kümmern, kann einen sorgenfreien Lebensabend bei seiner Familie verbringen. So gut es geht, versucht er niemanden zu stören, hilft, wo er kann, und bemüht sich in eigentlich allen Dingen, die er tut. Trotzdem ist es nicht immer einfach, zum Beispiel ist die Mülltrennung immer wieder ein großes Problem, genauso wie die Rücksicht auf die zahlreichen Haustiere. Nicht nur einmal sind die zwei Hunde aus dem Tor gelaufen, weil Alfred es offen gelassen hat, oder ist eines der Meerschweinchen verloren gegangen und wurde von einer der fünf Katzen als Spielmaus verwendet. Auch sind die Gesprächsthemen nichts für jedermann, schon gar nicht während des Mittagessens. Zu hören, wie gut oder schlecht sein Stuhlgang im Moment läuft, während man eine extra große Portion Gulasch essen möchte, ist nicht gerade ein Genuss. Zusehen zu müssen, wie er sein Essen hineinschlingt und ihm die Hälfte wieder aus dem Mund herausfällt, ist allerdings auch nicht besser.

Jedenfalls ist der Hausherr mit seiner Frau für die nächsten drei Wochen auf Reisen. Indien. Schon der sechseinhalbstündige Hinflug war eine Katastrophe. Der Snack, der serviert wurde, hat nicht geschmeckt, die Stewardess war unfreundlich, die Toilette schmutzig und der Inder neben ihnen hat sich permanent im Schritt gekratzt (eine Eigenheit der Kultur, die für Außenstehende zu Beginn für Befremden sorgt). Während also Vater und Mutter den Subkontinent erkunden und da Alfred das Haus alleine nicht bewirtschaften kann, muss noch jemand auf den alten Mann und den Rest aufpassen. Das Los traf Marie, die mittlere Tochter. Die beiden Geschwister haben leider zu viel mit dem Studium oder der Arbeit zu tun. Marie nimmt das Studium und die Arbeit ein bisschen lockerer, schaut nur vorbei, wenn es unbedingt sein muss. Die Eltern wissen das natürlich nicht, sie denken Marie pendelt jetzt vier Mal in der Woche und ist auf dem besten Weg, Ärztin zu werden. Dass sie schon vor zwei Jahren das Medizinstudium abgebrochen hat, um Germanistik zu studieren, wissen sie nicht. Es scheint sie auch nicht besonders zu interessieren. Dennoch wollte sie ihren Eltern einen Gefallen tun, packte das Notwendigste in ihre Reisetasche, setzte sich ins Auto, das sie sich von ihrem Bruder ausgeliehen hatte und fuhr aufs Land.
Nach fünfzigminütiger Fahrt war Marie nur noch wenige Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Von der Landstraße aus konnte man schon die üppige Kirche sehen, die über dem Dorf auf dem Kirchberg thront, als wollte sie die kleine Gemeinde zu jeder Zeit daran erinnern, dass Gott zusieht.

Kurz abgelenkt von dem Anblick der Kirche bemerkte Marie nicht, dass von den Feldern neben der Straße ein Sprung Rehe, es waren ungefähr vier oder fünf, gerade dabei war, ihren Weg zu kreuzen. Es war fast zu spät, als sie die Tiere endlich sah. Sie bremste scharf ab, nicht zu stark, um einen Schleudervorgang zu vermeiden, denn man wusste ja nie, wie das Auto bei solchen Temperaturen, es hatte schließlich elf Grad unter null, reagieren würde. Nacheinander hopste das Wild über die Straße. Eines der Rehe blieb stehen und blickte in Richtung der Lenkerin. Nur noch wenige Meter bis zum Aufprall. Marie schloss die Augen. Sie erwartete den dumpfen Knall. Nichts geschah. Als sie die Lider wieder aufschlug, war das Reh verschwunden. Im Augenwinkel nahm sie eine Bewegung wahr. Sie drehte den Kopf nach links und da war es. Lebendig. Frisch-fröhlich lief es zu seiner Gruppe, die sich im Windschutzgürtel am Ende des Feldes versammelt hatte. Glücklich darüber, dass dem Tier und dem Auto nichts passiert war, trat sie aufs Gas und erreichte bald die Ortseinfahrt.

Die Strecke von der Hauptstraße zum Wohnhaus war schwieriger als gedacht, die Seitenstraßen waren vollkommen vereist, vor allem der Weg den kleinen Berg hinauf gestaltete sich äußerst riskant. Marie ist es allerdings gewohnt, hierher zu fahren, schließlich verbrachte sie achtzehn Jahre ihres Lebens an diesem Ort und kennt die Verhältnisse zu dieser Jahreszeit. Mit mehr oder weniger gewagten Manövern bugsierte sie den Wagen ans Ende der Straße, wo ihr ehemaliges Zuhause aufragte wie eine Burg.

Als Marie ankam, waren ihre Eltern schon weg. Drei Wochen allein mit einem demenzkranken Mann. Nicht gerade die ultimative Auszeit von Arbeit und Studium, aber immerhin würde sie ein bisschen an ihrem Roman schreiben können. Sie parkte das Auto mitten auf der Garageneinfahrt, da jetzt sowieso niemand hinein- oder hinausfahren würde, und steigt aus. Der kalte Wind nahm ihr fast den Atem, ihre Augen begannen zu tränen. Schnell holte sie das Gepäck aus dem Kofferraum, gleichzeitig kramte sie in ihrer Jackentasche nach dem Hausschlüssel. Nachdem sie den Wagen abgeschlossen und das auch noch einmal kontrolliert hatte, machte sie sich durch den Vorgarten auf zum Eingang, wobei sie sich ein bisschen ärgerte, da die Tür im Gartenzaun offen war. Wahrscheinlich hatte ihr Großvater vergessen, sie wieder zu schließen, als er nach den Mülltonnen sehen wollte. Für Marie war das unbegreiflich, warum musste er auch hinausgehen? Wozu muss er immer Dinge kontrollieren, die keine Kontrolle brauchten? Bestimmt war auch das Tor in den großen Garten offen und die Hunde längst über alle Berge. Das wäre typisch. Marie packte den Schlüssel zurück in ihre Jacke und machte sich auf, um von der anderen Seite in das Haus zu gelangen, da sie durch diesen kleinen Umweg sehen konnte, ob wenigstens diese Tür verschlossen war. Sie war nicht offen. Also kein Grund zur Sorge, nichts passiert. Insgeheim hätte sich Marie das Gegenteil gewünscht, nur um sich noch mehr über ihn aufregen zu können. Zähneknirschend umrundete sie also den kleinen Palast, der für ihre Eltern mittlerweile viel zu groß war. Nach wenigen Metern kam ihr schon die Hundestaffel, alle mit wedelndem Schwanz, entgegen. Eine kurze Begrüßung musste natürlich sein, danach ging es weiter zur hinteren Tür, die in die Küche führte.

Alfred begrüßte sie als wäre sie erst heute Morgen aus dem Haus gegangen, obwohl sie sich seit zwei Monaten nicht mehr gesehen hatten. Seelenruhig blätterte er in seiner Tageszeitung von gestern, vermutlich nicht zum ersten Mal, und nickte Marie kurz zu, dann wollte er noch wissen, ob sie denn etwas zu Essen mitgebracht hätte. Das war alles.

Das ist jetzt zwei Wochen her. Heute ist ein grauer Dienstagnachmittag. Wenn man aus dem Fenster sieht, kann man beobachten, wie die Schneeflocken langsam zu Boden rieseln. Dicke Flocken, die es beinahe unmöglich machen, irgendetwas anderes als eine einzige weiße Wand wahrzunehmen. Marie und Alfred sitzen im Esszimmer. Vor Marie steht ein Laptop, vor Alfred liegt eine Tageszeitung. Seit zwei Stunden sitzen sie sich gegenüber und sind beide in ihre eigene Arbeit vertieft. Weitere zehn Minuten später ist Alfred mit der letzten Seite des letzten Artikels fertig. Er lehnt sich zurück. Ein Blick auf seine Armbanduhr, auf sein aufklappbares Pensionistentelefon, dann aus dem Fenster. Nichts davon kann ihn länger als vier Sekunden unterhalten. Er sieht seine Enkelin an, deren Augen starr auf den Bildschirm vor ihr gerichtet sind.

„Schlimm, das mit dem Schnee“, Alfred spricht den ersten Gedanken aus, der ihm in den Sinn kommt.
„Hmmm“, Marie hat ihm nicht zugehört.
„Was schreibst du? Zum Studieren was?“
Marie antwortet nicht. Alfred hakt nach: „Schreibst sicher was für den Doktor.“
„Hmmm?“, Marie sieht auf.
„Was du schreibst?“, wiederholt er.
„Was für mich.“
„Nichts fürs Studieren?“
„Nein, Opa, ich bin ja schon fertig“, Fragen über das Studium beantwortet Marie immer ein bisschen sarkastisch. Sie mag es nicht, von Familie, Verwandten und Bekannten in die Schublade der „perfekten Studentin“ gepackt zu werden, so wie ihre Geschwister.
„Achso, jaja“, Alfred tut so, als würde er wissen, wovon sie spricht. Müde schlägt er seine Zeitung zu und betrachtet die Titelseite. Ist das Blatt von heute oder von gestern? Er ist sich nicht sicher. Ein weiteres Mal öffnet er es und beginnt zu lesen. Marie kann es kaum fassen.

Sie widmet sich wieder ihrem Romanversuch. Erst hätte es nur eine Kurzgeschichte werden sollen, drei, vielleicht vier Seiten, ist aber mittlerweile auf das Dreißigfache herangewachsen. Jeden Tag zwei. Mehr nicht. Thomas Glavinic macht das auch so, wenn er ein Buch schreibt. Nicht zu viel, sonst verliert man die Lust. Jetzt hat Marie den Faden verloren. Das Gespräch mit Alfred und die Gedanken an Thomas Glavinic haben sie aus dem Konzept gebracht. Sie liest den letzten Absatz. Gar nicht so schlecht. Aber wie geht es weiter? Sie atmet tief ein, hält kurz die Luft an und stößt sie wieder heraus. Ein Espresso. Das wird helfen.

„Magst du auch einen Kaffee?“, fragt sie, als sie vor der Nespresso-Maschine steht, die sie ihrem Vater vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hat.
„Aber ja“, gleichgültig blättert Alfred weiter. Sieht sich vermutlich das arme Mädchen auf Seite sechs an, kommt es Marie in den Sinn. Johannistrieb nennt man das. Also das Bedürfnis älterer Männer oder Frauen nach sexuellen Beziehungen oder besser gesagt, das bloße Reden davon. So hat ihr das zumindest ihr Vater erklärt. Genauso ist es auch bei Alfred. Seit Jahren gibt es für ihn kein anderes Thema, alles erinnert ihn an das Eine. Sogar Marie und ihre ältere Schwester. Sätze wie „Wenn ich dich seh, könnt‘ mir was einfallen“, sind noch von der harmlosen Variante. Natürlich meint er nicht wirklich, was er sagt, oder vielleicht schon, aber er weiß eben nicht mehr so genau, was er von sich gibt und wie schmal der Grat zwischen Humor und Perversion in diesem Fall ist.

Marie serviert den Kaffee. Für Alfred mit Milch und Süßstoff, für sich selbst kurz und schwarz. Sie widmet sich wieder dem unvollendeten Satz. Immer noch weiß sie nicht, wie es weitergehen soll. Ohne aufzusehen nimmt sie einen Schluck von ihrem Espresso. Sie verzieht das Gesicht. Zu bitter. Wie sie es am liebsten hat.

„Hast einen Freund?“, fragt Alfred, wie aus dem Nichts.
„Bitte?“ Sie hat ihn schon verstanden, ihr ist aber nicht klar, warum er das schon wieder wissen möchte. Erst gestern hat er sie nach ihrem Liebesleben gefragt.
„Na, einen Mann? Einen Liebhaber?“, er spezifiziert seine Formulierung, falls Marie ihn wirklich nicht verstanden hat, „Oder hast du keine Zeit für sowas?“
„Nein, Opa, ich hab keinen“, genervt hämmert sie auf ihre Tastatur ein, ohne wirklich Worte zu produzieren, nur um Alfreds Fragerei aus dem Weg zu gehen. Leider versteht er einen solchen Wink nicht und spricht ungeniert weiter: „Du musst dir schon Zeit nehmen für die Liebe, sonst verkommst!“
„Das seh ich nicht so.“

Alfred zuckt mit den Schultern, nimmt einen letzten Schluck von seinem großen Braunen, steht auf und geht ins Wohnzimmer, wahrscheinlich um ein bisschen fernzusehen. Marie ist erleichtert. Trotzdem muss sie ihm schnell folgen, denn Alfred kann den Fernseher nicht alleine einschalten, das heißt, er würde sich in seinen Sessel setzen, die Beine hochlegen und in den ausgeschalteten Apparat starren, auch ein paar Stunden, wenn es sein muss. Als Marie das zum ersten Mal sah, fand sie das unglaublich traurig. Als sie ihn fragte, warum er denn nicht Bescheid gebe, es wäre schließlich kein Problem für sie, den Fernseher anzumachen, meinte er bloß: „Ach, ich wollte dich nicht belästigen.“ Der Gedanke, dass dieser alte Mann einfach ins Leere blickt, nur um sie nicht zu stören, zerriss ihr beinahe das Herz. Marie nimmt dieses kleine Ereignis als den Beweis für die Gutmütigkeit ihres Großvaters. Es hilft ihr ein bisschen, über die zahlreichen Ärgernisse hinwegzusehen, mit denen sie tagtäglich konfrontiert wird. Er tut sein Bestes, dafür sollte man ihn nicht bestrafen.

Ohne ein Wort tut sie ihm den Gefallen, schaltet den Fernseher ein und stellt sogar Alfreds Lieblingssender ein: ORF 2. Alfred nickt ihr dankend zu. Nachdem Marie wieder im Esszimmer verschwunden ist, schließt er die Augen. Eine Weile hört er noch, wie Wolfram Pirchner irgendeinen Sportler interviewt – Alfred kennt ihn nicht – bevor er endgültig in einen tiefen Schlaf versinkt. Die meiste Zeit, die er vor dem Fernseher zubringt, schläft er. Sein einziges Interesse gilt den Nachrichten oder alten Filmen, die allerdings nur an Sonntagen und Feiertagen laufen. Er würde Marie gerne sagen, dass er nur ins Wohnzimmer geht, um ein kleines Nickerchen einzulegen, also eigentlich seine Ruhe haben möchte, aber er befürchtet, sie könnte es falsch verstehen und wütend oder gar traurig werden. Sie will ihm doch nur helfen. Alfred weiß das zu schätzen, daher wird er wohl weiterhin den Lärm ertragen.

Marie steht im Esszimmer und sieht aus dem Fenster. Sie denkt an ihren Exfreund. Warum hatten sie sich nochmal getrennt? Es wurde ihm zu ernst. Nach sechs Monaten hat er sie verlassen. Einfach so. Sie wollten Freunde bleiben, aber es funktionierte nicht lange. Seit fünf Wochen haben sie sich nicht mehr gesehen, voneinander gehört oder gelesen. Am Anfang war es für Marie schwer, ihm nicht zu schreiben oder ihn anzurufen. Aber mit jedem Tag wurde es leichter. Heute würde sie sich gerne bei ihm melden, nur um zu fragen, wie es ihm denn geht, was er so tut, warum er nichts von sich hören lässt. Letzteres möchte sie nicht wissen. Vielleicht hat er eine andere. Das wäre unerträglich für sie. Was ist, wenn er eine Neue hat? „Please don’t be in love with someone else“, eine Zeile aus einem Song, allerdings weiß sie nicht aus welchem. Große Worte, die sie selbst gerne gesagt hätte, aber es eben nicht getan hat. Bevor die Gedanken zu tief gehen, wankt Marie in die Küche und macht sich noch einen Espresso. Sie versucht, nicht zu weinen, es gelingt nicht ganz, ein paar Tränen laufen doch herab. Um sich wieder zu beruhigen, setzt sie sich zurück an den Tisch und macht da weiter, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hat. Die Tasse Kaffee stellt sie neben die, die sie vorhin schon gemacht hat.

Während die beiden ihren Nachmittagsbeschäftigungen nachgehen, wird das Schneetreiben immer heftiger. Irgendwo, weit hinten im Garten, rollt sich der Husky der Familie auf dem zugefrorenen Teich zusammen und lässt sich von den größer werdenden Flocken einschneien. Die Schnauze tief im buschigen Schweif vergraben, genießt die zehn Jahre alte Hündin die Kälte. Langsam erscheint auch der Mond am Himmel. Erst nur schemenhaft, man kann ihn nur erahnen, aber mit jeder verstreichenden Minute wird er deutlicher. Es ist Vollmond. Innerhalb von fünfundzwanzig Minuten ist es stockdunkel geworden. Auf dem Teich sieht man nur noch eine beinah ebene Fläche, mit einer kleinen Erhebung in der Mitte. Plötzlich bewegt sich das weiße Etwas, steht auf, streckt sich ausgiebig, schüttelt den Schnee ab und läuft schnellen Schrittes zum Haus. Zurück bleibt nur ein aufgewühlter Haufen gefrorenes Wasser. Auch dieser wird bald verschwunden sein.

Marie hat das Schreiben für heute aufgegeben. Auf Youtube hat sie eine ziemlich gute Aufnahme von Johnny Cash Live at Folsom Prison gefunden. Sie wollte sich schon längst die Platte kaufen, allerdings hat sie noch keinen Plattenspieler, beides muss warten, bis sie wieder mehr Geld auf dem Konto hat. Nummer vierzehn dieses Auftritts von Cash ist ein Duett mit June Carter: „Jackson“. Zu dieser Zeit waren sie noch gar nicht verheiratet. Marie schmunzelt. Sie findet die Geschichte von Johnny und June sehr romantisch. Sie gemeinsam singen zu hören, macht die junge Frau immer wieder glücklich. Ihr Exfreund hat nie verstanden, warum sie die Liebesgeschichte zweier Menschen, die sie nicht kennt und die mittlerweile seit über zehn Jahren tot sind, so fasziniert. Es gibt eben nicht für alles eine Erklärung, war Maries Standpunkt. Sie hätte wahrscheinlich selbst gern eine solche Geschichte. So einen Mann. So ein Leben.

Im Zimmer nebenan schläft Alfred immer noch. Sein Kinn ruht auf seiner Brust, auf seinem Schoß hat es sich eine der Hauskatzen gemütlich gemacht. Er träumt von seiner Frau. Es gibt keinen Traum ohne sie. Diesmal sitzen sie gemeinsam in ihrem alten Haus im Wohnzimmer und sehen fern. Sie löst nebenbei ein Kreuzworträtsel, er beobachtet sie dabei. Er spricht mit ihr, aber sie ignoriert ihn, versucht sich weiter an dem Rätsel. Alfred steht auf und schreit sie an. Keine Reaktion. Nach einer Weile blickt sie auf, sieht ihm direkt in die Augen. Alfred dreht sich um und geht aus dem Zimmer in den Garten. Einen Moment bleibt er in der Sonne, es ist warm. Ein Knall. Alfred wacht auf. Im Fernsehen läuft ein Bericht über eine Jagd. Der rote Kater auf ihm zwinkert ihm zu, auch er ist durch den Schuss erschrocken. Alfred streicht ihm über den Kopf. Müde rollt sich das Tier wieder zusammen. Durch das Fenster sieht der alte Mann die Schneemassen. Jemand sollte die Terrasse freiräumen, fällt ihm ein. Vielleicht kann er das morgen machen. Oder Marie. Von hinten kommt gerade der Husky gelaufen. Alfred fragt sich, was der Hund wohl alleine am anderen Ende des Gartens getan hat. Während er darüber nachdenkt, fallen ihm langsam die Augen zu.

Marie hört immer noch Musik. Im Moment ist es „Knocked Up“ von Kings of Leon, eines ihrer Lieblingslieder. Es war sogar im Repertoire ihrer Band, die sich vor fünf Jahren aufgelöst hat. Was der Rest der Gruppe jetzt macht? Schon vor einer Weile hat sie den Kontakt zu ihnen verloren. Zwei von ihnen haben eine neue Band, aber ob es die noch gibt? Ein Blick auf die Uhr verrät Marie, dass es schon längst Zeit für das Abendessen ist. Ihr Großvater ist bestimmt schon hungrig. Schnell geht sie in die Küche und macht ihm einen Schinken-Käse-Toast. Für sich selbst schneidet sie ein bisschen Obst in das Naturjoghurt, das sie im Kühlschrank gefunden hat.

Wieder sitzen sich der alte Mann und die junge Frau gegenüber. Schweigend essen sie, was Marie zubereitet hat. „Schmeckt‘s dir?“, fragt sie, als Alfred fast fertig ist. Er nickt. Ohne aufzublicken isst er weiter. Zwischendurch nimmt er einen Schluck von seinem weißen Spritzer. Marie schmunzelt, seine Tischmanieren sind wirklich mehr als dürftig. In ein paar Tagen ist es endlich vorbei. Sie sieht aus dem Fenster. Es dauert einen Moment, bis sie merkt, dass es aufgehört hat zu schneien.

Anna Bartl

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16018

Eine Handvoll Schach

Schön, dich hier zu haben, Alessandro, mein Freund, auf einem deiner äußerst seltenen Besuche in Wien, weiß ich doch, dass dir diese Stadt nicht behagt, und dies nicht allein wegen der dir fremden Sprache.

Aber warum Alessandro meine Auszeit auf der Toilette dazu genutzt hatte, ein Schachbrett auf dem Kaffeehaustisch zwischen uns aufzubauen, und jetzt mit aller Sorgfalt die Figuren in Reih und Glied aufstellte, entzog sich meinem Verständnis, denn als ernstzunehmende Spieler waren wir beide nicht zu gebrauchen, miserabel unser Zugang zu diesem Spiel. Einerseits Alessandro, bekannt dafür, in seiner ihm eigenen Hitzigkeit verführerisch erfolglose Angriffe zu führen, dem kein Opfer auch angesichts von Hoffnungslosigkeit zu schade war, andererseits ich, Nachlässigkeit mein zweiter Name, mit der mir meine Schlüsselfiguren meist verlustig gingen, geopfert für einen vermeintlich größeren Überblick über das Spiel. Und so opferten wir uns für gewöhnlich vor uns hin, bis zum unvermeidlich unbefriedigenden Remis, in dem sich zwei einsame Bauern aufeinander zu über die Linien quälten, bis zum Aufprall ohne Ausweg. Spätestens dann würde einer von uns mit dem Gefühl geteilter Langeweile das Schachbrett zuklappen, und der andere darüber froh sein; meist war Alessandro schneller zur Hand, denn so endete es doch immer.

So hat es bisher immer geendet, Alessandro, und so wird es wohl auch immer enden, denn ein Remis gegen dich ist nichts anderes als ein Sieg, und dessen bin ich mir sicher, nicht viel anders ergeht es dir mit mir.

„Diese Bauern habe ich nie verstanden“, begann Alessandro in seinem sonoren Italienisch, angesichts der schwarz aufgefädelten, zweiten Figurenreihe der Gleichförmigkeit vor ihm, „in ihrer Aufopferungsbereitschaft und als höchstes Glück vor Augen, sich vielleicht doch bis zur hintersten gegnerischen Linie durchschummeln zu können, naiv wie Aschenputtel sind sie, in der Hoffnung, in den obersten Adelsstand erhoben zu werden.“

„Sogar geschlechterübergreifend, als Königinnen“, ergänzte ich mit einem Schmunzeln, aber er war schon mit ganz anderen, viel weitreichenderen Gedankengängen beschäftigt, denn er hatte das Brett gewendet, sodass seine Bauern gegen die eigenen Reihen standen.

„Acht gegen acht, da müsste doch etwas zu machen sein, ein überraschender Angriff, mit dem sie sich auf das abgehalfterte, altersschwache Adelsgeschlecht in ihrem Rücken stürzen. Geben sich ja sonst auch so bauernschlau, diese Bauern, denk nur an ihr fieses en passant.“

Die linke Faust hob ich zur Bestätigung – Revolution! –, mit mir konnte Alessandro rechnen, mit wehender Fahne war ich bereit, neben ihm unterzugehen, dem Garibaldi des Schachspiels. Und gleichzeitig bereute ich meine stumme, unbedachte Zustimmung, denn nun kam er so richtig in Fahrt, während er das Brett in seine Ausgangslage drehte.

„Schau sie dir doch nur einmal an, diese Königin, nur ein Blendwerk ihre Machtfülle an Bewegungsmöglichkeiten. Nicht mehr als eine Zugehfrau ist sie, für einen greisen, demenzkranken König in Pantoffeln, der nur noch lahm von Feld zu Feld zu humpeln vermag.“

„Aber die Rochade –“, wagte ich einzuwerfen, aber sein höhnischer Blick brachte mich augenblicklich zum Schweigen.

„Ja, eine Rochade steht ihm zu, sein einzig großer Hüpfer, und schon ist ihm die Puste ausgegangen. Und was hat er davon? Nichts anderes, als sich auf seinen Turm zu stützen, eine Gehhilfe groß wie ein Fernseher, mit Schlagersendung im Programm. Denn mit einem Turm lässt sich keine angeregte Unterhaltung führen, diesem tumbtreuen Vasallen, dieser engstirnigen und einspurigen Kampfmaschine, die nicht anderes im Sinn hat, als Bauernopferreihen zu sprengen.“

Höchste Zeit, Alessandro, deinem Redefluss Einhalt zu gebieten, der wieder einmal zu einer Tirade auszuarten droht, jetzt bin ich an der Reihe, meinen Beitrag zu diesem Diskurs zu leisten.

„Ich wiederum kann diese Läufer nicht leiden. Die sehen in Diagonalen, lugen um die Ecken, wie Spitzel, die Geheimpolizei unter den Schachfiguren, die einen die eigene Unaufmerksamkeit abstrafen. ‚Kommen S’ mit!‘, und schon haben sie einen in einer dunklen Straßenecke am Arm gepackt und vom Spielfeld abgeführt.“

Ob ihn meine Ausführung zum Schmunzeln gebracht hatte, wusste ich nicht zu sagen, vielleicht war der Grund dafür auch nur, dass die letzte verbliebene Gruppe von Spielfiguren eine mildere Beurteilung von ihm erfuhr. Einen der Springer nahm er vom Feld, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen, und geradezu poetisch seine Betrachtung dazu:

„Einzig die Rössel bestechen durch ihre Unberechenbarkeit, wenn sie so über Bauernhecken springen, abschließend einen Schwenker einmal nach rechts, einmal nach links, als könnten sie es sich nach Gutdünken aussuchen, welches Bein ihnen gerade lahmt. Lustig, diese Gesellen, immer den Schalk im Nacken, Hofgaukler in dieser ansonsten so steifen Gesellschaft, fällt ihnen doch immer wieder etwas Neues ein.“

Nahezu versöhnlich nun sein Gesichtsausdruck, und diese Versöhnlichkeit nutzte ich, um all die Möglichkeiten meines ersten Zugs abzuwägen, und besonders perfide kam er mir vor, mein Zug aller Züge: e2 – e4.

„Und, Alessandro, wie gedenkst du dieses Mal meine immer gleiche Eröffnung zu parieren, vielleicht mit einer ungewöhnlichen Goldberg-Variation?“

Mitleidig, sein Lächeln, mit dem er meinen intellektuellen Kalauer bedachte, und als er seinen Blick wieder dem Schachspiel zuwandte, war selbst dieses verschwunden.

„Ich habe die Schnauze voll“, räumte Alessandro mit einem Wisch all die Figuren vom Brett und griff nach der erstbesten Zeitung, die auf dem Nebentisch lag, einem intellektuellen Wiener Wochenblatt ohne viele Bilder.

„Remis?“, fragte ich ihn über den Zeitungsrand hinweg.

„Remis, wie gehabt“, bestätigte er ohne aufzusehen, ganz in einen Artikel versunken, vom dem er kein einziges Wort verstand.

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16012

 

Der Trick

„Sie haben die drei also auch schon gesehen? Sie haben es gehört und sich gefragt —? Sie finden das auch — ? Ja, ganz klar, aber Sie dürfen das nicht falsch verstehen. Wollen Sie wissen, wie es dazu kam?“

Trifft eine Frau im durchschnittlichen Alter von durchschnittlichem Aussehen, aber sehr faschionabel, in einer trendigen Hundeschule einen überdurchschnittlichen Mann. Sich lässig an ihn anbiedernd fragt sie mit unschuldigem Augenaufschlag: „Wie heißt denn der?“ –„Windhundischa“, antwortet der Mann kurz angebunden und wendet sich wieder ab, weil er faschionable Frauen auf den Tod nicht ausstehen kann. Kreischt diese aber vergnügt „Maaaa, ist der süüüüüüß!!!!“, und beugt sich runter zum windhundischen Welpen. Der Windhundische knurrt und versteckt sich zwischen den Beinen seines Gastwirts. Schrill lacht die Frau auf und will ein Gespräch mit dem Mann beginnen. Der Mann kratzt sich am Kopf, murmelt etwas Unverständliches, sagt dann scharf: „Kumm, Windhundischa!“, und schreitet raschen Schrittes von dannen. Verliebt blickt die Frau ihnen nach.

Vorwurfsvoll blickt sie zuhause beim Fingernägellackieren ihren österreichischen Pinscher an. Er rammelt gerade die Yucca-Palme. Als er noch ganz klein war, da war er so ein Schätzchen, und jetzt macht er der Frau nur Schande. In der Hundeschule weiß man keine Lösung, man rät ihr nicht ab von einer chemischen Kastration. Letztes Mal hat der österreichische Pinscher versucht, den Windhundischen zu besteigen. Der überdurchschnittliche Mann hat ihn unwirsch weggestoßen. Näherkommen wird sie ihm so gewiss nie! Was wäre aber, wenn…?

Telefoniert sie am nächsten Tag mit ihrer stylischen Freundin, die ein Fotostudio hat. Die züchtet Hunde, weil angesagte Fotomodelle. Die Situation wird geschildert, die Freundin fragt nach körperlichen Merkmalen des Windhundischen und verspricht einen Rückruf. Die Frau sitzt auf glühenden Kohlen. Abends erhält sie ein SMS mit einem Hundebabyfoto und der Aufforderung, sich unverzüglich in der American-Star-Bar einzufinden.

Warten dort drei hysterisch lachende Freundinnen, in deren Mitte ein verängstigter Welpe in einer Gucci-Handtasche. „Maaa, ist der süüüüüß!“, kreischt die Frau. „Dein neuer Windhundischa“, frohlockt die Fotografenfreundin. Fröhlich stoßen alle mit einem Glas Prosecco an und strecken ihre solariumgebräunten Beine durch, dann bringt die Frau ihre neue Eroberung nach Hause. Der österreichische Pinscher freut sich sehr über sein neues Spielzeug und springt begeistert auf. Die Kinder der Frau freuen sich sehr über ihr neues Spielzeug und grabschen mit vielen Händen und lauten Tönen nach dem verwirrten kleinen Hund. Sie wollen ihn Interkontinentaler Zwergspaniel nennen, aber die Frau sagt streng: „Der heißt Windhundischa, aus, basta!“

Achtet sie beim nächsten Hundespaziergang darauf, schon vor dem überdurchschnittlichen Mann da zu sein, sich aber dezent hinter den anderen Strebern zu verstecken. Gedankenverloren schnüffelt ihr Windhundischa im Eingangsbereich herum, sehr gelegen kommt ihr das. Ihr Windhundischa genießt die Zeit für sich allein, denn von all den potentiellen Rammelböcken ist der österreichische Pinscher abgelenkt. Der kleine Windhundische hat das Kunststück entwickelt, sich beinahe unsichtbar zu machen. Erleichtert wird ihm dies durch sein rasseuntypisches Aussehen und diverse Schönheitsfehler: Übersät von Pigmentflecken ist sein Körper, die scheinen durch das dürftige weiße Fell durch wie Schimmelflecken durch eine frisch geweißte Wand. Dergestalt ist sein Körperbau, dass er wie eine Hundewurst oder ein Wursthund wirkt, zusammengeknotet hinten am Schwanz. Merkt das die faschionable Frau nicht und der Hund zum Glück auch nicht.

Im letzten Moment kommt der Mann. Wie immer ist er ausschließlich auf seinen Windhundischen konzentriert, sodass er den Windhundischen der Frau nicht sieht. Endlich, am Acker, dreht er sich stirnrunzelnd um, weil die ungehobelten Söhne der faschionablen Frau nicht aufhören, „Windhundischa!“ zu brüllen. Die Frau, die für diesen Anlass violetten Lidschatten gewählt hat, schlendert schnellstens auf ihn zu, überdreht die violetten Augen und: „Kinder…!!! Sie wollten ihn unbedingt Windhundischa nennen, weil sie so auf deinen Hund stehen… Jetzt musste ich ihnen allen Ernstes auch einen Windhundischen kaufen“, prustet sie. Der Mann späht umher, blickt sie fragend an. „Loben, loben, loben“, dröhnt die Stimme der Hundetrainerin über das Feld. Es gilt, die Hunde an ihre Besitzer zu gewöhnen und sie zu loben und mit Leckerlis zu belohnen, wenn sie diese aufsuchen. Vergessen hat das die faschionable Frau längst, denn ohnehin hat sie über den österreichischen Pinscher keine Kontrolle. Und in höchster Perfektion beherrscht ihr Windhundischa ihr gegenüber die Kunst der Unsichtbarkeit. Will er etwas von ihr, winselt er penetrant, bis sie ihn wahrnimmt, doch hütet er sich davor beim Spaziergang. Bloß nicht auffallen, lautet die Devise, liegen genügend Leckerlis herum von den übereifrigen Hundebesitzern und ihren überfressenen Kötern.

Jetzt tut es der Frau natürlich leid, dass sie keine Ahnung hat, wo ihr Windhundischa ist. Vor allem bekümmert es sie auch, dass des Mannes Hund immun gegenüber den immer verzweifelter tönenden Rufen ihrer Kinder ist. Sicher hat sie sich das nicht so vorgestellt! Schnell schnorrt sie von dem Mann eine Zigarette, um im Gespräch zu bleiben, und stellt verdutzt fest, wie er sie missbilligend ansieht, anstatt dankbar dafür zu sein, ihr eine Zigarette anbieten zu dürfen. Gibt er ihr nicht einmal ein Feuer, sondern wendet sich blitzschnell um zur Hundetrainerin, um mit ihr ein Gespräch über die Verdauung seines Hundes zu beginnen. Die Hundetrainerin sieht die Frau nun ebenfalls missbilligend an und ruft über das Feld (aber eigentlich der Frau direkt ins Ohr): „Loben, loben, loben!“

Danach tut die Frau es sich noch einige Male an, die Hundegruppe zu besuchen, jedoch stets ohne nennenswerte Fortschritte zu machen. Dann ziehen Herbst und Winter ins Land. Beschlossen hat sie mit ihrer Freundin, dass es ihr Stolz ihr gebietet, den überdurchschnittlichen Mann fortan geringzuschätzen. Ihr fällt das gar nicht sonderlich schwer, weil sie sich nie lang für eine Sache interessiert und sich bereits einen pflegeleichten Bodybuilder zulegen konnte. Doch steht sie jetzt vor dem Problem, dass ihr der Windhundische lästig wird. In der Zwischenzeit haben sie feinfühlige Bekannte auch auf die ästhetischen Defizite des Hundes aufmerksam gemacht. Außerdem terrorisiert das Tier sie mit seinem ewigen Gewinsle. Am schlimmsten ist, dass niemand bereit ist, ihre beiden Hunde in Obhut zu nehmen, wenn es sie an trendigere Locations zieht, Stichwort Skiurlaub. Mit dem österreichischen Pinscher allein war das nie ein Problem, aber zwei Hunde, nein Herzchen, das musst du schon verstehen, das übersteigt unsere Kapazitäten.

Im März hört der Mann das verhaltene Getuschel in der Hundegruppe. Die Faschionable, die Unwürdige, will ihren kleinen Hund loswerden. Mehrmals schon hat sie ihn in der Hundeschule, die auch eine Hundepension ist, abgegeben und augenscheinlich auf ein Angebot gewartet, nachdem sie ihrer Verzweiflung über die Situation Luft gemacht hat. Natürlich hatte sie der Hundetrainerin immer beigepflichtet, wenn diese über die Grausmenschen schimpfte, die einfach ihre ungeliebt gewordenen Vierbeiner bei ihr vor dem Tor platzierten, aber für sich selbst hätte sich die Frau schon etwas mehr Verständnis erhofft – vergebens. Auch ihre Inserate im Internet bleiben ungehört. Der kleine Partylöwenbruder ihres Bodybuilder-Freundes bringt sich ein und bietet an, den kleinen Hund für zwei Wochen zu sich zu nehmen, bis er zum Bundesheer muss. Dann werde sich schon was finden.

Das alles hört der überdurchschnittliche Mann, und Entrüstung macht sich breit in ihm. Er hat natürlich mitbekommen, dass sich die Frau den Hund nur angeschafft hat, um sich an ihn ranzumachen, und der Hund tut ihm leid. Und so bietet er sich – den Warnungen der Trainerin zum Trotz: Bist wahnsinnig, zwei Windhundische – an, den Hund in sein Rudel aufzunehmen. Es ist der letzte Triumph der faschionablen Frau, dass sie es so einmal in die Wohnung des Mannes schafft, um den kleinen Windhundischen abzugeben. Kopfschüttelnd wirft der Mann, nachdem sie weg ist, das Luxushundefutter weg und ruft: „Windhundische!“ Die Windhundischen kommen angerannt und fressen fröhlich ihr Futter namens HappyDog.

Wenn Hunde miteinander kommunizieren, nennen sie einander selbstverständlich nicht bei ihren Menschennamen. Sie reagieren einfach auf die Signale des anderen, die nicht notwendigerweise akustisch kommuniziert werden. So würde ein Hund niemals „Windhundischa“ rufen oder zischen, um die Aufmerksamkeit des anderen zu erregen, er würde stattdessen sein Signal verstärken. Namen brauchen nur die Menschen, um über Dritte, Vierte, Fünfte oder Sechste sprechen zu können. Wir nennen die beiden Hunde ab sofort Hund 1 (schon länger da) und Hund 2 (neu dazugekommen).

Hund 1 beäugt argwöhnisch, wie Hund 2 frisst. Ist das nicht ein bisschen zu viel der Gastfreundschaft? Er schiebt ihm eine Ladung leichte Aggression rüber. Hund 2 stellt sich vor, dass er unsichtbar ist und frisst seelenruhig und behaglich weiter. Hund 1 findet Hund 2 okay, weil er ihn irgendwie an einen seiner kleinen Brüder erinnert, aber anders als bei seinem Bruder will er, Hund 1, in dieser Beziehung die Nase vorn haben, und um die Kontrolle über diesen Hund zu erlangen, das spürt er schon, Hund 1, wird er sich verausgaben müssen, was ihn aber nicht weiter stört.

Nach dem Mittagessen will der Mann ausprobieren, wie es ist, mit zwei Hunden spazieren zu gehen. Für Hund 1 waren Spaziergänge von Anfang an Workshops, bei denen er mit seinem Gastwirt aushandelte, wie sehr und inwiefern sie einander entgegenkommen könnten. Hund 1 ist immer voller Konzentration, kennt jede Unkonzentriertheit des Mannes und weiß sie meist klug zu nützen. Ganz anders Hund 2: Er ist es gewohnt, ziemlich unbeachtet seiner Wege zu gehen, nur zuweilen unvermittelt hochgehoben zu werden. Die Leine kannte er bislang nur für die Strecke vom Haus zum Auto, wo er den Sohn begeistert hinter sich herzog. Der Mann merkt also, der neue Hund kann noch nicht gut Leinegehen und findet die gewohnte Route anstrengend und nervenaufreibend.

Am Flussufer gibt es eine große Wiese, auf der eine Roma-Familie grillt, ein Bosnier fischt, zwei arbeitslose Mittdreißigerinnen sich sonnen. Arglos lässt der Mann die Hunde von der Leine. Die flitzen sofort los, auf die Grillstation zu, die Roma-Familie lächelt. Während Hund 1 dezent seine Nase in die Luft reckt, ohne der Familie dabei zu nahe zu kommen, springt Hund 2 voll Seligkeit auf die Parkbank, wo die Mutter und eine andere Verwandte sitzen, springt der Mutter direkt in den Schoß und leckt ihr eifrig das Gesicht, wobei sein ganzes Hinterteil vor Aufregung wackelt wie ein Aal. Die Roma-Familie ist sichtlich irritiert, macht aber gute Miene zum bösen Spiel. Der überdurchschnittliche Mann, der nichts auf der Welt mehr hasst, als andere Menschen durch sozial falsches Verhalten zu verärgern (es sei denn, er wendet es absichtlich an, um andere für ihr Fehlverhalten zu strafen), ruft wutentbrannt: „Windhundischa!!!!“

Hund 1 hebt die Ohren, bekommt einen sorgenvollen Blick und hastet sofort auf seinen Gastwirt zu, bereit, ein Lob für seine schnelle Reaktion einzuheimsen. Doch was muss er erleben? Der Mann nimmt sein Kommen gar nicht wahr, sondern hat den Blick in die Richtung des anderen Hundes gerichtet und ruft wieder: „Windhundischa!!!“ Hund 1 springt nun am Mann hoch, um ihm zu zeigen, dass er längst da ist, doch da zischt der Mann: „Nicht du!“ und marschiert eiligen Schrittes auf Hund 2 zu, der die Kühltasche der Familie inspiziert. Hund 1 folgt dem Mann mit großer Bedrückung.

Als Hund 2 die beiden wahrnimmt, streckt er sein Hinterteil in die Höhe und signalisiert dem anderen Hund, dass er Fangenspielen möchte. Warum nicht, denkt Hund 1, und schon rasen die zwei quer über die Wiese, über die Badehandtücher der zwei arbeitslosen Freundinnen und runter zum bosnischen Fischer ans Wasser, stürzen sich in den Fluss – Hund 1 ist fasziniert, dies ist der erste Hund, der schneller rennt als er – und auf die im Wasser vorbeischwimmende Entenfamilie zu. Die Arbeitslosen sind entrüstet, der Bosnier ist nassgespritzt, die Fische sind verscheucht, der überdurchschnittliche Mann ist fassungslos, zumal er jetzt auch noch seine Feindin, die bissige Frau wahrnimmt, die mit ihren Brotkrümeln am Weg zur Entenfütterung sich an die Stirn fasst und „Oh Maria!“ stöhnt. „Hunde frei laufen zu lassen ist verboten“, schreit sie. „Enten füttern auch“, schreit der Mann mit hochrotem Kopf zurück. Die Roma-Familie schüttelt die Köpfe.

Der Mann erreicht das Flussufer, doch da sind die Hunde schon wieder draußen und laufen weiter auf die nächste Wiese, denn dort promenieren andere, größere Entenvögel von schwarzer und roter Farbe. „WINDHUNDISCHA!!! WINDHUNDISCHA!!!“, brüllt der Mann atemlos. Ein paar Sekunden lang genießt Hund 1 noch die Szenerie, dann bewegt er sich gesenkten Hauptes langsam auf den Mann zu. Dieser empfängt ihn ungehalten und bedeutet ihm, sich nicht mehr von ihm wegzubewegen. Und als er dann damit fortfährt, „WINDHUNDISCHA!!!“ zu brüllen, schmerzt jedes Rufen Hund 1 wie ein Schlag. Er ist doch hier! Er hat doch alles richtig gemacht! Jedes Mal zuckt er zusammen und will an seinem Gastwirt hochspringen, winselt, umkreist ihn. Hund 2 hat sich seelenruhig wieder ins Wasser begeben, das ist die Chance für den Mann, er erwartet ihn am Ufer und leint ihn bewusst aggressiv an.

Mit den beiden an der Leine braucht er ca. einen halben Kilometer, um sich wieder zu beruhigen. Ihm wird klar, dass es schlichtweg nicht funktioniert, zwei Hunde zu haben, die beide Windhundischa heißen. Er beschließt daher nach kurzem In-Sich-Gehen, Hund 2 ab sofort Cairn Terrier zu nennen. Doch leider hat der Wirt die Rechnung ohne den Hund gemacht! Hund 2 ist todunglücklich darüber, Cairn Terrier gerufen zu werden. Slowakischer Rauhbart, Alpenländische Dachsbracke, Chinesischer Schopfhund,…. alles wäre seinen sensiblen Ohren lieber gewesen als dieser nichtssagende, geschmacklose Name. Und, wie alle Hunde früher oder später, beißt er sich die Zähne an der Begriffsstutzigkeit des Menschen aus. Er hört schnell damit auf, auf Windhundischa zu reagieren, weil ihn die Reaktion des Mannes zu sehr kränkt, wenn er bei zärtlicher Nennung des Namens auf diesen zuschwänzelt und harsch zur Seite gestoßen wird, während Hund 1 Liebe und Leckerlis erntet. Er zeigt sich aber den Erklärungsversuchen des Mannes gegenüber auch nicht verständig, wenn dieser gleich darauf ein Leckerli in seine Richtung schwenkt und aufmunternd „Cairn Terrier“ sülzt. Hund 2 sieht ein, dass es in dieser Situation keinen Sinn macht, sich unsichtbar zu machen, und stellt sich stattdessen taub.

Da Hund 1 bemerkt, wie der andere immer depressiver wird, erklärt er sich trotz seiner Eifersuchtsgefühle bereit dazu, Namen zu tauschen. Das Problem ist jedoch, dass Hund 1 seinen Gehorsam nicht ablegen kann, und so sehr er sich auch bemüht, auf „Windhundischa“ nicht zu reagieren, so schafft er es doch nie, gleichgültig zu verharren. Daher muss der Namenstausch dem Mann unerkannt bleiben.

Der Ratlose versucht folglich alles, was er kann: Er bettelt, schmeichelt, lockt, droht, ignoriert, bestraft, belohnt und ruft letztendlich den Hundetrainer für harte Fälle. Er klagt sein Leid: Der Hund hört nicht, der Hund macht nicht, was ich sage, der Hund legt sich auf den Rücken, wenn ich will, dass er am Bauch liegt, der Hund hat dieses nervenaufreibende Gejaule, wenn er was will. Schuld an allem ist die Frau, bestätigt ihm der Hundetrainer tröstend und nennt ihm seinen kostspieligen Spezialistenrat. Es sei notwendig, dass der Mann eine Bindung aufbaue, sich individuell auf das Tier einlasse. Ein Ritual brauche es, am besten dreimal pro Tag zu fixen Uhrzeiten raus und dann Training mit Zuckerbrot und Peitsche. Er empfiehlt ein paar Produkte und bittet um Barzahlung.

Genervt geht der Mann daran, die Tipps des Profis umzusetzen. Der arme, kleine Hund wird mit Aggression von allen Seiten überhäuft. Während der Trainingsgänge macht der Mann ihn fertig, und danach fällt Hund 1 über den übermüdeten Rivalen her, voll überschüssiger Energie, weil er kaum noch rauskommt. Sehr bald erträgt Hund 2 es nicht mehr und läuft dem Mann weg. Rein in den Kukuruz, und läuft und läuft und läuft, wohin ihn seine Nase trägt, frei, freier, bald fühlt er sich, als würde er fliegen…

Anruf der faschionablen Frau am nächsten Morgen: Der Hund, der sei ja noch per Chip auf sie angemeldet, wurde im Tierheim abgegeben. Allen Schwierigkeiten zum Trotz atmet der Mann erleichtert auf und macht sich mit seinem Windhundischen auf den Weg, um seinen Cairn Terrier nach Hause zu holen.

In der Zwischenzeit im Tierheim: Hund 2 ist außer sich vor Freude, so kluge und verständige Menschen getroffen zu haben. Niemand hier nennt ihn Cairn Terrier. Es riecht nach Nagetieren und Katzen. Allerdings hat er nicht die angenehmste Nacht hinter sich, so ganz allein auf dem harten Boden… Er langweilt sich ein bisschen und kommt nicht raus aus dieser kleinen Kammer, was eine Qual ist, wo es doch überall so höchst interessant riecht! Plötzlich spitzt er seine Ohren: Das sind eindeutig die Schritte von Hund 1! Und… ja, kein Zweifel – die Stimme des Mannes ist zu hören. Dem Hund war bis jetzt nicht klar, wie sehr er die beiden vermisst hat, er heult auf, dreht sich um sich selbst im Kreis und jagt seinen Schwanz. Als er sie endlich sieht, wie sie sich dem vergitterten Kämmerchen nähern, bellt er wild jauchzend auf, und als die Tür geöffnet wird, schleicht er mit gesenktem Kopf auf den Mann zu, sein Hinterteil windend wie einen zweiten Körper, und während er so auf ihn zugeht, bereit, sein Leben in seine Hände zu legen, pinkelt er vor Freude auf den Tierheimboden. Hund 1 checkt ihn kurz ab, alles klar, und wendet sich dann wieder den Nagetiergerüchen zu, die ihm fast den Verstand rauben. „Cairn Terrier!“, raunt der Mann gerührt. Da bleibt Hund 2 vor ihm stehen, ein Zucken geht durch seinen Körper, die Freude fällt in sich zusammen, nein bitte nicht!!! Entschlossen lässt er ein zorniges Knurren vernehmen. „Na na?“ Die Tierheimpflegerin schaut erschrocken. Sie hockt sich hin, „Cairn Terrier“, schnurrt sie beruhigend. Der Hund richtet seinerseits einen leeren und desillusionierten Blick auf sie. Auch du?!? Erneut knurrt er, diesmal lauter. Der Mann hat die Schnauze voll. Blödes Viech, soll er da bleiben. Er hat wirklich alles versucht, aber wenn der Hund ihn nicht leiden kann, er kann auch gut ohne ihn leben. Er denkt an die faschionable Frau, die dumme Kuh, die an allem schuld ist, daran, dass die Nachbarn sich auch schon beschwert haben, dass er jetzt zwei Hunde hat, und es reicht ihm einfach. Er möchte seinen Hund, mit dem das Leben eigentlich perfekt war, nehmen und nach Hause fahren. Basta. „Windhundischa!“, ruft er scharf, doch was passiert jetzt? Hund 2 legt sich vor ihm auf den Rücken, und als er einen Schritt zurückmacht, folgt der Hund, setzt sich auf seinen Schuh und schmiegt sich an ihn wie eine Katze. Hund 1 kommt hinzu und leckt Hund 2 zärtlich am Ohr. Also nimmt der Mann beide Hunde wieder mit.

Hund 2 ist erleichtert, will nun aber keinesfalls mehr nachgeben. Er will zu seinem Recht kommen! Daher behält er den Mann genau im Auge, und gleich beim ersten Mal, als dieser den Mund öffnet, um den verhassten Namen auszusprechen, stoppt ihn Hund 2 in der Mitte ab. „Cairn T-“, beginnt der Mann, und der Hund steht auf und beginnt, laut und kräftig zu bellen. „Naaaa!“, ruft der Mann verzweifelt, an die erbarmungslose Nachbarin denkend. Hund 2 bellt noch genau dreimal, dann legt er sich hin und sieht den Mann aus treuen, um Verständnis flehenden Hundeaugen an. Das Spiel wiederholt sich noch einige Male, „Cairn T-Naaaa!“, ruft der Mann, „W– Wau Wau Wau“, macht der Hund. Da beginnt es dem Mann zu dämmern, und er probiert verschiedene Befehle aus, wobei er den Hund nicht mehr Cairn Terrier nennt, sondern einfach nur Hund. Und das funktioniert, damit kann Hund 2 leben, er ist schließlich ein Hund. Die Sache mit dem Bellen beim „Cairn T-Naaaa“ gefällt dem Mann, es ist ein lustiges Kunststück, das auch Hund 1 begeistert und ohne Umschweife lernt. Alles ist endlich gut. Wenn der Mann jetzt mit den Hunden spazieren geht, lässt er bedenkenlos beide frei. Wenn er will, dass sie kommen, ruft er „Windhundische!“, und beide kommen angerannt. Und wenn die bissige Entenfütterin ihnen über den Weg läuft und ihm sagen will, dass es verboten ist, die Hunde frei laufen zu lassen, sieht er sie an, danach seine Hunde und sagt: „Cairn T-Naaaa“, und die Hunde sehen ihn an, danach die Frau, und dann bellen sie dreimal laut und bestimmt. Dann dreht sich die Frau um und murmelt „G’sind’l“, und die drei schauen ihr nach und grinsen.

Anita Millonig

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 15136