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Kein Typ fürs Grobe – Teil 2

Der Versuch, wenigstens einen Bruchteil von Vaters Welt verstehen zu wollen, bringt mich durch seine Erzählung der letzten Kriegstage etwas näher an ihn heran, und ich versetze mich in seine Lage, bin er, für Augenblicke.
6. Mai 1945. Amerikanische Truppen besetzen Linz und Steyr. In St. Pölten ist mir die Gestapo auf der Spur. Ich habe den Stempel „politisch unzuverlässig“ im Soldbuch stehen. Die Engländer und Amerikaner sind bereits in Kärnten. In Vorarlberg überschreiten französische Truppen die Grenzen. Ausgerechnet heute, an diesem gottverfluchten Tag, wo beinahe alles ausgestanden ist, heute finden und verhaften sie mich! Es sind ihrer drei. Der Fahrer bleibt sitzen. Deutsche. Die zwei anderen, ein Unteroffizier und ein Hauptmann, nehmen mich in ihre Mitte. Sie schieben mich in den feldgrauen Kübelwagen. Der Offizier sitzt links von mir. Er deutet dem Fahrer – Abfahrt. Auf der Reichsstraße Richtung Enns.
Sie sprechen nicht mit mir. Ich denke an meine Eltern. Ich werde sie nie mehr sehen, kann ihnen nicht schreiben, sie nicht anrufen. Ich bin doch Lehrer von Beruf! Nie wieder werde ich mit Kindern lachen. Die Fahrt verläuft ruhig und gleichmäßig. Ich kann keine Eile erkennen. Obwohl vom Feind längst umzingelt. Es ist dunkel geworden draußen. Der Chauffeur biegt links in ein Waldstück ein. Einen Feldweg entlang geht es noch ein paar hundert Meter. Der Offizier tippt dem Fahrer auf die Schulter.
Das Fahrzeug hält an. Meine beiden Wächter steigen aus. Lassen die Türen offen. Der Chauffeur steigt gleichfalls aus. Ich wage nicht, den Kopf zu drehen. Sie werden von draußen schießen, denke ich. Es macht mir nichts aus, weil meine Situation ausweglos ist. Irgendwann findet man sich mit allem ab, in diesem Scheißkrieg. Hoffentlich treffen sie beim ersten Mal. Es geschieht nichts. Banges Warten. Zehn Minuten. Eine Viertelstunde. Nach fünfundvierzig Minuten wage ich, auf meine Uhr zu sehen. Ich wende den Kopf erst nach rechts, erwarte den Schuss. Nichts rührt sich. Dann sehe ich nach links. Niemand ist zu sehen. Ich rücke unruhig auf meinem Sitz hin und her.
Schließlich nehme ich meinen letzten Mut zusammen, quäle mich durch die enge Türöffnung nach draußen. Sie werden mich niederschießen – im Stehen, durchfährt es mich. Immerhin bin ich Offiziersanwärter. Ich spüre schon den stechenden Schmerz in der Brust. Jetzt. Jetzt ist es aus! Gleich! Aber – es geschieht nichts. Niemand ist hier. Sie haben sich abgesetzt, die Schweine, über die Enns, vermutlich. Ich atme durch, seit – ich weiß nicht, wie lange zum ersten Mal. Ich knöpfe meinen Militärmantel zu und setzte mich in Richtung Westen in Bewegung. Es beginnt leicht zu regnen.

Mitternacht, Mai 1992, als Papa mit seiner Erzählung endet. Ich sitze mit ihm auf der Terrasse unseres Hauses. Ein Schüttelfrost hat ihn befallen, schon während des Erzählens. Ich hole eine Decke. Er winkt ab. Geht schlafen, sagt er leise und erhebt sich. Seine Erinnerungen haben ihn zu sehr aufgewühlt.
Was bin ich bloß für ein Mensch? Ich mache den Vaterschaftsentzug wieder rückgängig. Jetzt bin ich wieder sein Sohn. Die Ohrfeigen versuche ich ganz einfach zu vergessen. Für heute jedenfalls.

Von der neuen Welt noch immer keine Spur. Dafür bestehe ich mit Bravour einen Test in der Tageszeitung, der mir sowohl Interesselosigkeit als auch die totale Freudlosigkeit am täglichen Leben bestätigt. Nichts kann mir noch Genuss bereiten, heißt es da, während ich den Tränen nahe bin, die Stunden fristend, die endlos mich dünken. Matt und kraftlos, verliere mehr und mehr an Gewicht und kann mich auch auf nichts so recht konzentrieren. Mein Selbstwertgefühl ist am Boden. Die Nächte, in denen ich mich unruhig und beinahe schlaflos im Bett wälze, werden zusehends zur Qual.

Trotz meines Elends aber beschäftigt mich mein Vorhaben um die Familienchronik. Welchen Stellenwert würde der Herr Papa in dieser einnehmen, denke ich? Im Grunde waren wir alle heilfroh, wenn er nicht allzu oft präsent war. Andererseits repräsentierte er doch eine gewisse Sicherheit, was das Existenzielle anbelangte. Aber das Wesen einer Chronik – ist nicht zuletzt doch das Neue? Etwas, was bisher noch niemand wusste oder gar vermutete? Sie lebt von der Zusammenfassung des Neuentdeckten. Dies allein ist ausschlaggebend für das Wesen einer Chronik. Persönlichkeitsmerkmale der beteiligten Akteure! Über gewisse Regeln und Riten berichten. Sie nachvollziehbar machen für andere. Schilderungen der persönlichen und allgemeinen Entwicklung! Ereignisse und Veränderungen aufzeigen. Meinetwegen auch Anekdoten hinzufügen. Und Korrespondenzen nicht vergessen!

Das Fräulein Schwester hatte es irgendwie leichter gehabt als ich. Nicht, dass sie der gesunden Watschen entgangen wäre, nein, durchaus nicht, aber – sie hatte, im Gegensatz zu mir immerhin die Stirn, der hauseigenen pädagogischen Übermacht mit ihrer Schlagfertigkeit zu begegnen, wenn nicht sogar mit ein wenig Frechheit. Denn, als eines Tages auch sie vorm versammelten Lehrkörper eine abgefangen hatte, knallte das gedemütigte Geschöpf dem allmächtigen Herrn Vater die Worte: „Denkst du jetzt, du imponierst mir?“ entgegen. Da war sie grade mal zwölf. Das saß, und der stets so gestrenge Herr Papa verzog seine unerbittlich strengen Lippen zu einem Lächeln, aus dem sogar, wohl angeregt durch die Heiterkeit der Anwesenden, so etwas wie ein Lachen wurde. Das hätte unsereins sich erlauben dürfen! Ich war sprachlos.

Die Kriegsgeneration hat uns Zeit ihres Lebens stets darum beneidet, dass wir es angeblich leichter hätten auf dieser Welt und – hat es uns spüren lassen. Denn dies führe zu nichts. Hart sein, wie Kruppstahl, hat es geheißen. Sei hart zu dir! Stahlharte Männer, hat der Direktor zu uns gesagt, sogenannte Männer aus Stahl! Dabei hat er mich gemustert, von oben bis unten, mir mit der flachen Hand auf die Brust geschlagen und mich gefragt, ob ich mich nicht einer Geschlechtsumwandlung unterziehen wolle, weil ich längere Haare hätte. Das war 1969. „Idiot!“, hab ich mir gedacht! Er muss es gefühlt haben. Dann hat er mich zum Friseur geschickt. Aber ich bin nicht hingegangen. Wir Jungen waren wie in Trance von „Satisfaction“ von den Stones und trugen Jeans und bedruckte T-Shirts.

Was würde der Herr Papa jetzt sagen, wenn ihm diese Gegenüberstellung meiner Lebensgeschichte zu Ohren kommen würde? Der Aufschrei eines, der die Bürde seiner unglücklichen Kindheit mit sich herumträgt, vielleicht bewahrt von jeder Schuld zwar, doch trotzdem beladen mit dem ganzen Elend einer Generation, deren Väter die Helden waren? Und wenn sie keine waren, so wie der meine, dann waren sie eben Verräter. Wie Papa, weil er eben kein Nazi war. Das war genauso schlimm! Sich gegen das Vaterland zu wenden und damit auch gegen das Volk! Die Zeit, wo einer wie er als Mahnender und nicht als Lump gewertet wird, scheint noch immer nicht reif zu sein. Noch ehrt man bloß die Helden! Lumpen baut man keine Denkmäler.

Ich erinnere mich des bleiernen Schweigens. Es wurde nicht darüber gesprochen, was geschehen war. In der Schule nicht, und zu Hause schon gar nicht. In den Schulbüchern hatten die alten Nazis ihre Finger im Spiel. Und die alten Nazis haben uns noch unterrichtet, und uns ihre scheinheiligen Ordnungsprinzipien aufgezwungen. 1972 sind wir noch im Turnsaal marschiert und haben „Oh du schöner Westerwald“ singen müssen.
Aber irgendwie sagt mir mein Gefühl, dass sie alle ganz froh darüber waren, diese Zeit selbst heil überstanden zu haben und dass alles wieder seinen normalen Verlauf genommen hat. Und irgendwann wären sie ja sowieso verrückt geworden, vor lauter Hand hoch zum Gruß erheben und all dem ganzen ideologischen Unsinn. Und irgendwann wäre aufgekommen, was man den Menschen alles angetan hat. Oder sie hätten sich gegenseitig bis zum letzten Mann denunziert, wegen Hochverrats oder weiß der Teufel weswegen. Heute wohnen sie alle in friedlicher Eintracht nebeneinander, als ob nichts geschehen wäre. Der eine Nachbar, der ein paar Juden an die Gestapo verraten hat. Andere, welche deren Sparbücher, Häuser und Geschäfte beschlagnahmen ließen. Und wieder andere, die die Ministranten in unserem Dorf auf ihrem Weg in die Kirche mit dem Luftdruckgewehr beschossen haben.
Und es ist alles vergessen. Scheint wie ausgelöscht. Heute sind sie Nachbarn und grüßen einander, als ob nichts passiert wäre. Meine Zweifel, dass diese Welt auch nur einen Funken Logik eines, wenn auch noch so geringen, Ordnungsprinzips aufweist, verhärten sich mit jedem Tag. Und ich muss mit Entsetzen feststellen, dass ich selber auch nur ein Teil dieser Scheißwelt bin, in der alles drunter und drüber geht.

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15122

Kein Typ fürs Grobe – Teil 1

Ich bin bislang wahrlich selten ein Liebling der Götter gewesen. Zumindest ist mir nicht bewusst, je einer gewesen zu sein. Ebenso wenig kann ich mich nicht daran erinnern, jemals vor Glück gesungen zu haben: Heut‘ bin ich so vergnügt! Das Leben ist so schön! Drum bin ich ja so froh! Und wo es was zu trinken gibt, zu küssen gibt, da geht’s nicht ohne mich. Ein Vogerl fliegt! Ich bin ja so vergnügt! Holadrio! Habe ich etwas versäumt? Mag sein. Das liegt bei mir am Tempo. Ich bin ganz einfach zu schnell, zu schnodderig. Also beschließe ich, von heute an alles langsamer, ruhiger, besonnener, bewusster zu machen. Aufmerksamer durch den Tag zu streunen. Auf diejenigen, die mit mir sind, besser einzugehen. Nicht mehr so fahrig zu sein. Nicht alles, was ich anfasse, sofort wieder aus der Hand fallen zu lassen.

Vielleicht sollte ich mehr dabei sein. Aber wo dabei? Ich erschrecke immer, wenn ich daran denke, nirgendwo dabei zu sein. So – so, sportlos beispielsweise. Ja, sportlos, wie ich bin, kann ich den Alltagsstress nicht aus meinem Kopf verbannen. Untrainiert wie mein Körper ist, bleibt alles, was mir durch den Kopf geht, am Gehirn hängen. Dabei ist das Land hier sportlich, sagt man, wegen der zahlreichen Siege unserer Athletinnen und Athleten. Ja, die Heimat ist sehr sportlich, und es tut nichts zur Sache, wenn auch manchmal ein wenig Koks oder sonst was dabei war. Dem Sportlichen verzeiht man beinahe alles, nur nicht, dass er verliert!

Gut, und ich gebe zu, nicht zu wissen wo’s langgeht. Das kann einem schon hin und wieder passieren. Aber auf Dauer? Ist auch kein Wunder, betrachtet man diese Welt und den tieferen Sinn des Lebens etwas genauer. Aus diesem Grunde kommt es vor, dass meine verletzte Seele eben nur ab und zu wie an einem Bungee-Seil, und das auch bloß für Sekundenbruchteile, nach oben fliegt, was meistens dazu führt, dass ich im Glückstaumel, ungeübt darin, wie ich nun einmal bin, total die Orientierung verliere, weil ich ganz einfach mit dem Phänomen unerwarteter Freude nicht umzugehen vermag. Wie sollte ich denn auch? Also lasse ich sie unten, die Freude. Da bleibe ich vor unliebsamen Überraschungen verschont. Vor allem ist die Fallhöhe nicht so groß. Ich sehe eben schwarz. Denn – mir fehlt sie ganz einfach, die rosarote Brille. Ich wurde ohne sie geboren.

Ebenso wie ohne die schneesicheren Moonboots, den bruchsicheren Kopfschutz und die eherne Beinschiene, und es ist mir vollkommen egal, ob die Pistazie plötzlich ihren Weg in die Schokolade gefunden hat oder nicht. Ich spiele nicht mit! Und wenn ich es müsste, hätte ich zumindest nicht den Wunsch zu gewinnen. Die erfüllendsten Momente des Lebens sehe ich augenblicklich darin, mich von mir selber zu erholen und ich fühle, als hätte ich nach den gewaltigen Anstrengungen der letzten Jahre, einem Lauf nach Sparta gleich, unerwartete Hilfe im Kampf gegen die eigene Bestimmung erlangt, und möchte hinausschreien: Das Ziel! Das Ziel ist – erreicht!
Aber was denn für ein Ziel, frage ich mich? Alles, was ich bisher angefangen und beendet habe, erscheint mir bloß nur noch wie ein Mythos in meinem Bestreben nach der größten Eigenleistung. Und trotz allem bin ich nicht dabei. Bin nicht beim Yoga oder Pilates. Beim Tennis nicht und nicht am Laufband. Das Schnurspringen habe ich längst aufgegeben. Einziges Outdoor-Erlebnis bleibt der tägliche Abendspaziergang durch den Rathauspark, über den Ring, hinüber zum Burgtheater, am Café Landmann und an der Universität vorbei. Nur noch vorbei. Durch die Schottengasse die Herrengasse entlang. Manchmal auch über den Kohlmarkt zum Michaelertor hin, dann durch den Volksgarten. Vorbei am Theseustempel. Und wieder zurück sein. Das ist augenblicklich am tröstlichsten. Auf diese Weise verzichte ich immer öfter auf den Katalysator, emotionale Reaktionen unter Leistungsdruck zu erfahren und abzubauen. Immerhin, noch ist es nicht so weit, mich auf die Beobachtung dieser Welt von den schmalen Erkerfenstern aus zu beschränken.
Der Gedanke ist jedoch durchaus vorstellbar. Alles wird kommen. Die Gasse, mit ihrem beinahe dörflichen Charakter ungewöhnlich niedriger Häuser in dieser Gegend, beendet im Nordwesten ihren Horizont mit der düsteren Glasfassade des Allgemeinen Krankenhauses. Keine besondere Aussicht! Im Osten mit der unteren Häuserfront der Lerchenfelder Straße. Die Trafik ist jetzt ägyptisch geworden. Drinnen duftet es nach Räucherstäbchen und aus dem Hinterzimmer dringt arabische Musik. Die Billa-Damen stammen allesamt aus Bosnien oder Serbien. Sie unterhalten sich über Tampongrößen – an der Kasse. Ausnahmsweise auf Deutsch. Ich kann nur die kleinen nehmen, sagt die Dunkelhaarige zur blond Gefärbten. Die anderen gehen bei mir einfach nicht rein. Die Leute an der Kasse schauen unschuldig, wollen nichts gehört haben. Niemand spricht ein Wort. In ihren Gehirnen arbeitet es fieberhaft. Jeder hat wohl jetzt seine eigene Vorstellung zu dieser Information. Nur einer verzieht seinen Mund zu einem Grinsen.

Vorne, an der Ecke beim Spar, belagert immer derselbe rumänische Obdachlosenzeitungsverkäufer den Eingang. Da musst du vorbei. An dem kommt keiner ungefragt vorüber. „Geben kleine Spende, biiitte!“ Man sieht sein prächtiges Gebiss. Wie von einem Raubtier! Ich hingegen leide an Karies. Heute kaufe ich grünen Tee und Bitterorangenmarmelade bei Demmer, hinter der Mölker Bastei. Lung Ching, zehn Deka. Ich kaufe seit Jahren immer nur Lung-Ching. Die polnische Verkäuferin bei Demmer ist sehr zuvorkommend. Sie passt gut zum Duft, den die Tees verströmen. Der Maronistand an der Ecke zur CA-Bank ist schon seit Wochen in Betrieb. Das bedeutet, es geht stark auf Weihnachten zu.

In der Stadt riecht man kaum noch Erde. Vielleicht noch eher im Volksgarten, da scheint ihr Geruch erfahrbar, wenn sie nach einem Regen feucht ist. Ende November aber, da spürst du diesen blassen Teint von Tod, von sehnsuchtsvoller Ruhe, diesen Drang nach Ausrasten, Schlafen, nach Aufhören, wenn die Rosen nach und nach eingepackt werden, um sie vor dem Frost zu schützen. So süß! Direkt verführerisch, dieses Aroma, alles für immer zurücklassen zu wollen. Die Natur macht eine Auszeit. Nur wir hetzen hinter allem her wie die Verrückten. Die fetten Raben durchbrechen die scheinbare Ruhe mit ihrem heiseren Gekrächze. Diese Stille, die keine ist, der permanente Motorenlärm, der in der Luft liegt – daran habe ich mich so gewöhnt, dass mir so ist, als wäre alles ruhig. Nun belügt sich der Geist in einem fort, ganz unbemerkt. Die alten Heimkehrer aber tragen ihre Fahnen vor sich her, bis sie umfallen, ehe sie sie loslassen.

Vorm Rathaus sind die Christkindl-Buden geöffnet. Die alljährliche Tanne ist heuer etwas mager und stammt aus – Salzburg, ach ja. Es regnet ein wenig. Ich rieche an den Zweigen eines überdimensionalen Adventkranzes. Sauge den Harzgeruch ein, der sich sanft in Wellen ausbreitet. Begleitet von diesem Duft hängen an ihm tausende Erinnerungen an meine eigenen kindlichen Vorstellungen von Weihnacht. An die vergeblichen Mühen der Eltern, uns den Zauber ums Christkind so lange wie möglich vorzuspielen. Da war das rote Plastik-Rennauto. Mercedes oder so. Das DKT-Spiel. Ich habe stets verloren, wenn ich mit den älteren Schwestern spielte. Gnadenlose Geschäftswelt. Schon als Kind war sie mir verhasst. Patiencebäckerei vom Meinl. Mit dem Mohren darauf, der heute ein Farbiger sein muss. Johannisbrot und Lakritzestangerl. Ekelhaftes Zeug für denjenigen, der Schokoladenlebkuchen gekannt hat oder Windbäckerei. Alles wäre gut gegangen, wäre vergraben geblieben, verschüttet, verdrängt, bis zum Tag der plötzlichen Ernüchterung.
Die Geschichte vom Christkind – von vorn bis hinten erlogen! Mama blickte wehmütig drein, als ob es ihr leid tat um ihr gehütetes Geheimnis, und dieses nun gelüftet sah. Die ältere Schwester hatte mich jäh meiner Illusion beraubt. Und damit du´s weißt, das ist alles von Mama und Papa! Christkind gibt´s nicht! Damit trete ich in die Welt der Erwachsenen und deren Nüchternheit ein und Fantasien werden zur banalen Wirklichkeit und verlieren ihren zauberhaften Glanz. Den des Wunders, des Geheimnisvollen, der Geheimnistuerei. Von da an raschelt es nicht mehr im Karton. Und wenn doch, dann weiß ich, es ist bloß die Mutter. Also flüchte ich wieder zurück in die Welt des Scheins und der Einbildung und versuche sie mir, bis heute, so zu bewahren. Ich bin ein Träumer geworden, aus Opposition gegen die Realität.

Advent in Wien ist die Zeit, in der man die Spannungen zwischen den Menschen am deutlichsten in der U-Bahn zu spüren bekommt. Die Jungen telefonieren wie besessen, aus Angst, nicht zu vereinsamen wie die Alten. Die Leute sitzen regungslos auf ihren Sitzen, ohne ein Lächeln auf den Lippen. Sie besetzen die dem Mittelgang nahen Sitze, nicht die Fensterplätze und wenn du dich hinsetzen willst, musst du dich an ihren Knien vorbeizwängen. Sie lassen sich Fluchtwege offen.
Auch ich selbst bewege meine Lippen kaum. Mache sie schmal und presse die Kiefer zusammen. Warte, was kommt. Und wenn ich den Mund schon einmal öffne, dann bloß, um die Lippen mit der Zunge zu befeuchten, um sie vorm Austrocknen zu bewahren, vorm Wind, der ständig durch die Gassen weht. Manchmal bekomme ich den Mund nicht auf, weil ich vergesse, die Kiefer loszulassen, hängen zu lassen, entspannt sein zu lassen. Und es kracht furchtbar, wenn ich sie öffnen will.
Ich sehe mir die Menschen genau an. In Sao Paulo mag natürlich alles anders sein. Aber in London und New York sind sie genauso stumm wie hier – am Morgen, wenn sie zur Arbeit fahren, das weiß ich mit Sicherheit.

In den wenigen ruhigen Momenten meiner Rastlosigkeit rüttelt der verhinderte Ehrgeiz hinter hölzernen Palisaden, eingemauert, der mir verwehrt, mein Leben in ruhigeren Bahnen laufen zu lassen.

Gedanken an die Kindheit drängen sich auf. Da sind sie wieder – die Geister! So plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht. Da ist nicht nur der Wasserkessel, der genau dann überzugehen drohte, wenn Mama kurz einkaufen gegangen und ich vor Angst beinahe gestorben war. Da ist auch die Erinnerung an all die dunklen Ecken und Winkel, wenn der Abend hereingebrochen war. Das ostinate Ticken der Küchenuhr, das nicht aufhören wollte. Ein Knistern hinter dem Kasten. Das Quietschen einer Tür? Die Mutter musste doch jeden Augenblick kommen? Bange Kinderminuten voll Zweifel. Gänsehaut! Dunkle Ecken, beseelt. Geister? Gab es welche? Ganz sicher war man sich nie. Das Herz klopfte wild.
Sie hätte ja auch schön sein können, die Ruhe. Aber sie war es nicht. In dem verdammten, dunklen Küchenschlauch der väterlichen Dienstwohnung, mit jener ekelhaften Speisekammer und den scharfgemachten Mausefallen, der unerreichbaren Riesentafel Kochschokolade! Wäre es bloß nicht so finster gewesen dort drinnen! Das Licht von der Küche reichte nicht aus, um dieses Loch ausreichend zu beleuchten.
Ich denke an Washington. Wie komme ich jetzt da drauf? Weiße Prachtbauten mit Freitreppe. Und mein Schicksal! Ich verfluche es. Stattdessen geistert der Herr Papa stets in mir herum. Winzige, schier unbedeutende Szenen spielen ihr verrücktes Spiel, selbsttätig und unaufgefordert, unbeeindruckt von meinem Willen, davor verschont sein zu wollen, spulen sie sich vor meinem geistigen Auge ab, wie ein Film. Ich habe nicht darum gebeten!

Es finden sich unbedeutende Szenen erhaltener Ohrfeigen darunter. Unbedeutend, denke ich. Doch nein! Die Geschehnisse drum herum werden umso deutlicher, je mehr sie sich meiner Erinnerung aufzwängen. Und schicksalsschwerer werden ihre Ursachen und Auswirkungen. Lediglich ein paar Ohrfeigen, als Zeichen der Macht verabreicht, zur Disziplinierung, vor versammelter Kollegenschaft. Nichts Besonderes damals. Die Tränen waren ebenso rasch vergessen wie sie vergossen waren. Die Wirkung allerdings war nachhaltig. In kühnen Träumen würde ich zurückgeschlagen haben. Mich gegen die feige Tat eines Erwachsenen zur Wehr gesetzt haben. Es war um nichts gegangen. Um absolut nichts von Bedeutung. Und selbst wenn. Ich war erst acht und wog siebzehn Kilo. Er war fünfzig, achtzig Kilo schwer. Ich habe diese Welt immer schon gehasst, mit samt ihren Ungerechtigkeiten! Der Schmerz war es, nicht geliebt zu werden. Und er bedeutete nichts gegen die Wucht des Aufpralls, der das Ohr für Momente taub werden ließ.
Aus diesem einzigen Grund entzieht der allzu zarte, kränkliche Knabe, seit frühesten Kindestagen oftmals schwer erkrankt, für Wochen in weit entfernten Kliniken abgeben, ohne Liebe auf sich allein gestellt, ohne Zuwendung, er, der Trennungen bis heute nicht verkraften konnte – vor einer übermächtigen Vaterfigur als Hohlkopf und Nichtskönner bezeichnet – jener bedauernswerte Mensch also, mit dem heutigen Tage diesem, dem leiblichen Vater, die offizielle Vaterschaft! Na also! Endlich! Sie haben es geschafft! Befreien Sie sich! Befreien Sie sich endlich von ihrer Vergangenheit, mein Herr!

Norbert Johannes Prenner
Romanauszug aus „Der Chronist“ – in Entstehung

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15121

BetrAchtung

(vier gedichte)

zwischen nichts sehen
und nicht sehen
dämmert das leben.

– – –

möchte sein.
will dürfen.
muss können.

– – –

selbstlaute.
werden. vielleicht. mitlaute.
die du. hörst.

– – –

halten.
verb auf rot.
kein grün.
bringt mich vom fleck.

Helga Reibenberger
Auszug aus: wenn die tropfen leben sind …, Arovell Verlag, Gosau, 2000

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15120

Jener Wald in Weiß …

Die vielen Bäume schwiegen mit geneigten Kronen. Wegen ihrer mit schwarzen Flecken durchzogenen weißen Rinde erinnerten sie an die Pest, und gleich Befallenen war ihr trauriger Blick auf scheinbare Gräber gesenkt, die sich bald füllen sollten. Sie weinten bittere Tränen, oder waren das nur die vereinzelt vom Himmel segelnden Schneeflocken? Die Zeit schien diesen Ort vergessen zu haben, denn der Birkenwald hielt eine tiefe Ruhe inne, die der sinkende Schnee nur nährte …

Eilig stapfte der Inquisitor durch die Stille, dicht von einer kleinen Gruppe gefolgt. Ein schwarzer Mantel fiel von seinen Schultern, sanft den Schnee streichelnd, während dieser unter seinen ledernen Stiefeln knirschte. Das Kreuz, das von seinem Hals baumelte, sprang hektisch nach vor und zurück, denn er schritt schnell und die Übrigen hatten Not mitzuhalten: Die zwei Mönche, die eng nebeneinander marschierten, der Augenzeuge, der nervös eine Holzfälleraxt umklammerte, und ein junger Mann, der alles beschreiben und aufschreiben sollte – der Novize Ithriel.

Der Wald glich einer Armee, die vom Felde zurückkehrte – die Bäume zerstreuten Männern, jene die Last des Krieges erdrückte. All Stolz und Ruhm ward vergessen, denn in einer Schlacht kann es nur Verlierer geben, schrieb er hastig mit seiner Feder auf das faltige Pergament, während er der Gruppe etwas unbeholfen nachhetzte: Doch von welcher Schlacht kehren sie nur heim?, wunderte er sich und sah an den zerstreuten Männern hoch. Er erkannte starre Gesichter in Rüstungen, die müden Blickes um Erbarmen beteten. Das Schwarz zerfurchte die weißen Birken, wie Tinte ein Pergament, notierte er, als er jenes stummen Gebets gewahr wurde. Konnte nur er es spüren? Da klang doch dieses intensive Schweigen, unruheschwanger – ein Flüstern, das zwischen den Bäumen zitterte. Sie alle sahen ihnen zu, wie sie umherschritten und ihre Stille störten. Oder waren es die Bäume, die wanderten? – Eine stumme Armee, die bloß dahinzog …

Als der Schnee durch eine leicht ansteigende Anhöhe schließlich seichter wurde, hielt der Inquisitor und sah an ihr hinauf. Ein Jungwald von Birken verwehrte ihm allerdings die Sicht auf die Spitze.
„Dort oben ist es, Herr“, meldete sich der Augenzeuge zu Wort, derweil er angespannt den Stiel seiner Axt würgte.
Ithriel musterte mit seinem eindringlichen Blick den unruhigen Mann, ehe er hinaufspähte. Selbst wusste er nicht, was sich dort oben hinter dem Jungwald befand, nur, dass es etwas mit der Hexe zu tun hatte – wegen ihr waren sie doch erst hergekommen. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Er wollte es nicht Angst nennen, aber er befürchtete, dass genau jene ihn durch das Geäst der Jungbirken aufblitzend anlächelte.

Währenddessen hatte der Inquisitor den Worten des Augenzeugen zugenickt und so schritten sie weiter: Wie mit Speer und Schild, mit Widerstand und Willen stand der Rand des Jungwaldes, wie ein undurchdringbarer Wall. Wir aber brachen durch die vorderste Reihe und kämpften uns durch das Dickicht, um zu finden, was es verbarg.

Unerwartet lichtete sich der dichte Jungwald und vor ihnen öffnete sich eine kreisförmige Lichtung. Der Inquisitor trat, scheinbar unberührt, elegant zwischen den Bäumen heraus. Dann blieb er stehen und sah. Die beiden Mönche, der Augenzeuge und Ithriel stolperten, von den lästigen Ästen des Dickichts verärgert, hinterdrein. Danach blieben sie stehen und sahen …
In der Mitte der kleinen Lichtung wuchs eine einzelne knorrige Birke, umwandet von einer roten Blüte aus Flammen, die hoch hinauf loderte. Ihr Schein flackerte in den Augen der Staunenden wider und der Schnee um die Birke herum leuchtete aufgeregt. Die Feuerzungen leckten rastlos an dem alten Holz, aber sie verzehrten es nicht, sie …: …schienen den Baum nur zu umgarnen. Sie liebkosten ihn. Trotzdem litt er. Welcher Mensch würde auch gerne von Wölfen liebkost werden? Den letzten Satz strich Ithriel mit einigen hektisch gezogenen Linien wieder durch, denn er gefiel ihm nicht.

Der Inquisitor trat näher an die brennende Birke heran und streckte den Arm nach ihr aus. Da konnte er den warmen Atem der Flammen spüren – ihre Gier und ihr Verlangen nach mehr … Sofort zuckte er zurück, als das Feuer durch eine hinwegschnalzende Böe hungrig auffauchte.
„Was ist dies für ein Teufelswerk?“, raunte der kleinere Mönch und nahm zur Sicherheit einige Schritte Abstand.
Der Augenzeuge antwortete ihm angsterfüllt: „Es ist das Werk der Hexe!“
„Wir sollten geradewegs umkehren und das Weib verbren-“
„Verhören“, schnitt der Inquisitor dem kleineren Mönch den Satz ab, während er sich in einer geschmeidigen Bewegung zu ihnen umdrehte und beruhigend lächelte: „Wir brechen auf, sobald wir es vernichtet haben“, er wandte sich an den Augenzeugen: „Du! Fälle es.“
Der Mann zuckte. Er nahm seinen Befehl nicht mit Freuden entgegen und näherte sich der lodernden Birke nur langsam. Sichtlich nahm er allen Mut zusammen, bevor er zum ersten Mal mit der Axt ausholte …

Ein einsamer Soldat, mit nichts außer seinem bitteren Stolz. Ithriel hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und beschrieb nun, was er sah: Die Schlacht hinter sich gelassen, kehrt ihm die nächste das Antlitz zu. Wunden tragend ward auch er zurückgelassen – kein Freund mehr, kein Kamerad, er ward verlassen.
Der Augenzeuge holte erneut aus, einen Moment später donnerte sein Eisen gegen das alte Holz.

Ithriels Blick wanderte im Kreis und er meinte, die Jungbirken, die die Lichtung einschlossen …: …sahen ihn. Sie sahen ihn alle. Aber niemand half ihm. Als sein Blick jedoch wieder auf die brennende Birke fiel, glaubte er zu spüren, dass sie ihm erwiderte: Er sah aus, als weinte er. Und wenn er es könnte, hätte er es getan – er hätte es getan. Dann barst das Holz des Stammes endgültig und der Soldat fiel. Der Augenzeuge sprang noch eilends zur Seite, und kaum war die Birke zu Boden gebrochen, erlosch auch das Teufelsfeuer und es wurde mit einem Mal dunkel.
Ithriel durchfuhr ein eigenartiges Kribbeln – ein Frösteln, das einen umfing, wenn man die Tür vor einem aufkommenden Sturm schloss. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass es bereits dämmerte und die Kälte sich wie schwere Eisenketten um die Männer gelegt hatte. Zurück auf das Geschehen besehen, musterte er den Augenzeugen, der immer noch die Axt fest umklammert hielt und seine Tat gerade erst zu realisieren schien. Der Inquisitor hingegen reckte seine Brust und betrachtete den Baum, als wäre es ein erlegtes Tier. Jeder schwieg für einen Moment …

„Nun denn“, sprach, die Stille brechend, der große Mann in der Mitte mit erleichterter Stimme: „Dann ist es also wirklich eine Hexe!“ Er schritt wieder in Richtung Jungwald, die Hände hinter dem Rücken zusammengelegt: „Lasst sie uns …“, die ernsten Worte hüpften mit verspielter Leichtigkeit über seine lächelnden Lippen, „… fangen.“
Stumme Zustimmung – die beiden Mönche bekreuzigten sich und folgten, und der Augenzeuge hastete eilig hinterher.
Und Ithriel?
Nun, Ithriel blieb noch kurz sitzen. Sein Blick gebannt vom toten Baum. Die Schreibfeder in seiner Hand ruhte, aber er war fasziniert. Fasziniert vom Werk der Hexe, vom …: …gebändigten Feuer. So nannte er es. Die anderen doch warteten nicht und der Wald war ihm unheimlicher geworden. Auch wenn er den Tod des Soldaten bedauerte, kehrte er schließlich um.

Doch noch ruhte die Geschichte nicht, die er beschrieben und geschrieben. Voller Entsetzen musste er nach Einbruch der Nacht folgenden Satz hinzufügen: Der lodernde Soldat war gefallen und niemand von uns hätte ahnen können, dass am Ende des Tages, nachdem die Hexe geflohen war, die ganze Armee im Feuer versank.

Prolog (zum Roman: „Ignis“)

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 15058

bewegungen begegnungen

(vier gedichte)

herzwahrscheinlichkeiten sind
unmöglich.
wie bruchteil.
und meine sehnsucht ganz.

– – –

die einsamkeit der subtraktion heißt null.
wie ohne dich.
und adam riese.

– – –

der grenzwert einer beziehung ist ein
fixer wert.
und manchmal.
die unendlichkeit.

– – –

die schwierigkeit des einfachen
ist produkt einer summe von differenzen.
teilen liebt. null rest.

Helga Reibenberger
Auszug aus: wenn die tropfen leben sind …, Arovell Verlag, Gosau, 2000

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14076

 

 

 

Edgars Spiegelbild

In einer Nacht, als Amelie schon längst friedlich in ihrem Bettchen schlummerte, stellte sich Edgar vor den großen Spiegel im Vorzimmer. Er machte das Licht an, zog sein T-Shirt aus, betrachtete sich und versuchte dabei so objektiv wie möglich zu sein. Seit geraumer Zeit hatte er es vermieden, sich und insbesondere seinen Körper genauer anzublicken, zwar war er bemüht, sauber und gepflegt auszusehen, doch hatte er nie einen Blick zu viel riskiert. Er musterte den Menschen, der vor ihm stand. Er war ihm völlig fremd.
Edgar erinnerte sich noch gut an frühere Zeiten, Zeiten vor Laura, in denen er fast schon eine gewisse Eitelkeit an den Tag gelegt, in denen er sich gern selbst angesehen hatte. In denen er sich gemocht hatte. Hier stand nun ein abgemagerter, alter Mann, der in absehbarer Zeit eine Glatze haben würde, dessen Gesicht eingefallen war und dessen Augen müde und blutunterlaufen waren. Ungläubig beäugte er sein Spiegelbild wie einen Fremden, er konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wie es war, jung zu sein, vor Kraft zu strotzen und … und zu lächeln. Er wusste nicht mehr, wie er aussah, wenn er lächelte.
Natürlich konnte er die Mundwinkel hochziehen, er konnte seine Zähne zeigen, er konnte so tun als ob. Er versuchte es. Sein Spiegelbild spannte die Gesichtsmuskeln an und was er sah, war bemitleidenswert, das war nicht er, das war nicht der lebensfrohe Edgar, das war ein geprügelter, alter Hund, der nicht mehr wusste, wie man wedelt.
Zuerst ließ ihn dieser Gedanke wütend werden, er hob seine Faust und wollte gegen den Spiegel schlagen, doch auf halbem Wege hielt er inne, überlegte einen Augenblick und fing an zu kichern. Die Vorstellung, wie er mit dem Schwanz wedelte, hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, er prustete laut los und hielt sich die Hand vor den Mund, um Amelie nicht zu wecken. Ihm liefen die Tränen die Wangen hinunter, sein ganzer Körper schüttelte sich vor Lachen, er ging in die Knie und hoffte, dass er den Harndrang zurückhalten konnte.
Nach einigen Minuten hatte er sich beruhigt, er ließ sich nach hinten auf seinen Allerwertesten plumpsen und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Er kicherte immer noch vor sich hin, als er den Kopf hob und sich erneut im Spiegel betrachtete. Aus diesem Blickwinkel konnte er nur die obere Hälfte seines Körpers sehen, doch für ihn reichte das vollkommen.
Er konnte Leben und Freude erblicken, er konnte jemanden sehen, den er vor langer Zeit einmal gekannt hatte. „Hallo!“, sagte Edgar mit all der Wärme, die er noch in sich hatte. Und er lächelte.

Constanze Scheib

Auszug aus dem Roman: Lauras Parfum, 2014

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14069

gefühlvoll machtlos

(acht gedichte)

das ende im anfang heißt subjektiv.
wie objekt.
und alles zoom.

– – –

die festigkeit von wasser ist der dunst der
hoffnung.

– – –

manchmal ist kopie
erhalten
im original.

– – –

der energiesatz der liebe heißt erwartung.
wie du.
im nichts geht verloren.

– – –

sehen. ohne zu spüren.
und dann.
spüren. ohne zu sehen.
heisenberg kannte die liebe.

– – –

finsternis. die angenehm berührt.
ist liebe. am helllichten tag.

– – –

in meinem seelenherbarium
klebt dein schulterblatt.

– – –

zuneigung hat wieviel grad.

 

Helga Reibenberger
Auszug aus: wenn die tropfen leben sind …, Arovell Verlag, Gosau, 2000

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14065

Carlos

Der Regen goss seit Stunden und doch kam es ihm vor, als ob der Boden hart und trocken bliebe. Als ob die Erde nie genug bekäme und immer mehr in sich aufsaugen müsste. Die Männer schafften unermüdlich die großen braunen Pakete von der Lagerhalle auf den Lieferwagen. Jedes einzelne fest eingepackt in eine durchsichtige Plastikhülle, damit der kostbare Inhalt nicht nass werden würde. Wie in einer Endlosschleife vollbrachten die gesichtslosen Arbeiter seit fast zwei Tagen  dieselben Bewegungen, einer Ameisenstraße gleich, ohne Unterlass, ohne Beschwerden, ohne Pause. Als die Wolken aufgezogen waren und der Regen immer stärker und unerbittlicher auf sie hinab strömte, hatten sie nicht mit der Wimper gezuckt, keinen Moment innegehalten, um den Kragen aufzurichten oder sich gar unterzustellen.

Carlos war wie hypnotisiert von diesem Perpetuum mobile. Er betrachtete die Handlanger mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination. Einige von ihnen würden vermutlich nicht mehr lange leben. Würden den körperlichen Anforderungen dieses Jobs nicht mehr standhalten, von Kollegen  wegen ein paar Pesos erschlagen oder erstochen werden oder im Kugelhagel der Konkurrenz ihr Leben lassen. Es gab viele Möglichkeiten, in diesem Land zu sterben. Besonders in diesem Gewerbe. Manchmal spielte Carlos ein kleines Spiel. Welcher würde als nächster verschwinden? Würde den einen, etwas älteren mit ergrautem Bart, das Dengue- oder das Gelbfieber dahinraffen? Oder der Junge, der kaum älter als siebzehn wirkte, den fatalen Fehler machen und zu viel Geld unter seiner Matratze verstecken, um es seiner Familie zu schicken? Woraufhin ihm einer seiner compañeros in der Nacht die Kehle aufschlitzen würde, um an die ersehnten Scheine zu kommen, die ein besseres Leben versprachen, um letztendlich doch nur beim ansässigen Schwarzbrenner zu landen?
Es war schwer vorstellbar, dass sein Vater einst einer von ihnen gewesen war. Sein Vater, stets in feinsten Zwirn gehüllt, mit Krawatten passend zu seinen Stecktüchern und Schuhen, die mehr Geld kosteten, als diese Arbeiter je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen würden. So wie diese armen Seelen war sein Vater einst seinem Traum gefolgt. Dem Traum von Arbeit, von Geld, von einem besseren Leben. So voller Hoffnung und Verzweiflung, dass kein Gedanke an die Gefahren oder die Aussichtslosigkeit dieses Vorhabens verschwendet wurde. Doch sein Vater hatte es geschafft. Hatte sich durchgekämpft und überlebt. Und nicht nur das. Er hatte ein Imperium mit unvorstellbarem Reichtum in die Welt gesetzt und Carlos würde es eines Tages erben. Und so wurde sein Vater niemals müde, ihm seine Geschichte zu erzählen. Eindringlich, mit tiefer, sonorer Stimme und mit feurigen Augen malte sein Vater ein blutiges, schlammiges Gemälde von seiner Kindheit und Jugend. Von seinen drei Geschwistern, die er sterben sah, weil weder Arzt noch sauberes Wasser eine Selbstverständlichkeit in ihrem kleinen Dorf gewesen waren. Vom gewalttätigen Vater, der seinen kargen Verdienst für Schnaps ausgab, von der sanften Mutter, die mit aller Kraft dafür gekämpft hatte, ihren Jüngsten in die Schule zu schicken. Doch mit zehn Jahren half alles Betteln und Flehen nichts mehr und Carlos Vater musste in der nahegelegenen Kaffeeplantage sein Auskommen finden. Die Arbeit war hart und gefährlich. Manchmal musste er so viele Stunden schuften, dass er zu erschöpft war, um nach Hause schlafen zu gehen. Dann rollte er sich in einer Ecke einer Baracke am harten Boden zusammen und betete, dass man ihn in Frieden ließ.

Die Felder waren häufig Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen zwischen den Guerilleros aus den Bergen und der Armee. Carlos Vater wusste nicht, worum es dabei ging und es kümmerte ihn auch nicht. Das einzige, worauf es ankam, war sich so klein wie möglich zu machen, wenn die Schüsse über die Sträucher peitschten. Viele waren zu langsam und fanden wimmernd und flehend ihr Ende auf der fruchtbaren Erde. Männer, die nichts anderes erhofft hatten, als Geld zu verdienen, um ihre Familien zu ernähren. Die kein Interesse an Krieg oder Politik hatten. „Natürliche Auslese“, hatte der alte Vorarbeiter nach dem ersten Vorfall gelallt und dem zitternden Jungen eine Flasche Fusel zur Beruhigung hingehalten. „Wenn Du zu dumm und zu lahm bist, niño, dann wirst Du sterben. Früher oder später.“ Der Kleine hatte einen tiefen Schluck genommen und sich geschworen, am Leben zu bleiben.

Marihuana nahm ihm die Angst und ließ ihn den harten Job ertragen. Außerdem machte er Bekanntschaft mit den lokalen Dealern, für die er fortan auch kleine Botengänge erledigte und die ihn mit Gras entlohnten. Seine Geschicklichkeit und Verlässlichkeit machten schnell die Runde und so bekam er immer mehr und immer größere Aufgaben, für die er bald auch bares Geld verlangte. Nach nicht einmal zwei Jahren kündigte er bei der Kaffeeplantage und widmete sich vollends den Machenschaften des ortsansässigen Drogenkartells. Er war kein kräftiger Bursche und auch wenn er zu kämpfen wusste, war es für sein Weiterkommen und Überleben unumgänglich, sich Respekt zu verschaffen. Mit dreizehn erstand er seine erste Handfeuerwaffe, mit fünfzehn tötete er das erste Mal einen Menschen damit. Mit nur 21 Jahren war er zum Kopf einer gefürchteten Bande aufgestiegen, die mit Entführungen und Kokainschmuggel von sich reden machte. Nachdem er sich mit 28 Jahren des bis dahin größten Drogenbarons entledigt hatte, übernahm er dessen Geschäfte und gründete sein Imperium. Baute Villen und Kokaplantagen, überschüttete die Bevölkerung mit Geschenken, um sie stets an seiner Seite zu wissen.

„Du musstest niemals kämpfen, hijo“, dröhnte die Stimme seines Vaters an Carlos Ohr und der bauschige Schnurrbart kitzelte dabei an seiner Wange. „Doch du musst wissen woher all das kommt. Wie viel Blut fließen musste, damit du nachts in deinem weichen, warmen Bett träumen kannst ohne zu frieren, ohne zu hungern.“ Diese Worte hatte Carlos mittlerweile verinnerlicht, so oft hatte er sie gehört. Und er hatte sich geschworen, stark und tapfer zu sein und die Geschichte seines Vaters niemals zu vergessen. Deswegen hatte er auch nicht geweint, als dieser nicht zu seinem Geburtstag erschienen war, auch wenn er es versprochen hatte. Denn er wusste, dass alle Opfer bringen mussten. Er wusste, dass sein Vater gejagt wurde. Von der Regierung, der Konkurrenz, selbst von Verbündeten. Nun waren drei Monate seit seinem zwölften Geburtstag vergangen und sein Vater war immer noch nicht aufgetaucht. Vor drei Wochen hatte er das letzte Mal mit ihm telefoniert. Seitdem nichts.

Carlos hockte im Stall im warmen Heu und betrachtete die Männer, wie sie die Pakete unermüdlich in den Lastwagen schafften. Es würden noch zwei oder drei Fuhren sein, dann hätten sie ihre Arbeit getan. Manchmal kam sein Vater, um die großen Lieferungen zu überwachen. Carlos wartete. Er gab die Hoffnung nicht auf.

Constanze Scheib
Auszug aus: PenArt, Ausgabe Frühjahr, 2014, „Ein Geschäft mit Träumen“

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14054

nahezu aus der ferne

(drei gedichte)

bewusst. distanz suchen.
ist.
sicher. liebe wissen.

– – –

vermissen.
ist laufen im kopf.
stillstand im herz.
und seele. bleibt auf der strecke. zu dir.

– – –

sehnsucht ist die leere.
wie etwas.
und das nichts. abhanden.

Helga Reibenberger
Auszug aus: wenn die tropfen leben sind …, Arovell Verlag, Gosau, 2000

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14039

nicht nur molekü(h)le

 (fünf gedichte)

nähe.
besteht
aus
wievielen
atomen.
nähe.

– – –

 fernwärme.
nicht sichtbar.
nicht greifbar.
aus dem irgendwo.
spürbar.
fernwärme.

– – –

deine hand.
37,53° C.
deine hand.

– – –

sag‘ es nicht.
luft.
100% stickstoff.
sag‘ es nicht.

– – –

zärtlichkeit.
mondanziehung haut.
zärtlichkeit.

Helga Reibenberger
Auszug aus: wenn die tropfen leben sind …, Arovell Verlag, Gosau, 2000

www.verdichtet.at | Kategorie: auszugsweise | Inventarnummer: 14028