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Wild

St. Pölten, 21. August 2011

Liebe Natalia!

Wenn man sich eine Vorgeschichte ausdenken wollte, die immerhin gut genug sein sollte, um als glaubwürdige Wahrheit durchgehen zu können, so müsste man zuallererst deutbare Fakten aus der Vergangenheit finden, an denen man die eigenen Theorien festmachen könnte. Steige ich wie Orpheus hinab in das Vorherige? In das Leere, Unbedachte? Geschichtslose und Existenzlose? Die Geschichte vom Goldenen Zeitalter, vom Garten Eden? Darauf gehe ich nicht ein! Es ist irgendetwas Verstörendes geschehen und eine Oktave tiefer beginnt wieder alles von Neuem:

Wir saßen zu zweit abends beim Chinesen vor einer Landschaftsmalerei, und es hätte sich gerade in diesem Zusammenhang etwas auftun müssen: dass das Bild in seiner Einfachheit, in seiner Selbstverständlichkeit alles, ja wirklich alles wiedergibt, was von Relevanz für uns ist. Damals war alles so schwer, so naiv, so erdlastig. Es war so furchtbar. Jedenfalls nicht alles. Aber der ganze Kontext. So wie alle Farben gemischt irgend entweder Weiß oder etwas Ähnliches wie Kackbraun ergeben.

Die doppelte Unschärfe zwischen dem Erhabenen und dem Niederen. Zwischen dem verbrennenden und dem wärmenden Feuer, zwischen der holden und der vernichtenden Natur. Das wievielte chinesische Sprichwort war das schon wieder? Die Stadt kannst du wechseln, den Brunnen nicht!

Da könnte ich schon einmal nachhaken: Wo genau soll sich eine solche Landschaft befinden: China? Taiwan? Korea? Hat das innere Auge des Zeichners sich diese für uns ausgedacht und wenn ja, was waren die Gründe dafür?

Du, ich habe da eine schöne Idee, was das darstellen könnte nicht. Und vergiss bitte mal den Schrott mit der Naturmimesis. Mir ist, als ob dieses Bild – und wahrscheinlich gäbe es eine viel bessere Vorlage eines bekannteren Meisters –, mir ist so, als wäre dies eine Drohung. Als ob die Berge, der Fluss die Wolken irgendetwas Schlimmes verbergen würden, das man nicht sehen kann. (Sollten wir sicherheitshalber den Restaurantchef fragen, ob er es woanders hinhängen könnte.) Also mir macht das Angst. Ich führe das aber nicht mehr weiter aus. Berge sind übrigens Scheiße. Das Schöne ist nicht des Furchtbaren Anfang und selbst Rilke hätte dieser Kitsch nicht gefallen, da bin ich mir aber sowas von sicher. Bach und Agricola und Arsen. Das Feuer brennt, aber es kann für einen Moment nichts passieren. Du hast fremden Menschen gegenüber immer ein Messer in der Tasche dabei und du würdest es – ich weiß es – auch mir gegenüber einsetzen.

Wenn es denn tatsächlich ein früheres Leben gegeben haben könnte, dort in – sagen wir mal: Sichuan –, dann wäre es auch der Grund, warum ausgerechnet dieser verdammte Platz unter diesem verdammten Landschaftsbild unser beider Stammplatz geworden wäre. Das Bild war uns natürlich noch nie so richtig aufgefallen, der gewohnte China-Kitsch eben.

Die Orientierung im Raum. Wir hätten jetzt einen Walzer anfangen können und die Bilder hätten uns geholfen, dass uns nicht schwindlig geworden wäre. Das Chop-Suey wäre uns gerade recht gewesen, unsere Körper zu besudeln, warm, animalisch und süß-sauer. Du hättest mir die Brust geben können. Und deine Schuhe, die aussahen, als wären sie nur für Tanzabende gemacht worden, wären mir auch gerade recht gekommen. So etwas trägt man heutzutage im Büro? Dein Kleid aus China mit den Tigerzeichnungen? Bach und Donau und Flow. Man steigt nur einmal in denselben Fluss.

Und während des Tanzes zogen wir Linien wie mit dem Pflug, die mählich gerader und gerader werden würden, so dass sie uns mit Früchten beschenkten und erfreuten.
Apropos Fruchtbarkeit: Wir verloren uns ein zweites Mal wie beim Tanz in diesen uralten Fluss: Du bist nicht Tanja W. und ich bin es auch nicht. Eine völlig unscheinbare Angestellte, ein völlig unscheinbarer Angestellter. Aber irgendetwas entstand damals, ein Werdegang, nicht wahr. Es war letztlich deine Idee, das mit dem Import. Nicht für Europäer gemacht, nur Exotik. Rosenblattmarmelade aus den Rosenblüten vom Frühjahr. Sollten wir sie nicht einmal selbst machen?

(Wir könnten im Internet, du, ich habe vorhin im Internet nachgeschaut, wie das gehen müsste.)

Auch die eigenartigsten Vergleiche, die du mir entgegenbringen musstest, als Zeichen deiner Liebe. Obst, Gemüse, Bäume, Vieh: alles, was in der bäuerlichen Gesellschaft wertvoll und prächtig erscheinen muss. (Man muss loben können und zuvörderst den Wein, den Wald und die einfachen Sachen, die uns wichtig sind, das einfache Leben loben.) Meine Überzeugungskraft war nicht so, wie ich es mir erwünscht hatte, aber ein uralter Trieb, der uns zwingt, den Barbaren überlegen, aber dennoch neidisch angesichts ihrer Freiheit und ihrer wilden Bräuche zu sein. Erfanden wir die Marmeladenrevolution, den gemeinsamen Tanz ums Feuer.

Vielleicht sind das letzte wortlose gemeinsame Kochen und Tanzen Bleibendes in unserem kollektiven Gedächtnis.

Man war nicht füreinander gedacht und bemühte die angestrengteste Mythologie: Es waren einmal zwei Menschen, in einem früheren Leben ein glückliches Ehepaar, die genau am selben Tag, genau zur selben Minute geboren, an zwei verschiedenen Orten wiedergeboren worden sind, aber nicht voneinander wussten, aber durch die gegenseitigen Ahnungen, die beide voneinander gehabt hatten, hätten  – wenn sie sich nur ein einziges Mal getroffen, oder voneinander gehört oder das Bild des anderen gesehen hätten, sofort erkannt, dass sie für immer und ewig füreinander bestimmt gewesen sind. Da das Glück dieser beiden Menschen, sich wiedergefunden zu haben, so groß gewesen wäre, dass alle anderen Menschen, die dieses Paar sehen würden oder von ihrem Schicksal erfuhren, auf der Stelle ihren Lebtag lang todunglücklich werden würden, ist jenes Paar mit dem Fluch belegt worden, sich nie in ihrem Leben auch nur einen Millimeter in den gemeinsamen Wahrnehmungsraum zu geraten und sich geradewegs durch eigenartige Zufälle auf Reisen oder sonstigen Treffen um Haaresbreite zu verpassen. Das Schicksal wollte es, dass beide ihr Leben lang unglücklich sein und immer unsympathische Menschen kennenlernen mussten. Schön ist sie aber, ohne Zweifel, die Gleichzeitigkeit: Irgendwo einen unglücklichen Zwilling zu besitzen und mit ihm aus derselben Quelle getrunken zu haben. Genauer: Milchverwandte, dieselbe Milch noch trinkend …

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22051

 

Erste Hilfe

An einem Sommerabend beim Heurigen: Die meisten Tische sind besetzt, die Gäste genießen ihr Glas Wein mit einem kleinen Imbiss und plaudern in kleinen Gruppen. Es sind wohl etliche Einheimische hier, die Mehrzahl stellen Besucher aus Wien.

An einem Tisch wird die Unterhaltung eines älteren Paares lauter, die Frau steigert sich in einen hysterischen Anfall und kippt – eine Ohnmacht markierend – gekonnt und ohne Verletzungsgefahr hintenüber von der Bank ins Gras.
Der Alois, ein 50-jähriger Maurer mit guten 100 kg und Walrossbart, stürmt vom Nebentisch hin, reißt die Bluse auf, fünf Drücker Hand über Hand am Brustbein, dann Mund-zu-Mund-Beatmung. Mit einem Pressluftstoß aus blasmusikgestähltem Brustkorb füllt er ihre Lunge bis zum Platzen – diese großzügige Luftspende entringt sich der Frau umgehend in einem schrillen Schrei: „Sind Sie wahnsinnig!“ Sie rappelt sich hoch und keift weiter: „Mich so zu überfallen – um Gottes willen, ich bin halb nackt, meine Bluse … und pfui Teufel, wie Sie aus dem Mund stinken! Haben Sie einen toten Hund gefressen?“
Darauf Lois, gemütlich: „Na, nur a Quargelbrot mit Zwiefel.“
Sie, wieder in Hysterie fallend: „Nein, das halt ich nicht aus, das halt ich nicht aus, oh Gott, mir wird schlecht!“
Lois, väterlich ermahnend: „Sö, Frau, wenn S’ wieder umfallen, mach ich weiter!“

Diese gut gemeinte Drohung bewirkt blitzartig: 100%ige Rekonvaleszenz. Sie schreit mit rotem Gesicht: „Nein, wirklich net, Rudi! Ruuudi! Wir gehen! Sofort!“ und läuft beim Gartentor hinaus.
Der Gatte Rudi: „Na, i muaß no zahln. Mitzi, zwei Gspritzte, zwei Brot und a Flaschl Guatn für den Herrn da – so, stimmt schon.“ Er winkt dem Lois zu, grinst und geht seiner Frau nach.

Der Weinhauer zum Alois: „Guat g’macht, Loisl, aber hast so grob sein müssen?“ Der Lois, gestelzt aus den Verhaltensregeln der freiwilligen Feuerwehr zitierend: „Bei Abwehr ernsthafter Gefahr im Verzug sind Kollateralschäden zweitrangig.“ Er setzt sich wieder und trinkt zufrieden lachend seinen G’spritzten aus.
Aber die ungestüme Kraftnatur des Alois hat in der Frau auch anderen Eindruck hinterlassen, wie sie einer Freundin anderntags mitteilte: „Also wie das Trumm Mannsbild mit seine Riesenpratzen über mir war – also da war mir ganz anders.“

Der Rudi besucht nun zwecks Muskelaufbau (die Midlife-Crisis hat auch ihr Gutes) einen Fitnessklub; und bei späteren Heurigenbesuchen bestellte er jedes Mal ein Quargelbrot, weil: „Sicher ist sicher, wennst am End’ wieder einmal einen Anfall kriegst.“

Sie hat nie wieder einen gekriegt!

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22007

Am Ende des Regenbogens

Sie schwebt. Ihre Füße berühren kaum den Boden, ihr Herz tanzt über den Wolken. Die Sonne verscheucht nur für sie die grauen Regenschleier und um sie herum wird alles hell und klar. In den Pfützen schillert Benzin, in den Fenstern spiegelt sich der Himmel.
Sabrina nimmt die Perücke vom Kopf und stopft sie in ihre Tasche. Wie gut es tut, die Luft am Kopf zu spüren, den Wind auf der fast kahlen Haut.
Tief atmet Sabrina ein. Sie taucht auf aus einem Vakuum, so als hätte sie die vergangenen 26 Monate unter Wasser gelebt, wo sie nicht atmen konnte, wo sie nichts riechen, schmecken, fühlen konnte.

Zum ersten Mal seit langer Zeit ist ihr leicht zumute, ohne dieses zerstörerische Monster in ihrem Körper. Noch einmal saugt sie die Luft ein wie eine Ertrinkende.
Fast spürt Sabrina das Zittern noch in ihren Knien, das schnelle Schlagen ihres Herzens auf dem Weg in die Klinik. Gern gesteht sie sich die Angst nicht ein, die sie hatte, als sie vor der Tür zum Sprechzimmer ihres Arztes wartete. Alle Mühe hatte sie sich gegeben, ihn diese Angst nicht merken zu lassen. Lächelnd und scherzend hatte sie sein Zimmer betreten, wie immer hatte sie gerade ihm beweisen wollen, dass sie sich nicht unterkriegen ließ.
An der Wand hinter seinem Schreibtisch hing eine Kinderzeichnung. Das Bild eines schiefen Regenbogens, darunter ein winziges Mädchen im roten Kleid, das auf die Stelle zuläuft, an welcher der Regenbogen die Erde berührt. Das Bild, auf das sie bei jedem Arztbesuch ihren Blick konzentrierte, während sie dem Arzt zuhörte. Auch heute fixierte sie, während er sprach, den Regenbogen.  Dabei schien es ihr, als wäre das Mädchen dem Ende des Regenbogens heute nähergekommen.

An der Straßenecke das offene Parktor, es lädt sie ein.
Sie riecht das feuchte Laub, den erdigen Duft des Sommerregens. Sie hört das Hupen der Autos, das raschelnde Gras, das Gezwitscher der Vögel.
Allein ist sie in diesem Teil des Parks. Nur vereinzelte Sonnenstrahlen dringen durch die Zweige. Vor ihr am Ende des Kieswegs steht eine Bank, feucht vom vergangenen Regen und bedeckt von welkendem Laub der Platanen. Sie geht darauf zu.
Vor der Bank bleibt sie stehen, innehaltend. Ihre Tasche rutscht ihr von der Schulter. Sabrina stellt sie auf die Bank. Alles was darin ist, gehört zu ihrem Leben vor heute, zu dem Leben, das hinter ihr liegt.

Die Perücke, die sie getragen hat, weil eine Frau eben nicht mit kahlem Kopf herumläuft. Sie hätte damit kein Problem gehabt, sie hatte sich ihrer Kahlheit nicht geschämt. Aber es hätte gewirkt, als wollte sie auffallen, Mitleid erregen. Und dies wäre ihr zuwider gewesen. Nie hatte sie Mitleid gewollt.
Die Pillen, die sie nehmen musste. Deren Nebenwirkungen teilweise so heftig waren, dass sie gerne auf die Einnahme verzichtet hätte. Ohne die sie die Chemotherapie aber nicht verkraftet hätte.

Das kleine blaue Schiffchen, das sie an ihrem Schlüssel immer bei sich trägt. Es ist das Bild ihres größten Traums, des Traums vom Leben und Arbeiten auf einem Schiff. Schon als Kind wollte sie Matrose werden oder Seeräuber. Doch weil ihre Mutter sie nicht gehen lassen wollte, arbeitet sie stattdessen in einem Reisebüro, wo es nach verstaubten Plastikmuscheln riecht, statt nach Seeluft und Meerwasser.
Ihr Handy, ohne das sie nicht aus dem Haus durfte, um im Notfall Hilfe rufen zu können. Das sie nie wieder brauchen will.
Und für den Fall, dass nichts helfen würde, das Skalpell, von dem sie gar nicht mehr weiß, woher sie es hat. Vermutlich nicht das angenehmste Mittel, ein Ende zu machen, aber alle anderen Methoden, die ihr eingefallen waren, schienen auch nicht besser.

Ein Blatt fällt von der Platane hinter der Bank, es schaukelt im Wind, als könne es sich nicht entschließen, wo es niedergehen soll. Als es auf ihrer Tasche landet, legt sie das Blatt hinein zu den anderen Dingen.
Sabrina löst das Plastikschiff vom Schlüsselbund und nimmt es in ihre Faust, lässt den Schlüssel zurück in die Tasche gleiten. Sie schließt die Handtasche mit einem Ruck und wendet sich um. Ohne zu zögern, ohne sich umzudrehen, geht sie fort von der Bank, von der Tasche.
Sie läuft mit festen Schritten. Zu ihrem Ende des Regenbogens.

Renate Müller
www.renas-wortwelt.de

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 22024

 

 

 

Handgreifliches

Max (Name frei erfunden) arbeitete in einer großen Firmenzentrale, die in einem alten, dreistöckigen Haus mit langen Korridoren untergebracht war. Eines Tages traf er am Gang hinter einer verglasten Pendeltüre seinen Abteilungsleiter und wechselte einige Worte mit ihm. Nach der Abschiedsfloskel griff er – noch dem Chef zugewandt, hinter sich an den Türknopf, um seinem Boss die Türe aufzuziehen.

Aber inzwischen hatte – von ihm unbemerkt – eine junge Sekretärin hinter ihm bereits die Türe zu sich gezogen, um durchzugehen, und so ging sein tastender Griff nach dem Türknopf mitten hinein ins „volle Menschenleben“, nämlich ins üppige, hochsommerliche Dekolleté der knapp eineinhalb Meter „großen“ Kollegin.

Max drehte sich erschrocken um – was war denn das? Um Gottes willen – er hatte da, ohne hinzusehen und daher ohne „böse“ Absicht – eine Frau unsittlich berührt, ja geradezu unverschämt angefasst. Mit rotem Kopf konnte er nur mehr stottern: „Bitte, entschuldigen Sie vielmals – ich, ich habe Sie wirklich nicht gesehen! Das ist mir noch nie passiert – was müssen Sie jetzt von mir denken? Und das muss ja furchtbar unangenehm für Sie gewesen sein!“

Da antwortete das unverdorbene Naturkind mit himmelblauem Augenaufschlag: „Nicht so schlimm, unangenehm ist’s ja nur, wenn der Falsche hingreift.“ Der Abteilungsleiter lachte „Hands im Strafraum, das gibt Elfmeter!“ und ging seiner Wege, während Max sich erst einmal fassen musste. Er schluckte und sagte verlegen „Danke, Frau Kollegin, sehr freundlich von Ihnen“, und eilte in sein Büro zurück. Wo er den restlichen Nachmittag einen unkonzentrierten und tagträumenden Eindruck hinterließ.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22023

Verdächtige Überstunden

Max war ein fleißiger Mann und hatte dazu auch allen Grund: Als Alleinverdiener (die Gattin war mit dem Baby in Karenz) musste er für die ansehnliche Miete der neuen, größeren Wohnung und den Kredit für die Einrichtung aufkommen. Gott sei Dank war in der Firma – er arbeitete in einem großen Rechenzentrum – viel los und es fielen oft Überstunden an. Seit einem Jahr war er für den großen Einzelblatt-Laserdrucker verantwortlich, der pro Sekunde zwei Seiten DIN-A4 ausspuckte und somit technisch anspruchsvoll war. Die überschüssige Druckkapazität konnte Max am Markt frei verkaufen, wovon große Werbefirmen gerne Gebrauch machten.

Heute war endlich das Papier für einen dringenden Großauftrag angeliefert worden, und Max schlug verzweifelt die Hände zusammen: Nicht nur dass die Papierbögen einen Zentimeter zu lang waren, sie hatten vorgabewidrig auch noch eine glatte, glänzende Oberfläche – ein Papier also, das der Drucker in den vorgegebenen Sekunden-Bruchteilen nicht einziehen konnte, weil die schmale Gummirolle immer wieder „ausrutschte“ und daher die automatische Meldung „Papierstau“ mit Stillstand der Maschine auslöste. Die Überlänge wiederum bewirkte, dass der bedruckte Papierbogen am Ablagekorb anstieß und nicht sofort glatt hinunterfiel, was ebenfalls Papierstau verursachte.

Aber wie auch immer – der dringende Auftrag musste gedruckt werden, egal wie, denn der Kunde war eine namhafte Werbeagentur. Diese Aufgabe zu bewältigen, würde gute Nachrede, ein (wenn auch schuldloses) Versagen aber Ärger bringen. Also was tun? Der Techniker der Herstellerfirma entfernte zwecks breiteren Durchlasses ein Leitblech aus der Maschine, und Max programmierte den Drucker um, sodass die fertigen Blätter nicht in den Ablagekorb, sondern aus dem Probedruck-Schlitz herausfielen. Gut, die Überlänge war zu handeln, aber was tun mit dem rutschenden Einzug?

Womit könnte man wohl die weiche Einzugsrolle überziehen, damit das glatte Papier transportiert würde? Ein Test mit dem genoppten Überzug eines Tischtennisschlägers (vom Aufenthaltsraum) fiel negativ aus, das Gewebe war zu hart. Es müsste ein sehr schmiegsames, gummiartiges Material sein – wo bekam man sowas in der Eile her? Ein älterer Kollege hatte die Idee: „Warum nicht ein Kondom? Das wäre elastisch genug!“ Max sauste schon in die nächste Drogerie und besorgte zwei Sorten, einmal „naturfeucht“ und einmal „Reizpräservativ mit Noppen“. Was soll’s, der Zweck heiligt wohl das Mittel.

Das Kondom mit Relief ließ sich schlecht überziehen und schied somit aus, die „naturfeuchte“ Alternative zog wohl zufriedenstellend die glatten Blätter ein, aber nach ein paar Sekunden war das Material erstens trocken und zweitens von der Rolle „gewuzelt“. Wieder nichts, also was nun? Schade, die „naturfeuchte“ Schutzhülle war anfangs so vielversprechend. Halt, wäre das die Lösung – „naturfeucht“??? Max schnitt den Überzug herunter und hielt einen feuchten Lappen von oben an die Gummi-Einzugsrolle, der Kollege startete die Maschine und der Drucker lief wie ein Uhrwerk! Max stellte einen Wassernapf und zwei Lappen bereit, damit der Feuchtigkeitsspender immer blitzartig gewechselt werden konnte, der Kollege am Ausgabefach ließ die gedruckten Blätter in eine davorgehaltene große Schachtel fallen, und mit dieser „händischen“ Zusatzleistung war um zwei Uhr früh der Auftrag abgearbeitet.

Müde und steif von dieser stundenlangen verrenkten Körperhaltung kam Max mit dem Taxi nach Hause, zog Schuhe und Rock aus und schenkte sich in der Küche ein Glas Bier ein – das brauchte er jetzt. Es war drei Uhr früh, Frau und Kind schliefen schon lange. Aber als er gerade das Küchenlicht abdrehen wollte, um ins Schlafzimmer zu gehen, fiel ihm die ausgebeulte Außentasche seines Sakkos auf. Um Gottes willen, da waren ja noch die zwei angebrochenen Kondomschachteln drin! Also wenn morgens die Frau wie gewohnt zuerst aufgestanden und den Kaffee hingestellt hätte, wäre ihr das sicher aufgefallen, und sie wäre der Sache auf den Grund gegangen! Am Telefon spätabends zu erzählen, dass ein dringender Auftrag Überstunden erfordert hätte, und dann mit diesen „Beweisstücken“ – zwei aufgerissene Kondompackungen, einmal sogar „Reizpräservativ mit Noppen“ – um drei Uhr nach Hause zu kommen!!! Also das hätte auch die naivste Ehegattin nicht geglaubt. Rasch nahm er die verräterischen Packungen heraus und warf sie durch das Küchenfenster in die Büsche vor dem Haus.

Vier Stunden später hörte er beim Frühstück am offenen Fenster die unter ihm wohnende Hausbesorgerin schimpfen, welcher „Schweinigel“ da seine unappetitlichen Hilfsmittel weggeworfen hätte. Und der Chef der Werbeagentur bedankte sich vormittags bei der Abholung des Auftrags persönlich mit einem generösen „Schmattes“ bei Max, weil er den heiklen Auftrag pünktlich geschafft hatte. Ja, es ist eben nicht immer alles so, wie es scheint.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary| Inventarnummer: 22011

Haute Couture

Ganz bewusst und voller Lebensfreude begab sie sich in den Sog. In den Sog des Konsums, ausgerichtet, um zu gefallen. Gerne nahm sie in Kauf, Dinge nicht mehr um ihrer Schönheit willen zu betrachten, sondern nur noch zu bewerten, ob sie zum jeweiligen Mainstream passten. Berauschend fand sie die Einkaufstouren, bei denen es nur darum ging, Markenartikel, die gerade angesagt waren, zu erwerben, ohne Rücksicht auf Gefallen, nur der Preis bestimmte den Wert. Sie liebte es, am nächsten Tag im Büro zu erscheinen und beiläufig das Gespräch auf die zurzeit herrschende Moderichtung zu lenken. Welch ein Genuss für sie anzumerken, dass ihre Raulederstilettos 499 Euro gekostet hatten. So nebenbei flocht sie noch ein, das Gucci wieder einmal unverschämt seine Preise erhöht hatte.

Die größte Befreiung brachte es ihr, Kolleginnen, von denen sie wusste, dass sie äußerst preiswert einkauften, zu fragen: „Wo hast du denn dieses tolle Stück erworben?“ Wenn diese dann verlegen um eine ausweichende Antwort bemüht waren, fühlte sie sich gut. Allein für das Empfinden dieser Überlegenheit wäre sie bereit gewesen, den doppelten Betrag für ihre Designerkleidung zu bezahlen. Diese bedeutete für sie Macht und auch deren angenehme Begleiterscheinung, die da wäre, erniedrigen zu können. Sehr oft ergötzte sie sich am Abend daran, die Geschehnisse an sich vorüberziehen zu lassen und sich dabei an die verschämten Reaktionen ihrer Kolleginnen zu erinnern. Diese Reflektionen oder „Auszeiten“, wie sie sie nannte, trösteten sie über Beziehungen, die sie verloren hatte, hinweg.

Immer wenn ihr ein One-Night-Stand-Lover vorwarf, eine leblose Hülle zu sein, erwiderte sie: „Im Gegenteil, ich lebe für meine Hüllen.“ Sie hatte gelernt, ihre Gefühle gleich zu handhaben wie die Mode. Was gerade en vogue war, wurde zugelassen, alles andere entsorgt. Darin hatte sie Übung, denn schließlich musste sie mindestens viermal im Jahr ihre Kleiderschränke durchforsten und das nicht mehr Passende wegwerfen.
Diese Regeln hielt sie auch bei der Auswahl ihrer Liebhaber ein. War in einer Saison ein Drei-Tage-Bart-Träger schick, konnte solcher bei ihr landen. Ein gepflegt Rasierter, hätte er auch noch so gut ausgesehen, wäre aus diesem Grunde chancenlos gewesen.

Nur einmal hatte es einer geschafft, diese ihre heiligen Prinzipien zu unterwandern. Als sie ihn gesehen hatte, machte sich in ihr ein Gefühl breit, das sie schon lange geglaubt hatte, besiegt zu haben. Weder seine Kleidung noch sein Aussehen waren es, das sie angezogen hatte, sondern seine Ausstrahlung. Gewöhnt , sich immer auf der Gewinnerstraße zu befinden, wollte sie eine Ausnahme machen und ihn so akzeptieren, wie er war. Nur, für sie unvorstellbar, blieb die Gegenreaktion aus.

Bitteres Erwachen, sich fühlen wie eine Verliererin. Eines hatte sie daraus gelernt: Weiche niemals von deinem Weg ab, es wird nicht belohnt, sondern du wirst verhöhnt werden.

Nach diesem Abenteuer blieb sie ihrem Weltbild treu. Sie steigerte es noch zur Perfektion. Als sie erfuhr, dass ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt waren, beherrschte nicht Trauer ihre Gedanken, sondern nur die eine Frage: „Was trage ich zum Begräbnis?“ Sie entschied sich für das kleine Schwarze von Prada, ihren Kopf schmückte eine ausgefallene Kreation von Dior. Der integrierte Schleier des Hutes erwies sich als äußerst hilfreich, da er verbarg, was niemand sehen sollte. Im Gegenteil, er suggerierte den Trauergästen Schmerz und Tränen. Dabei genoss sie es in vollen Zügen, die neidischen Blicke, die auf sie gerichtet waren, und sie stellte sich vor, wie überschlagsmäßig der Preis ihres Outfits errechnet wurde. Sie wusste, dass ihre Augen bei diesem Gedanken strahlten, konnte sich jedoch dank des Schleiers in Sicherheit wiegen, dass niemand dies bemerken würde. Sie gratulierte sich zu dieser kostspieligen Investition.

Sie befand sich ab jetzt im tobenden Strudel des Taifuns.

Die Jahre gingen auch an ihr nicht spurlos vorüber. Obwohl sie einen asketischen Lebensstil pflegte, um den Model-Maßen gerecht zu werden, unterlag auch sie dem biologischen Alterungsprozess. Zu Zeiten wie diesen kein Problem. Sie konsultierte einen angesehenen Schönheitschirurgen und ließ sich ein Angebot für eine „Rundum-Verjüngung“ legen. Ein Jahr lang arbeitete sie wie besessen, um diese Summe aufzubringen. Dann war es so weit. Abgesehen von den erlittenen Schmerzen hatte es sich „straff“ ausgezahlt. Keine einzige Delle verunzierte mehr ihre Oberschenkel, der Bauch war herzeigbar, wie bei einem vierzehnjährigen Model, die Brüste wirkten jungfräulich, die Oberarme zeigten keine Spur mehr von Erschlaffung, und das Gesicht hatte seine Lebenserfahrungen vergessen, es war faltenfrei.

Diese Erkenntnis des Machbaren, des Nicht-Akzeptieren-Müssens eines vorgegebenen Ablaufes, bestärkte sie. Es bedeute einen Schritt näher zum Auge des Taifuns.

Obwohl sie Sozialkontakte bedingt durch ihr Arbeitsumfeld hatte, blieb eines aus: „Sozialkontakt mit sich selbst.“ Wenn sie am Morgen in den Spiegel blickte, war sie selbst nicht vorhanden, sondern nur ihre Abbildung der Äußerlichkeit. Wenn sie das Büro betrat, mieden sie die Kolleginnen oder hatten nur ein müdes Lächeln auf den Lippen, wenn sie sie grüßten. Niemand war mehr bereit, sich näher auf sie einzulassen, da sie es satt hatten, sich anhören zu müssen, wie viel Geld sie heute wieder an ihrem Körper trug.

Sie wurde einsam. Wozu alles zu investieren, wenn keine Rückmeldung erfolgt? Ist es das wert, morgens in den Spiegel zu sehen, dabei sich selbst nicht mehr zu erkennen, das eigene Wesen reduziert auf eine Hülle, die nur äußerlich sichtbar und innerlich nicht mehr existent? Diese dunklen Gedanken suchten sie immer öfters heim. Aus blieb das erregende Gefühl, mächtig zu sein, indem die eigene Verleugnung gelingt.

Sie wollte etwas ändern. Warum nicht sein Leben durch etwas anderes Käufliches bereichern? Ein Kind. In Katalogen hatte sie bereits gelesen, dass es die Möglichkeit gibt, auch wenn man schon älter ist, Kinder aus afrikanischen Ländern zu adoptieren. Bedingungen: Man musste verheiratet sein, einen tadellosen Lebenslauf vorweisen können und den Nachweis, für dieses Kind optimal sorgen zu können. Erster Punkt: fehlender Ehemann. Sie begab sich zu einer Partnervermittlungsagentur und schilderte dort ihr Anliegen. Zahlreiche Bewerber meldeten sich auf ihre Annonce. Anfangs war jeder von ihrem Aussehen angetan, doch nach einem kurz geführten Gespräch verabschiedeten sie sich mit einer vagen Zusage, sich wieder zu melden. Nach acht Monaten, nachdem alle diese Treffen glücklos verlaufen waren, entschied sie sich, dieses Ziel fallen zu lassen. Lieber die Einsamkeit zu riskieren als Niederlagen zuzulassen.

Sie kehrte wieder zu ihrem Anfangsprinzip zurück: Ich bin, was ich trage. Immer öfters passierte es, dass Kolleginnen sie schnitten. Alles, was über die Arbeit hinausging, wurde mit ihr nicht mehr besprochen. Sie war isoliert, der Reiz der Exklusivmarken hatte sich abgenützt. Im Gegenteil, immer öfters wurde sie damit konfrontiert, wie sie sich das leisten könne. Nur noch Neid schlug ihr entgegen. Gerüchte machten die Runde, dass sie ihr gesamtes geerbtes Vermögen in diese Äußerlichkeiten gesteckt hatte. Die Situation wurde feindselig.

Die entscheidende Wende in ihrem Leben brachte der Befund des Gynäkologen. Der Befund lautete: Gebärmutterhalskrebs im Endstadium. Die Psychotherapeutin empfahl ihr, ein Selbstbildnis zu malen. Sie stand vor der weißen Leinwand und konnte nur eines hinzufügen: „Ich – wo bist du?“

Plötzlich war ihr, als ob all das Geschehene nur dem Einen gedient hatte: ins Auge des Taifuns einzudringen.

Das hieß: „Kein Anspruch darauf, dass ich geliebt werde. Kein Anspruch mehr auf meine Äußerlichkeit. Ich verkaufe mich nicht mehr. Mein Markenartikel bin ich. Die Lebendigkeit des Lebens lebt in mir. Ich bin im Auge des Taifuns.
Spirale des Seins. Entwirrt. Gibt mich wieder preis.
Endlich angekommen.“

Die floral bunt gekleidete blonde Schaufensterpuppe mit Sonnenbrille bei SCHUSCHA im Sommer 2021

Die floral bunt gekleidete blonde Schaufensterpuppe mit Sonnenbrille bei SCHUSCHA im Sommer 2021

 

Irmgard Tosin & Johannes Tosin (Text)
Johannes Tosin (Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21119

Lichtschalter

[Für Carmen]

Endlich schien sich der dämmrige Winter seinem Ende anzunähern. Gefühlt ein halbes Jahr war er ihr bereits lähmend in den Knochen gelegen, hatte sie in Dunkelheit gebannt und ihre Geisteskräfte abgedämmt. Sie hatte von ihm und dem finsteren Tunnel in ihr unbändig genug, sie benötigte weites Licht.

Doch wofür bisher stets Gott*Göttin sich höchstpersönlich ans Werk machen oder sich zumindest die Erde einen mühseligen Tag lang umdrehen musste, schaffte ein neu auf der nebligen Lebensbildfläche auftauchendes „potentielles Gegenstück“. Fünf kümmerliche, aus dem noch gefrorenen Boden entwachsene, Gänseblümchen hatte er für sie gepflückt und mit einem sechsten zu einem kleinen Strauß gewunden. Unbeholfen und scheu lächelnd stand er damit vor ihr und brachte unerwartete, aber angenehm belebende Helligkeitswolken in die ersten diesigen Frühlingstage des Jahres.
Sie und er verabredeten sich zu einem gemeinsamen Waldspaziergang, andere Vergnügungen waren zu jener Zeit nicht gestattet. Sie war froh darüber, denn beim blicklosen Nebeneinandergehen konnte sie, wie es so ihre Art war, allfällige dunkle Schatten auf der Seele des ahnungslosen Begleiters erkunden. Doch obwohl sie die höchste Sorgfalt auf diese Analyse verwendete und definitiv keine sich anbietende Gelegenheit zur herausfordernden Provokation ausließ, konnte sie erstaunlicherweise keine – allzu – menschlichen beziehungsweise männlichen Untiefen in ihm entdecken.
Im Gegenteil, sie machte im Laufe der sich nun sporadisch wiederholenden Spaziergänge durch die aufblühende Natur eine außergewöhnlich erhellende Entdeckung an ihm: Seine durchschnittliche Existenz in Kombination mit den aufblitzenden Augen, dem ungetrübten Herzen, der sonnigen Fürsorglichkeit und seiner alles überstrahlenden Lebensfreude zog sogar Schmetterlinge an. [Ernsthaft.] Auf all seinen Wegen kamen sie angeflogen. Sie umkreisten ihn freudig, zeigten ihm ihre schönsten Flügelmuster, flogen ihm ein Stück der Strecke voraus, nur um dann wieder die Richtung zu wechseln und ihm entgegenfliegen zu können.
Er nahm das völlig gelassen und kommentarlos hin, da es sein ganzes Leben schon so bei ihm gewesen war. Aber in ihr und rund um sie wurde es immer flimmernder, summender, knisternder und bunter.

Als der Frühling schließlich am Zenit seiner Strahlkraft angelangt war, saßen sie gemeinsam am Waldesrand und waren zufrieden mit sich und der Welt. Er hatte, wie immer, Leckereien dabei und sie genossen Kaffee und Kuchen sowie die pittoreske Aussicht auf die lichtdurchflutete Landschaft des Unteren Mühlviertels. Zu ihren Füßen hockten geduldig ein Schwalbenschwanz, ein Kohlweißling-Paar und mehrere Zitronenfalter – wie üblich.
Eine schimmernde Zeit lag bevor, endlich ein Neubeginn. Sie befand sich in Erwartung eines malerischen Frühlingsausklangs, eines Übergleitens in sinnliche Sommermonate und danach … unerschöpflicher Zeiten behaglicher Bequemlichkeit, aber immerhin.
Der nächste Winter würde keine Macht mehr über sie gewinnen.
Gleißendes Licht.

OFF/AUS.
Der Schalter wurde ausgeknipst. Über Nacht, einfach so.
[Von wem und wer hat das eigentlich bestellt?]

Sie öffnete die Augen, obwohl sie schon wusste, was sie erwartete. Der düstere Tunnel war wieder da, in ihr und überall. Die dumpfen Wände davon lagen genau links und rechts neben ihren Augen, weiter konnte sie nicht sehen. Unter den modrigen Bodenplatten steckten ihre Gefühle fest, taub und stumm. Draußen hatte sich der Frühling verabschiedet, das passierte immer wieder.

Der gutherzige Schmetterlingsflüsterer schrieb ihr lange Zeit sehnsüchtige Nachrichten und schickte Tulpen in allen Farben, doch bedauerlicherweise hatte Churchills „Schwarzer Hund“ die rosaroten Schmetterlinge verschluckt.

[Wieder Winter.]

 

Mai 2021

Anita Winkler

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 21075

Nachricht an DICH

Nähe. Zur Natur. Zu Menschen. Nähe ist ein wunderschönes Gefühl. Du kannst sie auch ohne Berührungen spüren. Durch Blicke, Gesten, Worte. Sie gibt Geborgenheit. Du kannst dich fallen lassen, wenn dir jemand nahe ist. Denn du weißt: Er wird dich auffangen und halten.

Eine Umarmung kann dir so viel geben! Du spürst den anderen, riechst ihn, nimmst ihn wahr. Halte inne, höre und spüre seine Atmung und gleiche deine an. Das synchrone, ruhige Atmen kann dir zusätzlich Stabilität und Sicherheit geben. Solange du es brauchst. Bis du dich aufrichtest, und weitermachen kannst. Aber ein Stück weit ruhiger und gelassener als zuvor.

Dass du einem anderen Menschen nahe bist, braucht Vertrauen. Und Mut. Mut, diesen Schritt zu gehen, sich darauf einzulassen. Denn es wird immer ein Risiko geben, dass du verletzt wirst. Deine Mauer fällt, und du bist verwundbar.

Natürlich werden dich Enttäuschungen traurig machen und verletzen. Doch glaube mir, wenn ich denke, dass wir aus negativen Erfahrungen gestärkt hervortreten können. Aber auch das müssen wir zulassen. Auch das bedeutet Mut. Sich trotz einer Enttäuschung wieder auf einen Menschen einzulassen.

Glaube nie, nie daran, dass Nähe für dich nicht möglich ist, weil du nicht würdig wärst! Entziehe sie dir nicht aus Scham oder Angst vor körperlicher Nähe! Das ist falsch! Jeder von uns, jedes Lebewesen, ist es wert!

Wenn du glücklich bist, lass Nähe zu!
Wenn du traurig bist, lass Nähe zu!
Lass andere Menschen an dich heran.

Sei mutig.
Sie mögen dich.
Sie lieben dich.
So wie du bist.

DU bist es WERT!

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21067

 

Glück

„Manchmal passiert es ganz von allein“, sagte Reto, „ansonsten muss man sich anstrengen, sonst passiert überhaupt nichts.“ Ich erinnerte mich wieder an seine Worte, nachdem ich vor einer Weile wieder die Bilder der Italienreise ansah. „Manchmal passiert überhaupt nichts“, wiederholte ich mir vor meinem inneren Ohr und das Nachdenken über meine Reisebekanntschaft, ihr Aussehen, ihr Händedruck ergriff mich wieder für einen Augenblick.

Seitdem sind fast siebzehn Jahre vergangen. Ich öffne die Gardinen und sehe hinaus auf die Straße, wo Menschen in einen Autobus ein- und wieder aussteigen. So viele Menschen, so viele Schicksale, die dir auf den ersten Blick nichts sagen, dir völlig gleichgültig sind. Und doch kann sich so vieles ereignen, in den paar Minuten, in denen der Bus hält. Menschen schließen neue Bekanntschaften, oder es kommt zu zufälligen Begegnungen, die den Menschen erst Jahre später wieder in den Sinn kommen.

Ich entschließe mich, meine Wohnung zu verlassen und in die Stadt zu gehen. Auf dem Weg in die Stadt begegnen mir Retos Gedanken wieder: „Manchmal passiert es ganz von allein.“ Der Himmel ist heute bewölkt, aber die Sonne scheint manchmal durch die Wolken. Es ist viel Verkehr auf den Straßen, obwohl heute ein Feiertag ist. Ich komme an einem Park vorbei, überall liegt Eichenlaub und ich gehe zum Kiosk, um mir eine Zeitung zu kaufen. Nachdem ich die Zeitung bezahlt habe, setze mich auf eine Bank und beginne diese zu lesen.

Nach einigen Minuten sehe ich, wie sich eine junge Frau auf die Bank neben mir setzt. Sie trägt eine blau-weiß-karierte Bluse und rosafarbene Cordjeans. Als sie sich auf die Bank gesetzt hat, bemerkte ich, dass sie einen traurigen Eindruck macht. Während ich versuche, meine Zeitung zu Ende zu lesen, muss ich immer wieder daran denken, wie ich diese junge Frau ansprechen könnte. Ich lege meine Zeitung beiseite, wechsle die Straßenseite und setze mich neben diese junge Frau. Sie sagt nichts. Ich flüstere ihr zu: „Ich habe neulich erst einen Roman eines bekannten Schriftstellers gelesen. An einer Stelle kommt das Lied ‚Pretend you’re happy when you’re blue‘ vor.“ Ich beginne ihr das Lied vorzusingen. Wieder zeigt sie keine Reaktion.

Eine Weile bleibe ich so sitzen, dann gehe ich wieder zum Kiosk und kaufe einen Apfel. Diesen lege ich auf die Bank und verabschiede mich von der jungen Frau. „Manchmal passiert überhaupt nichts“, muss ich an Retos Worte denken. Als ich nach Hause gehen will, lässt mich aber der Gedanke an diese junge Frau nicht in Ruhe. Wer könnte sie wohl sein? Ist sie vielleicht eine Studentin? Ist sie eine Einheimische oder eine Touristin? Damals auf der Italienreise war es mir doch auch so ergangen, dass eine flüchtige Beziehung eine flüchtige Beziehung blieb.

Ich mache kehrt und gehe zum Park zurück. Da ich befürchte, dass mein Interesse der jungen Frau unangenehm sein könnte, schleiche ich mich nur leise heran. Als ich an der Bank vorbeikomme, bemerkte ich, dass die junge Frau nicht mehr dort sitzt. Stattdessen liegt ein genüsslich abgegessener Apfelbutzen auf der Bank. Ich fange an zu lachen und denke mir: „Manchmal passiert es ganz von allein.“

Michael Bauer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21064

Frau F. leidet an Briefangst oder Warum Herr N. nicht mehr bei der Post arbeitet

Also es gibt so Geschichten, die glaubt man kaum. Wenn ich Ihnen das erzähle … Aber aus nächster Nähe hab ich das mitbekommen. Meine Nachbarin, die Frau F. nämlich, die war immer schon ein bisschen anders. Einen Fernseher hatte sie nie, braucht sie nicht, hat sie gesagt. Und einen Computer hat heutzutage jeder, aber sie nicht. Und statt einem Smartphone hat sie ein Handy, das man aufklappen muss zum Telefonieren. Ich glaube, eine App hat das dann auch nicht. Die gab es damals noch nicht, als Frau F. ihr Mobiltelefon, wie sie es nennt, gekauft hat.

Jedenfalls, ich bin ja ein toleranter Mensch. Dann soll sie halt ohne das alles leben, hab ich mir gedacht. Ist ja ihre Sache, und sie tut niemandem was zuleide damit. Hab mich also öfter unterhalten mit ihr, so übern Gartenzaun drüber, über Serien nicht, das war ja sinnlos, aber sonst eh ganz nett. Mir ist schon aufgefallen, dass sie viel Post bekommt. Und Zeitungsabos, zwei sogar. Alles, was wir so online haben, war bei ihr halt im Postkasten. Rechnungen, vermutlich, reingeschaut hab ich nicht, aber manchmal gesehen, was sie so rausgenommen hat aus dem Briefkasten, Briefe auch. Manchmal eine Postkarte, hatte ich sonst ewig nicht mehr gesehen, so etwas.

Ihre Kinder leben im Ausland, vielleicht bekam sie deswegen Ansichtskarten. Ich hab mir schon öfter Gedanken gemacht, wie ihr Leben aussieht. Alt ist sie ja nicht. Aber anders schon. Und ich hab ja mehr Zeit jetzt, seit der Pension. Der Briefträger hat auch immer gern mit ihr geredet. Der Herr N., ein freundlicher Mensch. Ich glaube, der war froh, dass er mal keine Pakete herumschleppen musste bei ihr. Weil sie kein Internet hatte, hat sie ja auch nichts online bestellt. Da war ihm ihre leichtere Post und hie und da ein eingeschriebener Brief schon lieber.

Ja, und weil er ja auch ein gemütlicher Mensch ist, hat sie ihn, wenn sie sich zufällig oder beim Unterschreiben einer Empfangsbestätigung trafen, zu sich in den Garten eingeladen, die Gespräche hab ich dann nicht gehört, weil sie hinters Haus sind, das ist auf der anderen Seite zu meinem Garten, aber gesessen sind sie schon immer ein Neichterl dort. Also die haben sich verstanden, das hat man einfach gemerkt.

Und dann kam der Tag, an dem Herr N. der Frau F. einen Brief persönlich brachte und darauf wartete, bis sie ihn geöffnet hatte. Ich war zufällig im Garten und sah, wie Herr N. sie zu ihrer Terrasse begleitete, nachdem sie den Brief gelesen hatte. Und dann kam er ewig nicht mehr heraus auf die Straße, ich glaube, an dem Tag hatte er dann Stress mit seiner restlichen Runde.

Von dem Tag an war alles anders. Der Briefkasten von Frau F. ging über. Sie holte anfangs noch die Zeitungen heraus, und nach einigen Wochen lagen dann auch die herum, als ob sie auf Urlaub wäre. War sie aber nicht, das hätte ich gemerkt. Und ihr Auto stand in der Garage, da war ich mir sicher. Also sie war schon da, aber irgendwie auch nicht. Um den Briefkasten machte sie jedenfalls einen großen Bogen. Da wurde es dem Herrn N. zu bunt, nehme ich an, denn er brachte ja weiterhin Post, und da war kein Platz mehr im Briefkasten. Er ging jedenfalls mit einem Haufen Papier im Arm zu ihr hinein. Die Haustür war offen, wie immer bei ihr, wenn sie daheim war, außer nachts, da sperrte sie schon auch zu, glaub ich zumindest.

Er kam nicht mehr heraus an diesem Tag. Ich weiß, dass sie da drinnen sitzen, manchmal gehen sie auch spazieren. Und sie fahren einkaufen mit ihrem Auto oder sonst wohin. Und der Briefkasten geht nicht mehr über, Herr N. leert ihn regelmäßig. Was er mit der Post macht, weiß ich nicht. Aber was mir aufgefallen ist: Sie haben jetzt eine Feuerschale hinten im  Garten, wo sie oft  beisammensitzen und leise lachen.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 21057