Schlagwort-Archiv: schräg & abgedreht

Kollege Werner

Kollege Werner kommt mit einem riesigen Hufeisenmagneten ins Gemeinschaftsbüro. Der Magnet ist so groß, dass ich mich wundere, dass Werner ihn tragen kann. Werner und ich waren noch nie Freunde. Nun kommt er auf meinen Arbeitsplatz zu und schreit: „Bühring, du Kollegenschwein, jetzt wirst du sehen, was du davon hast!“ Er versucht, den Hufeisenmagneten gegen meinen Desktop-Computer zu halten. So ganz gelingt ihm das nicht, der Magnet steht schief gegenüber dem Computergehäuse, dennoch wird der Bildschirm schwarz. So wie es aussieht, sind alle Daten futsch. Na ja, so schlimm ist das auch nicht. Es sind ja nur Firmendaten. Außerdem gibt es ein Backup. Gibt es ein Backup? Welchen Datums?

Der leere Bürostuhl im beleuchteten Fenster

Der leere Bürostuhl im beleuchteten Fenster

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 20031

Sedierung

Kleiner weißer Halbmond
lädt mich ein,
Die Tür geht auf
synthetische Ruhe,
Wände verschwimmen
durch das Glas
blicke ich ruhig auf die Außenwelt,
Hier spricht keiner
Weiße Nächte blicken herab
Stunden ziehen vorbei
bis das Glas zerbricht

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 19121

Unschärfe

Die Welt erklärt sich mir in mehr oder weniger großen farbigen Flecken.
Der Himmel als zentrales Element, eine blassblaue, unregelmäßig runde große Fläche im Zentrum, mit weißen Schlieren; beim Blick von unten flankiert von bewegten Arealen in verschiedenen Grüntönen.

Ich rühre mich nicht vom Fleck. In der Abendsonne hab ich mich so weit weggedöst. Mein Umfeld sieht aus wie eine Landschaft von Paula Modersohn-Becker.

Ein Blick zur Seite, und es fügt sich eine Kombination aus anderen Farbfeldern zu einem neuen expressionistischen Bild: Es bewegt sich stärker und öfter als das vorige Motiv über mir. Kleine und größere Figuren, bunte Farbpatzer und -kleckse und immer wieder Grün dazwischen. Im Hintergrund ein waberndes fernes reizvolles kühles Blau. Ich richte mich kurzzeitig ein bisschen auf: eine geometrische Tiefebene in Blau, weiße Lichtspritzer auf der Oberfläche.

Ich komme nicht vom Fleck. Eigentlich wollte ich lesen, doch kann ich kaum die Augen offenhalten. Das macht nichts, denn da sind noch die Lautmalereien, mehr oder weniger vernehmliche Geräusche. Spitzes Kindergekreische und weiches Plätschern, Gesprächsfetzen.

Einen blauen Fleck riskieren. Freiwilliger Konturverzicht, ein Wagnis? Ich kann meinen Mut gar nicht hoch genug einschätzen! Versuche halbherzig, mich wachzudenken, doch bleibe ich matt und müde. Ich grinse kraftlos in mich hinein und verweigere träge der Welt meine Aufmerksamkeit; einen Fleck auf der weißen Weste haben.

„Bitte beachten Sie: Das Strandbad wird in fünfzehn Minuten geschlossen.“

Allmählich sollte ich doch die Badesachen zusammenpacken und vor allem endlich meine Brille wieder aufsetzen. Vom Fleck weg. Sozusagen.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19093

„Weird aktuell“

„Auf einer Skala von 1 bis 10, als wie seltsam würden Sie sich einschätzen?“, fragt die Beamtin in der Amtsstube. „10 ist am höchsten“, setzt sie nach. „Ich würde mir eine Vier geben“, sagt der Mann mittleren Alters. „Na, dann lassen Sie mal hören, was Sie so tun!“, fordert ihn die Beamtin auf. „Wissen Sie, es ist nämlich so“, beginnt der Mann ein wenig vorsichtig, „dass ich fliegen kann. Ich bin ein Vogel, ein Star. Wer, während ich in der Luft bin, auf dem Boden verbleibt, ist nur ein Automat, der funktioniert, wie er funktionieren soll, aber nicht mehr.“
Er blickt auf den Wandkalender, dann fährt er fort: „Wir haben heute den 7. Februar, in Wirklichkeit bin ich ja noch in Südafrika. Vor Ihnen sitzt bloß jener Automat, der Alfred Binder heißt.“ „Gut, Herr Binder, ich denke, ich werde Sie sogar auf eine Fünf hochstufen“, sagt die Beamtin, „was meinen Sie dazu?“ „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder“, sagt die Figur, die kerzengerade vor ihr sitzt, „Alfred Binder, Alfred Binder, Alfred Binder.“ Aus ihren Augen strahlt gebündeltes Licht.

Lego-Roboter

Lego-Roboter

„Huch“, sagt die Beamtin. „Danke für den Besuch, Herr Binder, Sie können jetzt gehen.“ Nachdem die Figur weiterhin „Alfred Binder“ vor sich hinspricht und sie mit ihren Augen anleuchtet, ruft die Beamtin den Sicherheitsdienst. Zwei Uniformierte erscheinen und tragen Alfred Binder hinaus. Ein interessanter Fall, überlegt sie, Herr Doktor Krinkenmöller wird sich freuen. Dieser Herr Binder kann natürlich an einer zerrütteten Persönlichkeit leiden, aber vielleicht stimmt, was er behauptet, dass seine menschliche Gestalt tatsächlich nur ein Automat sei und er wirklich ein Vogel. Man kann nie wissen, man kann nie wissen, denkt die Beamtin, je länger ich diese Tätigkeit ausübe, desto weniger sicher bin ich mir, was der Wirklichkeit entspricht. Sie füllt das Formular fertig aus. „Ein satter Fünfer“, sagt sie sich, „das ist schon einmal gut.“ Doch weil sie sich nicht sicher ist, setzt sie ein Fragezeichen in Klammern neben die Ziffer. Dann legt sie das Formular in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“.

Jetzt klopft es an die Tür. „Herein!“, ruft die Beamtin. Eine schmale Frau, zirka Mitte dreißig, tritt etwas zögerlich ein. „Nehmen Sie bitte Platz, Frau ..?“ „Bittmann“, sagte die schmale Frau, die aschblonde kurze Haare hat und blaue Augen. „Frau Bittmann, ja“, sagt die Beamtin, „und der Vorname?“ „Kerstin“, sagt die Frau. Für sich nennt die Beamtin sie Mausfrau, Kerstin Mausfrau. Sie legt ein neues Formular vor sich und beschriftet es mit dem Datum und „Kerstin Bittmann“.
„Was haben Sie anzubieten, Frau Bittmann?“, fragt die Beamtin. „Anzubieten?“ „Ja, Frau Bittmann, Sie wissen ja, wir untersuchen hier Menschen, die Phänomene hervorrufen können, Zustände, die landläufig als nicht normal bezeichnet werden würden. Sie sagten mir telefonisch, Sie wären ein derartiger Mensch. Also, auf der Seltsamkeitsskala von 1 bis 10, 10 ist das Maximum, wo würden Sie sich einreihen, und was beherrschen Sie?“ „Ich würde mich in der Mitte sehen, demnach auf Fünf“, sagt Frau Bittmann. „Meine spezielle Fähigkeit besteht darin, dass ich mich unsichtbar machen kann, wenn ich will.“ „Gut, Frau Bittmann, dann zeigen Sie das mal!“, fordert die Beamtin sie auf. Plötzlich ist der Stuhl vor ihr leer.

Pink Child

Pink Child

„Umwerfend“, sagt sie, „das ist toll! Sie können sich mit allem, was Sie an sich tragen, unsichtbar machen, wie ich sehe, beziehungsweise eben nicht sehe“, stellt die Beamtin fest. „So ist es“, erklingt die nun ziemlich feste Stimme von Frau Bittmann. „Sie können jetzt zurückkommen“, sagt die Beamtin. Und Frau Bittmann zeigt sich wieder, auf dem Stuhl sitzend. Sie lächelt leicht. „Sehr beeindruckend, wirklich!“, lobt sie die Beamtin.

Kurz denkt sie nach. Verwenden nicht Illusionisten Spiegel, um eine Person scheinbar unsichtbar zu machen? „Sagen Sie, Frau Bittmann, haben Sie technische Hilfsmittel verwendet?“, fragt die Beamtin. Jetzt ist der Stuhl vor ihr wieder leer, einige Sekunden später sitzt Frau Bittmann wieder vor ihr. „Nein“, sagt sie. „Können Sie sich immer unsichtbar machen, wenn Sie wollen?“, fragt die Beamtin. „Grundsätzlich schon“, sagt Frau Bittmann, „außer wenn ich schwer krank bin.“ „Das ist sehr aufschlussreich“, sagt die Beamtin. „Ich stufe Sie, vorsichtig betrachtet sogar, auf eine Sechs ein.“
Sie notiert diese Zahl im Formular. „Wow!“, sagt Frau Bittmann. „Ja, das kann man so nennen“, sagt die Beamtin. „Wir sind jetzt fertig. Danke, dass Sie hier waren, Frau Bittmann.“ „Es hat mich sehr gefreut“, sagt Frau Bittmann.
Sie steht auf, verschwindet, man hört ihre Schritte, die Bürotür öffnet und schließt sich. Die Beamtin füllt das Formular fertig aus und legt es in das rote Fach mit der Aufschrift „Weird aktuell“. Ein Sechser, super wirklich!, überlegt sie, bislang der erste. Herr Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein.

„So, ich werde jetzt schnell einmal eine Pause einlegen“, sagt die Beamtin zu sich selbst. Sie verlässt ihr Büro, sperrt mit dem Schlüssel ab und dreht das Schild an der Tür um, auf dem jetzt „Nicht besetzt“ steht. Draußen sitzt ein dünner junger Mann mit schulterlangen Haaren. Er sieht die Beamtin an. „Wollen Sie zu mir?“, fragt sie. „Ja, genau“, erwidert er. „Bitte gedulden Sie sich noch ein wenig. Ich bin in spätestens einer Viertelstunde zurück“, sagt die Beamtin. „Kein Problem“, sagt der junge Mann lässig. Sie holt sich vom Kaffeautomaten einen Cappuccino im Plastikbecher um 50 Cent und geht ins Freie, lehnt sich dort gegen das Aluminiumgeländer und zündet sich eine Zigarette an. Das tut gut, denkt sie, der einzige Vorteil, den das Rauchen hat, ist ja der, dass, wenn man Pause macht und eine Zigarette raucht, man dadurch wirklich merkt, dass man Pause hat. Leider lässt es aber auch meine Haut altern und pergamentartig wirken. Ich sehe wohl nicht jünger als, als ich bin.

Vandalismus

Vandalismus

Ihr Kollege Walter Kohlweg kommt auf sie zu, ebenso mit einer glimmenden Zigarette, die aber soeben erst angezündet wurde. „Hallo Elena“, sagt er. „Hallo Walter“, sagt sie. „Frau Elena Weber“ steht auf ihrer Bürotür, das ist ihr Name. „Elena, bist du‘s wirklich?“, fragt er. „Ja klar“, sagt sie, „ich bin aus Fleisch und Blut.“ Sie tapst auf seine linke Hand. „Du hast das gespürt, ja?“, fährt sie fort, „das bin ich.“ „Aber Elena, ich verstehe das nicht“, sagt ihr Kollege, „ich war gerade in deinem Büro, um eine Akte zu holen, die bei dir liegt. Du bist an deinem Schreibtisch gesessen, dann bist du aufgestanden und hast sie mir herausgesucht. Schau, hier ist sie.“
Er deutet auf die rote Akte in seiner linken Hand. „Nicht logisch zu erklärende Vorfälle, Teil 1“, steht auf ihr. „Das kann nicht sein, Walter“, sagt die Beamtin, „erstens habe ich die Tür von außen zugesperrt, und zweitens bin ich hier, wie du siehst.“ „Du hast die Tür zu deinem Büro zugesperrt?“, fragt ihr Kollege. „Ja, mit einem Schlüssel, schau, mit diesem hier“, sie fischt ihn aus ihrer Jackentasche. „Da stimmt etwas nicht, da stimmt etwas ganz und gar nicht, Elena. Sag, fühlst du dich gesund“, fragt Walter. „Ja natürlich, ich bin topfit. Was soll nicht stimmen, Walter?“, fragt sie. „Unsere Bürotüren werden nicht mit einem Schlüssel versperrt. Sie fallen im Türrahmen ins Schloss und bleiben zu. Geöffnet werden sie über eine Kamera, welche die Iris scannt. Wir sind schließlich ein fortschrittliches Institut“, erklärt Walter. „Oh“, sagt die Beamtin.

Sie ist verwirrt, aber gleich fängt sie sich wieder. „Das kann nicht sein“, sagt sie. „Doch es ist so“, sagt ihr Kollege, „vielleicht hast du heute nur einen schlechten Tag. Der Schlüssel ist wahrscheinlich für eine Tür bei dir zuhause. Du wirst es ja sehr bald selbst sehen, wenn du nämlich vor deiner Bürotür stehst. Aber das ist ja noch das weit Geringere, Elena, das andere ist, dass es dich doppelt gibt. Ich habe dich in deinem Büro und eineinhalb Minuten später hier draußen gesehen. Deine Zigarette brennt aber bestimmt schon seit mindestens drei Minuten. Ich irre mich ganz bestimmt nicht.“ „Das ist völlig unmöglich“, sagt die Beamtin. Walter hat doch früher ein heftiges Alkoholproblem gehabt, wenn ich mich recht erinnere, denkt sie. Jetzt hat er zwar keine Fahne, aber vielleicht trinkt er Industriealkohol mit Fruchtsaft vermischt, der ist geruchslos, Walter sieht sie skeptisch an. „Schau nicht so!“, würde sie am liebsten sagen, aber sie lässt es bleiben, um nicht einen möglichen Streit vom Zaun zu brechen. Sie raucht ihre Zigarette fertig und tötet sie in einem Aschenbecher aus. Ihr Kollege raucht noch. „Soll ich dich begleiten?“, fragt er. „Wozu denn?“, erwidert die Beamtin. „Gehen kann ich schon selber.“

Sie legt den kurzen Weg bis zu Ihrem Büro zurück. Draußen sitzt der junge Mann, wie zuvor. Aber ihre Bürotür ist nun aus Aluminium und nicht mehr aus Holz. Und es gibt kein Schlüsselloch, sondern eine Kamera. Zum Glück steht „Elena Weber“ noch an der Tür. Sie sieht in die Kamera. Ungefähr zwei Sekunden vergehen. „Zutritt gestattet“ scheint auf einem kleinen Display an der Tür auf. Es macht klack und die Tür öffnet sich von selbst. Die Beamtin tritt in ihr Büro. Sie sieht sich selbst, wie sie am Schreibtisch sitzt und etwas schreibt.

Schwein verkehrt

Schwein verkehrt

Sie hat keine Zwillingsschwester, was eine gängige Erklärung für dieses Ereignis wäre, es ist sie selbst. Es gibt sie, Elena Weber, die Beamtin, zweimal.
Jetzt schaut die Elena am Schreibtisch auf und erblickt die Elena, die im Raum steht und sie ansieht. In diesem Moment verschmelzen die beiden Elenas zu einer Person. Diese Person ist die Elena, die am Schreibtisch sitzt.
Das kann nicht sein, das ist total verrückt. Ich bin doch kein Chromosom. Ich bin ein Mensch, eine Frau, ich kann mich nicht teilen. Hoppla, ich rufe ja einen Fall hervor, wie wir ihn hier in diesem Institut untersuchen. Und dort bin ich ein Zehner. Doktor Krinkenmöller wird begeistert sein, wenn er davon hört, oder er würde begeistert sein, wenn er davon hörte.
Womöglich bilde ich mir doch alles nur ein. Dann würde ich in der Psychiatrie landen, in einer geschlossenen Abteilung, und das für lange Zeit, mit der Diagnose einer astreinen Schizophrenie. Nein, ich weiß wirklich nicht, ob ich das melden soll.
Und nun etwas anders: Nehmen wir an, es gibt mich wirklich doppelt, welche Person ist dann dominant?

Die Beamtin verlässt noch einmal das Büro. Der junge Mann sieht sie fragend an. „Sofort“, sagt sie, „ich bin gleich fertig.“ Sie lässt erneut ihre Iris scannen, klack, die Bürotür öffnet sich. Die zweite Elena sitzt am Schreibtisch. „Grüß Gott, Frau Weber“, begrüßt sie ihr zweites Ich, „falls Sie interessiert sind, ich kann Ihnen eine ganz spezielle Besonderheit vorstellen.“ Sie spricht bewusst laut, und am Schluss klatscht sie in die Hände. Jetzt schaut die am Schreibtisch sitzende Frau Weber auf und sieht die vor ihr stehende Frau Weber, ihre beiden Blicke treffen sich. In diesem Moment verschmelzen die beiden Frauen Weber, diesmal zur im Raum stehenden Frau Weber.
„Aha“, sagt die Beamtin zu sich selbst, „nun bin ich etwas schlauer, aber wie ich jetzt weiter vorgehen soll, weiß ich noch nicht, noch lange nicht. Fürs Erste werde ich weitermachen wie immer.“ Sie dreht sich um und öffnet ihre Bürotür. Sie sieht zu dem jungen Mann und sagt: „Grüß Gott, jetzt bin ich endlich fertig. Wollen Sie bitte eintreten?“

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19059

The Stars are Falling

Es ist Nacht,
keine Wolken.
Er sieht in den Himmel.
Die Sterne sind näher als sonst.

Fünf Minuten später sind sie noch näher
und darum größer.
Nach weiteren fünf Minuten haben sie sich
noch stärker angenähert,
jetzt sind sie ziemlich groß.

Und in nochmals fünf Minuten fallen sie auf die Erde.
Wie Regen, nur nicht von Wasser, sondern von Sternen.
Überall liegen sie verstreut, unzählig viele,
aber das sieht der Mann erst am kommenden Morgen,
wenn es wieder hell ist,
die Sonne ist zum Glück am Himmel verblieben.

Golden Star

Golden Star

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht | Inventarnummer: 19057

Sprung in der Schüssel

Ich habe einen Sprung in der Schüssel,
der Riss sucht einen Ausweg,
kreuzt sich mit einem anderen Sprung,
Sie werden zur tieferen Kerbe,
Tiefer sickert Wasser hinein

Ich habe gehört,
es soll zu faulen beginnen
Dem Warten zu entfliehen,
Alles zu überschwemmen,

Bevor es zu schwer wird,
reiß ich es ab,

Noah war nicht hier

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 19016

Der Gammlicher Achter

Mein Name ist Dr. Igor Kushkurow und ich bin Jäger. Präzise gesagt bin ich der Schwarzrussische Staatsgroßmeister für die Bejagung von Kreaturen des Bodens und der Luft. Ich kann von dieser Arbeit zwar nicht leben, wenigstens nicht gut, doch ist meine Familie reich. Dieser Umstand, der es mir, nebenbei erwähnt, erlaubt, meinen Passionen nachzugehen und meinen Gedanken nachzuhängen, rührt daher, dass mein Vater der Besitzer der größten Waffenfabrik meines Mutterlandes ist.

Der Hang zur Jagd ist meiner Familie immanent. Mein Großvater, Milorad Kushkurow, war der vermutlich größte Jäger, der die schwarzrussischen Böden und Lüfte von diese bevölkernden Kreaturen befreit hat. Er hatte die sogenannte Gänsefeder erfunden, einen langen Stab aus Bohrstahl, an dessen Spitze eine bruchfeste scharfe Feder aus Blecheisen befestigt war. Die Gänsefeder ist ein überaus geeignetes Instrument, um Wasservögel zur Strecke zu bringen. Man pirscht sich an diese Vögel, wie beispielsweise Schwarzrussische Wasserfischsichler oder Schwarzrussische Karpfenschnäbler, an, idealiter lautlos, und erlegt sie vermittels eines kräftigen und hoffentlich gezielten Vorwärtsstoßes.
Der Erfolg dieser Erfindung meines Ahnen war überwältigend. Die bis zu diesem Zeitpunkt gebräuchliche Finkenfeder geriet alsbald in Vergessenheit.

Nun, mein Großvater war dermaßen überzeugt von seiner Waffe, dass er den Fehler beging, der der erste sein sollte, den er je begangen hatte. Ich muss hinzufügen, dass dieser Fehler gleichzeitig sein letzter war. Großvater Milorad hatte nämlich versucht, ein adultes Exemplar des Schwarzrussischen Krausbartbären mit seiner Gänsefeder zu erlegen. Der Krausbartbär sieht vielleicht ungefährlich, beinahe kann er als komisch kreiert bezeichnet werden, aus, doch täuscht dieser Eindruck. Dieses, in beschneiten Regionen hausende, und auch marodierende, auf zwei Beinen schreitende Wesen meint es nämlich ernst. Seine drei Meter langen Arme sind mit sichelförmigen gezahnten Krallen bewehrt, und die Tatsache, dass mein Großvater eine bloß zwei Meter lange Gänsefeder auf den Brustkorb der Kreatur richtete, darf wohl als Hauptgrund für sein Ableben vor der Zeit angesehen werden. Mein Ahn hatte, wie man bei uns in Schwarzrussland zu sagen pflegt, das Unglück des langsamen Ausweichens gehabt.

Mein Vater, auch er heißt Milorad, litt so grässlich unter diesem Verlust, dass er sämtliche Gänsefedern, die sein Vater hinterlassen hatte, zum Staatlichen Altmetallplatz brachte und eine Fabrik für Schusswaffen gründete. Da sein Bruder Dmitri, also mein Onkel erster Ordnung, zu dieser Zeit das verantwortungsvolle Amt des Ministers für die Geldliche Gebarung Schwarzrusslands bekleidete, stellte die Finanzierung kein Problem dar. Vater Milorad gab seinen Produkten, also den Waffen, den Markennamen Gammlicher. Er hatte sich für diesen hochgermanischen Namen entschieden, denn seine Waffen sind in der Tat von allererster Güte, was ihre Verarbeitung und somit ihre Haltbarkeit betrifft, darüber hinaus entstammt meine Mutter dem sehr alten, aber leider verarmten, hochgermanischen Geschlecht der Gammler.

Das Spitzenprodukt der Waffenschmiede meines Vaters ist der sogenannte Große Gammlicher Achter. Hierbei handelt es sich um ein Gewehr mit, wie der Name vermuten lässt, acht Läufen. Ich darf sagen, dass ich für die Jagd ausschließlich einen Achter verwende. Die drei unteren nebeneinander liegenden Läufe sind für Schrotpatronen vorgesehen, die auf ihnen liegenden drei für Projektilpatronen, und die beiden obersten, ein Lauf ist auf dem linken Kugellauf platziert, der andere auf dem rechten, somit bleibt die Mitte des oberen Drittels frei, können je nach Belieben mit Steinen, Glasmurmeln oder auch Schreibgeräten beladen werden.
Der Große Gammlicher Achter hat jedoch den Nachteil, überaus gewichtsintensiv zu sein. Dieser Umstand macht einen Assistenten unerlässlich, in meinem Fall handelt es sich um Pavel Lickshit, er ist Großexperte für das Dasein im Rudel allgemein, welcher üblicherweise vor dem Schützen kniet, sein Rückgrat somit als Auflagefläche zur Verfügung stellt. Diese Haltung wird im Übrigen als Gammlicher Kauto bezeichnet. Für gewöhnlich nimmt das Rückgrat des Assistenten dabei keinen Schaden. Mit dieser Waffe ist es mir möglich, sämtliche schwarzrussische Kreaturen zu erlegen.

Nun, der Vizeminister für die Gesundheit der Schwarzrussischen Bevölkerung kontaktierte mich ebenso telefonisch wie in Harnisch. Er erregte sich über in letzter Zeit gehäuft auftretende jagdliche Unfälle mit letalem Ausgang. Die schwarzrussischen Jäger, so meinte er, wären nämlich nicht mehr in der Lage, die geeigneten Waffen gegen bestimmte Kreaturen einzusetzen, sodass diese Wesen die Jäger einfach töten würden. Jedenfalls bat er mich, mich dieses Problems anzunehmen und den Jägern zu erläutern, welche Waffe, oder Waffen, für welche gefährliche Kreatur geeignet sei. Bereitwillig versprach ich, mich um diese Angelegenheit zu kümmern.
Ich dachte mir, dass ein Lokalaugenschein bei den Jägern nur hilfreich sein könnte, also fuhr ich einfach in den nächstgelegenen Wald und beobachtete die dort agierenden Jäger. Was ich sehen musste, ich kann es nicht anders formulieren, war hoch grässlich.

Ein Jäger, der Mann war etwa vierzig Jahre alt, versuchte, einen Schwarzrussischen Bäreneber zu erlegen. Als ich erkannte, womit er dies bewerkstelligen wollte, gefror mir das Blut in den Adern: mit einer Gänsefeder. Ich rief dem Mann zu, dass er dies besser unterlassen sollte, doch wollte er wohl nicht auf mich hören. Die Sache ging so aus, dass der Bäreneber den Jäger auf eine Art und Weise zu Tode brachte, die bloß als infam bezeichnet werden kann. Da mein Assistent Pavel Lickshit zu diesem Zeitpunkt noch in seinem Rudel tätig war, konnte ich meinen Großen Gammlicher Achter nicht in Anschlag bringen, um der Kreatur die eben begangene Meuchelei heimzuzahlen.

Etwa einen Kilometer entfernt durfte ich miterleben, wie ein offensichtlich erfahrener Jäger, die Schnäbel und Zähne, die er auf einer schweren Kette um den Hals trug, bewiesen das, versuchte, eine Schwarzrussische Branddrossel zu erlegen. Er feuerte ununterbrochen auf den winzigen Vogel, und das aus einer großkalibrigen Büchse. Da ich keine unmittelbare Gefahr für Leib und Leben dieses Jägers erkennen konnte, unterließ ich es, ihn anzusprechen. Vielmehr ließ ich mich auf dem Boden nieder und beobachtete höchst amüsiert diese Szene. Der Mann verfeuerte alle Patronen, die er bei sich hatte, und warf danach seine Flinte wutentbrannt in die Richtung des Vogels, der, beinahe wie zum Hohn, unablässig zwitschernd über dem Haupt des Jägers kreiste. Das Gewehr verfehlte den Vogel, dafür landete es auf des Jägers Fuß, was dieser mit unzähligen unflätigen Flüchen quittierte. Die Branddrossel defäkierte noch auf den Kopf dieses Mannes, bevor sie davonflog. Schallend lachend lief ich zu meinem Geländewagen und stattete dem Vizeminister einen unangemeldeten Besuch ab.

Er empfing mich sogleich, und ich berichtete ihm von den Eindrücken, die ich gewonnen hatte. Wir sprachen über verschiedene Möglichkeiten, dieses Problems Herr zu werden, kamen jedoch zu keiner befriedigenden Lösung. Ich rief meinen Vater Milorad an und bat ihn, zu uns zu stoßen. Eine halbe Stunde später saß er bei uns am Konferenztisch und wurde von uns in die Problematik eingeführt.
Vater Milorad lauschte interessiert unseren Ausführungen und fand prompt eine Lösung. Dann ging alles Schlag auf Schlag. Der Vizeminister bestellte den ihm nachgeordneten Minister für Jagdliches Verhalten in Schwarzrussland ein und befahl ihm, innerhalb der nächsten zwei Stunden die Weisung zu erteilen, dass Jäger künftig zu zweit ihrer Passion nachzugehen hätten, jedoch bloß eine einzige Schusswaffe mit sich führen dürften, nämlich einen Großen Gammlicher Achter. Der Minister lief aus dem Büro des Vizeministers, um diese Weisung so zeitnah wie möglich zu erteilen.
Mein Vater nahm seine goldene Armbanduhr ab, gab sie dem Vizeminister, der sie sogleich mit zufriedener Miene anlegte, dann küsste er mich auf die Wange, sagte, ich hätte das Richtige gemacht, nämlich ihn anzurufen, und verließ das Büro.

Mir wurde die verantwortungsvolle Aufgabe übertragen, sämtliche schwarzrussische Jäger in der ordnungsgemäßen Handhabung des Großen Gammlicher Achters zu unterweisen. Mit diesem Gewehr, das kann ich versichern, sitzt jeder Schuss.
Das Problem, welches ich als letztes zu lösen hatte, war die Frage, welcher von zwei Jägern, die gemeinsam auf die Pirsch gehen, nun derjenige zu sein hätte, der vor dem anderen niederknien müsste. Ich beschloss, dass es stets den Jüngeren treffen sollte, den Gammlicher Kauto zu vollziehen, und das so lange, bis er selbst einen jüngeren Jagdkameraden finden würde, denn es kann einfach nicht sein, dass ein älterer Mensch vor einem jüngeren kniet. Ich finde so etwas schlicht unästhetisch.
Somit habe ich ganz nebenbei eine neue, aber durchaus schöne schwarzrussische Tradition erschaffen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17120

Ich bin peinlich rein

Ich bin achtundvierzig Jahre alt und Semiakademiker, was impliziert, dass ich mein Studium der Ausbreitungswissenschaften an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität nicht zur Gänze, vielmehr zur Hälfte abgeschlossen habe, um präzise zu sein, ich lege nämlich Wert auf Präzision, studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber, eine, wie ich fürwahr sagen darf, grässliche, weil überaus gefährliche Spezies, sowohl für Menschen als auch für Tiere, deren Gebiet, also das der Ausbreitung dieser grässlichen Bestien, sich stetig erweitert; während ich diese Zeilen zu Papier bringe, kann es gut sein, und ich bin mir beinahe sicher, dass es sich bezüglich der Ausbreitung so verhält, dass es größer wird.
Aus diesem Grund darf ich mich bloß D. Sascha Smirnovskaya nennen, und nicht Dr. Sascha Smirnovskaya, aber dies sei bloß nebenbei erwähnt.

Der Schwarzrussische Blaufelleber sieht aus wie ein gewöhnliches Wildschwein mit hellblauen Borsten, doch ist er weitaus gefährlicher, denn die ihm innewohnende naturgegebene, also prinzipielle, Angriffslust lässt das Tier in Harnisch geraten, sobald es anderer Lebewesen, also auch Menschen ansichtig wird (es gibt Erzählungen, allerdings stammen diese von in ruralen Gegenden domizilierten Menschen – aus diesem Grund halte ich sie für frei erfunden -, dass diese Tiere selbst beim Anblick von Blumen und jungen Bäumen in Harnisch geraten). Dann gebärdet sich der Schwarzrussische Blaufelleber in der Tat grässlich, dann meint er es ernst, todernst.

In achtzig Prozent der dokumentierten Fälle mit menschlichen Verlusten, also in welchen Menschen zu Tode kamen, konnte die Identität der Menschen lediglich vermittels DNA-Abgleich ermittelt werden, denn Schwarzrussische Blaufelleber pflegen ihre Opfer, aus der Sicht der Tiere dürfte es sich um Beute handeln, zur Gänze aufzufressen (bis auf das Gelenk des linken Fußes, welches ihnen, aus welchem Grund auch immer, geschmacklich nicht zusagen dürfte – aus diesem Grund ist ein DNA-Abgleich möglich. Üblicherweise wird bei getöteten Haus- oder Nutztieren auf einen DNA-Abgleich verzichtet.).

Wie gesagt studierte ich die Ausbreitung der Schwarzrussischen Blaufelleber hinsichtlich der Möglichkeiten der Verringerung der Gefahren für Menschen, Haus- und Nutztiere, jedoch sah ich mich gezwungen, mein Studium als Semistudium weiterzuführen und als solches zu Ende zu bringen, denn ich brachte es nicht fertig, die für die Erlangung der Doktorwürde unbedingt erforderlichen Beobachtungen und Versuche im Habitat der Schwarzrussischen Blaufelleber, also in der freien Natur zu machen und durchzuführen, denn jedes Mal, wenn ich eines solchen Tieres ansichtig wurde, geriet ICH in Harnisch. Mich ekelte und ekelt noch immer vor der Unreinheit der hellblauen Borsten dieser Bestien.
Ich bin nämlich peinlich rein!

Der Hang, oder besser Drang, oder noch besser, weil präzise, Zwang zur Reinheit ist mir immanent. Meine Großmutter hatte sich verschiedene Arten von Haustieren gehalten, die als klein gelten konnten. Kaninchen, Hühner, Tauben und Meerbachen (eine dem Meerschweinchen nah verwandte Art, welche sich in schwarzrussischen Kochtöpfen höchster Beliebtheit erfreut) – zur Verwendung in der Küche. Ich fand – und finde immer noch – diese Tiere grässlich, da sie mir als nicht rein erschienen und erscheinen. In ihren Käfigen lagen ihre Haare und Federn neben ihren Exkrementen auf dem Boden herum, und die Tiere mittendrin.
Ich nehme an, dass sich mein Zwang zur Reinheit beim Anblick dieser Tiere in ihren Käfigen ausgebildet hat. Ich wollte ja die von meiner Großmutter aus dem Fleisch dieser Tiere zubereiteten Speisen, die, das muss ich zugeben, köstlich ausgesehen und herrlich geduftet hatten, verzehren – allein, ich konnte es nicht. Der Gedanke an die Käfige ließ mich die Nahrungsaufnahme verweigern.

Fisch aß und esse ich immer gerne. Die weiße Farbe des Fleisches des Schwarzrussischen Wespensalmlers, nachdem dieser von seiner schwarz-gelb gestreiften und mit giftigen Stacheln bewehrten Haut befreit wurde, vermittelt mir das Gefühl, etwas Reines zu mir zu nehmen. Ich liebe das Fleisch dieses Fisches, jedoch ungewürzt und bloß in Wasser gekocht. Es ist nicht so, dass ich nicht versucht hätte, ihm mit Pfeffer und anderen Gewürzen zu ein wenig mehr Geschmack zu verhelfen, doch war das Fleisch des Fisches danach nicht mehr reinweiß. Die Pfefferstückchen nahmen sich wie winzige Verunreinigungen aus, die Teilchen der übrigen Gewürze ebenfalls. Ich musste den Fisch wegwerfen.

Es ist nicht so, dass ich mich bloß vom Fleisch des Schwarzrussischen Wespensalmlers ernähre. Ich habe nichts gegen Fleisch einzuwenden. Ich esse gerne ein saftiges Steak, welches ich scharf anbrate, jedoch nicht in Öl, sondern in einer geringen Menge Wasser. Öl würde unter Umständen Rückstände auf dem Fleisch belassen, die farblich unmöglich zu seinem Grundton passen können, also brate ich meine Steaks stets in Wasser an.
Wasser halte ich ohnehin für das wertvollste, weil die Reinheit am wenigsten beeinträchtigende Element in der Küche. Ich koche, gare, frittiere und brate stets mit Wasser, jedoch bloß eine Zutat auf einmal, um die Reinheit nicht zu gefährden.
Verlangt mich beispielsweise nach Steak mit gekochten Fisolen, so brate ich das Fleisch in Wasser an, verzehre es – natürlich ungewürzt -, hernach koche und verzehre ich die Fisolen; dies, um die Reinheit auf dem Teller nicht zu gefährden.

Ich möchte nun nicht den Eindruck erwecken, ich wäre verrückt, gemeingefährlich oder gar pedantisch. Das bin ich nämlich – natürlich – nicht!
Es ist nicht so, dass ich stets blütenreinweiß gewandet durch die Gegend laufe. Ich besitze Kleidung in verschiedenen Farben wie Weiß, Reinweiß, Blütenweiß, aber auch Schwarz, Dunkel- und Hellblau sowie – hierbei handelt es sich um ein Geschenk meines Verwandten Wladimir Suffkopp; er ist Vizesekretär des schwarzrussischen Vizeministers für Fragen der Schwarzrussischen Kleiderordnung – Rosarot.
Wie Sie sich sicherlich vorstellen können (oder denken werden), stehe ich bezüglich Kleidungsstücken in der jeweiligen angeführten Farbe in Vollausstattung, von der Badehose bis zum Skianzug. Ich trage stets Kleidungsstücke von derselben Farbe, denn ich möchte die Reinheit meines Erscheinungsbildes hinsichtlich Farbe nicht durch die Hereinnahme eines anderen Farbtons trüben oder gar vernichten. Besonders grässlich ist es, also besonders großen Graus bereitet es mir, wenn ich, beim Essen beispielsweise, kleckere oder gar fremdbekleckert werde.

Über diese besondere Grässlichkeit habe ich vor etwa zwei Jahren mit meinem Großvetter Dr. Igor Kushkurow, er ist das Genie in meiner Familie, gesprochen. Großvetter Igor forscht zurzeit an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität zur Frage (der Studienauftrag ist in diesem Fall als Frage formuliert) “Sinn oder Unsinn? – Die Balzrituale männlicher Schwarzrussischer Zwergkopflemminge und ihre Intention, die ohnehin stets zur geschlechtlichen Vereinigung freudig bereiten weiblichen Genossen dieser Art zur geschlechtlichen Vereinigung zu bewegen.” Großvetter Igor erklärte mir, dass die Anzahl der weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge, die im Laufe ihres Lebens unumkehrbare geschlechtliche Neigungen zu den weiblichen (sic!) Genossen ihrer Art entwickeln, bei mittlerweile neunundachtzig Prozent liegt. Er hat mir das Ergebnis seiner Forschungstätigkeit mitgeteilt, obwohl diese Studio offiziell erst in drei Jahren abgeschlossen sein wird (dem gemächlich tröpfelnden Geldhahn des schwarzrussischen Ministeriums für militärische, polizeiliche und universitäre Angelegenheiten würde Dank gebühren, meinte Dr. Kushkurow bitter): ie weiblichen Schwarzrussischen Zwergkopflemminge entwickeln gleichgeschlechtliche Tendenzen, da sich die männlichen Genossen ihrer Art für gewöhnlich den Großteil ihrer Lebenszeit (fünfundneunzig Prozent der Zeit!) auf der Balz befinden und somit naturgemäß bei Weitem zu wenig Energie haben, sich im dem Fall, dass sie zum Zug kommen, auf eine Art und Weise zu gerieren, die männlichen Genossen ihrer Art nun einmal gut anstünde (Großvetter Igor sprach von ‘libidinös-phallischer Dysfunktion’ – ich weiß nicht, was er damit meinte).

Ich sprach also vor gut zwei Jahren mit Großvetter Igor über die Grässlichkeit eigen- oder – noch schlimmer, da aufgezwungen! – fremdbekleckerter Kleidung. Da mein Großvetter mich gut kennt, wusste er, wie wichtig mir eine Lösung dieses schwerwiegenden Problems war (die erste Variante zur Lösung, die er mir vorschlug, nämlich das bekleckerte Kleidungsstück in die Waschmaschine zu legen und diese in Gang zu setzen, war selbstverständlich von mir abgelehnt worden. Was, wenn an der Stelle des Flecks eine ausgewaschen erscheinende Textilstelle sichtbar würde, also von Rosarot zu ausgewaschenem Hellrosarot zum Beispiel? – Nein! Ein noch viel größerer Graus!), nahm er sich gerne zwei Wochen Zeit, um sich einen Überblick über die Gesamtsituation zu verschaffen. Danke, Igor! Und Nastrovje!
Er teilte mir mit, dass in meinem Fall (er sprach von supranasal und auch irgendwas von Subillumination – ich weiß nicht, was er meinte) wohl der Einsatz der sogenannten ‘Fleckenschere’ die beste Lösung wäre. Seit diesem Tag trage ich eine Fleckenschere mit mir; mit ihr schneide ich Flecken einfach aus meiner Kleidung heraus. So bleibt mein farbliches Erscheinungsbild stets rein.

Sie werden jetzt denken, dass ich mit Löchern in meiner Kleidung, die meine nackte Haut, die naturgemäß weder rosafarben noch schwarz ist, zum Vorschein bringen, durch die Straßen laufe – weit gefehlt! Es ist vielmehr so, dass ich stets mehrere Schichten an Kleidung übereinander trage. Wird beispielsweise meine Hose bekleckert und schneide ich den Fleck dann aus ihr heraus, so ist keine Veränderung in meinem farblichen Erscheinungsbild feststellbar, denn unter meiner Hose trage ich stets eine lange Unterhose. Durch das Tragen mehrerer Schichten übereinander bin ich also stets auf der sicheren Seite.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17119

Grauskopf

Mein Name ist Dr. Igor Kushkurow und ich bin Professor für angewandte Kreativität an der Staatlichen Schwarzrussischen Universität.
Für gewöhnlich forsche ich zu Themen wie ‘Die Vor- respektive Nachteile der bodennahen Haltung Schwarzrussischer Finkenbärbiber in außergewöhnlich gestalteten Käfigen oder Gehegen’, oder ‘Wie hat der schwarzrussische Literaturbetrieb auf ein Buch zu reagieren, welches kein Wort enthält?’. Ich darf diese beiden Forschungsgebiete kurz erläutern.

Ein Autor reicht zwanzig unbeschriebene Seiten beim Staatlichen Schwarzrussischen Literaturgroßverlag ein und möchte sein Werk als Roman veröffentlicht sehen. Nun, ich habe den Autor zum Essen eingeladen. Es hat mich zwar einige Mühe gekostet, aus den zwanzig Blatt Papier, die mir der Großverlag freundlicherweise zur Verfügung gestellt hatte, eine schmackhafte Suppe zuzubereiten, doch letztlich habe ich es fertiggebracht. Der Autor dieser zwanzig Seiten wollte sein, wie er es nannte, Hauptwerk erst nicht zu sich nehmen, doch als ich ihm sagte, dass ich meinen Schwarzrussischen Wolfseber holen würde, was diesen grässlich in Harnisch hätte geraten lassen, aß der Literat auf. Ein Wolfseber ist nämlich ein durchaus ernstzunehmender Gegner. Der Literat sah schließlich ein, dass ein Roman zumindest aus dreiundzwanzig Wörtern zu bestehen hat. Ich halte diese Anzahl für ausreichend.

Der Schwarzrussische Finkenbärbiber wiederum ist ein mittelgroßes, gesellig lebendes Wesen, dem allerdings um die Zeit des Vollmondes ein ausgeprägter Hang zum Kannibalismus immanent ist, solange er bodennah gehalten wird. Ich habe ein vollautomatisches Käfig- und Gehegesystem konstruiert, welches die unmittelbaren Folgen dieses Hangs, nämlich den Tod dieser Lebewesen, hintanhält.

Meine letzte Forschungstätigkeit hatte das Problem ‘Die galoppierend zunehmende Kraushaarigkeit weiblicher schwarzrussischer Jugendlicher als Problem auf dem Staatlichen Schwarzrussischen Verehelichungsmarkt, und mögliche Abhilfen’ zum Inhalt, und es handelt sich dabei fürwahr um ein großes Problem. Als Folge einer offenkundigen genetischen Mutation kamen zehntausende weibliche Jugendliche kraushaarig zur Welt. Meine erste Vermutung, alle diese Mädchen hätten den selben Vater, stellte sich als falsch heraus, denn mein guter Freund Dr. Dmitar Schwengeloff, seine beiden Ehefrauen nennen ihn oft ‘wilder Eber’, und er ist selbst kraushaarig, versicherte mir, dass er seine Gattinnen nie betrogen hatte.

Als Ursache dieser Mutation konnte ich letztlich den Verzehr Schwarzrussischer Bockkarpfen ausmachen. Diese Fische ernähren sich vorzugsweise von Schwarzrussischen Gänsefalken, die sie unter Wasser ziehen und mit ihren neunundachtzig messerscharfen Zähnen zerteilen. Die Gänsefalken ernähren sich pflanzlich, sie fressen Wassertulpen und Sumpfagaven. Diese beiden Pflanzenarten sind stark mit DAP, einem Pestizid bester schwarzrussischer Provenienz und Permanenz, was die Dauer der Wirksamkeit anlangt, kontaminiert. Sofort ließ ich den Fang der Bockkarpfen untersagen. Ich halte das für ausreichend, um die Ausbreitung der Kraushaarigkeit einzudämmen.

Danach stand ich vor dem Problem der Kraushaarigkeit zehntausender Mädchen.
Die Schwarzrussisch-Orthodoxe Glaubensfirma lehnte es ab, eine Art Riesenkloster für die Kraushaarigen zu errichten, der Großpatriarch bezeichnete mich gar als endgültig übergeschnappt.
Der schwarzrussische Vizeminister des Inneren weigerte sich, einen von mir vorgeschlagenen Gesetzesentwurf überhaupt zur Debatte zu stellen, wonach sich alle kraushaarigen Mädchen jede Woche zweimal in der jeweils nächstgelegenen Kaserne einzufinden gehabt hätten, um sich das Haupthaar scheren zu lassen. Der Vizeminister nannte mich einen verrückten Zwangsenthaarer. Ich selbst rasiere mir nämlich zweimal den Kopf. Und das jeden Tag. Obwohl ich nicht kraushaarig bin.

Auf dem Staatlichen Schwarzrussischen Verehelichungsmarkt, der am Rande der Großhauptstadt gelegen ist, lehnten es die dort amtierenden Verehelichungsfachmänner ab, neue Kategorien wie kraushaarig-blond, -rot oder -schwarz einzuführen. Selbst mein Vorschlag, diese Kategorien umzubenennen, in krond oder krot, fand kein Gehör.
Mein Freund Dr. Schwengeloff, der Eber, brachte mich in einem langen Gespräch auf die Lösung des Problems. Danke, Dmitar, und prost!

Mein Vetter Narbert Olgach, er ist reich, hatte sich dankenswerterweise bereit erklärt, eine großangelegte Werbeaktion zu finanzieren. Die Sache, also der Krause den Kampf anzusagen, liegt mir nämlich sehr am Herzen. Im gesamten schwarzrussischen Staatsgelände ließ ich riesige Plakate anbringen, auf welchen in Signalfarbe geschrieben steht: ‘Krause muss nicht sein – weder zuhause noch daheim – wenn ihr böse Krausen seht – sollt ihr sprechen ein Gebet!’

Ich durfte nämlich in zahllosen Selbstversuchen herausfinden, dass Gebete helfen, die täglichen Probleme des schwarzrussischen Lebens zu beseitigen. Sie werden jetzt lachen, genau so, wie mich der Großpatriarch ausgelacht hat, als ich ihm meine Erkenntnis mitgeteilt habe. Aber es stimmt. Mein Freund, der Eber, hatte recht, als er meinte, dass ich wohl nur noch durch das Gebet zu retten wäre. Ich kann nicht verstehen, dass mir das nicht selbst eingefallen ist. Dabei wurde ich schon so oft durch Gebete gerettet.

Wie damals, als ich meinen Bruder schabernackiert hatte. Ich hatte die Blößen der Frauen in seinen geliebten Magazinen übermalt, die der Männer jedoch ließ ich stehen. Mein Bruder geriet so sehr in Harnisch, dass ich befürchtete, er würde mich schlagen. Also betete ich. Und meine Gebete wurden erhört. Unsere Mutter kam und entdeckte die eindrucksvolle Sammlung an Magazinen im Lernzimmer meines Bruders. Daraufhin verschwand sie mit meinem Bruder, den sie, wie ich mich erinnere, an seinem Ohr in sein Lernzimmer zog, und ich war gerettet.

Oder als ich einen lebenden Nachtklauengreifer, eine wirklich fürchterliche Bestie, in die Schule mitgebracht habe und der Vogel vor der Zeit aus seiner Betäubung erwachte. In diesem Augenblick haben, so glaube ich, alle im Klassenzimmer gebetet. Und es ist wirklich nichts passiert. Ich glaube aber, dass unser Professor der Biologie nicht richtig gebetet hat, denn er wurde nach diesem Vorfall versetzt. Wenn er nicht schon pensioniert ist, mäht er immer noch den Rasen vor der Schule.

Sie sehen, Gebete helfen. Und nachdem sie mir stets helfen, helfen sie auch allen anderen Menschen, selbst den Krausköpfigen.
Mir ist natürlich bewusst, dass viele der jungen Frauen ihre Erlösung nicht im Gebet suchen werden. Da ich jedoch ein guter Mensch bin, dessen größte Freude es ist, anderen Menschen Gutes zu tun, bin ich außerstande, die jungen Frauen, die nicht beten, mit ihrer Krausköpfigkeit einfach im Stich zu lassen.
Aus diesem Grund habe ich mir von meinem reichen Vetter Narbert, er verdient sein Geld übrigens mit der Herstellung von Pestiziden, eine wirklich große Summe, um präzise zu sein handelt es sich um zwei Milliarden Schwarzrussische Rubel, geliehen.
Mit diesem Geld habe ich eine Kette von Haarschneideläden gegründet und eine Fabrik, in der Mützen und Hauben hergestellt werden, erbaut.
Sie sehen, mein Kampf ist noch nicht zu Ende.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht |Inventarnummer: 17061

 

Rutschende

Langsam,
habe ihn gefunden,
zwischen Weiß und Rosa,
Jesus ist dort,
er steht über mir,
nimmt mir die Angst,
dann lässt er mich alleine,
schwitzend mit Löchern im Horizont,
die Zeilen schwimmen in der Suppe,
wo die Muskeln Partys feiern

In der Nacht scheint Licht herab,
und ich lache und rutsche hinunter,
ein Tunnel voll Spinnweben,
er endet irgendwo,
eine Lichtung in Sichtweite

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: schräg & abgedreht| Inventarnummer: 17029