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Küchenkulturen von New York bis Moskau 5

Kaviar im Königsschloss

Lange schon bedrängte ich meine Freundin Zhenja, sich neue Brillen machen zu lassen. Nicht direkt, ich machte versteckte Bemerkungen und Anspielungen, legte es ihr nahe, umschmeichelte, lockte sie auf alle erdenklichen diplomatischen Weisen. Bei uns würde man sagen, sie trug ein Krankenkassenmodell, wahrscheinlich das hässlichste Krankenkassenmodell auf der ganzen Welt. Man sieht solche Gestelle nur noch auf alten Schwarz-Weißs-Fotos von Kriegsgefangenen oder aus Entwicklungsländern. Mahatma Gandhi im Hungerstreik, fällt mir dazu ein. Ein dickes Folterwerkzeug vor den Augen, das das ganze Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellte. Ich ging Umwege, indem ich ihr das grazile Silber-Etui schenkte, das sie bei mir bewundert hatte. Ihre alte Brille passte allerdings nicht in das schmale, elegante Etui mit Goldrand und rotem Innensamt. Eine gelungene Jugendstil-Kopie aus dem Dorotheum. Macht nichts, sie verwendet es für ihre zarte Sonnenbrille, die sie allerdings kaum trug. So lag das Etui als Schaustück auf ihrem Schreibtisch.

Ich wollte ihr das neue Brillengestell schenken, sie müsste dafür nur zu einem Optiker gehen und eines aussuchen. Vielleicht beim nächsten Besuch in Wien, zusammen mit mir bei meinem bewährten Meister auf der Wieden. Mit der besten Beratung und allen Prozenten. So lockte ich und umwarb sie. Aber Zhenja blieb taub auf diesem Ohr – bzw. blind auf dem Auge.

Warum wollte sie ihr Veteranen-Brillengestell nicht gegen ein neues austauschen? Es passt so gut, liegt genau richtig auf meiner Nase und drückt nicht hinter den Ohren. Perfekt. Es ist aus Deutschland, Ost-Berlin und von Zeiss, Baujahr 47. So etwas finde sie nie wieder, war sie überzeugt und widerstand all meinen Versuchungen. Mir war es peinlich, sie anzusehen, wenn sie diese Brille trug. Nicht zu Hause bei sich oder bei mir, aber in der Öffentlichkeit, fremdschämen nennt man das.
Zhenja war klein, zierlich, bewegte sich mit ihren achtzig Jahren fast jungmädchenhaft, immer elegant gekleidet und perfekt frisiert. Sie war eine durch und durch erfreuliche Erscheinung, machte immer und überall eine bella figura – bis auf die Brille, die war einfach nur grässlich, ein Stilbruch. Das Gestell war riesengroß und fast rund, von unbestimmter Farbe, ein Grau-Gelb wie von einer brüchigen, vergilbten Seide oder einem Totenantlitz. Die Brille ragte weit über Zhenjas schmales Gesicht hinaus, war leicht schief und mit so dicken Gläsern versehen, dass sie aus dem Rahmen herauszuquellen schienen.

Wenn sie den Kopf neigte, beim Lesen etwa, rutschte sie auf die Nasenspitze, verlängerte sie unbarmherzig und bildete einen hässlichen Höcker aus, dass sie den Illustrationen von Baba Jaga oder der Hexe im Knusperhäuschen glich. Bei künstlichem Licht warfen die Gläser Spiegelflecken auf die Wangen, sodass sie hohl wirkten wie bei einem Totenkopf. Uhu war noch das Schmeichelhafteste, was einem dazu einfiel. In einem bestimmten Winkel zauberte die schiefe Ecke sogar eine Riesenwarze in den linken Nasenbogen. Ich war sicher nicht die einzige Person, die sie auf dieses Brillengesicht angesprochen hat. Also trage ich nicht allein die Schuld, an dem Verhängnis, das sich da anbahnte.

Aber es passte zu Zhenja, dass sie sich nicht darum kümmerte, welchen Eindruck sie auf die Umgebung machte. Sie war ein durch und durch unabhängiger Mensch, echt, aufrichtig und uneitel bis zur Schmerzgrenze. Ich glaube, auch bei den Mitmenschen ein Verwundern über die Diskrepanz zwischen der Brille und ihrer übrigen Erscheinung bemerkt zu haben. Aber Zhenja war ein so ungewöhnlicher Mensch, mit einer so unglaublichen Biographie und einem solch gewaltigen Lebenswerk, dass es niemanden gab, der sie nicht liebte und bewunderte. Alle genossen ihr Talent zum Scherzen, am meisten über sich selbst. Aber bei den Toasts zu ihrem Geburtstag kam immer wieder die Conclusio: Vor allem und über allem: Sie ist a Mänsch.

Als Günter Grass 2000 den Literaturnobelpreis bekommt, lädt er Zhenja nach Stockholm ein. Zur Preisverleihung kann Grass nur seine Frau Ute mitnehmen, weil es dort nur begrenzt Platz gibt. Aber am Dinner im königlichen Schloss darf neben Zhenja auch ihre Tochter Natascha teilnehmen. Das hat Grass höchstpersönlich dem Palastprotokoll abgerungen. Grass wusste, was er an ihr gehabt hatte in den letzten drei Jahrzehnten. Wenn Zhenja etwas gegen die Zensur durchboxte, hieß das Millionen-Auflagen in der Sowjetunion und im ganzen Ostblock. Aber vor allem wirkte das in die DDR zurück und von dort wiederum in den Westen.

Der Preisträger hat wie selbstverständlich seine langjährige Russisch-Übersetzerin und Kämpferin für seine Werke in der Sowjetunion mitsamt Natascha eingeladen, die Tickets, das Hotel und den viertägigen Aufenthalt in Stockholm bezahlt. Über die Jahrzehnte waren sie und der Weltautor gute Freunde geworden. Mit dem ihr eigenen Humor freute sie sich diebisch über den dem DDR-Regime abgerungenen Freibrief für Grass, mit dem sie die sowjetische Zensur ausgetrickst hatte. Bei einer privaten Geburtstagsfeier übersetzte ich einmal für Grass und seinen Verleger Steidl die etwas pathetischen Worte: „Zhenja hat uns in ihre russische Familie aufgenommen!“, ohne die blasseste Ahnung zu haben, was russkaja semja bedeutete. Er hat sie nach Westberlin eingeladen, den Besuch bei Böll in Köln eingefädelt und den bei Frisch in der Schweiz. Später war sie Gast auf Grass’ Landsitz in der Uckermark, hatte sich mit Grassens Uttilein befreundet, mit deren Freunden Christa Wolf und ihrem Mann Gerhard und vielen anderen deutschen Literaturgrößen. In ihrer mit Büchern vollgestopften 27 Quadratmeter großen Einzimmer-Wohnung hingen an den einzigen bücherfreien Flecken zwei große Zeichnungen von Grassens Hand – ein Porträt von sich selbst an seinem Schreibtisch mit Pfeife im Mund und ein Stillleben seiner Pfeifensammlung.

Zhenja machte mir die Ehre, mich in manchen Angelegenheiten ihrer Tochter vorzuziehen, etwa als arbitrix in gustibus. Sie hatte volles Vertrauen in meinen Geschmack, das Richtige auszuwählen, was sie zum königlichen Dinner anziehen sollte. Es wurde ein mitternachtsblaues, bodenlanges Kleid aus Samt, das ihre Schmalheit ein wenig üppiger machte, schlicht, nur eine Silberbrosche am Ausschnitt mit einer silbernen Stola. Sie war einverstanden. Sie würde Königin Silvia in den Schatten stellen, war ich überzeugt. Zuletzt schwatzte ich ihr noch eine kleine Clutch auf, gerade groß genug für ein Taschentuch und eine Brille. Ich war bei all meinen Reisen noch nie an einem lebendigen königlichen Hof gewesen, bin noch nie an einer königlichen Tafel gesessen, aber Zhenja hielt mich auch ohne diese Erfahrung für ausreichend weltgewandt.

Ich brachte die beiden Damen nach Sheremetjewo II hinaus, und wir verabredeten uns zum Abholen. In fünf Tagen also, Flug SAS 209 aus Stockholm. Gut sahen sie aus, die elegante, alte Dame mit ihrer hübschen Tochter, ihr ganzer Stolz, ihr Augenstern und Herzblatt, ihr Sonnenschein und das Einzige, wofür Zhenja wirklich lebte. Sie hatte sie erst spät bekommen, als keine Hoffnung mehr bestand – ein Wunder.

Es kam der Ankunftstag, die Maschine aus Stockholm landete, und ich wartete auf die Damen. Aber sie kamen nicht. Ich ging zum Informationsschalter, aber in Russland war es nicht üblich, Auskunft über die Passagierlisten zu geben, außer es war mit dem Flugzeug ein Unglück geschehen. Und das war offensichtlich nicht der Fall. Die Maschine des Fluges SAS 209 stand fest auf dem Moskauer Rollfeld. Schwer verunsichert und mit einem flauen Gefühl fuhr ich zurück in die Stadt. Es vergingen noch fünf Tage, ohne dass ich eine Nachricht von Zhenja oder Natascha bekommen hätte. Endlich kam der erlösende Anruf, wir sind in Moskau und alles ist in Ordnung. Was ist passiert? Alles okay, jetzt wieder. Da ich gerade in der Arbeit war, konnten wir nur kurz sprechen. Wir verabredeten uns für den Abend bei ihr in der Wohnung. Mit klopfendem Herzen, lauter als alle Kremlglocken zusammen, fuhr ich hinaus ins Dichterviertel.

Zhenja schien in diesen zehn Tagen geschrumpft zu sein, ihr Gesicht war blass, fast durchsichtig und eingefallen. Aber sie lachte schon wieder über die Ereignisse, die hinter ihr lagen. Sie sah in der Tragik zugleich auch die Komik. Alles war gut gegangen, alles sehr feierlich. Die aus Deutschland stammende Königin hatte ihr, der kommunistischen Weltkriegsteilnehmerin und Befreierin von Berlin, der sowjetischen Kulturoffizierin in Ost-Berlin, die Hand geschüttelt und ein paar freundliche Worte gesprochen über ihre Übersetzertätigkeit in der deutschsprachigen Literatur, sehr gnädig. Auch Rilke und Böll, Kafka, Frisch, Dürrenmatt und eben Grass. Die kannte sie aus ihrer Münchner Studienzeit. Sie waren fast Kolleginnen, hatte Silvia Sommerlath doch als Dolmetsch für Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Schwedisch gearbeitet, dazu noch die schwedische Gebärdensprache erlernt. Die Königin war offensichtlich gut gebrieft worden über die Gäste des Abends. Auch Zhenja hatte sich vorbereitet und schenkte der Königin ein Foto von sich in Berlin 1945 in der Uniform der Baltischen Flotte. Sie sah aus wie eine dunkelhaarige Marlene Dietrich.

Das Unglück war, dass Zhenja und Natascha nicht nebeneinander an der Tafel platziert worden waren, sondern nach den Gesetzen der Diplomatie, also der Kommunikationsfähigkeit. Zhenja kam neben dem schwedischen Dichterfürsten Tomas V. zu sitzen, auch ein Nobelpreisträger, dessen Deutsch blendend war. Sie kannte seine Gedichte in russischer Übersetzung und schätzte sie. Er war überglücklich über seine Nachbarin, mit der er sich über Marina Zwetajewa, seine Lieblingsdichterin, austauschen wollte. Was halten Sie von der Beziehung von Marina Zwetajewa zu Rilke, von „Meinem weiblichen Bruder“, wie sie ihn in einer hymnischen Schrift nannte. War da mehr? Und natürlich Marina Zwetajewa mit Anna Achmatowa vergleichen. Rilke und Lou Andreas-Salomé? Rilke und Russland? Ernst, oder nur Schwärmerei und Wortgeklingel wie so vieles bei Rilke?

Natascha saß weit weg, verdammt zwischen die Vertreter der russischen Botschaft, sie verdrehte die Augen ins Weiße und machte ein Gesicht wie ein sterbendes Pferd. Als Vorspeise wurden verschiedene Früchte des Meeres, Schätze der Ostsee, gereicht, reich garniert nach schwedischer Art. Ein Heer von Livrierten schritt an den langen Tischreihen entlang, bot große Platten an und legte auf. Es musste schnell gehen und reibungslos wie ein Uhrwerk, waren doch 1200 Gäste in einem eng begrenzten Zeitraum abzufüttern. Zwischen den Häppchen mit Dorsch, Lachs und Kabeljau, Thunfisch, Krebsen und Krevetten lagen Salatblätter, fein ziselierte Petersilrosetten, gedrechselte Zwiebelringe, zu Spiralen geschnitzte Kohlrabis, gesplittete Zucchini- und Gurkenscheibchen, aufgedröselte Broccoliköpfchen, gekringelte Passionsfrüchte, aufgezwirbelte Zitronenhälften und zu kleinen Kugeln gedrehte Karotten, das frischeste Orange, das sie je gesehen hatte. Sie meinte, alles war genau zu erkennen und blickte durch den Saal hinüber zu Natascha. Diese nickte aufmunternd, und so langte sie zu.

Bei Zweifeln hätte sie normalerweise die Brille genommen oder Natascha gefragt. Aber an der königlichen Tafel wagte sie nicht, ihre Brille aus dem Täschchen zu nesteln und aufzusetzen oder den berühmten Tomas V. zu fragen, ob das Orange auch sicher Karotten seien. Was denn sonst, doch keine Orangenschalen. Als sie den ersten Bissen nahm und die vermeintlichen Karotten ihre Kehle passierten, war es schon zu spät. Sie bekam einen Erstickungsanfall und fiel dem schwedischen Dichter in den Frackschoß wie eine welke Blume. Sie verlor so schnell das Bewusstsein, dass sie den kurzen Aufruhr, der danach entstand, nicht mehr miterlebte. Histaminischer Schock mit Atemlähmung. Zhenja wachte erst drei Tage später in einem Krankenbett des Karolinska auf, nachdem man sie künstlich beatmet hatte. Natascha war Tag und Nacht um sie, Grass hatte ein Bett für sie ins Zimmer stellen lassen und den Krankenhausaufenthalt bezahlt. Von den täglichen Besuchen der Grassen hatte sie nichts mitbekommen. Der Tisch und das Fensterbrett waren voll mit Blumensträußen und Bonbonnieren. Tomas V. hatte einen Strauß weißer Rosen geschickt mit herzlichen Genesungswünschen in Form eines deutschen Sonetts, las sie später im Briefchen. Sie war drei Tage mehr tot als lebendig gewesen, erzählte ihr Natascha. Wären sie beisammen gesessen, hätte die Tochter das Unglück verhindern können, denn sie würde erkannt haben, dass das Orange nicht von frischen Karotten stammte, sondern von Kaviar, auf den Zhenja allergisch war. So schwer, dass es lebensbedrohlich war, wenn sie nur mit ihm in Berührung kam. So ungewöhnlich und unglaubwürdig für eine Russin wie für einen Franzosen eine Weinallergie.

Zhenja kicherte still in sich hinein, wie sie dem schwedischen Langweiler mit seinem Russenschwarm entgangen war. Sie war völlig gelassen und schuldfrei gegenüber dem Tumult, den sie an der königlichen Tafel auslöste, hatte sie doch keine Erinnerung daran, nur Natascha bedauerte sie zutiefst, dass sie ihr so große Sorgen bereitet hatte. Sie entschuldigte sich tausendmal bei ihr für den Kummer, aber nie direkt, sondern stellvertretend bei mir. Ich diente ihr als punching ball, ihr mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, das sie gegenüber Natascha nie aussprach. Sie verstanden einander ohne Worte, eine dichtere Symbiose zwischen Mutter und Tochter habe ich nie davor oder danach erlebt. Sicher eine Krankheit, auf beiden Seiten.
Ihr erster Mann war in den ersten Kriegstagen in Weißrussland gefallen, ihr zweiter nach der Geburt von Natascha, an einer Überdosis Alkohol. Vor lauter Freunde, sagte sie, andere sagten, er war immer schon Alkoholiker, ein ganz normaler Russe eben.

Wie oft hatten wir dieses Spiel gespielt: Mit wem würdest du am liebsten essen gehen? Sie immer mit Kafka, ich immer mit Dostojewski. Aber entschuldige, Zhenja, du weißt besser als ich, welch schwieriger Esser Kafka war. Natürlich wusste sie das besser als alle anderen, hatte sie doch die erste Übersetzung vom „Brief an den Vater“ erstellt, das berühmte schwarze Bändchen von 1963, einem kurzen Moment in Chruschschtows Tauwetter, und später nach der Perestroika alle seine Tagebücher. Bei Austriazismen war sie manchmal unsicher und zog mich zu Rate. Sie liebte Kafka und nannte ihn ihren Herzensbruder, den kleinen, klugen Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte.

Das wäre kein fröhlicher Schmaus geworden, was er aß und so wie er aß, wandte ich ein. Übrigens, Dostojewski war auch kein angenehmer Tischpartner, das getreueste Abbild von sich selbst hat er in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ abgegeben, an denen ich mich mein ganzes Studium hindurch abarbeitete. Er war ein Rüpel und hat die Tischmanieren seiner sibirischen Katorga nie abgelegt. Du weißt doch, wie Turgenjew ihm in Baden-Baden aus dem Weg ging, weil er sich so sehr für seinen ungehobelten Landsmann genierte.

Aber genau das macht den Franz zu meinem Herzensbruder, mein Bruderleben, wir haben so vieles gemeinsam. Er war nicht kompliziert, wenn man ihn nur sich selbst sein ließ. Wir hätten jiddisch miteinander geredet und gemeinsam über Löwys Theatertruppe gelacht. Er lachte ja so gerne, am liebsten über seine grausamsten Texte, wenn er sie vortrug. Max Brod schildert die Szene, wie er sich beim Vorlesen der „Strafkolonie“ vor lauter Lachen verschluckte und außer Atem geriet.

Dann ging es weiter mit den Träumereien. Glaubst du, du hättest ihn retten können? Ja, war sie überzeugt, vielleicht nicht physisch, vor der Tuberkulose, aber seelisch, ich hätte ihn von seinem Leiden an der Jüdischkeit befreit. So wie Dora, aber da war es schon zu spät.

Aber Zhenja war Zhenja geblieben, auch nach dem traumatischen Stockholm. Sie konnte bei aller Gebrechlichkeit schon wieder scherzen: Da haben wir’s, voilà, der Beweis, mein Körper ist doch mehr jüdisch als russisch. Zhenja war in einem ukrainischen Stedtl geboren und aufgewachsen, mit Jiddisch als Muttersprache, mit strengen Bräuchen, die sie allerdings schon lange nicht mehr einhielt, bis auf die Lebensmitteltrennung. Schade um das schöne Dinner, schade um die sechs weiteren Gänge. Auch das ein Scherz, denn sie hätte es auch bei voller Gesundheit höchstens bis zum zweiten gebracht. Seit sie die 900 Tage und Nächte der Belagerung Leningrads und den großen Hunger überlebt hatte, konnte sie nur gerade so viel essen, dass sie nicht verhungerte. Sie kannte seit damals keinen Appetit und keinen Hunger mehr. So war der Große Vaterländische Krieg für sie nie zu Ende gegangen.

Wie weit meine Brillenwarnungen sie beim Dinner im Schloss beeinflusst haben, ich weiß es bis heute nicht. Sie hat es mir nie erzählt, und ich habe trotz unserer Freundschaft nicht zu fragen gewagt.

28.12.21

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 4

Brautkauf in Tiflis bei Chatschapuri und Zinandali

Winter und Frühjahr 1991 waren in der verbleichenden Sowjetunion eine sehr unruhige Zeit.
Für Journalisten gab es natürlich nichts Aufregenderes, als einer Supermacht beim Sterben zuzusehen. Unabhängigkeitsbewegungen und nationale Streiks flammten im ganzen Land auf, keine der 15 Sowjetrepubliken blieb verschont. Es war klar, das Haus brannte lichterloh, es gab nichts mehr zu löschen.

Ich raste mit meinem Team durch das Riesenland und machte Momentaufnahmen von einer Zeitenwende. In der Ukraine gärte es schon seit den späten 80er-Jahren, zuerst die heftigen Bergarbeiterstreiks, wo soziale Fragen im Vordergrund standen und später in nationale Bewegungen übergingen. Am Beginn des Jahres meldeten sich die baltischen Staaten mit Unabhängigkeitsforderungen, dann kam Belarus und schließlich im April war der Kaukasus an der Reihe. Besonders heftig war der Kampf um die Macht in Georgien. Also flogen Vladimir, mein Kameramann, und Pavel, der Assistent, nach Tbilisi, wo gerade der letzte Präsident Swiad Gamsachurdia in bürgerkriegsähnlichen Tumulten gestürzt worden war und sich die Provinz Abchasien für selbständig erklärt hatte.

Im Informationsministerium, wo wir uns akkreditieren mussten, teilte man uns einen Dolmetsch für Georgisch zu, obwohl wir natürlich alle Russisch sprachen, also ein Aufpasser und Berichterstatter für das MI. Das war Gigi, ein junger Übersetzer für Englisch. Es war ein außergewöhnlich schöner Mann, hochgewachsen und imposant wie ein mittelalterlicher Held. Er war lustig und gesprächig, voll von den herrlichsten Geschichten. Schnell stellte sich heraus, dass er den Job in diesem KGB-Ministerium nur angenommen hatte, um ins westliche Ausland zu kommen. Von unserem ersten, verordneten Einsatz an in Gori, Stalins Geburtsdorf, verstanden wir uns prächtig mit Gigi. Er war durch und durch westlich geprägt, keine Funke von KGB-Mentalität.
Was mich besonders interessierte, war, dass sein Vater ein Cousin des gestürzten Präsidenten war. Meinem Wink, diesen Abkömmling eines der ältesten Adelsgeschlechter kennenzulernen, kam Gigi gern nach und verschaffte uns eine Einladung ins Patriarchenhaus. Eine Stadtburg hoch über dem wilden Fluss Kura, am Rande einer Schlucht gelegen, öffnete sich für mich, und ich fühlte mich wie im siebenten Himmel. Ja, ich hatte einen Traumjob, hochaktuell im Zeitgeschehen mit Einblicken in die tiefste Geschichte.

Ein Raum, groß wie ein Rittersaal, hatte in der Mitte eine voll gedeckte Tafel, an der das ganze Geschlecht der Gamsachurdia Platz gehabt hätte. Auf einem thronähnlichen Stuhl saß ein alter, bärtiger Mann von imposanter Größe, Gigis Vater. Die Mutter und andere weibliche Personen hielten sich zum Servieren im Hintergrund. Ich wollte das Gespräch sofort auf die politische Lage bringen, hatte aber nicht mit dem georgischen Brauch der Trinksprüche gerechnet. Nach den Runden an die Gäste mussten diese ihrerseits mit den Toasts antworten, ein langes, streng festgelegtes Ritual, das in keiner georgischen Runde fehlen durfte, sei es eine Königstafel, ein Familientisch oder ein Holzbrett bei Weinbauern. Frauen sprachen keine tosti, durften nur nicken und zuprosten, daher kam ich nie zu Wort. Es dauerte gefühlte zwei Stunden, und dann brachten die Frauen die Teller und Flaschen, das Gelage konnte beginnen.

Ich bat mir aus, die starken Getränke auszulassen und gegen einen Traubensaft einzutauschen. Der Hausherr genehmigte es gnädig, befahl dafür noch mehr Obstsäfte zu bringen, von Granatäpfeln und Zwetschken, dazu alle Arten von Mineralwässern, an denen Georgien reich ist. Zu allen Arten von Getränken erklärte der Patriarch, welches Stalins Lieblingsgetränk gewesen sei: Zinandali, der Weißwein aus Kachetien, Saperavi, der dunkelste Rote, Borschomi, das grässlich salzige Mineralwasser, und Ararat 7, der armenische Edelcognac.
Die Hausfrau hatte alle berühmten Gerichte der georgischen Küche aufgetragen; die Speisen wurden nicht hintereinander serviert, sondern alles stand gleichzeitig auf dem Tisch: Chatschapuri, das Käsebrot, gefüllte Auberginen, riesige Platten mit Schaschlikspießen, Lobio, die Bohnenpaste, Sazivi, das Hähnchen in Nusssauce, Chinkali, die gefüllten Teigtaschen, Tkemali, die Pflaumensauce, das beste Ketchup der Welt.

Gigis Vater wandte sich kein einziges Mal an mich, sondern nur an die drei Männer. Obwohl ich ihm als Chefin des Teams vorgestellt worden war, begann er mit Vladimir über mich zu verhandeln. Er redete nicht um den heißen Brei herum, sondern sprach seinen Plan offen aus: Ich sollte Gigi heiraten, damit er aus dem unruhigen Land rauskam. Der alte Haudegen war sicher, dass es zu einem Krieg kommen würde, und Gigi sollte in Sicherheit sein. Er bot dafür 20.000 DM. Wir zwinkerten einander zu. Vlado ging scheinbar ernsthaft auf den Handel ein, trieb aber den Preis höher bis auf 30.000 DM. Die Eheschließung würde mich nicht belasten, denn dem Vater schwebte vor, dass Gigi einen österreichischen Pass bekommen würde, mit dem er dann weiter nach GB oder USA gelangen könnte, wo die Familie Gamsachurdia eine weitverzweigte Verwandtschaft habe.

Dass ich 15 Jahre älter war als Gigi, machte ihm auch kein Kopfzerbrechen. Die Familie würde schon das richtige georgische Mädchen für ihn finden. Er blinzelte fröhlich mit den Augen, die schon langsam glasig wurden. Ich amüsierte mich köstlich, wie der Patriarch mit Vlado einen Pakt schloss, mit vielen tosti besiegelte und mit viel Ararat begoss. Der Brautpreis war inzwischen auf 50.000 DM geklettert. Er wollte zeigen, dass es ihm ernst war, und machte sich zu einem Nebenzimmer auf, um das Geld zu holen. Aber es muss ihn jemand aufgehalten und abgefangen haben, wahrscheinlich seine Frau oder andere Verwandten, er kam nicht mehr ins Zimmer zurück. Was der Alte wahrscheinlich nie erfahren hat, war, dass Gigi und ich uns tatsächlich näherkamen und er in den nächsten Monaten jedes Wochenende etwas Wichtiges in Moskau zu erledigen hatte.

Ich lernte Georgisch, Gigi brachte Schallplatten mit georgischer Musik mit, dazu viele Speisen und Getränke, solange, bis ich auch schon bald meinen Lieblingsweißen- und -roten hatte, meine Wohnung füllte sich mit Souvenirs, und ich begann unter Gigis Aufsicht, mit georgischen Speisen zu experimentieren, und habe bis heute damit nicht mehr aufgehört.

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 3

Asja fiel mir sofort auf, als ich sie zum ersten Mal sah, beim Botschaftsempfang zum Nationalfeiertag. Sie servierte Tabletts mit Getränken und Kanapees, in einem schwarzen Kleid mit weißem Schürzchen. Die Frau war über 50, und für eine russische Frau in diesem Alter auffallend schlank und zart. Das glatte, schwarze Haar hatte sie zu einer eleganten Spirale aufgesteckt, das schmale Gesicht war vollständig ungeschminkt. Sie hätte in jedem Lokal zwischen Wien und Paris servieren können. Sie zog mich an. Als ich sie kennenlernte, erfuhr ich, dass sie aus der südossetischen Provinz Georgiens stammte, aber schon lange in Moskau lebte.

Sie war Köchin in der Schweizerischen Botschaft und hatte einen sagenhaften Ruf. Mit der Chefin Heidi T. war ich befreundet, und sie erlaubte, dass Asja, einigen unserer Diplomaten bei Empfängen und Dinners aushalf. So engagierte ich Asja für einen österreichischen Adventabend in meiner Dienstwohnung. Und wie kann eine österreichische Vorweihnacht stattfinden ohne Vanillekipferl?

Ich kaufte selbst alle Ingredienzien ein, den Vanillezucker hatte ich aus Österreich mitgebracht. Das Briefchen von Dr. Oetker zeigte auf der Rückseite ein Vanillekipferl, darunter das Rezept und die Anleitung. Ich konnte Vanillekipferl seit meiner Kindheit selbst machen, hatte ich mit meinen Schwestern doch unter der Anleitung unserer Mutter hunderttausende Kipferl hergestellt und vielleicht ebenso viele gegessen. Teig kneten, immer und immer wieder, bis zur richtigen Konsistenz. Dann ruhen lassen.

Aber derzeit hatte ich extrem viel zu tun, und ich würde keine Zeit zum vorweihnachtlichen Backen finden. Ich übersetzte für Asja den Text, schreib einige Arbeitsanweisungen dazu, stellte das Backblech auf den Ofen, eine Schale für das Zucker-Vanille-Zitronenabrieb-Gemisch zurecht, dazu eine Blechdose, mit Seidenpapier ausgeschlagen, in der sie die fertigen Vanillekipferl aufbewahren sollte. Am Tag davor erklärte ich Asja in meiner Küche noch einmal alles und zeigte ihr die Zutaten. Sie war hell, klar und schnell auffassungsfähig. Sie hatte schon mehrmals bei mir gekocht, noch öfter serviert, sie kannte sich aus in meinem Haushalt.

Kein Problem. Es würde alles gutgehen. Von Besuchen in der Schweizerischen Botschaft hatte ich die Erfahrung, dass sie die kompliziertesten Speisen aus aller Herren Länder köstlich und ansehnlich zuzubereiten wusste, die sie sicher nicht aus ihrer südossetischen Heimat kannte.
Schließlich rissen sich alle Kolleginnen um Asja, sei es als Köchin, Servierkraft oder Schulter zum Ausweinen, zumindest für die, die der russischen Sprache mächtig waren. Auch sie schüttete mir ihr Herz aus, bei mir ist alles gut, aber Mann, Sohn.
Bei mir waren es die heimischen Vanillekipferl, die ich ihr anvertrauen wollte. Als ich spätnachts und erschöpft von meinem zweitägigen Besuch aus Minsk in meine Wohnung am Ukrainski Bulvar zurückkehrte, lag ein leichter Hauch von Vanille über den Zimmern.
Fein, danke, Asja.

In der Küche stand die mit geschmückten Christbäumen und Engeln verzierte Blechdose auf der Anrichte, genau dort, wo ich sie hingestellt hatte. Ich befreite mich von meinen hochhackigen und völlig durchnässten Stiefeln und öffnete erwartungsvoll die Keksdose. Blanke Leere gähnte mir entgegen. Hastig durchstöberte ich alle Küchenschränke, nichts. Ich sah mich in der Küche um, alles blitzblank sauber, nicht das geringste Bröserl. Wie immer, Asja war immer perfekt.
Danke, Asja!

Da entdeckte ich, dass das Fach für die Backbleche neben dem Herd leer war.
Das brachte mich auf den Gedanken, im Rohr nachzusehen. Ich ging in die Knie und öffnete die Tür.
Was sah ich dort? Das ganze Backblech war ausgefüllt mit einem einzigen, großen Vanillekipf. Sie hatte genau nach dem Bild auf dem Oetker-Briefchen die ganze Teigmasse zu einem einzigen Riesenkipf verarbeitet, fein mit Zucker überstreut, noch immer duftend, aber leider steinhart.
Nachdem wir gemeinsam unmäßig gelacht hatten, zerschlugen wir den Kipf mit einem Hammer in kleine Teile, um nicht zu sagen in Brösel, und füllten sie in die Keksdose. Wie soll ein Mensch aus Südossetien denn wissen, dass es Kipferl und einen Kipf gibt. Sie hatte sich genau an das Rezept und an das Bildchen auf dem Oetker-Päckchen gehalten.
Danke, Asja!

Bei jedem Besuch von Asja in diesem Winter pickten wir Vanillekipf-Krümel aus der Keksdose und lachten uns krumm und bucklig. Es erleichterte sie, hatte sie doch einen Alkoholiker-Mann zu Hause, einen Afghanistan-Veteranen, und einen Sohn, der sich zum Kämpfen nach Tschetschenien gemeldet hatte.
Asja, mit welcher südossetischen Speise hätte mir etwas Ähnliches passieren können?
Hm, vielleicht mit den Teigtaschen, den Chinkali. Aber wir brauchen keinen Oetker mit dummen Bildern. Das hätte dir schon deine Mutter oder die Schwiegermutter beigebracht.
Auch bei den Georgiern eine Leibspeise. Übrigens, auch kipferlähnlich, mit Füllungen aus Kräutern, Erdäpfeln, Käse oder Pilzen.
Und wir zerkugelten uns noch immer über den Vanille-Kipf, als im TV Präsident Boris Jelzin das Zepter an einen kleinen, unbekannten KGBler namens Putin übergab.

16.12.21

Veronika Seyr
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Küchenkulturen von New York bis Moskau 2

Von Crepes, Apfelstrudel und Vanillekipferln

Im Haus der Wagners in New York war ich mehr Haustochter als Au-pair-Mädchen.
So etwa freute sich die älteste Tochter Kit, damals im letzten Jahr der High School, über mich als ältere Schwester und als Entlastung gegen ihre kleinen Geschwister.
Sie bestand darauf, dass ich in ihrem Zimmer schlief, ihre Kosmetika benutzte und sie mich an ihrer Garderobe teilhaben ließ. Die Kultur der BHs war eine Erleuchtung für mich. Sie weihte mich ein in die Geheimnisse des Beine- und Achselrasierens, des Körperpuderns und der Tampax. Stolz präsentierte sie mich in ihrer Klasse, ihre Lehrer luden mich ein, etwas über mein Heimatland zu erzählen und den Unterschied zwischen Austria und Australien zu erklären. Alle waren begeistert, ein lebendes Exemplar aus dem Land des „Sound of Music“ vor sich zu haben, dessen Melodien damals alle kannten und nachträllerten. „Edelweiss, Edelweiss.“

Zum Nations Day der High School etwa sollten alle ausländischen Angehörigen in ihren Trachten in die Schule kommen und etwas Landestypisches mitbringen. Kit wollte mich dabei haben, und ich fühlte mich doppelt geehrt. Aber was anziehen und was mitbringen? Zum Glück blieb genügend Zeit, um mir von zu Hause mein Salzburger Dirndl schicken zu lassen, man hatte es mir erst in meinem letzten Salzkammergut-Sommer schneidern lassen. Die Familie Wagner war begeistert, sahen sie doch in mir eine Ähnlichkeit mit Maria, dem Kindermädchen der Familie Trapp. Als ich erwähnte, dass meine Mutter mit einem der Trapp-Mädchen in die Schule gegangen war, flippten sie vollständig aus. Da ich Salzburger Nockerl nicht beherrschte und sich diese überdies nicht für Transport und öffentliche Präsentation eigneten, verfiel ich auf den Apfelstrudel, der ja auch in New York bekannt war, weil ihn die Wienerwald-Restaurantkette anbot, garniert mit Ice Cream oder Marshmallows.

Die Familie Wagner hatte mich kurz nach meiner Ankunft in ein Kino der Radio City eingeladen, wo Sound of Music in Endlosschleife lief – der ganze Saal sang die Lieder lauthals mit – und danach führte sie mich in das Wienerwald auf der 5th Ave. Kit hatte den Film schon fünfmal gesehen und kannte sogar alle Dialoge auswendig.

Zusammen mit dem Dirndl ließ ich mir fertigen Blätterteig schicken – von meiner Mutter gemacht und abgepackt, weil es industriell gefertigten im Jahre 1967 noch nicht gab. Die Zutaten mussten sich finden lassen: Äpfel, Brösel, Rosinen, Butter, Ei, Zucker – alles keine Hexerei, dachte ich. Als ich alles feinsäuberlich beisammen hatte, schritt ich ans Werk. Leider war ich noch so ein Greenhorn, dass mir nicht auffiel, dass ich salted butter gekauft hatte, denn im Haushalt der Wagners aß ich keine Butter und wusste daher nicht, dass es keine ungesalzene Butter gab, zumindest nicht in dem von uns frequentierten Supermarkt.

Zwei große Backbleche hatte ich zubereitet, eines für die Familie, eines für die Schule. Die beiden Strudelstriezel sahen wunderbar aus und dufteten so köstlich, dass alle in der Küche zusammenliefen. Zum Auskühlen stellte ich die beiden Backbleche auf die Küchenterrasse. Beim Abendessen wurden wir durch ein furchtbares Rappeln und Scheppern aus der Ruhe gerissen und wir stürmten zum kitchen porch. Ein Backblech lag am Boden und der Strudel zerschmettert am Boden, das andere auf dem Tisch war zur Hälfte weggefressen. Das Wagner-Haus grenzte an einen Wald, und Rehe, Füchse, Dachse, Eichkatzerl und Skunks querten frei das große Grundstück. Aber der Geruch war eindeutig – es muss ein Stinktier gewesen sein, das sich hier gütlich getan hatte.

Mr Wagner versuchte mit seinen Chirurgenhänden den Striezel vom Boden aufzulesen, den angefressenen ließ er den Skunks. Als sich alles beruhigt hatte, servierte Mr Wagner einige der geretteten Stücke – aber welch ein Schreck! Mein applestrudel war so grässlich und abscheulich ungenießbar, dass die Gesichter zu schrecklichen Grimassen verkamen. Oh Gott, die gesalzene Butter! Da konnte auch die dick aufgetragene Schicht von Puderzucker nicht helfen. Die kleine Amy fragte ängstlich: That’s what you like to eat in your country?
So schmerzhaft und peinlich kann das Erlernen einer neuen Kultur sein.

Die Bewohner des Waldes bekamen alles, und ich ließ mir bis zum Nations Day noch auf die Schnelle eine Dose Mozartkugeln schicken.
Ich dürfte nicht allzu unangenehm aufgefallen sein, zumindest bekam ich im nächsten Quartal eine Einladung der Hudson High School, einen Kurs in „European Enlightment“ für die Schulabgänger zu halten.

16.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21126

Küchenkulturen von New York bis Moskau 1

Von Crepes, Apfelstrudel und Vanillekipferln

Weihnachten 1967 verbrachte ich bei meiner Gastfamilie in New York als Au-pair-Mädchen. Im fünften Monat dachte ich, ich bin einigermaßen amerikanisiert, ließ mich auf alles ein und probierte alles aus. Meine Gastfamilie war entzückt von meinem britischen Akzent, den man mir in der Schule beigebracht hatte; aber ich wollte schnell Amerikanerin werden und stieg rasch von biscuits auf cookies um.
Ich war Gesellschafterin bei einer halbblinden Frau, große Schwester einer Siebzehnjährigen und Helferin bei zwei behinderten Kindern. Vera hatte Jugenddiabetes und war mit 40 fast erblindet. Die Mutter meiner Schützlinge, Mrs Wagner, oder Vera, wie ich sie inzwischen anreden durfte, bat mich einmal, „Crepes“ als Vorspeise zuzubereiten. Sie liebte es, mich Vero’ zu nennen, und lachte herzlich über Vera und Vero’. Ich las ihr oft vor, am liebsten waren ihr Baudelaire und Jane Austen.

Der Haushalt hatte zwar ein Hausmädchen aus Norwegen, einen mexikanischen Gärtner, ein Kindermädchen aus Schweden und eine Köchin aus Irland, aber Spezialaufträge gab sie gerne an mich. Als hollandstämmige Einwanderertochter hatte sie eine Schwäche für Austria. Ihre Eltern, das Ehepaar Finkernegel, pflegten Urlaub an Österreichs Seen zu machen.
Vero, you know crepes?
Yes, of course, I do, Vera.
Look, here is the right pan for crepes.
Vera, schon fast erblindet, kramte im closet unter all den Töpfen und Pfannen und ertastete eine Platte mit Elektroanschluss, die sie mir hinstellte. Kurz war ich verwundert, vergaß es aber wieder.
That’s the right thing. We are going to be about ten persons around the table.
Fine. I’ll make it.
Ich erinnere mich genau, wie ich erstarrte, als mein Gehirn Krebs in cancer übersetzte, war doch mein Gastgeber, Prof. DDr. Richard Wagner, Vicepresident of the Medical Society, einer der bedeutendsten Krebschirurgen New Yorks. Oft kam er spät nach Hause und hatte sieben- bis zehnstündige Operationen hinter sich.

Mein Englisch war nicht schlecht nach einem Provinzgymnasium, aber ich hatte keine Ahnung von französischer Küche und verstand „Krebs“. Ich machte mich im örtlichen Supermarkt auf die Suche nach Krebsen.
Weder Scampi noch Shrimps waren bis dahin in meinem Wortschatz aufgetaucht, 1967 aus Wien nach New York verpflanzt. So ist das Hirn, es geht immer von Bekanntem aus.
Natürlich fand ich keine solchen Tiere, wie ich sie aus den Mühlviertler Bächen kannte, die ich mit Brüdern, Cousins und örtlichen Buben entlang der überhängenden Ufer „ausgenommen“ hatte.
Diese grau-grünen Tiere haben wir an Lagerfeuern gebraten, zusammen mit Forellen, wenn wir Glück hatten. Heimlich, weil illegal. Am Dimbach, am liebsten zwischen der Mühle und dem Schmied. Der Giessenbach war zu steil und zu wild. Ich war da gerne dabei, froh, dass mich die Buben mitnahmen, weil geschickt mit den Händen, aber noch zu klein, für solche Raubzüge verantwortlich zu sein.

Ich las aufmerksam den Aufdruck auf der Packung: Boil in salted water an then …
Die Shrimps waren klein und rosig, schrumpelig wie die billige Extrawurst im Mayonnaisesalat, den wir am Weihnachtsabend bei uns zu Hause bekamen. Mit Hörnchen, Gurkerln, gekochten Eiern und Kapern, viel Mayonnaise, einem Spritzer Zitronensaft und obendrauf Schnittlauch.
Wir liebten es, diese Hörnchen zwischen den Lippen und dem Gaumen auszuschlürfen und überboten uns mit unanständigen Geräuschen, die nur zu Weihnachten geduldet wurden. Hörnchen fand ich auch nicht, aber die dicken, kurzen Makkaroni waren einigermaßen Ersatz dafür.
Also stellte ich die große Schüssel auf den Tisch und erwartete Lob. Mir schmeckte es.
Veronica, what is this? Where are the crepes?
It is your Krebs-Salad, as you told me.
But I told you crepes!
But theese are the Krebs!

Aufklärung, viel Gelächter und Makkaroni-Schlürfen. Die Amerikaner sind freundliche und tolerante Menschen, auf jeden Fall in diesem Milieu. Es schmeckte ihnen, allerdings anders als die dünnen, geschmacklosen französischen Palatschinken.
Vera, ihr Mann Richard, die Kinder und alle Gäste waren hochzufrieden mit meiner Vorspeise.
Meine amerikanische Gastfamilie erzählte diese Anekdote noch oft unter viel Lachen bei ihren Dinners weiter. Der „Kreps-Salat“ wurde noch oft von mir verlangt und als Tradition in die Familie aufgenommen. Veras Eltern, die Finkelsteins, gebürtig aus den Niederlanden, erzählten mir später von ihren sprachlichen Irrtümern. An Beispiele kann ich mich leider nicht mehr erinnern.

Ich weiß nicht mehr, für welche Gelegenheit ich Vera versprochen habe, einen typical Viennese Apfelstrudel zu machen.

15.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21125

Professor Biermanns Rosskur

Wer ist Herr Professor Biermann, und was hat es mit seiner Rosskur auf sich?

Herr Dr. Martin Biermann ist Mitte fünfzig und unterrichtet an einem Oberstufen-Realgymnasium Geschichte und Geographie. Unter einer Rosskur – so steht es im Internet –„versteht man heute in der Umgangssprache eine medizinische Behandlung mit Hilfe von unsanften Methoden oder umstrittenen und drastischen Mitteln.“ Im Grimm’schen Wörterbuch steht, die Rosskur sei „eine gewagte kur mit ungeheuerlichen mitteln“.

Es war ein milder Juni-Nachmittag, als Herr Dr. Biermann und Gattin Hilde auf der Hausbank vor ihrem Reihenhaus saßen und behaglich in die spätgoldene Sonne blinzelten, so recht angenehm entspannt (obwohl Rock und Hose deutlich spannten), und den schönen Tag nochmals vorbeiziehen ließen. Ihre beiden Söhne Hermann und Rudolf waren mit ihren Frauen und je einem Enkelkind auf Besuch dagewesen, und das reichhaltige gute Mittagessen ist im Garten unter dem schattigen Birnbaum mit genießerischer Langsamkeit eingenommen worden. Der Hausherr und die Kinder sparten nicht mit Lob für die Hausfrau (welche den ganzen Vormittag in der dampfenden Küche gestanden war). Sie kochte gut und gerne, und die Leibesfülle ihres Gatten sowie, seien wir ehrlich, auch ihre „stattliche Erscheinung“ bezeugten dies nachdrücklich nach außen.

„Also ich muss schon sagen, dein heutiges Dessert war super-super – diese kleinen Powidl-Buchteln mit Vanillesoße – die Kinder haben ganz schön eing’haut“, lobte der Gatte nochmals und seufzte wohlig. Frau Biermann sah ihn von der Seite liebevoll-spöttisch an: „Ah so, nur die Kinder – dir hat’s ja gar net g’schmeckt, wie du nachher das Reindl mit der restlichen Soße in der Küche heimlich ausgelöffelt hast?“ Der Angetraute drehte sich zu ihr und hob hilflos die Handflächen nach oben: „Ich war wehrlos – es war halt der Jamaica-Rum, den du für die Großen dazugeschwindelt hast – sowas kann man doch net wegschütten!“

„Was sagst du“, meinte Frau Biermann, die gute Stimmung und Gelegenheit ausnützend, mit dem wohlgelaunten Göttergatten allein und ohne Eile ein schon lange anstehendes „schwer-wiegendes“ Problem anzugehen, „meinst du nicht, dass wir doch endlich den Gürtel ein wenig enger schnallen sollten – ich meine, wir haben beide ein paar Kilo zu viel?“

Dr. Biermann, der diese schwarze Wolke am Horizont schon zwanzig Jahre routiniert vor sich hergeschoben hatte und außerdem die Berechtigung dieser Forderung nicht leugnen konnte, antwortete nachgiebig: „Ja sicher, damit sollten wir endlich einmal Nägel mit Köpfen machen – ich denke, die Fastenzeit vor Ostern wäre ein guter Anfang. Wollten wir nicht voriges Jahr schon so ein schönes Kurhaus mit Reduktionskost aufsuchen? Da zahlt die Krankenkasse sicher dazu!“

„Mein lieber Martin“, so die Gattin, „du bist wohl ein ganz Schlauer – das wäre erst in einem dreiviertel Jahr! Du schiebst doch sonst nicht alles auf die lange Bank – sagst du nicht immer, das Richtige soll man gleich tun, und dass die guten Vorsätze ein kurzes Ablaufdatum haben? Es ist ja für unsere Gesundheit, und jünger werden wir auch nicht. Ich meine, wir sollten jetzt gleich damit beginnen – stell dir vor, wie wir im August mit unseren Speckrollen über der Badehose aussehen – wo wir doch heuer den Badeurlaub in Zypern gebucht haben! Habe ich dir schon erzählt, dass eure Schulsekretärin, die Frau Engel, mit ihrem Mann den gleichen Urlaub gebucht hat wie wir?“

Ihr Gatte erschrak. Ausgerechnet Frau Engel, die hübsche blonde Sekretärin in seinem Gymnasium und heimlicher Schwarm vieler Kollegen (und sagen wir’s ehrlich, auch von ihm) sollte ihn mit seiner schwabbeligen Figur am Strand sehen, tagelang, da würde kein noch so mühsames Bauch-Einziehen helfen, das wäre ja schrecklich, das musste verifiziert werden: „Wieso weißt du das, Hilde, ich meine, sie hat es dir wohl nicht erzählt – ihr kennt euch doch fast nicht?“

„Nein, nein, das hat sich zufällig ergeben. Als ich vorige Woche im Reisebüro war, du weißt schon, weil wir ja wegen der Kinder um eine Woche verschieben mussten, da habe ich eine Regina Engel auf unserer Hotelliste gesehen, wie der Schalterbeamte auf dem Bildschirm geschaut hat, ob noch was frei ist – sie heißt doch Regina mit dem Vornamen, nicht? Das hast du mir damals gesagt als sie eingetreten ist. Ja, ich wollte es dir ja am selben Abend erzählen, aber da war doch die Sache mit dem Stromausfall, und die ganze Tiefkühltruhe ist geschwommen, und so habe ich das halt vergessen. Also was sagst du, fangen wir heute an?“ Sie blitzte ihn einladend mit ihren graublauen Augen an – wie immer, wenn sie einen guten Einfall hatte und sich der Zustimmung ihres Göttergatten sicher war: „Weißt du, das können nur Leute mit Mut und Charakterstärke wie wir!“

Der Hausherr seufzte aus Herzensgrund: „Ja, hast recht, mach ma’s in Gottes Namen“ und schlug in ihre senkrecht aufgerichtete offene Hand – das war ihr Treuegelöbnis und Einverständnis bei spontanen Einfällen. Seine bessere Hälfte seufzte erleichtert: „Gott sei Dank, ich hab ja gewusst, auf dich kann man sich verlassen – weißt, ohne dich würd ich es ja nie schaffen, das mit dem Hungern und Kalorienzählen, aber miteinander sind wir unschlagbar, sagst du doch immer. Dann war das heute mittags sowas wie unsere Henkersmahlzeit vor den mageren Zeiten.“

Aber ihrem Eheliebsten fiel noch etwas ein: „Also mein abendliches Bier möchte ich schon haben – das brauch ich zum Einschlafen!“ „Ja natürlich“, beruhigte seine Frau, „das Bier ist doch ab heute dein Abendessen, und ich werde nur zwei Tassen Kräutertee trinken, damit ich was Warmes im Magen habe. Und noch was: Wir werden ab heute – natürlich nur bei gutem Wetter – jeden Tag einen Abendspaziergang von einer Stunde machen! Vor den Nachrichten halt. Die Strecke können wir uns gemeinsam aussuchen – ich denke, wir gehen heute einmal über den Bach durch die neue Siedlung, dann am Waldrand bis zur Barbara-Kapelle und durch die Kellergasse zurück – ja?“

Der überfahrene Gatte nickte resigniert: „Was bleibt mir anderes über – in guten und in schlechten Zeiten, hat es geheißen. Ich habe ja nicht gewusst, dass die schlechten – nein, die mageren – Zeiten jetzt schon anfangen.“ Frau Hilde küsste ihn liebevoll: „Du bist ein Schatz. Wie ich schon gesagt habe – allein tät’ ich das nicht schaffen. Bleib sitzen, jetzt hol ich uns einen guten Kaffee, dann geht’s los – es ist ja schon fünf vorbei.“ Sie ging ins Haus und ließ einen verunsichert in die Zukunft blickenden Gatten auf der Hausbank zurück.

Dass der Kaffee nur mit einem statt wie gewohnt mit zwei Löffeln Zucker gesüßt war, wäre noch erträglich gewesen, aber dass der nunmehr verpflichtende Abendspazierweg gerade über die steilste Straße des Städtchens bergauf führte, wurde von Herrn Dr. Biermann, als sie endlich die Anhöhe erklommen hatten und er wieder genügend Atemluft sammeln konnte, heftig kritisiert. Was seine bessere Hälfte, die auch vernehmlich schnaufte, zur streng-liebevollen Replik veranlasste: „Siehst du, wie nötig wir das haben – diesen Weg sind wir – wenn du dich erinnerst – in unserer Verlobungszeit wohl hundert Mal gegangen. Nur, damals hast du dich nicht aufgeregt darüber, ganz im Gegenteil!“ Dieser Logik konnte der gute Martin nichts entgegensetzen.

Aber das Schlimmste stand ihm noch bevor. Nach der abendlichen Dusche wurde ihm zwar sein kühles Bier im schönen Steinkrug serviert, aber als sich die Gattin kurz um die Waschmaschine kümmerte, schlich der hungrige Hausherr heimlich in die Küche, um sich als Zukost ein Stück des fetten Schweizer Emmentalers zu holen. Geschockt erstarrte er vor der offenen Kühlschranktür: Ein Küberl Leicht-Joghurt, einige Karotten und zwei Gurken waren in Begleitung von zwei Litern Magermilch und einer Packung Margarine die einzigen Insassen dieses noch heute vormittags übervollen Kalorien-Speichers. In der Brotdose war außer einer Packung Vollkornbrot auch nichts zu holen, und als der nunmehr geradezu verzweifelt hungrige Professor die Tür zur Speis öffnete (wo sich doch seit ewigen Zeiten Kekspackungen, Fleischkonserven, Sardinen, Schokolade und andere Trosthappen befunden hatten) grinsten ihm leere Stellagen entgegen; und wie zum Hohn präsentierten sich in Augenhöhe je eine Familien-Packung Diät-Zwieback und Knäckebrot. Aus, Ende, fertig, es gab nichts von der Hand in den Mund zu steckendes Essbares mehr im Haus!

Herr Biermann ging, geknickt und gedemütigt, ja sich überrumpelt fühlend, zurück ins Wohnzimmer und brütete schwarze Gedanken aus. Das war keine liebevolle Einladung zur gut gemeinten Gewichtsreduktion gewesen, sondern ein Komplott, eine hundsgemeine geplante Falle! Seine erst vor zwei Stunden gegebene – nein, ihm abgeluchste – Zustimmung war genau kalkuliert und als minimales Risiko eingestuft. Da sollte doch der Teufel dreinfahren – so war das nicht ausgemacht, so nicht! Zornig erhob er sich, um nach oben zur Frau in die Waschküche zu gehen – da passierte es: Infolge der stoßweisen Bauchatmung beim ruckartigen Aufstehen gab der müde Zwirn der Belastung nach und die untersten zwei Knöpfe des prall gefüllten Hemdes sprangen ab und knallten gegen den Wohnzimmer-Spiegel. Und was quoll ihm daraus förmlich entgegen? Im goldenen Rahmen sah er sich mit geplatztem Hemd, den Nabel hervorstechend aus einem rosa-weißen Berg von Bauch! So grausam deutlich hatte er seine Leibesfülle noch nie gesehen.

Er sank reuig und beschämt wieder in den Ohrenfauteuil zurück und ging in sich. Ja, seine Hilde hatte Recht – er war abstoßend fett geworden –, da half alles Schönreden und Verniedlichen nichts. Er hatte einen schwabbelnden Bauch wie ein Sumo-Ringer, aber ohne dessen Muskeln. Da konnte man darüber anziehen, was man wollte – und in der Badehose am Strand würde er wirken wie eine Witzfigur, von Kindern verspottet und jungen Frauen gemieden. Der Pädagoge versank in dumpfes Brüten.

„Martin, was ist los – du wirkst so bedrückt! Und wie siehst du denn aus – warum ist das Hemd offen? So sitzt man doch nicht im Wohnzimmer herum.“ Frau Biermann kam mit einem Korb Bügelwäsche ins Zimmer und ihr Mann rang um eine Erklärung: „Nichts ist los – nur die zwei Knöpfe sind mir beim Aufstehen abgerissen – und da hab ich mich halt genau im Spiegel gesehen, wie dick ich geworden bin. So kann’s wirklich nicht weitergehen, jetzt ist höchste Eisenbahn zum Abnehmen.“ Er zog das Hemd aus und hielt es der Gattin hin: „Bitte leg das nach dem Waschen ganz oben auf meinen Stapel, damit ich jeden Tag daran erinnert werde, dass sowas nicht mehr passieren darf. Und die Knöpfe werden erst nach minus zehn Kilo wieder angenäht. Jetzt machen wir Nägel mit Köpfen!“ Die Gattin stellte den Korb ab und legte ihm beide Hände auf die Schultern: „So kenne ich dich, ein Mann mit Entschlusskraft und eisernem Willen. Wir schaffen das – pro Woche ein, zwei Kilo, bis wir zwei Konfektionsgrößen herunter haben!“

Spätabends, nach dem „Gute-Nacht-Bussi“, drehte sich Herr Biermann aber noch einmal zur Gattin um: „Also ein bisserl hinterfotzig bist du’s schon angegangen; wieso war heute nachmittags unser Haus mit einem Schlag komplett kaloriensauber? Ich mein, das muss doch von langer Hand vorbereitet gewesen sein, also komm!“ Seine Hilde drehte sich von der gewohnten Rückenlage auf die linke Seite und sah ihn schuldbewusst mit großen Augen an: „Das war nicht so raffiniert geplant, wie du meinst, sondern halt eine Gelegenheit, die’s kein zweites Mal gibt. Unser Bub ist doch gerade vorgestern in die neue Wohnung eingezogen, und da war natürlich noch nichts zum Essen da in der Küche und so. Die Erika hat mich gestern früh angerufen, ob ich ihr für die erste Zeit mit ein paar Sachen aushelfen kann, bis sie mit dem Rudi einen Großeinkauf macht. Und da ist mir klar geworden, dass wir eigentlich viel zu viel haben – an Lebensmitteln und so – und dass wir eh schon seit langem zu viel essen. Also habe ich der Erika g’sagt, sie soll mit ein paar von den leeren Umzugskartons kommen, und wir haben, während du in der Schule warst, miteinander den Großteil eingefüllt und sie hat’s mitgenommen. Und heute nach dem Essen, während dein’ Mittagsschlaferl, haben wir den letzten Rest verpackt und in ihr Auto verladen. Weil das war die Chance, dass wir endlich ein paar Kilo loswerden! Ich hab seit der Früh schon ein schlechtes Gewissen, dass ich dich so überfallen hab damit, aber so war unseren Kindern g’holfen, und in ein paar Wochen freu’n wir uns vielleicht an Haxen aus, dass wir endlich nimmer so dick sind, was meinst?“

Der Gatte grunzte gerührt: „Also wenn das so war – ego te absolvo! Weil, vertrau’n möchte ich dir schon können, immer, gell? Also mach’ ma’s Beste draus. Gute Nacht.“

Im Gymnasium erklärte Professor Biermann seinen Wechsel vom Jausen-Speckbrot zur Karotte mit seinen zu hohen Cholesterinwerten, und der einmal eingeführte Abendspaziergang wurde für das Ehepaar nach und nach zur liebgewordenen Gewohnheit. Denn nach den ersten zwei verlorenen Kilos einer zugegeben äußerst unangenehmen Woche mit täglicher Abwaage kam wieder Freude an der Bewegung und der lockerer sitzenden Kleidung auf. Pünktlich vor dem Abflug nach Zypern konnte der um neun Kilo reduzierte Professor seine geliebte rote Freizeit-Lederjacke wieder zuknöpfen, und die erschlankte Gattin hatte mit einem Jubelschrei alle ihre nunmehr zu große Kleidung in einen Humana-Container gestopft.

Nur zwei kleine Enttäuschungen mussten zur Strafe noch sein: Die von Frau Biermann angeblich in der Hotelliste erspähte Regina Engel – auf die in einem knappen Bikini am Strand zu sehen sich Herr Biermann schon seit Wochen gefreut hatte – erwies sich als ein Herr Reginald Engel, ein vertrocknetes altes Männlein mit einer stets nörgelnden Frau im Schlepptau. Und das wunderschöne grünseidene Strandkleid, welches der Professor seiner Frau heimlich gekauft und in deren Koffer geschmuggelt hatte, erwies sich als noch immer eine Nummer zu eng! Das war seine schmunzelnd ausgekostete Rache für ihren Überfall – und so musste die Gattin wohl oder übel ihre strenge Diät im ganzen Urlaub fortsetzen, um es wenigstens bei der Abschieds-Strandparty tragen zu können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21054

Der Butler 3

Halt! Kennen Sie bereits Teil 1 und Teil 2? Hier folgt der letzte Teil dieser Geschichte.

Ich habe jetzt einen Butler!

Zwei Tage später arbeitete ich wieder fleißig mit Richard und James an meinem Landhaus, immer nur von 8:00 Uhr bis 16:00, dann musste Richard zum Tee nach Hause, während aus James und mir wieder Butler und Gentleman wurden. Abends stellte James mich bei den umliegenden Häusern als neuen Nachbarn vor. Die Reaktionen reichten vom reservierten Handshake an der Tür bis zum Promilletest im Haus. Die liebenswürdige ältere Witwe Ivory-Smith lud uns sogar für nächsten Tag zum Tee ein. Es war ein sonniger September-Nachmittag, den wir in ihrem schönen Garten angenehm verplauderten. Mein Butler blieb mehr im Hintergrund, während ich ihr viel von Wien erzählte, was umso leichter ging, als diese kultivierte Lady auch rostiges Deutsch sprach – ihr Gatte war nämlich Berliner gewesen. James bewunderte insbesondere ihre phantastisch duftenden Rosen. Es mache ihr schon zunehmend Mühe, all diese Blumenpracht allein zu betreuen, seufzte sie, aber der Garten sei neben der Aquarell-Malerei eben ihr Lebensinhalt. Zu meiner „house-warming party“ in ein paar Wochen würde sie gerne kommen, sagte sie beim Abschied. Mein Butler war am Heimweg auffallend still und nachdenklich.

„No dinner today, James, after all these sandwiches and scones“, informierte ich meinen Butler am Abend, aber ich würde gerne mit ihm auf ein Bier in ein gutes Pub gehen, ob er mir eines zeigen möchte. Er nickte erfreut, aber wir sollten uns zuvor noch umziehen – so auf gepflegte Freizeit eben. Also führte ich meine nagelneue braune Lederjacke zu Jeans aus, während James in mausgrauem Tweed-Sakko und schwarzer Bügelfalte seriös unterwegs war. Das Pub war mit Mahagoni-Täfelung und viel Messing recht ansprechend, das Bier – na ja, englisch halt, und die Frau an der Theke hatte Freude an ihrem Beruf. Beim Tischgespräch erfuhr James, dass ich glücklich geschieden sei, und er fragte mich, ob mir die Blumenbilder von Mrs. Ivory-Smith im Salon auch so gut gefallen hätten. Er hätte ja berufsbedingt die meiste Zeit seines Lebens im Haus verbracht, aber so ein Garten wäre wohl ein schönes Hobby. Dann versandete das Gespräch – zwischen einem Butler und seinem Chef waren Vertraulichkeiten wohl nicht am Platz.

Nach einer Woche waren die „schmutzigen“ Arbeiten wie Fußboden rausreißen, Verputz abklopfen und Kacheln entfernen erledigt und die Handwerker konnten kommen. Richard kannte noch etliche ältere Professionisten, die steuerfrei verputzten, tischlerten, malten und Fliesen legten; James erneuerte die elektrischen Leitungen, während der örtliche Installateur eine moderne Gastherme einbaute. Nur der offene Kamin machte Schwierigkeiten – der Rauchfangkehrer wollte den kompletten Rauchabzug erneuert wissen. Weshalb ich die Feueröffnung zumauern ließ und einen großen Kaminofen davorstellte. In unglaublichen vier Wochen war der Großteil erledigt.

Seltsam nur, dass James nun öfter um ein paar Stunden Auszeit ersuchte, er hätte privat einiges zu erledigen. Anfangs war es mir wohl angenehm, fallweise ohne strenge Aufsicht zu sein. Dann traf ich im Supermarkt Mrs. Ivory-Smith, die mir herzlich für die Überlassung meines Butlers dankte – es wäre ihr eine große Hilfe gewesen, dass er ihr im Garten einige schwere Arbeiten abgenommen hätte. Ich schluckte meine Überraschung – also so ein Pharisäer – hinunter und lud die freundliche Nachbarin für übernächsten Tag zum Tee ein. Es wäre noch nicht alles fertig, aber ich bräuchte für meinen kleinen Garten ihre fachliche Beratung. Sie sagte gerne zu. James war die drohende Enttarnung wohl anzumerken, aber er meinte nur zögernd, dass mein Salon noch nicht besuchstauglich sei. Es fehle an Porzellan, Tischtüchern und sonst noch allerlei, auch die Möbel seien nicht vom Feinsten. In der Bezirkshauptstadt, Penzance, bekamen wir alles für gehobene Tischkultur, aber leider keinen geeigneten Tisch mit Stühlen. Der sogenannte „Antik-Shop“ war ein schlauer Altwarenhändler nach dem Motto: „Kaufe wertloses altes Gerümpel, verkaufe wertvolle Antiquitäten“. Aus dieser Misere rettete uns Sarah, die erfahren hatte, dass eine wohlhabende alte Dame in der Nachbarschaft verstorben war und nun deren Haushalt aufgelöst würde – vielleicht wäre da etwas dabei? Noch am selben Abend durften wir zur Besichtigung kommen, und der schöne alte Auszugtisch mit acht Stühlen war billig zu haben. Als Draufgabe erhielt ich von den Erben eine dazu passende reparaturbedürftige Bodenstanduhr und drei schwarze Kerzenleuchter.

Der nächste Tag war stressig: Zunächst mussten alle „besuchsrelevanten“ Räume entstaubt, geputzt und geschmückt werden, dann war auch die Menüfrage zu klären. Die „Tee-Zeremonie“ würde James in seine bewährten Hände nehmen, anstelle der ortsüblichen „scones“ buk ich einen Gugelhupf mit einem ordentlichen Schuss Jamaikarum und kaufte noch ein paar Zitronentörtchen des örtlichen Bäckers. Die geschenkten Kerzenleuchter erwiesen sich als uraltes Silber, das zu putzen James den ganzen Nachmittag kostete. Aber der stilgerecht gedeckte Tisch abends war umwerfend schön. Bei einem festlichen Dinner feierte ich mit Richard und Sarah die fast vollendete Renovierung meines Landhauses. Insbesondere das warme Flammenbild im Schwedenofen gab dem Salon eine behaglich-vornehme Note.

Auch James war zufrieden, als er mir spätabends seine „Ausflüge“ zu Mrs. Ivory-Smith beichtete. Als Ausgleich zu meinem scherzhaft-mahnend erhobenen Zeigefinger zählte er meine „lässlichen“ Benimm-Sünden beim Dinner auf, aber für die kurze Zeit hätte ich erhebliche Fortschritte gemacht. Und ja, er freue sich schon auf den morgigen Besuch der Nachbarin, nun wäre endlich wieder Leben im Haus.

Nächsten Morgen räumte ich mit James den Werkzeugschuppen auf, reinigte und ölte die brauchbaren Geräte und fuhr den Müll weg. Zum Lunch zauberte ich einen Kaiserschmarrn mit Zwetschkenröster. Meinem mitschreibenden Butler erklärte ich, das sei das Lieblingsessen unseres alten Kaisers gewesen. Was er mit drei Rufzeichen im Heft vermerkte. Nach der Siesta rüsteten wir uns für den Besuch. Trotz der frühen Stunde brannte ein kleines Feuer im Kaminofen, Sarah hatte einen großen Blumenstrauß für die Tafel vorbeigebracht, und nach der Dusche kratzte ich alle Erde aus den Fingernägeln und wurde zum Gentleman. Um James brauchte ich mir wohl keine Sorgen zu machen, nur dass er heute dezent nach teurem Aftershave duftete. Oh, oh, die Nachbarin war ihm wohl nicht egal!

Und sie wurde begrüßt wie ein Ehrengast. „Very lovely, how wunderschön“, lobte sie zweisprachig den frisch renovierten Salon, das wäre ja ein traumhafter Festsaal geworden. Bei geöffneter Terrassentür saßen wir wie in einem Wintergarten und freuten uns ganz einfach an der guten Jause und der angenehmen Gesellschaft, mit James als „Mitarbeiter“ gleichberechtigt bei Tisch. Erst nach einer guten Stunde standen wir im Garten herum und beratschlagten die Neugestaltung. James holte Schreibzeug, zeichnete einen kleinen Plan mit Meterangaben und notierte zu den Standorten die Pflanzen und deren Behandlung. Was stehenblieb, wurde mit Hakerl, die neuen Gewächse mit Kreuzerl versehen, die umzugrabenden Flächen schraffiert. Mrs. Ivory-Smith gab uns noch die Adresse des nächsten Gartenmarktes und bedankte sich herzlich für den schönen Nachmittag; ja, und das Rezept für diesen marvellous „Gugupf?“ – das Wort blieb ihr zwischen den Lippen stecken – also dieses Rezept wolle sie unbedingt ausprobieren. Sie würde uns auch gerne beim Einpflanzen helfen, wenn es so weit wäre, thank you, good evening. War da ein Zwinkern im Auge der Nachbarin beim Handshake mit James?

Nach einer arbeitsreichen Woche war das meiste geschafft – der Garten prunkte mit Fertigrasen, einigen blühenden Sträuchern (ich hatte große Containerpflanzen gekauft) sowie einem jungen Marillenbaum und etlichen dürren Besen, die erst im Frühjahr ihre Pracht entfalten. Es war ja schon Ende Oktober. Die angekündigte „house-warming party“ war nur ein Teilerfolg, weil lediglich zwei Ehepaare den Brauch kannten und Essbares beisteuerten, eine Nachbarfamilie brachten nur Chips und Soletti sowie ihre brüllenden Kleinkinder mit, und ein verspätetes uraltes Paar in schwarzer und silberner Abendkleidung drehte beim Anblick der sich am Tor übergebenden beiden Jungen geschockt um. Aber nach deren Abgang wurde es gemütlich. James servierte für die Damen den örtlichen „Strongbow-Cider“, für die Herren meinen mitgebrachten schweren Blaufränkisch. Richard hatte seine Gitarre dabei, der dicke Vis-à-vis-Nachbar eine rauchige Baritonstimme und zum Abschied sangen wir alle die inoffizielle Hymne von Cornwall, das Lied von Sir Trelawny:

And shall Trelawny live? – And shall Trelawny die?
Here’s twenty thousand Cornish men – Will know the reason why!

Dann verabschiedeten sich die Nachbarn. Es war inzwischen dunkel geworden, weshalb ich James ersuchte, Mrs. Ivory-Smith nach Hause zu begleiten. Was sie sich gerne gefallen ließ und mich einen „real gentleman“ nannte, den kennenzulernen sie sich sehr gefreut hätte. Na Gott sei Dank, dann war ja meine Ausbildung beendet. Dafür war mein Butler schon ein bisserl nachlässig, er ließ mich noch eine gute Stunde warten, obwohl die Nachbarin nur 100 Meter entfernt wohnte. Sie hätten sich so angeregt über die Gartenbetreuung unterhalten, entschuldigte er sein Ausbleiben, während er verdächtig rasch den Salon aufräumte. Na dann „good evening, James“, der Blaufränkisch entfaltete bereits seine Schwerkraft.

Übernächsten Tag musste ich zurück nach Wien. Die Fotos vom Cottage und Garten kamen gut an, mein Chef buchte sofort für 23. bis 31. Dezember, wodurch er noch die Betreuung meines Butlers genoss. Er habe sich da, erzählte er später, wie ein englischer Lord gefühlt, und seine Frau habe umgehend ihre Garderobe darauf abgestimmt. Auch ein sehr teurer langer Kaminrock aus schwarzem Samt sei ein Muss gewesen, seufzte er.

Nun ist das alles schon Vergangenheit, ich habe mein Cottage zwei Jahre später mit schwerem Profit verkauft. Butler James hat nach einem Jahr Mrs. Ivory-Smith geheiratet (als Brautführer durfte ich sie in einem Traum aus Silber und Blau zum Altar führen), und nun lebe ich hochzufrieden mit der Sekretärin des Maklers im Landhaus ihrer verstorbenen Tante am Bisamberg. Es war sehr schön, es hat mich sehr gefreut, und ich denke gerne an diese verrückte Zeit zurück, denn: Ich hatte einen Butler!

PS: Und gelegentlich erinnert mich mein Schatzerl ein bisserl gekränkt, dass ich sie damals nie zum Dinner eingeladen hätte – sie wäre auch gerne einmal im Leben von einem Butler bedient worden. Vielleicht spielt James ja noch ein einziges Mal diese Rolle, wenn er uns mit Gattin im Sommer besucht.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21036

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet
und der Text großteils im Original belassen.)

Der Butler 2

Stop! Haben Sie Teil 1 schon gelesen? Dies ist die Fortsetzung.

Ich habe jetzt einen Butler!

Schlimm war für mich auch die zweite Woche, als ich James für ein paar Tage nach Wien mitnahm. Denn meine Zweieinhalbzimmer-Wohnung war nun wirklich nicht butlertauglich. Er verzog schmerzlich das Gesicht, als ich ihm das alte Kinderzimmer als Quartier zuwies, und war sichtlich erleichtert, dass ich umgehend (für guten Lohn) die Hausbesorgerin als Putzfrau gewinnen konnte. Und dann sahen wir uns ratlos an, mein Butler und ich. Es war schon Nachmittag, ins Büro konnte ich erst morgen. „James, would you attend me to the Supermarket, please? I think we need some food for the next days.“ Während ich die Einkaufsliste schrieb, räumte James seine Sachen in den Schrank, dann gingen wir los, ich mit der großen ledernen Einkaufstasche meiner Mutter und James mit meinem kleinen Aktenkoffer. Ein Butler schleppt sich doch nicht ab! Unterwegs erklärte ich ihm den Umrechnungskurs englische Pfund zu Euro und gab ihm einige Euro-Noten als Taschengeld. Am Heimweg kehrten wir beim Chinesen ums Eck auf ein Bier ein – ein Pub konnte ich James ja nicht bieten.

Wieder zu Hause übergab ich James meine Zweitschlüssel, meine Büro-Karte und den Wiener U-Bahn-Fahrplan. Eine Wochenkarte hatte ich ihm schon am Flughafen gekauft. Dann war die Essensfrage zu klären. James konnte nicht kochen, und von Tee und Keksen wollte ich nicht leben. Wir einigten uns, dass er fürs Frühstück und ein paar Sandwiches am Abend zuständig sei, bei meiner Abwesenheit möge er auf meine Rechnung essen gehen, und ansonsten mit meinen Kochkünsten Vorlieb nehmen. James nickte gottergeben, aber diese alte Küchen-Ausstattung wäre unakzeptabel. Nicht einmal ein einziges Silberbesteck, nur emaillierte Töpfe und abgestoßene Gläser, nein, das sei eines Gentleman nicht würdig. Aber wo treibt man in der Vorstadt ein preiswertes Silberbesteck auf? Da fiel mir das Dorotheum in der Wiener City ein.

„Okay James, please come with me, shopping!“ Glück muss man haben, ich bekam dort ein billiges Edel-Essgerät, weil nicht mehr vollständig. Rostfrei-Töpfe und Glas sowie eine Silberpolitur gab es bei einer Firma am Stephansplatz. Den Preisen nach war das früher wohl eine Apotheke. Nun konnte das stilvolle Dinner mit „Ham and Eggs“ und Gösser steigen. Die fehlenden Kerzenleuchter und Stoffservietten bat ich meinen Butler zu entschuldigen, ich würde sie demnächst besorgen.

Nie hätte ich geglaubt, dass ein einfaches Nachtmahl so anstrengend sein kann. Zuerst musste ich unter die Dusche, Rasieren, Kopf waschen, Maniküre; und was eigentlich zieht man zu Hause für diese, äh, „Zeremonie“ an? „A Dinner Jacket, what else?“, empfahl mein Butler, aber sowas habe ich doch nicht. Die Inspektion meines Kleiderschrankes war für mich – in Unterhosen davorstehend – sehr beschämend. Gut die Hälfte meiner Kleidung landete am Boden und sollte morgen in die Humana-Container, meinte James. Nur ein weinrotes neues Sakko und schwarze Hose, mit passender Fliege ergänzt, fand Gnade für diesen Abend. Auch war nur ein einziges Paar Schuhe Gentleman-tauglich, die anderen möge ich auf der Baustelle auftragen.

Mir knurrte schon der Magen, aber da fing die Prüfung erst an. Ich durfte nicht einmal in die Küche, sondern hatte mir im Wohnzimmer einen Sherry einzuschenken und auf die Ankündigung von James „Dinner is ready, Sir“ zu warten. Mangels Sherry hatte ich ein größeres Schnapsglas mit „Nussernem“ in der Hand, als er mich endlich zu Tisch bat. Seinen erstaunten Blick, von dezentem Schnuppern begleitet, erwiderte ich mit der Ausrede: „That’s the Austrian Sherry, a very special kind of.“

Man soll es nicht glauben, aber ein englischer Gentleman freut sich nicht aufs Essen!! Zumindest darf er es nicht zeigen! Kaum nahm ich mit freudig-erwartungsvollem Gesicht am festlich gedeckten Tisch Platz, als mir James auch schon mit langsam absinkenden Händen zu verstehen gab, dass wahrnehmbare Freude aufs Essen fehl am Platz sei, höchstens eine amüsierte Bemerkung, was die Köchin heute gezaubert haben könnte. Auf seine Frage, was für ein Getränk ich bevorzöge, erwiderte ich also brav: „A pint of bitter, please“, worauf mein Butler in Ermangelung eines Weinkühlers die Bierflasche aus einer irdenen Blumenvase zog und behutsam einschenkte. Natürlich nur dreiviertel voll. Aber die Bemerkung, dass üblicherweise zuerst ein Aperitif angebracht wäre, verkniff er sich doch nicht. Nach dieser bitteren Pille kam endlich der Lichtblick des Abends, das von James persönlich zubereitete „Ham and Eggs“, mit einer sogenannten Salatgarnitur und einer Semmel als Beilage. Die drei Blatt Schinken waren wohl einzeln geröstet und zusammengerollt worden, die zwei Spiegeleier bedeckten nur einen Bruchteil des großen Zwiebelmuster-Tellers, weshalb die auf einem eigenen Tellerchen liegende Semmel die Hauptlast der Mahlzeit tragen musste. Außerdem wachte James mit Argusaugen darüber, dass ich nur daumennagelgroße Stücke auf die Gabel nahm und die Semmel nicht wie gewohnt in vier, fünf Stücke riss und verschlang, sondern jeden kleinen Bissen endlos kaute. Auch das Bier durfte nur schluckweise getrunken werden. Während des Essens erinnerte ich mich an die Mathematikstunden im Gymnasium – die vergingen auch so quälend langsam.

Endlich war der letzte Rest auf dem Teller weg, die Semmel verzehrt und der bereits warme Bierrest im Glas geleert, mit der Serviette der Mund abgewischt und ich durfte aufstehen. „It was a good start, Sir“, lobte mich James und wurde zu seinem eigenen Abendessen in die Küche entlassen, während ich mir die Schuhe für den Abendspaziergang anzog. Jetzt brauchte ich ein Gulasch und ein Bier, um den Schock abzuarbeiten. Ich gab mir unterwegs einige unfreundliche Namen, weil ich mir diesen Unfug überhaupt angetan hatte. Aber als ich im ungelüfteten Wirtshaus beim zähen Gulasch saß, den lauten Gesprächen der örtlichen Trinkergemeinde zuhören musste und das Bier aus einem stark abgenutzten Krügel trank, fand ich erstaunlicherweise, dass ein üppigeres Dinner mit ein, zwei angenehmen Gästen auch seine guten Seiten haben könnte. Nach dem zweiten Bier kam ich ziemlich müde nach Hause, grunzte nur mehr ein „Good night, James“ und fiel ins Bett. Geträumt habe ich in dieser Nacht komischerweise, dass ich auf eine Südsee-Insel gezogen sei und mit einem braunen Mädchen ohne jede Zivilisation  jeden Tag mit der Sonne um die Wette strahlte.

Der folgende Bürotag war anstrengend genug, und abends musste ich noch zwei Tischtücher und Stoffservietten kaufen. Die von James urgierten Kerzenleuchter aus Silber haben schweres Geld gekostet; dass das auch eine gute Wertanlage sei, war nur ein schwacher Trost. Gott sei Dank gab es am Stephansplatz auch Kerzen. Endlich alles erledigt für heute, ich hätte mich beinahe schon aufs Heimkommen gefreut, da fiel mir ein, dass ich ja wieder ein Dinner zu überstehen hatte. Und was sollte da auf dem Speiseplan stehen? Die Standlerin bei der Haltestelle hatte schöne Zwetschken anzubieten – also Zwetschkenknödel! Fertigteig war zu Hause, und vom Chinesen nahm ich einen Behälter Suppe mit.

„Good evening, James, what about plum-dumplings for dinner? Would you like to watch me making them?“ Mein guter Geist nickte interessiert, und während ich die Brösel röstete und den Teig rührte, erzählte er mir von seinem Vienna-Sightseeing und dass ihm Wien sehr gut gefallen hatte. Inzwischen überlegte ich, ob ich heute noch einen Tischgast gewinnen könnte. Ein Ehepaar kam wohl so schnell nicht in Frage, aber halt, die Malerin vom 7. Stock könnte ich anrufen. Ihre unkonventionelle Künstlernatur wäre ein erfrischender Kontrast zum formellen Butler-Dinner. Sie sagte gerne zu, den ganzen Tag hätte sie gearbeitet, nun wäre ihr ein warmes Essen sehr angenehm. Ja, pünktlich um 19:30 Uhr. „James, please dinner for two at half past seven, a friend of mine, Lady Charlotte, will come“, teilte ich meinem Butler mit, während ich die Knödel formte und ihn unterwies, dass diese genau 15 Minuten im kochenden Wasser bräuchten, ehe sie in den Bröseln gewälzt würden. Und bitte den Zuckerstreuer nicht zu vergessen.

Um halb acht traf meine Nachbarin ein und meinen Butler fast der Schlag: Charlotte war auf Meerjungfrau unterwegs; sie trug ein Eigenbau-Kleid aus glänzenden grünblauen Stoffbahnen, das unten zu lang und oben zu kurz war; ihren großteils sichtbaren Oberkörper bedeckten mehrere Muschelketten. „Jö, Zwetschkenknödel“, jubelte sie und umarmte mich wie einen heimkehrenden Krieger. Erst dann erkannte sie die Situation – den steifen Butler und meine vornehme Gewandung. Das steckte sie mit einem „Na servas“ locker weg, ging voraus ins Zimmer und kippte den doppelten Nussernen wie einen Schluck Wasser. Inzwischen entzündete James die Kerzen und rückte meiner „Lady“ den Stuhl zurecht. Bei der Suppe war ihr der Schock noch anzumerken, aber bereits beim ersten „plum-dumpling“ war sie wieder unbeschwert, gratulierte mir zum Joker-Gewinn und wir plauderten gutgelaunt. Auch James taute auf und servierte nachsichtig lächelnd die Traminer Spätlese. Somit genossen wir ein fröhliches Dinner; schwierig war nur, Charlotte gegen neun wieder zu verabschieden, weil ich angeblich noch zu einem Freund musste. James begriff sofort und kam mit dem Mantel, während mein Gast sich für den schönen Abend bedankte. Nach einer Runde um den Häuserblock leistete ich James bei seinem Abendessen in der Küche Gesellschaft, wo er mir die richtige Besteck-Handhabung vorführte. „It was an interesting evening“, kommentierte er wohlwollend, nachdem ich meine „Lady“ als schräge Künstlerin klassifiziert hatte. Und diese herrlichen „plum-dumplings“ wolle er in Cornwall heimisch machen – ob ich noch mehr so gute Gerichte kenne. „Oh yes, James, a lot of.“

Am nächsten Tag im Büro erklärte ich meinem Chef, Dkfm. Sensenbrenner, die Situation, und dass ich jetzt sofort meinen ganzen Urlaub fürs Renovieren bräuchte. „Ein Cottage in Cornwall, ich gratuliere“, meinte dieser anerkennend, „da wollte ich schon lange einmal hin.“ Worauf ich ihm vorschlug: „Überraschen Sie doch Ihre Frau und feiern Sie Weihnachten dort – ich muss ohnehin „Bed and Breakfast“ anbieten, um die laufenden Kosten zu decken, würde Ihnen das gefallen? Ich kann gerne ein paar Fotos schicken, wenn wir fertig sind, ja?“ Er müsse natürlich noch seine Frau überzeugen, so mein Chef, aber ja, er würde mir Ende November Bescheid geben.

Robert Müller

Auf ins Finale: gleich weiterlesen bei Teil 3

www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 21035

(Auf Wunsch des Autors wurde bei diesem Text auf manche Lektoratskorrektur verzichtet
und der Text großteils im Original belassen.)

 

Der Butler 1

Ich habe jetzt einen Butler!

Ich, das Vorstadtkind, habe einen Butler zu Hause, der mir die Tür öffnet, den Mantel abnimmt, mich fragt, ob ich einen guten Tag gehabt habe, und all das, wie man es in englischen Filmen und noch mehr in alten Fernseh-Komödien sieht und hört. Er fragt mich, wann ich zu Abend speisen will (manchmal sagt er „Dinner“, manchmal sagt er „Supper“, ich weiß nie genau, was der Unterschied ist. Wie ich damals in Cornwall als zahlender Gast bei einer Familie einquartiert war, hat deren kleine Tochter mich immer mit den Worten „Robert, tea is ready“ zum Abendessen geholt. Dieser Englischkurs ist nun dreißig Jahre her, und dementsprechend ist mein Englisch schon sehr dürftig.

Auch weiß ich nicht recht, was ich mit dem Butler anfangen soll – weil nicht nur der Butler, auch ich als sein Arbeitgeber sollte mit dieser Situation zurechtkommen, das macht uns wohl beide befangen. Aber eine Gebrauchsanweisung für einen Butler gibt es nicht, ich habe schon im Internet nachgeschaut. Da sieht man immer nur den uralten Film „Dinner for one“ und diverse Gesellschaften, die Butler vermieten und so – sehr verunsichernd und ein bisserl peinlich halt, wenn man es gewohnt ist, selbst ein Bier aus dem Kühlschrank zu nehmen und ein Schmalzbrot zu streichen. Und diese weißen Handschuhe den ganzen Tag – dass die nicht schmutzig werden? Ich habe vor zig Jahren, als grüner Jüngling in der Tanzschule, so was tragen müssen. Meine Mutter hat gemeint, dass viele junge Burschen beim Tanzen aus Verlegenheit schwitzige Hände haben, und das sei nicht gut für die Kleider der Mädchen.

Wie kam es nun dazu, dass ich einen Butler habe? Eigentlich wollte ich ja damals gar kein Los kaufen, aber da hatte im Supermarkt der Kunde vor mir ein falsches Los gekauft und den Irrtum zu spät bemerkt. Stornieren konnte es die Kassierin nicht mehr, so habe ich gutmütig gesagt: „Na dann geben Sie es mir“, und hatte nunmehr ein Los mit Quicktipp und einem Joker, was immer das bedeutet. Ich, der bis zum Geiz sparsame und dem Glücksspiel Abholde, hatte nun ein Los – und damit, natürlich mit der Wahrscheinlichkeit eins zu Millionen, die Chance auf einen hohen Gewinn, oder wenn es nur vier richtige Zahlen hatte, auf ein Trinkgeld. Und dann habe ich es achtlos in die äußere Rocktasche gesteckt und dort vergessen, weil ich dieses Sakko nur „für schön“ trage. Aber das Schicksal ist hartnäckig – als dann Monate später mein Alltagsrock in die Putzerei musste, habe ich das Los in der Tasche gefunden und beim nächsten Einkauf gefragt, ob es noch gültig sei. „Schau ma halt“, meinte die Kassierin und steckte es in die Maschine, um sich dann mit weit aufgerissenen Augen zu mir umzudrehen. Zuerst sagte sie, im Schock, eine Minute lang gar nichts, dann kam die Meldung: „Stelln’s Ihna vor, das is der Hauptgewinn!! Und jössas, der Joker is a no drauf, mit dreihunderttausend Euro!!!!“ Gott sei Dank war ich vor dem Zusperren der einzige Kunde im Laden und reagierte rasch: „Wenn ich das Geld noch bekomme und Sie niemandem was erzählen, gibt’s einen Tausender Weihnachtsgeld für Sie, was heißt, fünf Tausender, auf die Hand, ja?“ Sie schlug blitzenden Auges in meine hingehaltene Hand und meinte: „Mach ma, trifft sich guat, ich geh Weihnachten eh in Pension!“

Drei Wochen später hatte ich fast zwei Millionen Euro auf der Bank und begann zu überlegen, was damit geschehen könnte. Die kleineren Sachen waren schon erledigt: ein neues Auto, die Wohnung mit Parkettboden und Tapeten renoviert, Bad frisch gekachelt, Garderobe ausgemustert und mit guten Sachen ergänzt, drei Wochen Urlaub in der Karibik und der zickigen Freundin den Weisel gegeben. Vor meinem Lottogewinn hatte sie mir öfter zu verstehen gegeben, dass sie als Tochter aus gutbürgerlichem Haus eine bessere Partie verdient hätte. Und nun hatte sie begonnen, Ansprüche zu stellen. Nein, nicht mit mir. Dabei hatte ich sowieso nur den Joker Hauptgewinn und zusätzlich einen Vierer zugegeben, weil meine nunmehr besseren Verhältnisse in der Nachbarschaft aufgefallen waren. Und den Mann aus dem Nebenhaus, der mir damals das falsche Los überließ, hatte vor Gift und Galle fast der Schlag getroffen – er grüßt mich seither nicht mehr. Na, dann nicht, selber schuld!

Ja, und so habe ich in den nunmehr häufigeren stillen Stunden allein zu Hause überlegt, was ich mit dem Geld anfangen soll. Am Sparbuch bekommt man keine Zinsen und die Inflation nagt am Guthaben wie eine Ratte an den Erdäpfeln im Keller. Der auf einmal sehr freundliche Kundenberater meiner Bank wollte mir schöne Fonds mit Wertpapieren verkaufen, oder wenigstens Staatsanleihen. Aber zum Staat habe ich nicht viel Vertrauen – ich sehe und höre ja dauernd im Fernsehen, wie die Staatsschulden steigen. Und mit Aktien kenne ich mich nicht aus. Damals, beim letzten Bankencrash vor ein paar Jahren, hat mein Geldinstitut auch einige Millionen verloren – da hat sie der eigene Berater wohl falsch beraten. Nein, solchen selbsternannten Fachleuten, die schon stinkend faule Kredite nicht einmal direkt vor der Nase erkennen, traue ich nicht. Aber was tun?

Mein Abteilungsleiter, der Dkfm. Sensenbrenner, dessen ruhig-überlegte Art ich sehr schätze, hat sich vor drei Jahren ein Haus mit großem Grundstück gekauft, etwa 30 km außerhalb Wiens, „Nur ein Grundstück oder ein gut gebautes Haus“, hat er gesagt, „behält und steigert seinen Wert, wenn die Lage passt und es öffentlich gut erreichbar ist. Für Gold braucht man sehr viel Kapital, und bei Aktien muss man sich schon jahrelang gut auskennen und dauernd am Ball sein.“ Also gut, Immobilien wären die Lösung. Aber welche und wo? Und da fiel es mir wieder ein: Wo wollte ich schon vor langer Zeit einen eigenen Bungalow haben und in der Pension das halbe Jahr dortbleiben? In Cornwall – wo ich damals den Englischkurs gemacht habe und so begeistert war von der schönen Küste und den mit herrlichen Gärten umgebenen Häusern. Kilometerlange Fuchsien-Hecken, riesige Hortensien, überall die prächtigsten Lupinen- und Fingerhut-Rabatte, da und dort struppige Palmen und immer wieder der Ausblick aufs Meer und der gute Geruch der Brise. Und auch der weite Blick über die mit niedrigen, grün bewachsenen Mauern getrennten Felder und Wiesen. Cornwall heißt ja Kornfelder, mit Mauern umgeben.

Gleich am nächsten Samstagvormittag habe ich die Karte meines damaligen Vermieters hervorgesucht und ihn angerufen. Er hat sich echt gefreut, wieder von mir zu hören; und ja, ich sei gerne als Gast willkommen. Platz genug, die Tochter sei ja inzwischen in London verheiratet; seine Frau Sarah und er wären schon in Pension. Wann ich kommen wolle? Ich gab Bescheid, erst müsse ich eine Vertretung im Büro finden, ich werde mich rechtzeitig melden, liebe Grüße an die Gattin, danke.

Dann habe ich mir aus dem Internet zwei Makler herausgesucht und per Mail angefragt, ob in der Umgebung von Falmouth oder Penzance ein kleines Cottage zu haben wäre – mit Garten, zwei Schlafräumen und in gutem Bauzustand. Meerblick wäre nicht Bedingung, aber in Küstennähe. Es sollte aber bald sein, solange England noch in EU-Verbindung sei, da wäre ein Verkauf an Ausländer sicher einfacher.

Eine Woche später saß ich schon im Flieger. Der eine Makler hatte nur große, teure Häuser anzubieten, aber der zweite, dessen Sekretärin auch beinahe wienerisches Deutsch sprach, hatte etwas Passendes im Portefeuille. Ein kleines liebes Häuschen mit traumhaftem Garten und ein etwas größeres, äußerlich unansehnlicher, aber mit Blick aufs Meer. Und preiswert, weil dessen Besitzer rasch verkaufen müsse. Mein Gastgeber, ein pensionierter Maurer, hat mich gleich vom Bahnhof zum Cottage zwei gefahren, und dort hat uns ein älterer Herr in schwarzem Anzug höflich-reserviert begrüßt und durch das Haus geführt. Auf meine Frage stellte er sich als der Butler des Verkäufers vor: „James, zu dienen“.

Weil das kleinere Cottage nach dem Motto „Außen hui, innen pfui“ billigst gebaut und eingerichtet war, mit rostigen Installationen und verwahrlosten Böden, kam nur mehr das größere Objekt in Frage. Mein Gastgeber Richard meinte, mit knapp 20.000 Euro für die nötigen Instandsetzungen wäre das Haus wieder wie neu; wenn wir bald anfangen, könnte alles bis Weihnachten fertig sein. Also retour zum Makler und ich stellte mein Angebot: Kaufpreis minus 20.000 Euro, die Immobilie müsse lastenfrei sein und der Verkauf rasch abgeschlossen, Unterschrift gegen Bargeld. Die hübsche Sekretärin bat ich um Übersetzungshilfe beim Vertrag und schrieb ihr meine Telefonnummer auf einen Hundert-Euro-Schein, was sie mit erfreutem Lächeln dankte. Nach einer Woche konnte ich unterschreiben und hatte ein Haus in Cornwall.

Aber nicht nur das, ich hatte offensichtlich auch den Butler mitgekauft. Der Vorbesitzer hatte kürzlich sein großes Anwesen infolge Insolvenz verkaufen müssen, das Cottage wollte er zuerst behalten. Dort war auch James bis zu seinem baldigen Pensionsantritt einquartiert. Aber weil er noch Schulden hatte, ist der Verkäufer – mit meinem Geld in der Tasche – noch am selben Tag nach Neuseeland geflüchtet. Weshalb mich James um ein Gentlemen’s Agreement ersuchte: Ob ich ihn noch bis Jahresende weiter beschäftigen wolle, denn er könne erst zu Neujahr den Alterssitz bei seiner Nichte in Schottland beziehen. Er würde mir halbtags sogar beim Renovieren helfen. Nun ja, ich hätte das Haus auch gekauft, wenn es ein paar tausend Euro mehr gekostet hätte, also in Gottes Namen! Mein neuer Butler holte eine „vergessene“ Flasche Champagner aus dem Keller und schenkte mir formvollendet ein Glas ein. War ich nun wirklich ein englischer Gentleman?

Na ja, da fehlte noch eine ganze Menge. Nach der ersten Nacht im Cottage weckte mich James vereinbarungsgemäß, brachte mir eine Tasse Tee ans Bett und servierte dann ein traditionelles englisches Frühstück. Nur die Zubereitung von trinkbarem Kaffee musste ich ihm zeigen. Aber sonst war ich meinem neuen Status hilflos ausgeliefert. Weder Kleidung noch Umgangsformen passten – und der durchaus gutwillige James war mit meiner „Umerziehung“ ziemlich überfordert. Noch dazu bei meinem lausigen Englisch! Ich habe ihn gebeten mir zu sagen und notfalls auch vorzuzeigen, wie sich ein vornehmer Hausherr geben sollte. Zeitsparenderweise möge er auch alle kostspieligen Höflichkeiten weglassen, wenn wir allein waren, und mich in der dritten Person belehren: „A Gentleman should …“. So in der Art halt.

Es war eine schwere Zeit für uns beide, ich getraute mich in seiner Anwesenheit nicht einmal mehr zu schnäuzen, und James bekam starke Abnützungen in der Halswirbelsäule, vom vielen hilflosen Kopfschütteln. Gott sei Dank war Richard unsere Rettung. Er brachte beim ersten Gespräch über die geplante Renovierung heraus, dass James in seiner Jugend Elektriker gelernt hatte, und so wurde dieser – von acht bis 16 Uhr – taxfrei zum „Hackler“ ernannt und durfte sich in dieser Zeit auch so benehmen; er musste nun Bier aus der Dose trinken und hatte sichtlich Freude an diesem Rollenspiel, aber manchmal seufzte er, er fürchte schizophren zu werden. Mit neuem Overall, weißem Schutzhelm und Bauhandschuhen korrekt gekleidet half er mit und war vorbildlich bestrebt, die Baustelle und Werkzeug sauber und aufgeräumt zu halten. Es war rührend zu beobachten, wenn James mittags den von Richards Frau Sarah gebrachten Eintopf in die Plastikteller schöpfte und vorher die Schalungstafel abwischte, welche auf rostigen Gerüstböcken lag. Exakt im vorgeschriebenen Abstand lagen das Besteck und die Papierservietten. Lästig war mir nur, dass alle externen Arbeiter und Lieferanten infolge seiner sauberen Kleidung und souveränen Haltung James für den Bauherrn hielten.

Robert Müller

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