Küchenkulturen von New York bis Moskau 5

Kaviar im Königsschloss

Lange schon bedrängte ich meine Freundin Zhenja, sich neue Brillen machen zu lassen. Nicht direkt, ich machte versteckte Bemerkungen und Anspielungen, legte es ihr nahe, umschmeichelte, lockte sie auf alle erdenklichen diplomatischen Weisen. Bei uns würde man sagen, sie trug ein Krankenkassenmodell, wahrscheinlich das hässlichste Krankenkassenmodell auf der ganzen Welt. Man sieht solche Gestelle nur noch auf alten Schwarz-Weißs-Fotos von Kriegsgefangenen oder aus Entwicklungsländern. Mahatma Gandhi im Hungerstreik, fällt mir dazu ein. Ein dickes Folterwerkzeug vor den Augen, das das ganze Gesicht zur Unkenntlichkeit entstellte. Ich ging Umwege, indem ich ihr das grazile Silber-Etui schenkte, das sie bei mir bewundert hatte. Ihre alte Brille passte allerdings nicht in das schmale, elegante Etui mit Goldrand und rotem Innensamt. Eine gelungene Jugendstil-Kopie aus dem Dorotheum. Macht nichts, sie verwendet es für ihre zarte Sonnenbrille, die sie allerdings kaum trug. So lag das Etui als Schaustück auf ihrem Schreibtisch.

Ich wollte ihr das neue Brillengestell schenken, sie müsste dafür nur zu einem Optiker gehen und eines aussuchen. Vielleicht beim nächsten Besuch in Wien, zusammen mit mir bei meinem bewährten Meister auf der Wieden. Mit der besten Beratung und allen Prozenten. So lockte ich und umwarb sie. Aber Zhenja blieb taub auf diesem Ohr – bzw. blind auf dem Auge.

Warum wollte sie ihr Veteranen-Brillengestell nicht gegen ein neues austauschen? Es passt so gut, liegt genau richtig auf meiner Nase und drückt nicht hinter den Ohren. Perfekt. Es ist aus Deutschland, Ost-Berlin und von Zeiss, Baujahr 47. So etwas finde sie nie wieder, war sie überzeugt und widerstand all meinen Versuchungen. Mir war es peinlich, sie anzusehen, wenn sie diese Brille trug. Nicht zu Hause bei sich oder bei mir, aber in der Öffentlichkeit, fremdschämen nennt man das.
Zhenja war klein, zierlich, bewegte sich mit ihren achtzig Jahren fast jungmädchenhaft, immer elegant gekleidet und perfekt frisiert. Sie war eine durch und durch erfreuliche Erscheinung, machte immer und überall eine bella figura – bis auf die Brille, die war einfach nur grässlich, ein Stilbruch. Das Gestell war riesengroß und fast rund, von unbestimmter Farbe, ein Grau-Gelb wie von einer brüchigen, vergilbten Seide oder einem Totenantlitz. Die Brille ragte weit über Zhenjas schmales Gesicht hinaus, war leicht schief und mit so dicken Gläsern versehen, dass sie aus dem Rahmen herauszuquellen schienen.

Wenn sie den Kopf neigte, beim Lesen etwa, rutschte sie auf die Nasenspitze, verlängerte sie unbarmherzig und bildete einen hässlichen Höcker aus, dass sie den Illustrationen von Baba Jaga oder der Hexe im Knusperhäuschen glich. Bei künstlichem Licht warfen die Gläser Spiegelflecken auf die Wangen, sodass sie hohl wirkten wie bei einem Totenkopf. Uhu war noch das Schmeichelhafteste, was einem dazu einfiel. In einem bestimmten Winkel zauberte die schiefe Ecke sogar eine Riesenwarze in den linken Nasenbogen. Ich war sicher nicht die einzige Person, die sie auf dieses Brillengesicht angesprochen hat. Also trage ich nicht allein die Schuld, an dem Verhängnis, das sich da anbahnte.

Aber es passte zu Zhenja, dass sie sich nicht darum kümmerte, welchen Eindruck sie auf die Umgebung machte. Sie war ein durch und durch unabhängiger Mensch, echt, aufrichtig und uneitel bis zur Schmerzgrenze. Ich glaube, auch bei den Mitmenschen ein Verwundern über die Diskrepanz zwischen der Brille und ihrer übrigen Erscheinung bemerkt zu haben. Aber Zhenja war ein so ungewöhnlicher Mensch, mit einer so unglaublichen Biographie und einem solch gewaltigen Lebenswerk, dass es niemanden gab, der sie nicht liebte und bewunderte. Alle genossen ihr Talent zum Scherzen, am meisten über sich selbst. Aber bei den Toasts zu ihrem Geburtstag kam immer wieder die Conclusio: Vor allem und über allem: Sie ist a Mänsch.

Als Günter Grass 2000 den Literaturnobelpreis bekommt, lädt er Zhenja nach Stockholm ein. Zur Preisverleihung kann Grass nur seine Frau Ute mitnehmen, weil es dort nur begrenzt Platz gibt. Aber am Dinner im königlichen Schloss darf neben Zhenja auch ihre Tochter Natascha teilnehmen. Das hat Grass höchstpersönlich dem Palastprotokoll abgerungen. Grass wusste, was er an ihr gehabt hatte in den letzten drei Jahrzehnten. Wenn Zhenja etwas gegen die Zensur durchboxte, hieß das Millionen-Auflagen in der Sowjetunion und im ganzen Ostblock. Aber vor allem wirkte das in die DDR zurück und von dort wiederum in den Westen.

Der Preisträger hat wie selbstverständlich seine langjährige Russisch-Übersetzerin und Kämpferin für seine Werke in der Sowjetunion mitsamt Natascha eingeladen, die Tickets, das Hotel und den viertägigen Aufenthalt in Stockholm bezahlt. Über die Jahrzehnte waren sie und der Weltautor gute Freunde geworden. Mit dem ihr eigenen Humor freute sie sich diebisch über den dem DDR-Regime abgerungenen Freibrief für Grass, mit dem sie die sowjetische Zensur ausgetrickst hatte. Bei einer privaten Geburtstagsfeier übersetzte ich einmal für Grass und seinen Verleger Steidl die etwas pathetischen Worte: „Zhenja hat uns in ihre russische Familie aufgenommen!“, ohne die blasseste Ahnung zu haben, was russkaja semja bedeutete. Er hat sie nach Westberlin eingeladen, den Besuch bei Böll in Köln eingefädelt und den bei Frisch in der Schweiz. Später war sie Gast auf Grass’ Landsitz in der Uckermark, hatte sich mit Grassens Uttilein befreundet, mit deren Freunden Christa Wolf und ihrem Mann Gerhard und vielen anderen deutschen Literaturgrößen. In ihrer mit Büchern vollgestopften 27 Quadratmeter großen Einzimmer-Wohnung hingen an den einzigen bücherfreien Flecken zwei große Zeichnungen von Grassens Hand – ein Porträt von sich selbst an seinem Schreibtisch mit Pfeife im Mund und ein Stillleben seiner Pfeifensammlung.

Zhenja machte mir die Ehre, mich in manchen Angelegenheiten ihrer Tochter vorzuziehen, etwa als arbitrix in gustibus. Sie hatte volles Vertrauen in meinen Geschmack, das Richtige auszuwählen, was sie zum königlichen Dinner anziehen sollte. Es wurde ein mitternachtsblaues, bodenlanges Kleid aus Samt, das ihre Schmalheit ein wenig üppiger machte, schlicht, nur eine Silberbrosche am Ausschnitt mit einer silbernen Stola. Sie war einverstanden. Sie würde Königin Silvia in den Schatten stellen, war ich überzeugt. Zuletzt schwatzte ich ihr noch eine kleine Clutch auf, gerade groß genug für ein Taschentuch und eine Brille. Ich war bei all meinen Reisen noch nie an einem lebendigen königlichen Hof gewesen, bin noch nie an einer königlichen Tafel gesessen, aber Zhenja hielt mich auch ohne diese Erfahrung für ausreichend weltgewandt.

Ich brachte die beiden Damen nach Sheremetjewo II hinaus, und wir verabredeten uns zum Abholen. In fünf Tagen also, Flug SAS 209 aus Stockholm. Gut sahen sie aus, die elegante, alte Dame mit ihrer hübschen Tochter, ihr ganzer Stolz, ihr Augenstern und Herzblatt, ihr Sonnenschein und das Einzige, wofür Zhenja wirklich lebte. Sie hatte sie erst spät bekommen, als keine Hoffnung mehr bestand – ein Wunder.

Es kam der Ankunftstag, die Maschine aus Stockholm landete, und ich wartete auf die Damen. Aber sie kamen nicht. Ich ging zum Informationsschalter, aber in Russland war es nicht üblich, Auskunft über die Passagierlisten zu geben, außer es war mit dem Flugzeug ein Unglück geschehen. Und das war offensichtlich nicht der Fall. Die Maschine des Fluges SAS 209 stand fest auf dem Moskauer Rollfeld. Schwer verunsichert und mit einem flauen Gefühl fuhr ich zurück in die Stadt. Es vergingen noch fünf Tage, ohne dass ich eine Nachricht von Zhenja oder Natascha bekommen hätte. Endlich kam der erlösende Anruf, wir sind in Moskau und alles ist in Ordnung. Was ist passiert? Alles okay, jetzt wieder. Da ich gerade in der Arbeit war, konnten wir nur kurz sprechen. Wir verabredeten uns für den Abend bei ihr in der Wohnung. Mit klopfendem Herzen, lauter als alle Kremlglocken zusammen, fuhr ich hinaus ins Dichterviertel.

Zhenja schien in diesen zehn Tagen geschrumpft zu sein, ihr Gesicht war blass, fast durchsichtig und eingefallen. Aber sie lachte schon wieder über die Ereignisse, die hinter ihr lagen. Sie sah in der Tragik zugleich auch die Komik. Alles war gut gegangen, alles sehr feierlich. Die aus Deutschland stammende Königin hatte ihr, der kommunistischen Weltkriegsteilnehmerin und Befreierin von Berlin, der sowjetischen Kulturoffizierin in Ost-Berlin, die Hand geschüttelt und ein paar freundliche Worte gesprochen über ihre Übersetzertätigkeit in der deutschsprachigen Literatur, sehr gnädig. Auch Rilke und Böll, Kafka, Frisch, Dürrenmatt und eben Grass. Die kannte sie aus ihrer Münchner Studienzeit. Sie waren fast Kolleginnen, hatte Silvia Sommerlath doch als Dolmetsch für Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Schwedisch gearbeitet, dazu noch die schwedische Gebärdensprache erlernt. Die Königin war offensichtlich gut gebrieft worden über die Gäste des Abends. Auch Zhenja hatte sich vorbereitet und schenkte der Königin ein Foto von sich in Berlin 1945 in der Uniform der Baltischen Flotte. Sie sah aus wie eine dunkelhaarige Marlene Dietrich.

Das Unglück war, dass Zhenja und Natascha nicht nebeneinander an der Tafel platziert worden waren, sondern nach den Gesetzen der Diplomatie, also der Kommunikationsfähigkeit. Zhenja kam neben dem schwedischen Dichterfürsten Tomas V. zu sitzen, auch ein Nobelpreisträger, dessen Deutsch blendend war. Sie kannte seine Gedichte in russischer Übersetzung und schätzte sie. Er war überglücklich über seine Nachbarin, mit der er sich über Marina Zwetajewa, seine Lieblingsdichterin, austauschen wollte. Was halten Sie von der Beziehung von Marina Zwetajewa zu Rilke, von „Meinem weiblichen Bruder“, wie sie ihn in einer hymnischen Schrift nannte. War da mehr? Und natürlich Marina Zwetajewa mit Anna Achmatowa vergleichen. Rilke und Lou Andreas-Salomé? Rilke und Russland? Ernst, oder nur Schwärmerei und Wortgeklingel wie so vieles bei Rilke?

Natascha saß weit weg, verdammt zwischen die Vertreter der russischen Botschaft, sie verdrehte die Augen ins Weiße und machte ein Gesicht wie ein sterbendes Pferd. Als Vorspeise wurden verschiedene Früchte des Meeres, Schätze der Ostsee, gereicht, reich garniert nach schwedischer Art. Ein Heer von Livrierten schritt an den langen Tischreihen entlang, bot große Platten an und legte auf. Es musste schnell gehen und reibungslos wie ein Uhrwerk, waren doch 1200 Gäste in einem eng begrenzten Zeitraum abzufüttern. Zwischen den Häppchen mit Dorsch, Lachs und Kabeljau, Thunfisch, Krebsen und Krevetten lagen Salatblätter, fein ziselierte Petersilrosetten, gedrechselte Zwiebelringe, zu Spiralen geschnitzte Kohlrabis, gesplittete Zucchini- und Gurkenscheibchen, aufgedröselte Broccoliköpfchen, gekringelte Passionsfrüchte, aufgezwirbelte Zitronenhälften und zu kleinen Kugeln gedrehte Karotten, das frischeste Orange, das sie je gesehen hatte. Sie meinte, alles war genau zu erkennen und blickte durch den Saal hinüber zu Natascha. Diese nickte aufmunternd, und so langte sie zu.

Bei Zweifeln hätte sie normalerweise die Brille genommen oder Natascha gefragt. Aber an der königlichen Tafel wagte sie nicht, ihre Brille aus dem Täschchen zu nesteln und aufzusetzen oder den berühmten Tomas V. zu fragen, ob das Orange auch sicher Karotten seien. Was denn sonst, doch keine Orangenschalen. Als sie den ersten Bissen nahm und die vermeintlichen Karotten ihre Kehle passierten, war es schon zu spät. Sie bekam einen Erstickungsanfall und fiel dem schwedischen Dichter in den Frackschoß wie eine welke Blume. Sie verlor so schnell das Bewusstsein, dass sie den kurzen Aufruhr, der danach entstand, nicht mehr miterlebte. Histaminischer Schock mit Atemlähmung. Zhenja wachte erst drei Tage später in einem Krankenbett des Karolinska auf, nachdem man sie künstlich beatmet hatte. Natascha war Tag und Nacht um sie, Grass hatte ein Bett für sie ins Zimmer stellen lassen und den Krankenhausaufenthalt bezahlt. Von den täglichen Besuchen der Grassen hatte sie nichts mitbekommen. Der Tisch und das Fensterbrett waren voll mit Blumensträußen und Bonbonnieren. Tomas V. hatte einen Strauß weißer Rosen geschickt mit herzlichen Genesungswünschen in Form eines deutschen Sonetts, las sie später im Briefchen. Sie war drei Tage mehr tot als lebendig gewesen, erzählte ihr Natascha. Wären sie beisammen gesessen, hätte die Tochter das Unglück verhindern können, denn sie würde erkannt haben, dass das Orange nicht von frischen Karotten stammte, sondern von Kaviar, auf den Zhenja allergisch war. So schwer, dass es lebensbedrohlich war, wenn sie nur mit ihm in Berührung kam. So ungewöhnlich und unglaubwürdig für eine Russin wie für einen Franzosen eine Weinallergie.

Zhenja kicherte still in sich hinein, wie sie dem schwedischen Langweiler mit seinem Russenschwarm entgangen war. Sie war völlig gelassen und schuldfrei gegenüber dem Tumult, den sie an der königlichen Tafel auslöste, hatte sie doch keine Erinnerung daran, nur Natascha bedauerte sie zutiefst, dass sie ihr so große Sorgen bereitet hatte. Sie entschuldigte sich tausendmal bei ihr für den Kummer, aber nie direkt, sondern stellvertretend bei mir. Ich diente ihr als punching ball, ihr mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa, das sie gegenüber Natascha nie aussprach. Sie verstanden einander ohne Worte, eine dichtere Symbiose zwischen Mutter und Tochter habe ich nie davor oder danach erlebt. Sicher eine Krankheit, auf beiden Seiten.
Ihr erster Mann war in den ersten Kriegstagen in Weißrussland gefallen, ihr zweiter nach der Geburt von Natascha, an einer Überdosis Alkohol. Vor lauter Freunde, sagte sie, andere sagten, er war immer schon Alkoholiker, ein ganz normaler Russe eben.

Wie oft hatten wir dieses Spiel gespielt: Mit wem würdest du am liebsten essen gehen? Sie immer mit Kafka, ich immer mit Dostojewski. Aber entschuldige, Zhenja, du weißt besser als ich, welch schwieriger Esser Kafka war. Natürlich wusste sie das besser als alle anderen, hatte sie doch die erste Übersetzung vom „Brief an den Vater“ erstellt, das berühmte schwarze Bändchen von 1963, einem kurzen Moment in Chruschschtows Tauwetter, und später nach der Perestroika alle seine Tagebücher. Bei Austriazismen war sie manchmal unsicher und zog mich zu Rate. Sie liebte Kafka und nannte ihn ihren Herzensbruder, den kleinen, klugen Bruder, den sie sich immer gewünscht hatte.

Das wäre kein fröhlicher Schmaus geworden, was er aß und so wie er aß, wandte ich ein. Übrigens, Dostojewski war auch kein angenehmer Tischpartner, das getreueste Abbild von sich selbst hat er in den „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ abgegeben, an denen ich mich mein ganzes Studium hindurch abarbeitete. Er war ein Rüpel und hat die Tischmanieren seiner sibirischen Katorga nie abgelegt. Du weißt doch, wie Turgenjew ihm in Baden-Baden aus dem Weg ging, weil er sich so sehr für seinen ungehobelten Landsmann genierte.

Aber genau das macht den Franz zu meinem Herzensbruder, mein Bruderleben, wir haben so vieles gemeinsam. Er war nicht kompliziert, wenn man ihn nur sich selbst sein ließ. Wir hätten jiddisch miteinander geredet und gemeinsam über Löwys Theatertruppe gelacht. Er lachte ja so gerne, am liebsten über seine grausamsten Texte, wenn er sie vortrug. Max Brod schildert die Szene, wie er sich beim Vorlesen der „Strafkolonie“ vor lauter Lachen verschluckte und außer Atem geriet.

Dann ging es weiter mit den Träumereien. Glaubst du, du hättest ihn retten können? Ja, war sie überzeugt, vielleicht nicht physisch, vor der Tuberkulose, aber seelisch, ich hätte ihn von seinem Leiden an der Jüdischkeit befreit. So wie Dora, aber da war es schon zu spät.

Aber Zhenja war Zhenja geblieben, auch nach dem traumatischen Stockholm. Sie konnte bei aller Gebrechlichkeit schon wieder scherzen: Da haben wir’s, voilà, der Beweis, mein Körper ist doch mehr jüdisch als russisch. Zhenja war in einem ukrainischen Stedtl geboren und aufgewachsen, mit Jiddisch als Muttersprache, mit strengen Bräuchen, die sie allerdings schon lange nicht mehr einhielt, bis auf die Lebensmitteltrennung. Schade um das schöne Dinner, schade um die sechs weiteren Gänge. Auch das ein Scherz, denn sie hätte es auch bei voller Gesundheit höchstens bis zum zweiten gebracht. Seit sie die 900 Tage und Nächte der Belagerung Leningrads und den großen Hunger überlebt hatte, konnte sie nur gerade so viel essen, dass sie nicht verhungerte. Sie kannte seit damals keinen Appetit und keinen Hunger mehr. So war der Große Vaterländische Krieg für sie nie zu Ende gegangen.

Wie weit meine Brillenwarnungen sie beim Dinner im Schloss beeinflusst haben, ich weiß es bis heute nicht. Sie hat es mir nie erzählt, und ich habe trotz unserer Freundschaft nicht zu fragen gewagt.

28.12.21

Veronika Seyr
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www.verdichtet.at | Kategorie: Lesebissen | Inventarnummer: 22012

 

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