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Im Einundsechzigsten

Die Hauptperson fehlt.
Noch nicht alt. Nicht mehr jung.
Zu jung.

Eine gebrochene hochbetagte Mutter, deren Schmerz nur kurz Linderung erhält durch Momente der  Erleichterung darüber, nun nicht mehr Sorge für die Zukunft der kranken Tochter tragen zu müssen.
Kartenspielen mit der Mutter, beiderseitige Fürsorge.
Was wird sein, wenn die Mutter geht?
Wer rechnet schon mit der umgekehrten Reihenfolge?
Der heißgeliebte Kater in der Obhut der Mutter.

Ein ebenso alter Vater im jägerlichen Lodenrock, verkniffen, erschöpft.
Der Kontakt zur Tochter war nicht der beste.

Der Cousin, angereist aus Wien, der Jüngste und Letzte der Familie.

Zwei ehemalige Kolleginnen, zwei Kameradinnen aus der Kindheit und einige der Freundinnen, die später dazustießen. Gemeinsame Reisen, unbeschwerte Plauderstunden, Salzburgfahrten (zum Patenkind), bei denen erste Gehstörungen auftreten.
Besuche bis zuletzt, aber bestimmt zu selten! Keine Vorwürfe oder Klagen.

Eine feierliche Stimmung will nicht aufkommen, bedrücktes Schweigen.
Der Tross folgt der Urne in der Sommerhitze quer über den Friedhof. Auf knirschendem Kies und unter Verkehrsgetöse und Baustellenlärm.

Die Männer in ihrem Leben sind auch gekommen.

Die Verlobung mit dem ersten Freund empfindet sie gerade noch rechtzeitig als zu eng. Da war immer schon ein großer Wunsch nach Eigenständigkeit, danach, selbst zu entscheiden. Die Freundschaft bleibt dennoch bis zuletzt. Ich hab ihn mir anders vorgestellt, agiler, aber natürlich ist er ein grauer Mann.

Die Gesellige, stets Freundliche – es war Verlass auf sie.
Die Lebenslustige, Aktive und Sportliche war eine attraktive Frau und hatte schöne Zeiten.

Ihre große Liebe ist auch hier, ein elegant ergrauter Herr. Der, der sie vor Jahrzehnten einmal sehr verletzt hat. Dem verziehen wurde, und mit dem es danach weiterlief, so nebenbei, aus seiner Sicht in Teilzeit sozusagen.
(Zu der Zeit trat der erste Schub auf, die Sehbeschwerden wurden erst im Nachhinein auf  ihre Krankheit zurückgeführt.)
Wie gut, dass er gekommen ist, aber kurz sträuben sich meine Nackenhaare, wie er jetzt da eine Zeitlang so neben mir hergeht.
Er hat etliche Frauen in sein ruhmreiches Leben gepackt.
Die Freundschaft bleibt aber tragfähig bis zuletzt.

Danach eine Vollzeitbeziehung, im Nachhinein gesehen aber nicht mit dem Richtigen. Nachdem sie diese beendet hat, holt er sich eine junge Frau aus Thailand, empfindet als störend, dass sie ein Söhnchen nachholen will und auch, dass sie schiefe Zähne hat. Der falsche Partner, aber ein Freund, auf den sie zählen konnte. Auch er ist grau; er war es schon immer.

Der nächste und letzte Mann in ihrem Leben hat ihr gutgetan, in Teilzeit und unverbindlich – an ihre Unabhängigkeit hatte sie sich gewöhnt. Als das Leben beschwerlich wird, ist er ein Freund, achtsam in guten wie in schlechten Tagen. Eine gewisse Treue. Auch er ist unter jenen, die sie jetzt begleiten.

Die Tapfere, Zuversichtliche.
Der es dreckig ging, und die kaum geklagt hat.
Die bitteren Entscheidungen: das Auto aufgeben, von der Freiheit ganz zu schweigen!, sich Hilfe suchen, das Pflegebett, der verhasste Rollstuhl, der Badewannenlift, vorzeitige Pensionierung und Pflegegeld beantragen.
Und das niederschmetternde Aufwachen, nachdem im Traum das Gehen-Können wieder möglich war.

Hölzern absolvierte katholische Abschiedsrituale, Trauer nach Regieanweisung. Das Geschehen und der Schauplatz unter der sengenden Sonne und dem nahen Alltagslärm auf seltsame Weise surreal.
Die Mutter untröstlich.
Bei uns anderen wird die Beklommenheit dem Kummer erst später weichen.

Nach einem sehr schlechten Tag mit massiven Sprachstörungen beginnt der folgende mit viel Zuversicht und einem guten Gefühl. Aus diesem heraus verlangsamt sich in der Früh plötzlich der Herzschlag, ihr Sterben ein erstauntes Aus-dem-Leben-Gleiten ohne Kampf und Angst.

Wir sind traurig.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17137

 

 

 

 

 

 

Einsam

Welch eine Gnade Gottes ist doch das Alleinsein! Niemandem Rechenschaft abgeben müssen, was man den ganzen Tag über getan oder nicht getan hat! Keine dummen Fragen beantworten müssen, keine Fragen stellen müssen. Du bist einsam! Einen Dreck, entgegne ich. Das ist was anderes, füge ich hinzu. Ich bin nicht die Miss Sophie. Du verwechselt was, sage ich verärgert. Und ich kann mir meinen Himbeersaft noch alleine eingießen, brauche keinen Butler James dazu. Ich sitze nicht an einer langen Tafel und mir gegenüber ist kein Gedeck für Gespenster aufgedeckt, mit denen zu speisen ich mir heimlich vorstelle. Ich brauch tatsächlich niemanden. Außer meiner geliebten Frau. Das muss ich zugeben. Dann bist du nicht allein. Doch, wenn ich eben allein bin. Das soll ja hin und wieder vorkommen. Ich genieße es, allein zu sein. Ohne Sir Toby, ohne Admiral von Schneider, ohne Mister Pommeroy und ohne Mister Winterbottom. Aber warte, bis du alles überlebt hast und du wirklich alleine hier sitzt, sagst du. Na und?, inszenier ich mir meine Abendessen eben selbst!, antworte ich kühn. Und Weihnachten? Silvester? Was ist an deinem Geburtstag? Das macht mich nachdenklich.

The same procedure as every year, füge ich an. Eben, allein, pah! Aber ganz wohl ist mir nicht in meiner Haut. Nun, noch ist es ja nicht so weit, denke ich. Bis dahin werde ich mir schon alles zurechtlegen. Zurechtlegen, ja. Ich sage das sicherheitshalber zweimal vor mich hin, um der ganzen Angelegenheit mehr Gewicht zu verleihen. Ich weiß nicht, ob Einsamkeit eine Strafe ist. Manche behaupten das allerdings. Einsamen fehlt ganz einfach das Gefühl, von anderen beachtet zu werden. Mir ist das egal. Lügner. Halt’s Maul! Ich suche und finde meine persönliche Anerkennung und Gebrauchtwerden in mir selbst. Ja, das sieht man. Wie viele Bücher sind von dir im Umlauf? Und wehe, wenn du nicht gelobt wirst. Da möchte ich dich sehen! Ich konversiere derzeit nicht mit dir, sage ich überheblich.

Einsamkeit, die kommt nicht einfach so auf einen Schlag. Die sickert so langsam und stetig in dein Leben, und du bemerkst es gar nicht. Irgendwo bei einer Veranstaltung, einer Ausstellung meinetwegen oder vor dem Fernseher, ehe du ihn abdrehst, bevor du allein zu Bette gehst, weil niemand hier ist. Oder denk mal nach, wenn dir der Tod einen deiner Liebsten nimmt, so mir nichts dir nichts, ohne dich zu fragen. Was ist dann? Ich räuspere mich. In meinem Gehirn arbeitet es fieberhaft. Plötzlich ist das Kinderzimmer leer. Hör auf! Doch, gewöhn dich dran. Ich denke nach. Ja, aber – ja, es ist leer. Aber doch nur für ein paar Wochen, weil das Jüngelchen zum Studieren ist. Der kommt ja wieder. Ich wünsch es dir. Sag nichts, was du später bereuen wirst, entgegne ich stur. Und das andere Bubi? Das ist verheiratet. Das ist etwas anderes. Den kann ich jederzeit sehen, wenn ich will. So möge es sein. Is’ aber so, sage ich trotzig.

Prominente sollen zuweilen auch einsam sein, wer weiß? Wenn der Star am Himmel zu verblassen beginnt, könnt ja sein, nicht? Was macht man dann ohne den ganzen Rummel? Fernsehen? Auch fad. Wenn man einsam ist, soll einem das ein Warnsignal sein, sagen die einen. Ich selbst habe immer weniger oft den Wunsch, dazuzugehören. Angeber! Darauf antworte ich nicht. Bitte, eben nicht! Kann sein, dass sich mein Leben irgendwie verändert hat. Kann aber auch nicht sein. Vielleicht hat sich da draußen was geändert, dass ich es nicht mehr so sehr begehre? Oder ich leide an Mangel an Vertrauenspersonen, an Typen, an die ich mein Herz hänge und von denen ich erhoffe, erhofft habe, dass sie es umgekehrt genauso tun würden.

Freunde! Was sind eigentlich Freunde? Ich habe sie im Dutzend während meines langen Lebens verbraucht. Sie sind mir abhandengekommen. Keine Ahnung in den meisten Fällen, wie es dazu kommen konnte. Auf einmal waren sie weg. Hab ich mich zu wenig um sie gekümmert? Sie zu wenig bewundert? Ihren Kommentaren zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Dem einen, der stundenlang über dies und das so völlig belanglos dozieren konnte, wenn genügend Publikum vorhanden war? Auf den könnte es zutreffen. Irgendwann habe ich es aufgegeben, durch ein paar kümmerliche gut und klug gemeinte Zwischenrufe die Zuhörer auf mich aufmerksam zu machen. Vergebens. Es war todsicher sein Publikum.
Man kann nie genug neue Freunde haben, sagen manche, vor allem deshalb, weil einen die alten auf die Dauer nicht mehr genügend bewundern würden. Auf den trifft diese Feststellung sicher zu. Wie ich es auch dreh und wende, im Laufe der Jahre sind sie mir alle irgendwie auf den Sack gegangen, mit ihren Ängsten, Nöten, mit ihrem ewigen Geprahle von irgendwelchen Neuanschaffungen und dem andauernd mies schaugespielten Postitiv-Sein, wenn ich verdammt nochmal negativ sein wollte, eben weil es eine beschissene Welt ist und eben deswegen, weil es keinen Sinn macht, sie schönreden zu wollen. Sie, diese Welt, ist eben wie sie ist, ohne Tatütata daran herumlobzuhudeln, das hab ich schon gefressen. Du alter Pessimist! Ruhe auf den billigen Plätzen. Mach die Zeitung auf, dann kapierst du, was ich meine.

Freunde! Pah! Das sind Menschen, sage ich, die dich nur dann einladen, wenn du von Nutzen bist für sie. Nicht unbedingt gleich materiell, aber potenziell, wenn sie einen Witzeerzähler brauchen, eine Lachnummer, einen billigen Star, der nix kostet, aber der seinen Beitrag für die Allgemeinheit leistet. Freunde, das sind solche, die dich nie von selbst anrufen würden, die dir aber vorwerfen, dass du sie nicht anrufst, wenn du sie eben anrufst. Freunde, das sind solche, die alles, was du machst, als selbstverständlich hinnehmen, denn selber würden sie ja noch viel tollere Sachen anstellen, das kannst du dir gleich hinter die Ohren schreiben.

Freunde sind welche, die dich klassifizieren, beurteilen, die dich genau kennen, die sofort wissen, wo deine Stärken liegen, vor allem aber deine Schwächen, die kennen sie genau. Solche sind das, die dir ins Gesicht sagen, was du besser kannst, denn die wissen das genauer als du selbst. Freunde sind solche, die schon bei Kleinigkeiten umfallen, wenn’s mal ein wenig schärfer hergeht. Selbst vertragen sie keine Kritik, aber kritisieren ständig an dir herum. Du musst eine Therapie machen, du musst dies und jenes tun, damit du … Das kennen wir ja zur Genüge. Aber selbst setzen sie keinen Schritt zur eigenen Veränderung ihrer Göttlichkeit. Eben deshalb.

Alleinsein, ach, das hat was! Befreiend! Läuternd! Wohltuend! Hoffentlich kommt heute niemand, ist ein alter Stehsatz von mir. Auf den bist du auch noch stolz, was? Geht dich nichts an! Kommt noch jemand? Nein? Dann kann ich ja ungestört in Unterhosen rumlaufen, super! So hab ich das gemeint. Der Gürtel spannt ja ohnehin bloß um die Leibesmitte. Und auf niemanden Rücksicht nehmen müssen! Ist das nicht überirdisch? Du bist emotional verflacht, sagen die! Dass ich nicht lache! Ein emotionaler Flachwurzler, der leicht umfällt. Unsinn! Pessimisten sind schon einmal anfällig für Einsamkeit.
Ich würde mich zu wenig mitteilen, sagen die. Zum Totlachen! Besonders, wenn es um tiefere Gefühle geht. So ein Schwachsinn! Wenn einer solche Persönlichkeitsstrukturen wie du aufweist, hat er Probleme mit Kontakten. So ein Schmarrn! Früher, da war ich ein ausgekochter Partytiger, das kannst du mir glauben. Da hat es kein Weibsstück gegeben, das vor mir sicher war. Sicher, ja, früher! Wir reden aber vom Jetzt. Jetzt! Jetzt! Darf ich nicht in Würde alt werden? Irgendwann ist der Zenit eben erreicht. Und dann geht’s bergab. Jetzt geht’s eben bergab. Und darum will ich auch meine wohlverdiente Ruhe haben.

Du machst es dir leicht. Hast du eine Ahnung! Viele Einsame sind auf der Suche und finden gleichsam Einsame. Danke, das fehlte mir noch. Einsam bin ich selber genug. Muss ich nicht noch auch im Doppelpack zelebrieren. Es gäbe Warnsignale, sagt man. Wer nicht darauf reagiert, fällt der chronischen Einsamkeit in die Hände. Ich bitte um eine solche! Angeber! Warte nur, bis du von einem anderen physisch abhängig bist, damit du dein Futter kriegst oder aufs Töpfchen gehen kannst. Stille.

Jetzt sachste nix mehr, gelle? Brummig. Muss ja nicht so weit kommen. Hähähä, es wird aber so weit kommen, verlass dich drauf. Da gibt’s Statistiken. Sterb ich eher vorher aus Trotz! So siehst du aus, genauso. Positiv denken ist angesagt. Positiv denken! Bei den Nachrichten? Schalte sie einfach nicht ein. Das geht nicht. Der Mensch muss wissen, was da draußen passiert. Das darf man nicht verdrängen. Dann ist dir nicht zu helfen. Die Scheiße da draußen dringt in dein Bewusstsein und macht mit dir, was sie will. Schon möglich. Dann ist es nur die Bestätigung dafür, dass es eben doch eine Scheißwelt ist. Dir ist nicht zu helfen! Eben, drum lass mich in Ruh! Gehörst du auch zu denen, die glauben, dass sie nichts ändern können? Sicher! Versuch’s mal als freiwilliger Helfer in einem Tierheim. Meine Einsamkeit ist ein ernsthaftes Thema, du solltest darüber keine Witze machen, ja? Du meinst als Vorstufe zum Altenheim? Ich brauch keine neuen Kontakte. Ich bin froh, dass ich die alten los bin.

Ein Unheilbarer! Du fürchtest die Zurückweisungen, richtig? Welche Zurückweisungen bitte? Na, bei neuen Kontakten. Ich sage dir doch, dass ich keine neuen Kontakte suche. Genau wie Miss Sophie! Ihr seid euch ähnlich, echt. Das ist eine Beleidigung. Ich bin keine neunzigjährige alte Jungfer. Das nicht, nein. Aber du solltest deine Perspektive ändern. Inwiefern? Nun, Miss Sophie hat immerhin ihren Butler James, mit dem könnte sie doch besser feiern als mit den vier nicht vorhandenen Freunden am Tisch? Ich habe aber keinen Butler James, mit wem sollte ich denn also saufen? Tja, das ist natürlich ein Problem, das seh ich ein. Trotz allem, Einsamkeit macht sonderbar. Und Sonderbare werden irgendwann entmündigt. Sind wir doch schon längst. Wie? Na, entmündigt. Wir sind ohnehin schon fast entmündigt. Schau dich um, Autos, die alleine fahren, Kühlschränke und Herdplatten machen sich bemerkbar, wenn wir ihnen zu wenig Aufmerksamkeit schenken oder unnötig ihre (oder meine?) Energie verschwenden.

Die ganze Technik will uns insgeheim, was heißt insgeheim, die will uns bevormunden, besachwaltern will die uns, als ob wir bereits alle Idioten wären! Das sind – irgendwie Methoden, die uns umerziehen wollen. Erst waren wir froh, dass wir das Autofahren erlernt haben, und selbständig entscheiden konnten, was wir damit anfangen. Jetzt sprechen die Dinger bereits mit uns, sagen uns, warum wir wo ranfahren sollen, zum Ausrasten meinetwegen. Ständig beobachtet uns irgend so ein Mikrochip, ob wir auch das Richtige für ihn tun würden. Das ist doch krank? Kann ich die Karre nicht mehr allein lenken, ohne dass sich ein ferngesteuertes Männchen einmischt? Wen geht’s was an, wenn ich müde bin, verflucht? Andauernd will uns das Handy weismachen, was wir dringend benötigen. Der Zenit ist erreicht. Das Imperium schlägt zurück! Die Geister, die wir riefen, werden wir nicht mehr los! Irgendjemand ist da immer, der alles besser weiß, was für uns richtig ist.

Ist das nicht brandgefährlich? Die machen uns an, die Dinger. Die pushen uns irgendwohin, keiner weiß wohin. Ist das die neue Moral? Ändern die unsere Gewohnheiten? Machen sie die zu den ihren? Versuch mal, dich nicht anzuschnallen, wie lange hältst du das nervige Gepiepse durch? Für deine Sicherheit – für deine Sicherheit! Ja, zum Henker, mach ich ja, aber auf meine Weise. Muss ja nicht gleich die Revolution ausbrechen, wenn ich ‘ne Minute mal nicht am „Schlauf“ baumle, nicht? Wir sollen alle brave Mitmenschen werden, die gesund essen, ordentlich Pipi gehen und alle Risiken vermeiden, die kostspielig werden, wenn’s nicht geklappt hat. Is’ auch fad, oder? Na gut, alle halten sich ja nicht an diese Ordnung.

Es gibt ja genug Junkies, Säufer, Sportler, Bergsteiger zum Beispiel oder andere Typen, Polizisten etwa, die tagtäglich ihr Leben riskieren, der eine auf diese Weise der andere eben auf ‘ne andere. Werd nicht politisch! Meinst du, da ist ein Plan dahinter? Naja, könnt ja sein. Ich sehe den entmündigten Konsumenten auf seinem ferngesteuerten Weg ins Leben. Die andere Seite bedeutet, irgendjemand sieht uns als Vollhirnis, die man ganz einfach leiten und lenken muss, weil wir unsere täglichen Risiken gar nicht oder nur unzureichend erkennen. Also, wenn ich denke, dass mich irgendein Gerät bevormundet, dann find ich das schon bedenklich, oder? Schließlich erzwingen die hernach irgendwelche Taten von uns, oder? Mittlerweile implantieren sie uns die Richtung, die wir nehmen sollen.
So weit sind wir schon! Manche finden das modern. Echt? Ich pfeif drauf, ehrlich! Dem Typen vor mir darf ich nicht mal in die Nähe kommen, wenn der mich nervt und nicht weitertut. Da kriegst du rasch ein Problem mit den Warninstanzen in deiner „Mühle“. Nicht einmal ein wenig Angst darf man dem Vordermann (der Vorderfrau) mehr machen. So weit kommt’s noch! So weit ist es schon! Vielmehr, ja. Springt nicht an, die Mistkarre, wenn sie spitzkriegt, dass du ein Bier intus hast. Bieg rechts ab, o Gott, du bist zu schnell, steig auf die Bremse, die Tür ist nicht zu, zu wenig Abstand, leg eine Pause ein, falscher Gang. Kann nicht sein, ist ja ein Automatic. Was soll denn das?

Und? Immer noch einsam? Dein Kühlschrank steht offen, pfeifpfeif! Ja ja, ich weiß, das Hühnchen wird hin! Der Stromverbrauch, vergiss das bloß nicht! Ist ja meine Stromrechnung. Wie bringe ich das Gerät zum Schweigen, lässt in mir Mordlust hochsteigen. Ich kann ohne das piepsende Mistding nicht mehr selbständig einparken, sagt mein Nachbar. Die Kerle bauen einfach alles ein, was ihnen gerade in den Kram passt. Innovativ ist das, sagen sie. Damit stehlen sie sich aus der sozialen Verantwortung, uns uns selbst zu überlassen. Die versuchen, unsere Gehirne auszuschalten, sag ich dir! Das sind Eingriffe in unsere geistige Intimsphäre. Das alles deckt das sogenannte Bedürfnis nach Freiheit. Freiheit? Stell ich mir anders vor. Wollen die mir letztendlich auch noch das Lenkrad aus der Hand nehmen? Das letzte bisschen Entscheidungsfreiheit wollen die mir nehmen, wie? Und gaukeln mir vor, wir bequem, wie verantwortungsvoll das alles sein soll.
Sie übernehmen gerne die Verantwortung für mein Fortkommen, wirklich! Dass ich nicht lache! Irgendwann werden sie uns das Selbstfahren komplett verbieten. Das war’s dann. Bubenträume (Mädchenträume nicht?) müssen umgeträumt werden. Ferrari ade, Jeep offroad aus, Ende. Matchboxmodell am Küchentisch und selbst Brumm-brummgeräusche dazu machen. Geh, mach mir keine Angst. Meinen SUV hab ich erst seit fünf Jahren. Lenkrad abgeben ist wie Löffel abgeben. Pessimist! Viel Vergnügen dabei! Sieh das wenigstens als Vorteil der Umwelt gegenüber, sich von uns verantwortungslosen Umweltsündern erholen zu können. Was jetzt? Ist doch schön. Alles so belebt. Immer noch einsam? Ach, lass mich in Ruhe!

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17132

 

Verlangsamt suche ich nach dem Licht im Monde

Was hat er getan,
Was hat er getan,
Eine Kassette hängt im Abspielgerät
meines Körpers,
Chancen nicht vergoldet,
nur verlangsamt

Während du mir in das Ohr flüsterst,
kann ich dich finden,
Du schwarze Saat,
Tief in meinen Herzen,
Schließt gerne alle Türen

Finster bleibe ich am Sofa sitzen,
Monde suchen nach mir

Florian Pfeffer

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17105

Il Mare

Glanzlos liegst du mir zu Füßen,
und vertraulich umspülst du mir mit deinem Zungenschlag die Zehen,
ganz harmlos stellst dich mir dar, als sei dir an nichts anderem gelegen,
als weich gekräuselt einige leichtsinnige Sandkörner aufzuwirbeln.

Im Einklang zur abgleitenden Sonne stellst du dich dar,
spiegelst verzerrt ihren Strahlenglanz wider, nahezu unterwürfig,
als sei dir tatsächlich im Grunde etwas daran gelegen,
den windstillen Frieden der Abendrotstimmung teilen zu wollen.

Aber abgrundtief hasse ich dich,
mit all meiner Hassenskraft,
für diese eine windumtoste Nacht,
als du so gnadenlos zum Wellenschlag ausgeholt,

mir die Segel zerfetzt,
den Mast zerfräst, den Führerstand zerhackt,
mit unersättlicher Gier alles Greifbare in deinen Schlund gerissen hast,
in deine Tiefen abgesaugt, und auf deinem Grund in Ewigkeit vergraben.

Und darunter auch mein Schwesterchen,
das pechschwarze Haar zu unschuldigen Zöpfen geflochten,
die Augen angsterfüllt geweitet angesichts deiner Wucht,
und die Puppe Schutz suchend an die Brust geklammert.

Und umso mehr bin ich von grenzenlosem Hass zerfressen,
denn nie wolltest du mir ihren zarten Körper wieder preisgeben,
hast mich vergeblich Nacht für Nacht deine Weiten absuchen lassen,
nur ihre Puppe, die hast du mir achtlos an den Strand gespuckt!

Mehr als ein halbes Jahrhundert nunmehr vergangen,
ein ganzes Fischerleben darin aufgebraucht,
und nichts als deine sanfte Sandspülung
vermag mir lindernder den Gichtschmerz aus meinen Zehen zu ziehen.

Deine erhabene Größe der Formlosigkeit, deine Fassungslosigkeit,
die einem zwischen den Fingern zerrinnt, sobald man sie in Händen hält,
und deine Zeitlosigkeit, an deren Rücken alles zu Bedeutungslosigkeit schmilzt –
nur ich, in meiner Sterblichkeit, konnte nicht vergessen.

Denn nichts sei dir verziehen,
wütend halte ich die abgegriffene, verblichene Puppe in Händen,
jetzt, wo ich mit der lächerlich kleinen Jolle in dich ausgefahren bin,
gleich der Nacht wie damals, windumtost und wellenbrecherzersaust;

in der Hoffnung, in deinen Schnellen zwischen Skylla und Karybdis zerrieben zu werden,
in deine Abgrundtiefe gesaugt zu werden, dorthin, wo mein Schwesterchen ruht;
aber zum zweiten Mal hast du mich verraten, mich nochmals der Daseinslächerlichkeit preisgegeben,
indem du mich schiffbrüchig am schwarzen Strand des aschewerfenden Stromboli ausgespien hast –

verdammt dazu, an meinem eigenen Atem zu ersticken …

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17098

Renoviert

Ich lebe und arbeite in Wien. Um präzise zu sein in der Innenstadt, also im ersten Bezirk.
Ich lebe und arbeite dort in einer geräumigen Wohnung, der eine Dachterrasse angeschlossen ist. Das Haus, in dem sich meine Wohnung befindet, ist alt, was die Bausubstanz anlangt, doch wurde es vor einigen Jahren aufwendig renoviert, sodass es durchaus als wieder schön bezeichnet werden kann. Die Wohnung steht in meinem Eigentum. Ich habe sie von meinem Vater geerbt, er war Manager in der Waffenindustrie und dementsprechend vermögend.

Man kann sagen, dass ich kein Problem mit Geld habe, denn mein Vater hat mir, nachdem er sich suizidiert hatte, eine Masse Geld hinterlassen.
Ich habe auch kein Problem mit Geschmack. In meiner modern eingerichteten Wohnung hängen Werke von Kippenberger, Büttner und Kiefer, um nur eine geringe Anzahl der Künstler zu nennen, deren Werke ich liebe und besitze.
Ich habe auch kein Problem mit der Politik, mit Frauen, Männern oder gar mir selbst. Eigentlich habe ich gar kein, nicht ein einziges, Problem.

Ich bin sehr gerne zuhause. Meine Ehefrau, sie ist im selben Alter wie ich, also dreiundfünfzig Jahre alt, hat ihre Karriere als Cellistin beendet und hält sich, so wie ich, die meiste Zeit in der Wohnung auf. An warmen sonnigen Tagen ist sie oft eingeölt auf der Dachterrasse anzutreffen.
Unsere beiden gemeinsamen Kinder, wir haben einen Sohn, er studiert Architektur und ist homosexuell, sowie eine Tochter, sie studiert Medizin und befindet sich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr im Status der Mutterschaft, leben nicht mehr in Wien.

Von der Dachterrasse, welche meine Ehefrau gerne sardinenhaft eingeölt zu beliegen pflegt, habe ich klarerweise einen guten Überblick. Ich sehe, was sich in dieser Stadt verändert, welche Gebäude errichtet, welche abgerissen oder renoviert, und welche ausgebaut werden, also in die Höhe wachsen.
In der Straße, in der mein Wohnhaus gen Himmel ragt, wurde erst kürzlich ein Haus renoviert. Es wurde verschönert, was seine Fassade angeht, und um gleich drei Etagen aufgestockt. Die beiden ersten Etagen, vom Niveau der Straße ausgehend, werden von italienischen und französischen Modehäusern belegt, die sich dort Boutiquen eingerichtet haben. Die darüberliegenden Stockwerke werden als Büroräume genutzt, ein Buchverlag und eine Agentur für angebliche Models haben sich dort eingemietet. In den drei hinzugefügten, also den obersten Etagen befinden sich exklusive Wohnungen.

Die oberste Etage ist klarerweise die mit den exklusivsten, sprich teuersten Wohnungen. Dort wohnen sehr reiche Menschen. Die Renovierung und Aufstockung dieses Hauses hat, wie mir schnell bewusst wurde, eine Veränderung nach sich gezogen, und zwar eine offensichtlich ebenso andauernde wie irreversible.
Die Straße, in der mein Wohnhaus liegt, hat sich verändert, das Leben in der nächsten Umgebung meines Wohnhauses ist anders geworden, nur leider nicht besser. Ich bin geneigt festzustellen, dass der sprichwörtliche Charme dieser Straße verlorengegangen ist. Sie ist beinahe klinisch rein geworden.
Ich möchte ein Beispiel anführen: Vormals war es so, dass ein bestimmter Clochard stets vor dem kürzlich renovierten Haus gesessen, und oftmals auch gelegen hatte. Der Wechsel aus der sitzenden in die liegende Position dürfte ursächlich mit der Flasche Schnaps, die der Clochard niemals aus der Hand legte, in Zusammenhang gestanden haben. Ich habe ihm etliche Flaschen besten Vodkas geschenkt.

Ich trinke selbst nicht, keinen Tropfen, doch kann ich verstehen, wenn ein Mensch trinkt. Ich wollte, dass der arme Mann den besten Vodka trinkt, da ich stets und bei allem großen Wert auf Qualität lege.
Der Sandler hatte niemanden gestört – dort wo sich nun die Boutiquen befinden, hatten sich zuvor bloß ungenutzte Räume befunden. Um präzise zu sein, muss ich erwähnen, dass er doch einen Menschen gestört hatte. Ich wurde Zeuge, wie er eines Vormittages von einem Mitglied des Kameradschaftsbundes als Faulpelz und grässliches Element bezeichnet wurde. Dass der Mann ein Mitglied des Kameradschaftsbundes war, konnte ich bloß an dem Abzeichen erkennen, welches er an seiner Trachtenjacke befestigt hatte, denn der Mann hatte keine Fahne vor sich. Ich denke, dass der Grund hierfür die Frühe des Tages war. Dem Obdachlosen waren diese Anwürfe übrigens gleichgültig.

Nun sehe ich junge Frauen vor den Schaufenstern stehen und posieren. Sie stehen vor den Auslagen, tragen Taschen, die den in den Boutiquen feilgebotenen zum Verwechseln ähnlich sehen, und lassen sich von ihren Freundinnen mit Mobiltelefonen ablichten, wie sie stolz grinsend, als wären sie Stammkundinnen dieser Geschäfte, vor dem teuren Tand in den Auslagen posieren. Deren Scheiben sind stets blitzblank abgezogen, gleich ob eine Fliege sich auf ihnen verewigt oder eine Hummel vor ihnen posiert. Die Straße hat sich wahrlich verändert, das kann man schon so sagen.

An der Fassade des Hauses, das dem kürzlich renovierten gegenübersteht, lehnen oft junge Männer in abgewetzten Jacken und nicht maßgefertigten Schuhen. Sie tragen ihr Haupthaar bevorzugt halblang und ihre Bärte, so ihnen welche wachsen, haben die merkwürdigsten Formen. Es handelt sich offenkundig um junge, vielleicht sogar aufstrebende Literaten. Das ersehe ich aus der Tatsache, dass sie entweder lesend, rauchend oder in Notizheften oder auf losen Blättern Papier schreibend dort lehnen. Sie warten darauf, so scheint es, vom Leiter des Verlags in dessen Räumlichkeiten gebeten zu werden, um dort ihre großen schriftstellerischen Karrieren beginnen zu lassen.
Sind sie nicht in Papier vertieft, geben sie sich der Prokrastination, zugegeben einer schwachen Form derselben, hin, indem sie die jungen Frauen beim Posieren beobachten. Die Mienen der Autoren machen offenkundig, dass sie die jungen Frauen für durchaus interessant halten.
Ich, so sagt meine Ehefrau, setze stets dieselbe Miene auf, wenn ich eine Herde auf der Weide beobachte.

Ab und zu betreten Gruppen von jungen attraktiven Frauen das Haus. Bei diesen Frauen, meist osteuropäischer Provenienz, wie den vielen Worten, die sie wechseln, unschwer zu entnehmen ist, handelt es sich um die bereits erwähnten angeblichen Models. Das Wort angeblich verwende ich aus Gründen der Diskretion, denn einmal hatte eine dieser Frauen ihre Handtasche fallen lassen und deren Inhalt lag verstreut auf dem Gehsteig vor dem kürzlich renovierten Haus. Ich eilte zu ihr, um ihr beim Einsammeln ihrer Habseligkeiten zu helfen und musste feststellen, dass ich die Kontrollkarte einer Dirne in Händen hielt. Ich habe es diskreterweise unterlassen, die junge Frau auf ihre Tätigkeit anzusprechen und nehme an, dass ihr mein Schweigen recht war.

In den neu hinzugebauten obersten drei Etagen, die sehr teuren Wohnungen Raum bieten, leben Menschen, die über sehr viel Geld verfügen. Das erkenne ich an den sündhaft teuren Automobilen, welchen diese Menschen entsteigen, um in das Haus zu gehen.
Sie haben es nicht mehr nötig, sich in Designeranzüge zu zwängen. Sie lieben vielmehr Sportanzüge aus Deutschland, deren obligatorische Streifen perfekt zu oligarchischem Goldkettenbehang passen. Diese Herren haben die Angewohnheit, ihre Töchter, manchmal auch ihre Enkeltöchter, stets an der Hand zu führen. Allerdings möchte ich erwähnen, dass diese jungen Frauen stets tipptopp gekleidet sind. Ich vermute, dass sie eifrige Kundinnen der Boutiquen sind, die unter den Wohnungen ihrer Großväter und Väter gelegen sind.
Wenn die teuren Autos dieser Herren vorfahren und ihre Besitzer aus ihnen steigen, räumen die vor den Schaufenstern posierenden jungen Frauen schnell den Gehsteig. Ich vermute, dass sie den reichen Herren, ihren Töchtern und Enkeltöchtern, sowie den diese stets begleitenden Gepäckträgern mit massigem Körperbau, kurz geschorenem Haupthaar, grimmigem Blick und ausgebeulten Sakkos Platz machen möchten, schlicht aus Freundlichkeit.

Die angehenden Autoren lassen sich nicht von den reichen Herren und deren Anhang beeindrucken, sie gehen weiter ihrer jeweiligen Beschäftigung nach.
Ich habe den Clochard gesehen. Er sitzt nun drei Straßen weiter vor einem ungenutzten Erdgeschoss. Ich habe ihm bereits eine neue Flasche besten Vodkas geschenkt. Ich habe erfahren, dass in der Straße, in der der Pennbruder nun sitzt oder liegt, eine Dachgeschosswohnung mit angeschlossener Dachterrasse frei wird. Ich muss mit meiner Ehefrau darüber sprechen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17097

vollmond

nächtens sind bekanntlich alle katzen grau
und das gedächtnis funktioniert so schön ungenau.
leichtfüßig auf rutschigem drahtseil balancieren
und absichtlich die haltung verlieren.
aus der reihe tanzen und jemand fremdem in die arme fallen,
während andere die rechnung zahlen.
manche nennen es erfahrungen, andere fehler.
das morgenlicht holt sie jedenfalls aus dem keller.
die wahrheit schuldest du,
wenn überhaupt, deinem gegenüber.
der nächtliche mond steht jedenfalls drüber.

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17056

Drei Trug- und Wutgedichte

bonnie and clyde
als geistig verwandte,
brannte die leidenschaft mit mir durch.
aus angst vor dem, was da in mir entstand,
fand ich alleine ruhe in der flucht.

– – –

zerreißprobe
der kampf in mir
zwischen nähe und weite
zieht mich mehr und mehr in die breite, bis ich
ganz leise zerreiße.

– – –

zweifrontenkrieg
ich trete an der stelle
komme nicht vom fleck
versteck mich hinter mir, dir zuliebe
meine triebe melden sich zu wort und rebellieren
gegen wen gilt es den kampf zu verlieren?
gegen dich oder mich?

Anna Maltschnig

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17051

Tu felix Austria, arde!

„Jetzt reicht es mir, und zwar endgültig!“, rief Frieda Ponisch in den Raum und schlug die Wohnungstüre zu. Sie streifte ihre Schuhe ab und ging ins Wohnzimmer, wo ihr Ehemann Otto auf dem Sofa saß. Nach einem Begrüßungskuss, den sie auf seine Wange hauchte, ließ sie sich seufzend in einen der beiden Polstersessel fallen.
„Was ist passiert?“, fragte Otto und legte das Buch, in dem er gelesen hatte, auf den Couchtisch.
„Was passiert ist, willst du wissen? Ich sage dir, was passiert ist: Die Rotzlöffel haben heute das Maß vollgemacht!“
Mit Rotzlöffel meinte sie Egon Gruber und Manuel Berger, beide sechzehn Jahre alt und in der Klasse, deren Vorständin Frieda war und die sie in Biologie unterrichtete.
Nun seufzte auch Otto Ponisch. Er war es allmählich leid, die Übellaunigkeit seiner Frau ertragen zu müssen. Mindestens zweimal in der Woche kam sie aufgebracht nach Hause, und das seit drei Jahren, weil die beiden Buben ihr wieder einen Streich gespielt hatten.
„Jetzt sag schon: Was haben sie angestellt?“
„Heute waren sie nachgerade hyperaktiv. Das heißt, dass sie gleich zwei Missetaten begangen haben. Zuerst haben sie zwei Erstklässler drangsaliert. Und dann haben sie ein Video in Umlauf gebracht, in dem ich zu sehen bin. Ich sage dir: Nun ist es genug! Das gibt Krieg!“

Ihr Mann, Psychologe von Beruf, hob die Augenbrauen und sagte mit ruhiger Stimme: „Immer der Reihe nach, Frieda. Was haben sie den Erstklässlern angetan?“
„Du kennst doch die Herrentoiletten im Gymnasium, oder?“
„Ja, die kenne ich.“
„Also: Der Gruber und sein kongenialer Komplize Berger haben auf der Toilette darauf gewartet, dass sich zwei kleine Buben vor die Pissoirs stellen, um Wasser zu lassen. Und als die zwei bedauernswerten Wichte genau das gemacht haben, da sind die beiden verwöhnten Burschen hinter sie getreten und haben sie gepackt und zueinander gedreht!“
Otto Ponisch gab sich alle Mühe, nicht loszuprusten, jedoch vergeblich.
Irritiert blickte seine Frau ihn an und ätzte: „Ja, ja, dir gefällt das natürlich. Das war mir klar. Wahrscheinlich finden das alle Männer witzig.“
Er wollte auf ihre Worte eingehen, doch mehr als ein einleitendes „Nun“ brachte er nicht heraus. Der Rest ging im Gelächter unter.
„Du musst an die armen kleinen Buben denken! Die sind weinend und mit nassen Hosen durch den Gang gelaufen und haben nach ihren Müttern gerufen. Sie haben heute sicher den Schock ihres Lebens erlitten.“
„Also ich weiß nicht. Es wird ihnen schon noch Schlimmeres widerfahren, denke ich. Was hast du denn zu deinen beiden Quälgeistern gesagt?“
„Ich habe ihnen gesagt, dass das der letzte Streich war, den ich ihnen durchgehen lasse.“
„Ach ja? Und als Zugabe haben sie dich gleich nochmal geärgert, quasi um einen starken Abgang zu haben“, stellte er süffisant fest.
„Ja, das haben sie. Aber die Sache mit dem Video haben sie vorbereitet gehabt. So was braucht Zeit, vor allem dann, wenn man eine gewisse Qualität abliefern will.“
„Hast du den Film dabei?“
„Natürlich. Er ist auf der Pinnwand der Facebook-Gruppe der Klasse, und wahrscheinlich wurde er schon hunderte Male geteilt!“

Otto holte seinen Laptop aus dem Arbeitszimmer, schaltete ihn ein und reichte ihn seiner Frau, die sich einloggte und das Video anklickte.
„‘Friede Klonisch – wie sie wirklich ist’. Ein interessanter Titel“, sagte sie. „Das Video ist in drei Abschnitte gegliedert.“
„Nun lerne ich Frau Klonisch endlich so kennen, wie sie wirklich ist“, witzelte er.
„Der Vater von Gruber ist Videoproduzent. Ich bin mir sicher, dass sie dieses Machwerk in seiner Firma fabriziert haben. Aber sieh selbst.“ Sie reichte ihm das Notebook.
Das Video zeigte eine Frau, die an einem Tisch voller leerer Flaschen saß. Sie war offenkundig völlig betrunken, denn sie lallte und übergab sich letztendlich.
„Ich frage mich, wie sie es geschafft haben, mein Gesicht über das dieser Frau zu legen.“
„Psst! Lass mich schauen!“
Der zweite Teil zeigte Frieda im Klassenzimmer. Auf dem Lehrerpult hinter ihr stand ein ausgestopfter Uhu mit ausgebreiteten Flügeln. Sie stand vor der Klasse und hielt gestikulierend einen Vortrag. Im Video kamen allerdings bloß unflätige Worte aus ihrem Mund. Das Referat handelte von wenig befriedigendem ehelichem Beischlaf.

Als Otto Ponisch die seiner Frau in den Mund gelegten Worte vernahm, grinste er. Er klickte auf Pause und sagte: „Die Burschen sind gut. So etwas zu fabrizieren ist verdammt schwer. Sie haben dich im Unterricht mit ihren Handys gefilmt, was noch keine große Leistung ist. Aber das Schreiben einer Rede, deren Worte exakt zu deinen Mundbewegungen passen – also das ist wirklich hochkreativ.“
„Warte, bis du den dritten Teil gesehen hast. Dann weißt du, warum ich den Falotten den Krieg erklären werde.“
Otto klickte auf Play. Der letzte Teil zeigte eine nackte Frau beim autoerotischen Vollzug. Auch hier hatten Berger und Gruber Friedas Gesicht auf das der eigentlichen Darstellerin montiert. Als besonderes Detail hatten sie ein Foto von Otto, das sie von seiner Homepage heruntergeladen hatten, an die Wand des Studios, in dem die Szene vonstattenging, gezaubert. Aus beiden Seiten seines Kopfes ragten die Äste eines Hirschgeweihs, und das Foto war von einem geschnitzten Holzrahmen umgeben – Otto somit als Jagdtrophäe dargestellt.
Die Frau im Film äußerste schwer atmend und immer wieder heftig stöhnend ihre Zufriedenheit mit zwei Dingen. Zum einen mit der Tatsache, ihren Mann endlich um die Ecke gebracht und beerbt zu haben, zum anderen mit ihrem nunmehr erfüllten Liebesleben.
Im Abspann waren die Namen von zwei Regisseuren zu lesen: Oskar Pillermann und Radoslav Kuraz.

Otto Ponisch klappte den Laptop zu und lachte. Dann sagte er: „Okay, ein Lausbubenstreich, und weiter? Natürlich ist es eine Frechheit, so etwas ins Internet zu stellen, aber jeder, der dich kennt, weiß, dass das gefaked ist.“
„Das gibt Krieg!“, schnaubte sie und setzte ihre sturste Miene auf.
„Und wie soll dieser Krieg aussehen? Und wie ausgehen?“
„Na, die beiden Lausbuben müssen von der Schule fliegen!“
„Das würde ich nicht tun, Frieda.“
„Und warum nicht?“
„Was soll dann aus ihnen werden? So maturieren sie in zwei Jahren. Dir kann das doch egal sein.“
„Warum soll mir das egal sein?“
„Weil du in einem Monat in Pension gehst, Frieda.“
„Aber irgendwie müssen sie doch bestraft werden! Und so ein Rauswurf wäre ihnen sicherlich eine Lehre.“
„Wo soll das hinführen? Die Gefahr, dass sie dann auf die schiefe Bahn geraten, ist sehr groß. Wohlstandsverwahrlost sind sie ohnehin schon.“
„Ich kann den beiden aber nicht mehr gegenüberstehen, ohne dass sie bestraft worden sind. Das würde ich nicht aushalten!“
„Und wenn du den österreichischen Weg wählst?“, fragte Otto nachdenklich.
„Ohrfeigen?“
„Nein, Burnout.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17038

Schlaflosigkeit

(Before sunlight)
(Sweet dreams)

Das habe ich nun davon. Von einem geruhsamen Leseabend. Einmal bin ich ausnahmsweise früh ins Bett gegangen und so um zwölf eingeschlafen. Tatsächlich einfach eingeschlafen, ganz natürlich, ohne irgendetwas. Sonst lese ich meistens, bis mir das Buch von den Knien und die Brille von der Nase rutscht, oder ich sehe fern, bis ich vor Erschöpfung nur noch auf allen Vieren ins Schlafzimmer krabbeln kann.
Und dann das. Der fluoreszierende Wecker zeigte genau vier Uhr neunzehn. Was soll das? Wofür werde ich bestraft? Dass ich einmal nichts getrunken habe. Sieht so die Belohnung guter Vorsätze aus, dass ich hier lebendig begraben in der Dunkelheit liege? Im Sarg, das ist gar nicht nett, gar nicht berauschend.

Es war Jänner und noch stockdunkel, aber ich war hellwach wie der lichte Tag. Bei der ersten Körperregung sprang meine Katze mit Schwung aus zwei Metern Entfernung auf meinen Berg von Kopfpolstern und forderte laut schnurrend ihr Frühstück. Ich versuchte zuerst, nicht zu reagieren, aber man kann keine alteingesessene, vielleicht keine einzige, Katze überlisten, wenn sie meint, es sei ihr gutes Recht, hungrig zu sein. Nein, kann man nicht. Sie weiß, sieht oder riecht alles. Beobachtet sie die ganze Nacht die Falten meiner Bettdecke und die Bewegungen meiner Körperteile? Was macht eine Katze sonst in der Nacht, wenn sie ohnedies fast den ganzen Tag schläft? Ich hasste sie in diesem Moment und schleuderte sie mit den Beinen in hohem Bogen weg. Sie war unbeeindruckt von meiner Gefühlsaufwallung, war sie doch nur ein Beweis meiner Wachheit, und legte sich, das Köpfchen mit weit ausladenden weißen Schnurrbarthaaren und Pfötchen an Pfötchen geschmiegt, seelenruhig neben mich und schaute mich mit ihren wagenradgroßen, phosphorisierend bernsteingelben Augen so durchdringend an, dass ich ihren Blick noch unter geschlossenen Lidern spürte.
Die Unschuld in Person. Ein schwarzes Loch mit Schwanz und weißen Pfoten. Sie konnte den Röntgenblick. Ich sollte sie Medizinern, Kriminalisten und Personalchefs als Personalizerin anbieten. Nichts passiert. Ich verweigerte das Füttern und das Lesen und knipste die Lampe nicht an. Hatte mich doch ausgerechnet das frühe Abbrechen der Lektüre in diese verdammte Lage gebracht, in die Büchergruft.

Lesen als Brauch tut das Bett nicht auf.
Vor zwölf im Bett macht meschugge und fett.
Wer mit den Hühnern ins Bett geht, sich besser gleich im Grab umdreht.
Ich hatte eindeutig keine Affinität mit Hühnern, musste ja auch nicht jeden Morgen ein Ei legen.
Ich war wie so oft mit einem Albtraum aufgewacht. Das Herz klopfte oben in der Kehle bis in die Ohren, der Pyjama war besonders im Nacken und sonst auch überall feucht. Der ganze Körper zuckte noch von den vergeblichen Abwehrhaltungen, sich herausdrehen, nach oben wie ein Korken, ein Messer an der Kehle, eine Hand im Schritt. Mehrere an den Brüsten. Schlechte Zähne um mich oder gar keine, fauliger Atem aus Fratzen. Warum sind alle jung. Ich atme kaum mehr, ersticke, bin verloren, so klar wie kaum einmal. Diesmal wirklich. Es passiert.
Dann ist es vier Uhr neunzehn.

Mir war schlecht, ich kotzte und bekam Durchfall. Aufschreiben, den Film, diesmal waren es gleich mehrere. Ich trippelte ein paar Runden mit kleinen Schritten durch die Zimmer, die Hände am Solarplexus, bis das Herz an seinem angestammten Platz war und ich wieder schlucken konnte. Ein Glas Wasser, nocheinsundnocheins, über das Becken gebeugt, kaltes Wasser in den Nacken und auf die Brust. Schweres Atmen zuerst, dann leichterundleichter, die Hände auf dem Bauch ausgebreitet wie Sonnenblumen, Sternschnuppen, Sternspritzer.

Der Alb-Inhalt tut in diesem Falle nichts zur Sache, hat nichts mit meiner vor-mitternächtlichen Lektüre zu tun, sie ist unschuldig, Dorothy Parker mit den New Yorker Geschichten. Mein Traum spielte in Moskau, in der Gegenwart. Als ich mich in meine Potatoe-Couch stürzte und den Fernseher einschaltete, zeigte er vier Uhr siebenunddreißig. Ein uralter Kitzbühel-Krimi aus dem kriminellsten Dorf Österreichs, wahrscheinlich schon dreimal gesehen.
Alternativen waren eine noch ältere Folge von Rex, der Ur-Rex mit dem Ur-Tobias-Moretti, beide auf deutschen Kanälen mit Untertiteln. Als ich anfing, in Moskau mit meiner jugoslawischen Schäferhündin Laika spazieren zu gehen, hörte ich von allen Seiten ein Gemurmel, das ich nicht verstand. Rxrxrx, mal freundlich fragend, mal knurrend. Ich lebte damals schon durchgehend fünzehn Jahre im Ausland und kannte die österreichische Fernsehlandschaft so wenig wie die von Ulan-Bator. Und dann das Wetter-Alpenpanorama von gestern mit der Dumm-Dumm-Musik, dem Dauerlandler. Leider gibt es diese wunderbaren Serien der schönsten Eisenbahnstrecken nicht mehr, mit denen ich schon, im Führerstand und kommentarlos, durch die phantastischsten indischen Schluchten gefahren bin, durch die trockensten Wüsten der Welt und die höchsten Berge der Alpen. Ich fand das eine viel bessere Einschlafhilfe als das künstliche Kaminfeuer oder die Autofahrten durch öde deutsche Vorstädte.

Die Eisenbahnfahrten sparten viele Einschlaf-Pillen, Schlaftees und andere unwirksame Hausmittel. Bei warmer Milch mit Honig habe ich mich schon als Kind angekotzt. Mein russischer Freund empfahl immer das alte Hausmittel Wodka mit Knoblauch und Pfeffer, ich konnte mich aber damit nicht anfreunden. Ich schlief zwar wirklich schnell ein, bekam aber davon nichts mit und fühlte mich am nächsten Tag wie ein im Winterschlaf aufgeweckter Bär.

Nach einem kurzen Gastspiel bei Rex und Soko Kitzbühel kroch ich reumütig in meine dunkle Schlafhöhle zurück und musterte im Geiste die Stapel der Bücher auf meinem Nachtkästchen. Auf mehr Dorothy Parker hatte ich keine Lust, auf die russischen und polnischen Phantasten noch weniger, war mir doch mein eigener Kopffilm noch viel zu nahe, der stand der bösen Wirklichkeit sehr viel näher als alle Strugatzkis, Sorokins und Lems zusammen. Ich war am Wühlen und Wälzen zwischen meinen Polstern, Daunen- und Kaschmirdecken. Feine Bettwäsche wurde mir immer wichtiger, sofern die Außenwelt immer unwichtiger wurde.
Das schöne Insel-Bändchen mit jüdischen Weisheiten – in Jiddisch und Deutsch – konnte mich um vier Uhr dreiunddreißig nicht befeuern. Jeden Tag fünf Worte, nicht einmal das ging sich aus. Alle hundertmal gelesen, über und über angestrichen, Bemerkungen, Spuren der Versuche, das Jiddische zu erlernen. Ich habe einfach kein Talent dafür, vielleicht auch nicht genügend Respekt, um es wie jede andere Sprache zu erlernen. Ich werde noch einmal an meiner Wachheit eingehen. Das wird einmal die originellste Todesursache sein, wenn sie denn festgestellt werden kann.

Noch eine Kanne Gute-Nacht-Sleep-Well-Einschlaf-Tee. Als ich das blass-blaue Baldrian-Salbei-Gemisch schlürfte, spürte ich einen hasserfüllten Neid aufkommen auf den Rest Welt, der im Tiefschlaf lag. Und auf die Freunde, die sich jetzt gerade nach einer lustigen Nacht nach Hause begaben, sich schlaftrunken auf die Taxis verteilten, in ihre Wohnungen torkelten und sich bis Mittag in sanftem Schlummer von der Welt absonderten. Die Leute dürfen nicht das Gefühl haben, sie müssten ihre zerstörerischen Angewohnheiten ändern und sich nach mir richten. Überhaupt nicht, neinneinnein. Ich bin out.

Der Sturm und Anouilhs Antigone liegen da so wie ein gelbes Reclam-Heftchen mit der von Sophokles – nicht gerade eine klassische Gute-Nacht-Lektüre. Aber wegen Grete Weills Buch Schwester Antigone bin ich an Antigone dran. Schon länger, ohne gutes Ergebnis. Kombination mit Penelope Livelys Moon Tiger. Klauklauklau. Aber Shakespeare war auch nur eine große Wurstfabrik. Auf die Mischung kommt es an.
Wie klein und dünn und abgegriffen diese Theater-Bändchen immer sind. Ich könnte sie im Finstern sicher ertasten. Das waren sie auch schon in der Schultasche, ob Räuber oder Faust.

A – Anouilh, Antigone – das Alphabet, das wäre ein Ordnungsprinzip. Baudelaires Les Fleurs du Mal sind auch kein freundliches Ordnungsprinzip für schlaflose vier Uhr zweiundvierzig, die liegen immer da und verstauben.
Schon gar nicht Rimbaud und Verlaine, weit hinten im Alphabet. Mir wäre es angenehm, wenn sie mit ihrem ewigen einander Hinterhersein mich nicht belästigen würden. Ich kann ihnen da auch nicht helfen. Überhaupt Männer, überhaupt in meinem Alter. Obwohl angesichts der Schönheit ihrer Verse beides keine Rolle spielt.
Ob sie in französischen Schulen noch gelesen werden? Ich bin nicht die Buchhalterin des französischen Schulsystems. Sollen sie doch selbst sehen, ob sie nur noch verrückt sind nach Mathe-Informatik.

Camus, Delacroix, Dostojewski, EEE? keiner, ah, Ebner-Eschenbach, kenne ich zu gut und zu lang, wenn sie auch, endlich, andere entdecken, Bozena, das Gemeindekind, Krambambuli, Er lässt die Hand küssen, darüber habe ich schon in meiner Kindheit geweint und die Autorin geliebt. Flaubert, Hugo, La Rochefoucauld, was geht mich dieser alte Zyniker an, ich weiß nicht einmal seinen Vornamen und kann kein einziges Wort zitieren. Das Einzige, was ich von ihm kenne, ist der Spruch von der kleinen Freude, die wir immer verspüren angesichts der Missgeschicke auch unserer liebsten Freunde.
Mein Freund Carlo M., 1,95 groß, schlug sich einmal auf der Fähre von Lipari nach Messina den Kopf an, als er eine Leiter hinunterstieg. Die Treppen des italienischen Schiffes waren nicht bemessen nach Menschen von dieser Länge. Carlo taumelte auf eine so komische Art, dass ich, die Kurzgewachsene, unten einen unwiderstehlichen Lachanfall bekam, von dem ich mich und dann auch unsere Liebschaft sich nicht mehr erholte. Ich konnte ihm das La- Rochefoucauld-Prinzip nicht erklären, weil ich es damals noch nicht kannte.

Liebste Freunde, jaja, die liegen jetzt irgendwo im Vollrausch herum, während ich bei aller Nüchternheit in der Dunkelheit eingehe. La Fontaine. Ich erinnere mich an eine Buchhändler-Gehilfin in meiner Jugend, die ich nach Fontane fragte. Wir sollten ein Reclam-Bändchen kaufen, um Effie Briest zu lesen, vom Deutsch-Lehrer aufgetragen. Meine Eltern hatten natürlich, wie fast alles, Effie Briest im Regal, aber irgendwo in einer grindigen Gesamtausgabe von Gilde Gutenberg aus dem Jahre 1935. Aus einer Zeit, als sie unter Nadler deutsche Volksstämme-Literatur vorgesetzt bekamen. Die Verkäuferin verschwand nach hinten ins Lager und kam nach langer Zeit achselzuckend zurück: „Tut ma leid, Tane hamma kaan.“

Die Buchstaben ziehen vorüber bis zu Tolstoi und Zola, ohne mich anzumachen. Allerdings, die Neuübersetzung seiner „Auferstehung“ soll gut sein, wenn auch leider nicht mehr von Swetlana Geier.
Auf Dorothy Parker, die ich sehr mag, hatte ich keine Lust, auch nicht auf ihre ebenso geniale Freundin Carson McCullers, nicht in dieser Nacht. Ich litt auch schon ohne sie an galoppierender Melancholie. Vielleicht ist das ja auch meine Stunde null. Drehen und Wenden in den Decken und Kissen.

Was schickt mich zurück in den Schlaf?
Das Aufzählen der offenen Rechnungen, alle meine manischen To-do-Listen, to call, to buy, to write, das Wirtschaftsjournal, der Kalender, die Steuererklärung – alles keine gute Idee. Allein die Überschriften erhöhten den Blutdruck und raubten die letzte Chance auf Schlaf. Die guten und schlechten Freundschaften – das ist nicht leicht zu unterscheiden, zumindest nicht jetzt. Freund-Feind, eine sehr flüssige Frage. Zumindest nicht jetzt. Was ich wirklich mag, allerdings ohne eine Wirkung zu spüren, ist das Ausdenken von Lottozahlen. Es bringt mir zwar keinen Schlaf, ist aber eine angenehme Hirntätigkeit, positiv, beflügelnd, vorwärts gerichtet, was werde ich mit dem Millionengewinn machen? Wen beschenke ich, wie viel behalte ich für mich? Werde ich verrückt oder bleibe ich normal?

Ein zweites Hirnspiel mag ich auch sehr gerne: an die schönsten, klingendsten oder lustigsten Ortsnamen zu denken. Schon als Kind habe ich das gespielt. Astrachan, Aschchabad, Aralsee, Ararat, Archangelsk, Alma-Ata, Taganrog, Trapezunt, Samarkand, Popokatepetl, Taklamakan, Samara, Agrigent, Feodosija, Orenburg, Tschernobyl, Fukushima, Kilimandscharo, Fujiyama, Kysil-Kum, Amu-Darja, Hokkaido, Samsun, Isfahan, Sewastopol, Murmansk, Wladiwostok, Sachalin, Kamtschatka, Marrakesch – alles nach Städten, Flüssen, Seen, Bergen, Wüsten und Vulkanen ordnen oder einfach nur alphabetisch. Wenn ich das hinter mir habe, kommen die Kategorien, wo ich schon war und wohin ich noch fahren möchte. Lustige Ortsnamen wie Damüls, Nest, Fucking, Mösing, Ameising, Gugging, Obergraus, Unterstinkenbrunn, Alt- und Neuschmecks. Noch eine andere Kategorie eignet sich: komische Familiennamen: Buxtehude, Humperdinck, Aiwasowski, Schoiswohl, Powischer, die rechte Partei PIS in Polen und die faschistische Schas-Partei in Israel. Das ist neutral oder macht zumindest lächeln, bringt keine schlechten Gedanken, keine Angst oder Traurigkeit hervor, wenn man in der Dunkelheit liegt und in den Ecken die Dämonen lauern. Wenn ich gut drauf bin, spüre ich die Synapsen flappsen.

Meine Eltern pflegten es selbst untereinander, vor uns und gaben es an uns weiter: das Auswendiglernen und Aufsagen von Gedichten: Schläft ein Lied in allen Dingen … findest du das Zauberwort. Das Zauberwort. Die Sprachgläubigkeit meiner Bibel-Eltern. Am Anfang war das Wort und das Wort. Gelassen stieg die Nacht ans Land. Wie schaurig ist‘s übers Moor zu gehen wenn. Hat der alte Hexenmeister sich doch einmal. Walle, walle manche Strecke, dass zum Zwecke Wasser fließe und im Schwalle sich ergieße. Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe so müd geworden. Fest gemauert in der Erden steht die Form aus Lehm gebrannt. Zum Kampf der Wagen und Gesänge. Eine feste Burg ist unser Gott. Tochter Zion freue dich. Komm auf mein Schloss, mein Leben. Dies Bildnis ist bezaubernd schön. Ach ich habe sie verloren. In Fried und Freud ich fahr dahin. Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm. Der Donner rollt. Ich sei, gewährt mir die Bitte, in eurem Bunde der Dritte.

Lässt sich übrigens auch vorzüglich anwenden, wenn man auf die Straßenbahn wartet, besser als die berühmte Zigarette, oder wenn man eine Nadel in den Arm gerammt bekommt. Meine Mutter legte noch mit 84 Jahren Schwüre darauf ab, wie wirksam es ist, dass sie sich Balladen und Rilke- und Mörike-Gedichte aufsagte, um ihr ohnedies gutes Gedächtnis zu schärfen. Sie las täglich fünf Tageszeitungen und rief ihre sieben Kinder mehrmals täglich an, um ihnen immer das Gleiche zu erzählen. Manchmal, wenn sie etwas sehr interessierte oder aufregte, lernte sie ganze Artikel auswendig, um sie am Telefon rundum wiederzugeben. Bei Fernsehsendungen schrieb sie mit, um sich am Telefon über tausende Kilometer darüber ärgern, was die Roten schon wieder alles verbrochen hatten. Sie war eine leidenschaftliche Anti-Kommunistin, und schon noch so rosaroteste Sozialdemokraten konnten sie in Wallung bringen. Ihr Ärgern war ihr Lebenselixier, es hielt sie jung und hirnflüssig.

Es wird schon im Vor-Schlummer gewesen sein, als mir die uralte Methode des Schäfchenzählens in den Sinn kam. Ich hab mein Lebtag Schafe gehasst, außer auf dem Teller. Was sollen, wollen sie bei mir, in meinem Zimmer? Das Dümmste, was uns je in der Kindheit eingeredet wurde. Eine Herde immer wieder von eins bis hundert. Das grenzt an eine Phobie, wenn eines in meinem Zimmer steht, eins bis hundert und immer wieder von vorne. Sie stinken, blöken, schnüffeln und scharren auf dem Bettvorleger. Ich zähle sie ja nur im Kopf, aber wenn eines in meinem Zimmer steht, bin ich wieder hellwach und denke, dass ich bis zur nächsten Schur im Juli nicht mehr einschlafen kann. Wie sie riechen von ihren kleinen Köpfen und vom Fell her, erinnern sie mich an die feuchten, kratzigen Schafwollpullover unter dem nassen Wetterfleck, wenn wir im Salzburger Schnürlregen auf den Postbus von St. Gilgen nach Mondsee warten, sind sie sicher keine Schlafbringer.
Aber eines muss ich zugeben, die Schafe, die mich besuchen, sind durch die britische Erziehung gegangen, sie treten mir nie zu nahe, sprechen nicht zu laut und verhalten sich untereinander so dezent wie englische Parlamentarier vor dem Brexit. Wenn ich je alle die ungezählten Schafe der Welt aufrufen würde, wäre ich die reichste Schafzüchterin von England, Schottland, Australien, Neuseeland zusammen. Die höchste Dichte haben allerdings die Färöer, dort kommen auf die 50 000 Einwohner 80 000 Schafe. Die Statistik von Patagonien kenne ich nicht.

Aber vielleicht habe ich noch nie die richtigen Nacht-Schafe aufgerufen und gezählt. Ich muss mein bisheriges Wissen über Schafe vergessen, sie neu verstehen lernen und von vorne zu zählen beginnen. Aber warum ist noch nie jemand draufgekommen, Schweinchen, Ziegen oder Murmeltiere zu zählen, in Australien vielleicht Kängurus oder Tasmanische Teufel, in Afrika Gazellen und Löwen, in Lateinamerika Lamas und Krokodile, in den USA Bären und Büffel?
Da komme ich auf mein Lieblingstraumtal in den Colorado-Rockys, wo die Büffel dichter stehen als die Bäume. Dort kann ich verweilen und mich erholen.
Vielleicht wollen sie ja mit allen diesen Namen von A – Z gefüttert werden. Nur dann sind sie hilfreich und gut.
Gutgutgut. Ich werde jetzt das Licht anschalten und mich dumm und dämlich lesen, bis es zum nächsten Mal Punkt vier Uhr neunzehn schlägt. Vielleicht sogar den alten Zyniker La Rochefoucauld aufschlagen. Irgendwo muss es ein Reclam-Hefterl geben.

10.1.17

Veronika Seyr
www.veronikaseyr.at
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www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17034

Das Mädchen von nebenan

für C.K.

Ich lernte Conny zwei Wochen vor Weihnachten kennen, als wir beide Patienten auf der psychosomatischen Station des AKH waren. Conny war ein viel beschäftigtes Mädchen; sie zeichnete Selbstporträts, malte Aquarelle, schrieb kleine Geschichten und Gedichte. Sie war anteilslos gegenüber Mitpatienten, nahm aber an allen Aktivitäten teil. Wir begegneten uns mehrmals in der Kunsttherapie und der Schreibwerkstatt. Vor allem aber machte sie Zukunftspläne. Sie hatte zu Heiligabend Geburtstag und würde heuer sechzehn.

Es war auf bunten Plakaten angekündigt, es sollte eine Party mit Besuchern auf der Station geben, und sie würde dabei sein dürfen. Unter einer Bedingung: Sie müsste vierzig Kilo auf die Waage bringen, sagten die Ärzte. Conny hatte achtunddreißigeinhalb. Es waren noch sechs Tage bis Weihnachten. Das Personal achtete genau darauf, dass sie nicht schummelte, ihren Bauch mit Wasser auffüllte, aß und erbrach oder ihre Körperöffnungen mit allerhand Gegenständen vollstopfte. Bei jeder Trickserei kamen sie ihr auf die Schliche. Es war nichts zu machen, es half nur essen. Und genau das wollte sie nicht.
Es sollte die erste Party ihres Lebens sein. Conny war magersüchtig und wäre mit vierunddreißig Kilo vor einem Jahr fast gestorben.

Eigentlich hätte Conny gar nicht hier sein sollen, auf der Psychosomatik, sie gehörte in eine Abteilung für Kinder und Jugendliche. Da fand man aber keinen Platz für sie, und sie hatte offenbar niemanden, der sich genügend für sie einsetzte. Conny kam aus der „Stadt des Kindes“, einer der besten Sozialeinrichtungen der Stadt, war also ein Sozialfall. Besuch von der Familie bekam sie nie, die hatten ein Annäherungs- und Betretungsverbot, Großvater, Stiefvater und sogar die leibliche Mutter. Die zwei jüngeren Geschwister waren in einem Kinderheim untergebracht. Einmal sah ich eine elegante, mittelalte Frau mit ihr im Besucherbereich zwischen den Kübeln mit halbdürren Philodendren und Yukkapalmen sitzen, Papiermappen auf den Knien, Conny schaute in die andere Richtung, vielleicht eine Erzieherin oder Sozialarbeiterin.

Ich bemerkte Conny zuerst auf den Korridoren, eine erbärmliche, bemitleidenswerte Gestalt. Sie schlurfte durch den Korridor, gebückt wie eine alte Frau, auf die Stange des Tropfs gestützt, die sie langsam neben sich herrollte. Wenn es ihr schlechter ging, schob sie sich in einem Rollstuhl durch die Gänge. Einmal sah ich, wie sie ein Pfleger hinter sich herzog. Ich kam ihr entgegen und lächelte ihr zu, sie versuchte zurückzulächeln. Es kam dabei aber nur eine Grimasse heraus; sie war so mager, dass ihr Gesicht wie ein mit altem Pergament überzogener Totenkopf aussah, gelblich und faltig, in den Augenhöhlen blau. Eine sechzehnjährige Greisin, ein Gespenst in einem lindgrünen Bademantel.

Sie war wahrscheinlich einmal ein hübscher Teenager gewesen, von dem nur noch die großen, dunklen Augen übriggeblieben waren. Sogar die Lockenpracht war ihr ausgefallen. Sie trug immer ein gehäkeltes Häubchen auf dem kahlen Kopf, einen gebatikten Seidenschal um den dünnen Hals und an den spindeldürren Kinderärmchen eine Ansammlung von schlotternden Freundschaftsbändern.

Dass wir unsere Zimmer nebeneinander hatten, stellte ich erst am vierten Adventsonntag fest, als wir vom angesagten Chorsingen zufällig gemeinsam in unseren Gang zurückgingen. Mit ihrem Greisinnen-Lächeln verabschiedete sie sich vor ihrer Türe und schob sich und die Stange ins Zimmer. Da fiel mir ein, an wen sie mich erinnerte, an meine tot aufgebahrte Großmutter, aber die war über achtzig gewesen.

Ich setzte mich auf mein Bett und las weiter in meinem derzeitigen Lieblingsbuch „Das Licht aus dem Osten“ von Peter Frankopan, halb aufrecht mit dem Rücken an der Wand, tief in einen Kissenberg gelehnt. Mir ging es ausnahmsweise ziemlich gut, rundherum, ich konnte diesen Zustand deutlich wahrnehmen. Ich war auf Seite 117 und freute mich, dass ich in dem ziegelschweren Buch noch 873 Seiten vor mir hatte.
Anfangs klang es wie Rascheln oder Nagen oder Schaben, sodass ich mich unwillkürlich im Zimmer umsah, ob es irgendwo Mäuse gäbe. Ich lauschte weiter um mich herum und erkannte unrhythmische Unterbrechungen in den unbestimmten Geräuschen zwischen Rascheln und Zischeln. Das kam nicht aus meinem Zimmer, da war ich mir sicher, es war nicht mein eigenes Raucher-Rassel-Atmen oder das Buch-Seiten-Umwenden. Eindeutig, es kam von jenseits der dünnen Betonwand. Leise, stockend und unterdrückt, aber es war eindeutig ein Schluchzen. Conny weint.

Was tun, überhaupt etwas tun, ich kenne sie nicht. Misch dich nicht ein, du hast deine eigenen Probleme, spiel dich nicht auf, immer die Samariterin, selbst hilflos, es ist kein Zufall, dass du hier bist, auf der Psychosomatik, wenn auch aus anderen Gründen.
So redete ich mir zu, und dann kam das Aber: Sie ist so jung und zerbrechlich, vielleicht braucht sie nur einem Menschen neben sich, ein Wort, eine kleine Aufmunterung. Ich klopfte an ihrer Tür und hörte ein leises, fragendes Ja? Sie saß tief gekrümmt in ihrem Rollstuhl, der Balkontür zugewandt. Ich sah, dass es ihren mageren Rücken im lindgrünen Frotteemantel schüttelte. Das Häubchen war verrutscht, und der Schal lag neben ihr am Boden.

„Conny, was ist, brauchst du was, kann ich etwas für dich tun?“
Ich hatte sie noch nie angeredet und kannte auch ihre Stimme nicht. In der Kunsttherapie arbeitete sie immer stumm vor sich hin, und beim Adventsingen war sie auch nur dabeigesessen. Durfte ich sie überhaupt mit Du ansprechen? Eine fast Sechzehnjährige? Sie kauerte zusammengesunken im Rollstuhl, protestierte aber auch nicht, als ich mich daneben auf einem Stuhl niederließ, vorsichtig, nur an der vordersten Kante, damit ich schnell aufspringen konnte, wenn sie mich verjagte. Ich wagte nicht, ihr auch nur die Hand auf die Schulter zu legen. Sie wischte sich über die Augen, zog durch die Nase auf und sagte fast unhörbar:
„Ich habe mich so auf die Party gefreut. Verstehen Sie das? Es ist ja mein Geburtstag und Weihnachten auch noch dazu.“
Ich glaube, dass die zu Heiligabend geborenen Kinder alle mit diesem Geburtsdatum hadern. Keines bekommt doppelt so viel.

Was sollte ich tun, völlig ausgeliefert ihrem Unglück und meiner eigenen Hilflosigkeit, aber ich hatte mich schon eingemischt.
„Conny, magst du mir was von deinen Arbeiten zeigen?“
In den Malstunden ließ sie nie jemanden in ihren Zeichenblock hineinschauen.
„Meinen Sie, aber das mach ich doch nur für mich, das ist ja alles nichts.“
„Aber mich interessiert es, ich würde so gerne etwas von dir sehen.“
Ich bin keine Therapeutin und habe keine eigenen Kinder. Wie lenkt man Unglückliche ab, wie bringt man sie an das andere Ufer?
Sie schniefte tief, rückte das Käppchen zurecht, hob den Schal vom Fußboden auf und rollte zu ihrem Nachtkästchen. Aus der Lade zog sie aber keine Zeichenmappe heraus, sondern ein Schulheft mit kariertem Umschlag.
„Die Zeichnungen sind schlechtes Zeug, nur Gekritzel, nix zum Herzeigen, aber ein paar Gedichte sind mir gelungen, glaub ich“, sagte sie fast entschuldigend. Schau, ist doch gar nicht so schwer, dachte ich mir.
Sie kam zum Fenster zurück und begann im Heft zu blättern, dann zu lesen, zuerst leise für sich, sie bewegte nur tonlos die Lippen.

Irgendwann kam die Stimme hervor und wurde lebendig, sie las mit brüchiger Stimme:

Gedanken
Gedanken wanken
schwanken
Gedanken über Sachen
die meist nur
Sorgen machen
Gedanken verbinden
Seelen und Herzen
das bringt nur unnötige Schmerzen
Gedanken
können böse sein
doch manche schrei‘n:
„erlöse, erlöse“
Hüte deine Gedanken,
hüte sie gut
verrate damit
keinen Mut
Deine Gedanken sind noch rein
Nun weißt du es genau
hoffentlich wird das lange
noch sein
Nun weißt du es genau:
Gedanken
schwanken
C.K.

Sie hatte das Gedicht ins Reine geschrieben und ihre Initialen darunter gesetzt, was mir wie ein Zeichen eines nicht unbedeutenden Selbstbewusstseins vorkam.
Später hat sie es mich abschreiben lassen.
„Conny, das ist gut, sehr gut sogar!“, platzte ich heraus, und legte nun doch meine Hand auf ihre Schulter.
„Wirklich, meinen Sie?“
„Ja, meine ich, du kannst was, es klingt so gut und ist so tief, ich glaube, ich verstehe, was du sagen willst!“ Was gibt es da zu verstehen, sie sagt es ja.
Gott, wie schrecklich primitiv ausgedrückt, aber mir gefielen diese Zeilen wirklich.
„Conny, ich würde es so gerne noch einmal hören, ich hab mir nicht alles gemerkt, magst du es noch einmal vorlesen?“

Wenn man bei einem jungen Greisengesicht von Strahlen reden könnte, wäre es das jetzt gewesen.
Gehorsam wie eine Schülerin fing sie noch einmal von vorne an, und ihre Stimme gewann zunehmend an Stärke und Sicherheit.
Sie begann zu intonieren und zu modulieren, versuchte sich in ungehörten Tönen. Wahrscheinlich hatte sie das Gedicht selbst noch nicht laut gehört und wunderte sich über den Klang und den Rhythmus. Sie schaute von unten auf mich herauf und blinzelte mir fragend zu: „Gut so?“, ja gut, blinzelte ich zurück.
Sie las es ebenso sehr zu ihrem wie zu meinem Trost, und die Schönheit der Sprache brachte uns beiden am Vorheiligabend im Krankenhaus Hoffnung und Frieden. Vor dem Fenster hatte es zu schneien begonnen. Die Flocken fielen schräg zwischen die Bäume und Büsche des Anstaltsparks.

Es klopfte kurz an der Tür, und eine Schwester schwebte lautlos wie ein Weihnachtsengel herein.
Essensausgabe.
„Bitte Schwester, bringen Sie mir mein Tablett hierher, wir essen gemeinsam, Conny und ich.“
„Gerne, bin gleich zurück.“
Inzwischen blätterte Conny in ihrem Heft, vor und zurück, die Zungenspitze zwischen den Lippen.
„Wollen Sie noch eins hören? Das da ist, glaub ich, auch nicht schlecht.“ Ich hörte ihr zu.

Fast unbemerkt hatte sie zu essen angefangen, langte zuerst nach einer halben Buttersemmel, dann kamen ein Alma-Eckerlkäs, auf die Schnitte Schwarzbrot eine Scheibe Emmentaler mit zwei Sorten Wurst, ein hartes Ei, einen Paradeiser und ein Gurkerl drauf; die zweite Semmelhälfte mit Honig, dann ein Linzer Auge, das zweite nahm sie von meinem Teller, zu dem allen gesüßter Tee. Das übliche Krankenhausabendessen ab vier Uhr nachmittags. Wenn auch nur aus dem Augenwinkel, es entging mir nicht, dass sie selbstvergessen die runden Marmeladelöcher zwischen den Keksscheiben mit der Zungenspitze auszulecken begann. Sie kehrte zurück.

Am liebsten hätte ich alle Ärzte, Schwestern, Therapeuten, Pfleger, Zimmernachbarn und Portiere zusammengetrommelt, denn das hatten sie in den letzten zwei Jahren noch nicht gesehen.

Die Party am 24. Dezember fand statt, für Connys Geburtstag und Weihnachten. Scharen von Besuchern, Familien und Freunden füllten den Aufenthaltssaal und feierten mit.
Conny las einige ihrer Gedichte vor, mit fester Stimme und einem rosigen Hauch auf den Wangen, vom Publikum begeistert beklatscht. Sie war schön, sie war ein Star.

Conny war ein Mädchen mit großartigem Mut. Als ich das letzte Mal von ihr hörte, hatte sie das Psychologie-Studium beendet und begann eine Ausbildung auf der Psychosomatik.

16.12.16

Veronika Seyr
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