Renoviert

Ich lebe und arbeite in Wien. Um präzise zu sein in der Innenstadt, also im ersten Bezirk.
Ich lebe und arbeite dort in einer geräumigen Wohnung, der eine Dachterrasse angeschlossen ist. Das Haus, in dem sich meine Wohnung befindet, ist alt, was die Bausubstanz anlangt, doch wurde es vor einigen Jahren aufwendig renoviert, sodass es durchaus als wieder schön bezeichnet werden kann. Die Wohnung steht in meinem Eigentum. Ich habe sie von meinem Vater geerbt, er war Manager in der Waffenindustrie und dementsprechend vermögend.

Man kann sagen, dass ich kein Problem mit Geld habe, denn mein Vater hat mir, nachdem er sich suizidiert hatte, eine Masse Geld hinterlassen.
Ich habe auch kein Problem mit Geschmack. In meiner modern eingerichteten Wohnung hängen Werke von Kippenberger, Büttner und Kiefer, um nur eine geringe Anzahl der Künstler zu nennen, deren Werke ich liebe und besitze.
Ich habe auch kein Problem mit der Politik, mit Frauen, Männern oder gar mir selbst. Eigentlich habe ich gar kein, nicht ein einziges, Problem.

Ich bin sehr gerne zuhause. Meine Ehefrau, sie ist im selben Alter wie ich, also dreiundfünfzig Jahre alt, hat ihre Karriere als Cellistin beendet und hält sich, so wie ich, die meiste Zeit in der Wohnung auf. An warmen sonnigen Tagen ist sie oft eingeölt auf der Dachterrasse anzutreffen.
Unsere beiden gemeinsamen Kinder, wir haben einen Sohn, er studiert Architektur und ist homosexuell, sowie eine Tochter, sie studiert Medizin und befindet sich seit ihrem fünfzehnten Lebensjahr im Status der Mutterschaft, leben nicht mehr in Wien.

Von der Dachterrasse, welche meine Ehefrau gerne sardinenhaft eingeölt zu beliegen pflegt, habe ich klarerweise einen guten Überblick. Ich sehe, was sich in dieser Stadt verändert, welche Gebäude errichtet, welche abgerissen oder renoviert, und welche ausgebaut werden, also in die Höhe wachsen.
In der Straße, in der mein Wohnhaus gen Himmel ragt, wurde erst kürzlich ein Haus renoviert. Es wurde verschönert, was seine Fassade angeht, und um gleich drei Etagen aufgestockt. Die beiden ersten Etagen, vom Niveau der Straße ausgehend, werden von italienischen und französischen Modehäusern belegt, die sich dort Boutiquen eingerichtet haben. Die darüberliegenden Stockwerke werden als Büroräume genutzt, ein Buchverlag und eine Agentur für angebliche Models haben sich dort eingemietet. In den drei hinzugefügten, also den obersten Etagen befinden sich exklusive Wohnungen.

Die oberste Etage ist klarerweise die mit den exklusivsten, sprich teuersten Wohnungen. Dort wohnen sehr reiche Menschen. Die Renovierung und Aufstockung dieses Hauses hat, wie mir schnell bewusst wurde, eine Veränderung nach sich gezogen, und zwar eine offensichtlich ebenso andauernde wie irreversible.
Die Straße, in der mein Wohnhaus liegt, hat sich verändert, das Leben in der nächsten Umgebung meines Wohnhauses ist anders geworden, nur leider nicht besser. Ich bin geneigt festzustellen, dass der sprichwörtliche Charme dieser Straße verlorengegangen ist. Sie ist beinahe klinisch rein geworden.
Ich möchte ein Beispiel anführen: Vormals war es so, dass ein bestimmter Clochard stets vor dem kürzlich renovierten Haus gesessen, und oftmals auch gelegen hatte. Der Wechsel aus der sitzenden in die liegende Position dürfte ursächlich mit der Flasche Schnaps, die der Clochard niemals aus der Hand legte, in Zusammenhang gestanden haben. Ich habe ihm etliche Flaschen besten Vodkas geschenkt.

Ich trinke selbst nicht, keinen Tropfen, doch kann ich verstehen, wenn ein Mensch trinkt. Ich wollte, dass der arme Mann den besten Vodka trinkt, da ich stets und bei allem großen Wert auf Qualität lege.
Der Sandler hatte niemanden gestört - dort wo sich nun die Boutiquen befinden, hatten sich zuvor bloß ungenutzte Räume befunden. Um präzise zu sein, muss ich erwähnen, dass er doch einen Menschen gestört hatte. Ich wurde Zeuge, wie er eines Vormittages von einem Mitglied des Kameradschaftsbundes als Faulpelz und grässliches Element bezeichnet wurde. Dass der Mann ein Mitglied des Kameradschaftsbundes war, konnte ich bloß an dem Abzeichen erkennen, welches er an seiner Trachtenjacke befestigt hatte, denn der Mann hatte keine Fahne vor sich. Ich denke, dass der Grund hierfür die Frühe des Tages war. Dem Obdachlosen waren diese Anwürfe übrigens gleichgültig.

Nun sehe ich junge Frauen vor den Schaufenstern stehen und posieren. Sie stehen vor den Auslagen, tragen Taschen, die den in den Boutiquen feilgebotenen zum Verwechseln ähnlich sehen, und lassen sich von ihren Freundinnen mit Mobiltelefonen ablichten, wie sie stolz grinsend, als wären sie Stammkundinnen dieser Geschäfte, vor dem teuren Tand in den Auslagen posieren. Deren Scheiben sind stets blitzblank abgezogen, gleich ob eine Fliege sich auf ihnen verewigt oder eine Hummel vor ihnen posiert. Die Straße hat sich wahrlich verändert, das kann man schon so sagen.

An der Fassade des Hauses, das dem kürzlich renovierten gegenübersteht, lehnen oft junge Männer in abgewetzten Jacken und nicht maßgefertigten Schuhen. Sie tragen ihr Haupthaar bevorzugt halblang und ihre Bärte, so ihnen welche wachsen, haben die merkwürdigsten Formen. Es handelt sich offenkundig um junge, vielleicht sogar aufstrebende Literaten. Das ersehe ich aus der Tatsache, dass sie entweder lesend, rauchend oder in Notizheften oder auf losen Blättern Papier schreibend dort lehnen. Sie warten darauf, so scheint es, vom Leiter des Verlags in dessen Räumlichkeiten gebeten zu werden, um dort ihre großen schriftstellerischen Karrieren beginnen zu lassen.
Sind sie nicht in Papier vertieft, geben sie sich der Prokrastination, zugegeben einer schwachen Form derselben, hin, indem sie die jungen Frauen beim Posieren beobachten. Die Mienen der Autoren machen offenkundig, dass sie die jungen Frauen für durchaus interessant halten.
Ich, so sagt meine Ehefrau, setze stets dieselbe Miene auf, wenn ich eine Herde auf der Weide beobachte.

Ab und zu betreten Gruppen von jungen attraktiven Frauen das Haus. Bei diesen Frauen, meist osteuropäischer Provenienz, wie den vielen Worten, die sie wechseln, unschwer zu entnehmen ist, handelt es sich um die bereits erwähnten angeblichen Models. Das Wort angeblich verwende ich aus Gründen der Diskretion, denn einmal hatte eine dieser Frauen ihre Handtasche fallen lassen und deren Inhalt lag verstreut auf dem Gehsteig vor dem kürzlich renovierten Haus. Ich eilte zu ihr, um ihr beim Einsammeln ihrer Habseligkeiten zu helfen und musste feststellen, dass ich die Kontrollkarte einer Dirne in Händen hielt. Ich habe es diskreterweise unterlassen, die junge Frau auf ihre Tätigkeit anzusprechen und nehme an, dass ihr mein Schweigen recht war.

In den neu hinzugebauten obersten drei Etagen, die sehr teuren Wohnungen Raum bieten, leben Menschen, die über sehr viel Geld verfügen. Das erkenne ich an den sündhaft teuren Automobilen, welchen diese Menschen entsteigen, um in das Haus zu gehen.
Sie haben es nicht mehr nötig, sich in Designeranzüge zu zwängen. Sie lieben vielmehr Sportanzüge aus Deutschland, deren obligatorische Streifen perfekt zu oligarchischem Goldkettenbehang passen. Diese Herren haben die Angewohnheit, ihre Töchter, manchmal auch ihre Enkeltöchter, stets an der Hand zu führen. Allerdings möchte ich erwähnen, dass diese jungen Frauen stets tipptopp gekleidet sind. Ich vermute, dass sie eifrige Kundinnen der Boutiquen sind, die unter den Wohnungen ihrer Großväter und Väter gelegen sind.
Wenn die teuren Autos dieser Herren vorfahren und ihre Besitzer aus ihnen steigen, räumen die vor den Schaufenstern posierenden jungen Frauen schnell den Gehsteig. Ich vermute, dass sie den reichen Herren, ihren Töchtern und Enkeltöchtern, sowie den diese stets begleitenden Gepäckträgern mit massigem Körperbau, kurz geschorenem Haupthaar, grimmigem Blick und ausgebeulten Sakkos Platz machen möchten, schlicht aus Freundlichkeit.

Die angehenden Autoren lassen sich nicht von den reichen Herren und deren Anhang beeindrucken, sie gehen weiter ihrer jeweiligen Beschäftigung nach.
Ich habe den Clochard gesehen. Er sitzt nun drei Straßen weiter vor einem ungenutzten Erdgeschoss. Ich habe ihm bereits eine neue Flasche besten Vodkas geschenkt. Ich habe erfahren, dass in der Straße, in der der Pennbruder nun sitzt oder liegt, eine Dachgeschosswohnung mit angeschlossener Dachterrasse frei wird. Ich muss mit meiner Ehefrau darüber sprechen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 17097

image_print

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert