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Von meinen Wundervölkchen

Bist du auch einer dieser Leute, die einem Kind nicht glauben wollen, nur weil es ein Kind ist? Wenn dem so ist, brauchst du dir meine Geschichte gar nicht anzuhören, denn ich bin erst dreizehn – und für die meisten Leute bedeutet das: ein Kind. Aber solltest du wiederum jenen anderen angehören – ich meine damit diese, die sich zumindest nicht abwenden, wenn ein Kind spricht, wenn es versucht, etwas ihm Wichtiges, etwas, das ihm tief im Herzen liegt, mitzuteilen – wenn du einer von diesen Leuten bist, möchte ich dir von meinem Geheimnis erzählen …

„Wer nicht lesen kann, muss alles glauben, was einem gesagt wird“, hatten meine Eltern immer gesagt, als ich dasselbe gerade in der Schule lernte – eines der einzigen Dinge, in denen sie sich einig waren. Heute streiten sie nur mehr, stehen kurz vor der Scheidung, aber davon möchte ich gar nicht erzählen …

Jedenfalls hatte ich darum begonnen zu schreiben.

Auch außerhalb der Schule: „Was für Kinder in meinem Alter nicht so selbstverständlich war“, hatte unsere alte Nachbarin, Oma Socke – sie war nicht tatsächlich meine Oma, aber ich hatte es mir als Kleinkind angeeignet, sie so zu rufen –, einmal gemeint und mich angelächelt. Mittlerweile muss ich gestehen, dass mir der Name „Socke“ etwas peinlich ist – aber Oma Socke ist einfach Oma Socke: „… und daran wird sich so schnell auch nichts ändern“, hatte sie ein anderes Mal geäußert. – Ja ich schrieb, und ich schrieb viel. Über dies und das, manchmal über jenes, oft auch über etwas anderes.

Eines jedoch hatten meine Geschichten immer gemein – sie waren alle wahr.

Hörst du? Das ist wichtig, um alles Folgende zu verstehen – sie waren alle wahr!

Eines Abends also – es ist noch nicht so lange her – saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett und erträumte mir neue Geschichten, wie ich es oft an den Freitagen zu später Stunde zu tun pflegte, da ich am nächsten Tag keine Schule hatte. Sie handelten von Elfen, Drachen, Baumwesen, Feen und vielen weiteren sonderlichen Gestalten, die zusammen die tollsten Abenteuer erlebten, Flüsse durchquerten, Gebirge überwanden, Burgen eroberten – und das alles in meinem Kopf.

Bis ich es zu Papier brachte.

Plötzlich glitten sie hinab, die Wundervölker, von meinem Kopf, über meinen Arm und die Finger, hin zu meinen Stift und schließlich auf dem Papier mündend – es war wie Zeichnen oder so wie wenn man Musik machte, die im Akt des Schreibens nur man selbst hören konnte. Sie waren mein Geheimnis, und ich schrieb sie auf, damit sie wahrhaftig wurden, damit auch meine Eltern und andere – jeder, der sich dafür interessierte – teilhaben durfte an den vielen Abenteuern. „Wer nicht lesen kann, muss alles glauben“, und darum schrieb ich über sie! Damit man mir glaubte, dass sie existierten, und das nicht nur in meinem Kopf, wie meine Eltern behaupteten.

Aber an jenem Abend war es dann wieder so weit gewesen …

Meine Eltern hatten die Stimmen gegeneinander erhoben. Das passierte in letzter Zeit so häufig. Und es war nicht eine dieser Auseinandersetzungen, die im Schweigen des jeweils anderen endeten, nein, diesmal war es richtig schlimm. Zuerst hatte es nur gebrodelt, wie es eben meistens so war, aber sobald jemand etwas Falsches sagt, irgendeine Kleinigkeit erwähnt, dann eskaliert es. Sie werden laut und lauter, schreien einander an, und wenn es nicht im Schweigen endet, so kann es passieren, dass einige Dinge in unserem Haus zu Bruch gehen, dass mein Vater handgreiflich wird …

Und an jenem Abend war es solch eine Auseinandersetzung.

Ich weiß nicht genau, was da unten in der Küche geschah, aber was ich hörte, gereichte mir für Tränen. Da fielen sie, von meinen Augen aufs Papier, zwischen die Worte und all die Namen meiner Wundervölker. Ich vermochte ihre Hilfeschreie zu hören, während sie in meinen Tränen ertranken: „Hilfe! Aufhören!“, drangen ihre unzähligen Stimmchen an mein Ohr, aber ich konnte nichts machen.

Ich konnte nichts machen.

Weg, weg! Ich wollte weg! Doch wohin? Bei Oma Socke würden mich meine Eltern sofort finden, und sie sollten mich nicht finden – zumindest eine Zeit lang nicht. Während ich so überlegte, war ich bereits von meinem Bett gesprungen, aus meinem Zimmer und die Treppen hinabgestürmt und, ehe es meine Eltern bemerken konnten, aus der Haustür geeilt.

Die Wundervölker hatte ich in meinem Zimmer zurückgelassen.

Draußen war es bereits dunkel, nur ein paar Straßenlaternen zerstreuten ihr Licht auf meinem Weg durch jene nebelige Frühlingsnacht. Zuvor hatte geregnet. Da lief ich nun über den feuchten Asphalt meiner Siedlung, und während die tobenden Stimmen meiner Eltern in meinem Kopf in den Hintergrund rückten, mehrten sich die Tränen in meinen Augen. Wie die Brotkrümelchen im Märchen mit der Hexe im Knusperhäuschen, verlor ich sie auf meinem Weg, weg von Zuhause.

Im Unterschied, dass ich durch sie nicht zurückfinden wollte.

Die asphaltierte Straße wandelte sich zu einem Feldweg, der parallel zum dunklen Acker an einem Wald entlang verlief. Früher waren wir hier immer spazieren gewesen als Familie – an sonnigen Wochenenden. Damals noch mit Mäxchen, unserem Hund, bevor er …

Ach, weg, weg! Ich wollte weg!

Vom Feldweg bog ich durch das Gestrüpp in den pfadlosen Wald hinein. All die hohen Bäume in ihrer finsteren Gestalt zogen an mir vorbei, doch kam es mir so vor, als laufe ich am Stand. „Unerwünscht … du bist hier unerwünscht!“, wisperte es von ihren Kronen herab, ein mir hinterherjagendes Gemenge zischender Stimmen. Das Geäst knasterte, die Blätter raschelten, und nur mehr die Sterne und der Mond erleuchteten mir meinen Weg durch den nächtlichen Wald.

Irgendwann brach ich zusammen und landete im feuchten Moos, nahe einem Teich.

Dort weinte ich. Zusammengekauert und allein. Selbst die Bäume schienen sich von mir abzuwenden. Meine Tränen tränkten das Moos und mein stockender Atem verblies in der Nacht …

Das wäre ein ziemlich trauriges Ende für meine Geschichte gewesen. Den meisten Leuten entkommt an diesem Punkt ein mitleidiges Seufzen, sie klopfen mir auf die Schulter, streicheln meine Hand, aber das müssen sie nicht – ja sie sollen das nicht tun. Denn wäre das das Ende gewesen, würde es sich ja um kein Geheimnis handeln. Zumindest um keines, das es wert wäre, so zu nennen. Aber das, was dann passierte, was auf mein Zusammenbrechen im Wald folgte, das ist eines der Geheimnisse, die man auch wirklich so rufen darf:
Denn als ich so im feuchten Moos lag, zogen die fremden Stimmen fort, und das war als lichteten sich dunkle Wolken, an einem Tag, an dem du es gar nicht mehr erwartet hättest. Meist siehst du dann einen Regenbogen, manchmal sogar zwei, und genauso fühlte sich der Moment an, als mir freundlichere Stimmen an mein Ohr drangen, Stimmchen gar, vertraut und fürsorglich. Ein Kichern, ein zärtliches Schmunzeln, lautlos, aber irgendwie hatte ich auch das gehört. Etwas strich an meinen Haaren vorbei, irgendwas spürte ich auch an meinen Beinen – etwas Kleines, Zerbrechliches vielleicht – auf einmal zupfte mich etwas an meinem Ärmel, an der Schulter, und an den Socken! Das war schon ziemlich absurd, befand ich. Aber nicht falsch verstehen!, ich fühlte mich nicht bedroht oder ängstlich, nein, es war ein Gefühl der Geborgenheit, das ich empfand. So öffnete ich meine dem Moose zugekehrten Augen und sah auf … und was ich erblickte, glich einem Wunder …

Elfen tanzten um mich herum, dort an dem Baum, da an dem Teich und gleich hier am Moos; und neben ihnen her: eine Schar von Feen, die kleiner und etwas ungestümer sogar durch die Luft segelten. Sie neckten einander, erfreuten sich ihres Lebens und zupften an meinem Gewand herum, dass auch ich lachen musste.

„Hallo ihr“, begrüßte ich die kleinen Wundervölkchen, und sie erwiderten mir ein Lächeln. „Sei nicht traurig“, bedeutete mir der Tanz der Elfen: „Wir sind für dich da“, der Flug der Feen. Ihre Sprache drückte sich nicht mit Worten aus, so wie die meine, nein, sie kommunizierten eleganter, mit ihren Bewegungen, ihren Gesichtsausdrücken, den verschmitzten Blicken …

Da bemerkte ich, dass da noch mehr waren! Aus dem Unterholz und dem Gestrüpp traten sie hervor, die Baumwesen, in ihren knorrigen Gestalten und friedfertigen Gesichtern. In einem entschleunigten Tempo wandelten sie geruhsam hinab zum Teich, ließen sich nieder und tauchten ihre Wurzelfüße ins kühle Wasser. Von dort aus winkten sie mir zu und genossen ihre Wahrhaftigkeit. Ihnen folgten die Drachen, die größer waren als ich erwartet hatte: Sie legten sich neben mich zur Ruh, dabei sie ab und zu aus ihren Nüstern in die frische Nachtluft schnaubten.

„Seid ihr alle meinetwegen gekommen?“, fragte ich sie glücklich, und mir war es, als antworteten sie mit: „Ja.“ Das ließ mich innehalten und all den Schmerz vergessen, Tränen der Trauer wandelten sich zu jenen der Freude. Meine Wundervölkchen um mich versammelt … schlussendlich also waren sie doch am Leben, und nicht nur stumme Schriftzüge auf einem Papier. Meine Eltern würden mir das nie glauben …

Meine Eltern …

Ich überlegte kurz, und wandte mich mit einer neuen Frage an meine Wundervölkchen: „Sagt, wollt ihr mich nach Hause begleiten? – Zu meinen Eltern? Ich möchte, dass sie euch kennenlernen!“

Da sahen die Wesen einander an, sowohl Elfen und Feen als auch die Baumgestalten und Drachen. Auch sie überlegten. Und das nicht kurz, möchte ich anmerken! Aber nach einer Weile einigten sie sich und beschlossen, mich zu begleiten.

Ich hätte mich nicht mehr freuen können!

Zuerst setzten sich die Baumwesen in Bewegung. Langsam erhoben sie sich und stapften im gemächlichen Gange los. Dann formierten sich die Elfen – gleich einem Tanz wehten sie daraufhin durch den Wald. Ich selbst sprang auf den Rücken eines der Drachen und führte meine Völkchen, umgeben von umherschwirrenden Feen, an.

Ein Lied … ein Lied hätten wir nun singen können.

Doch ihr Anblick und das Gefühl, das mir meine Völkchen gaben, waren so als ob man Musik machte, und damit mir Lied genug.

Bald hatten wir den Wald hinter uns gelassen. Und zurück am Feldweg wurde mir erst unsere Anzahl bewusst, Scharen um Scharen tauchten zwischen den Bäumen hervor. Nun waren es nicht nur mehr Elfen, Feen, Baumwesen und Drachen, nein, hinzu traten Greifen, Einhörner, schillernde Vögel, die ihre Farbe wechseln konnten und ich deswegen „Purpuren“ getauft hatte, und und und …

Das ganze Gefolge meiner Wundervölkchen. Sie waren alle gekommen.

Die Straße nach Hause war menschenleer, da es bereits spät in der Nacht geworden war. Nun wimmelte es da von meinen Wesen. Zuhause angekommen, läutete ich selbstbewusst an der Tür. Es dauerte nicht lange, bis sie geöffnet wurde und meine besorgten Eltern heraustraten.

„Wo bist du gewesen?“, umarmte mich meine Mutter erleichtert.

Als ich zu meinem Vater aufsah, bemerkte ich, dass sein Blick woanders ruhte. Staunend musste er meine Wundervölker gemustert haben, denn kein Wort entkam seinen Lippen. Auch meine Mutter hielt inne, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.

Und beide lächelten sie.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16095

Korfs Neid

Korf beneidet einen Narren
Mit zwei Pokalen in der Hand
Die der an einem Flohmarkt-Karren
Äußerst günstig sich erstand

Der Narr verkündet nun der Welt
(Indem er seine Siegstrophäen
Über seinem Kopfe hält
Verkündet er im Steh’n und Geh’n)

Er sei der Fischer Georg Feister
Wie’s auf dem Pokale steht
Und unbestritt’ner Wettkampfmeister
Im Jahre 90, Hintersteet

Er sei schon eine Sportskanon’
Grad eben noch, kein Jahr ist’s her
Gewann er glatt den Triathlon
Als Kranebichler Christopher

So der Narr nun lautstark weiter
Um ihn sammeln sich schon Leute
Das Narrentum stimmt uns stets heiter
So war’s einst, so ist es heute

Hurra, Christopher! Ruft ein Kleiner
Georg auch! Ein Herr mit Bauch
Hebt ihn hoch! Ein ganz Gemeiner
Und schon folgt der alte Brauch

Der Narr auf vielen Schultern wankend
Winkt beseligt in die Runden
Weinend, nickend, zitternd, dankend
Es ist die schönste seiner Stunden

Ach, denkt Korf, wie neid ich dir
Dein wunderbares Glücksgefühl
Es ist das einzig Wahre hier
Im allgemeinen Spottgewühl

Der Narr auf dieser Flohmarktwiese
Bin ich, der fast sein ganzes Leben
Hart und schwer dafür gekämpft

Dass letztendlich Leut wie diese
Ihn auf ihre Schultern heben
Korf geht weiter – sehr gedämpft

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

Diesen Text können Sie seit Dezember 2018 auch hören, gelesen vom Autor.

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16092

Der große Oktzinoia

Ist dir schon mal aufgefallen, dass es kaum Lebewesen gibt, die werfen können? Das liegt natürlich daran, dass es zum Werfen Hände braucht. Richtig werfen können daher nur Menschen und Affen. Obwohl, eigentlich hätten Koalabären und Faultiere auch Hände, aber damit klammern sie sich lieber an Bäumen fest und sind den ganzen Tag sehr faul. Die Affen aber werfen häufig und zwar mit allem, was ihnen in die Finger kommt, und für die Menschen ist das Werfen eine richtige Leidenschaft – wenn sie einmal damit angefangen haben, können sie kaum mehr damit aufhören. Ja, sie sind so vernarrt in das Werfen, dass sie sogar stundenlang anderen dabei zuschauen können. Darum haben sie ja auch Tennis und Basketball erfunden und beim Fußball werfen sie sogar mit den Füßen. Trotzdem gibt es ein einziges Ziel, auf das die Menschen niemals werfen: Heuschrecken. Oder hast du schon mal einen Menschen gesehen, der auch nur einen winzigen Kiesel auf eine Heuschrecke geworfen hätte? Das ist doch wirklich eigenartig, nicht wahr? Vor allem, wenn man weiß, dass es einmal eine Zeit gab, in der es für die Menschen gar nichts Wichtigeres zu tun gab, ja wo sie sogar meinten, dass ihr Überleben davon abhängt, eine vermeintliche Heuschrecke zu bewerfen. Zum Glück gibt es eine Geschichte, aus der wir erfahren, warum die Menschen nichts mehr auf Heuschrecken werfen, nicht einmal ein Sandkorn.

Eines Tages bewarfen die Menschen eine Heuschrecke mit winzigen Kieseln, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Heuschrecke war aber in Wirklichkeit ein winzigkleiner Zwergdrache, der gerade seinen Mittagsschlaf hielt – Zwergdrachen können gewöhnlichen Heuschrecken zum Verwechseln ähnlich sehen. Dieser Zwergdrache wurde von einem Treffer auf seinen Kopf geweckt und darüber wurde er sehr wütend. Er zirpte, er sei zwar klein, aber wenn es darauf ankomme, ein gewaltig gefährlicher Drache und werde alle Menschen zur Strafe für diese Gemeinheit verbrennen und fing auch gleich damit an, auf ein paar von ihnen seine Flamme zu richten. Da lachten die Menschen lange und laut, denn der Zwergdrache war nicht größer als ein Daumennagel, ein Drächlein, ein Drächelchen, ein Drachelino, dessen Zirpen kaum zu hören war, und sein Flämmchen brannte nicht mehr als ein Gelsenstich. „Da haben wir ja ein gewaltiges Ungeheuer aufgescheucht! Lasst es uns mit vereinten Kräften bezwingen, bevor es uns alle vernichtet!“, lachten die Menschen und sie bewarfen das kleinwinzige Drächlein weiter mit Kieseln, um sich einen Spaß zu machen. Doch da geschah etwas Seltsames: Der Drache wurde bei jedem Treffer größer, und auch seine Flamme wurde richtig gefährlich und brannte bald so stark wie eine große Fackel.

Die Menschen bemerkten natürlich, dass der Drache vom Bewerfen mit Steinen größer und mächtiger wurde und wurden darüber langsam unruhig, doch da ihnen nichts Besseres einfiel, bewarfen sie ihn immer schneller mit noch mehr und noch größeren Steinen, schließlich kippten sie sogar gewaltige Felsbrocken von Bergwänden auf ihn. Doch der Drache blieb und wuchs mit jedem Treffer weiter.

Und wie immer, wenn es keine Lösung für ein Problem gibt, bildeten sich bald eigene Fach- und Spezialistengruppen dafür. Damals waren es die Drachen-Bewerfmeister, die auch von aller Welt in hohen Ehren gehalten wurden.

Diese Drachen-Bewerfmeister griffen eines Tages alle gemeinsam an, und es hagelte ganze drei Tage und drei Nächte lang einen ganzen Berg Felsen und Steine auf den Drachen. Der blähte sich auf, die Felsen und Steine prallten an ihm ab und da blieb er dann und wurde erst so groß wie der ganze Berg Gestein, der auf ihn geworfen worden war. Danach wuchs er aber noch weiter und wurde schließlich noch größer, bis er selbst die Sonne verdunkelte.

Da ließen die meisten Drachen-Bewerfmeister von ihm ab, denn sie hatten begriffen, dass es aussichtslos war, das himmelhohe Untier mit Steinen zu erschlagen. Und sie rauften sich die Haare, warum sie nicht schon viel früher verstanden hatten, dass sie die Bedrohung mit jedem Angriff nur verstärkten. Hinzu kam eine neue Not, denn ohne Sonne gab es keine Ernte mehr, und ohne Ernte drohte der Hunger. Nur noch eine Handvoll der tollkühnsten Drachentöter versuchte weiter, das Ungeheuer zu besiegen, doch waren diese entweder blind vor Ehrsucht oder mit Dummheit geschlagen und begriffen nicht, dass der Drache schon längst zu groß war, um ihn erschlagen zu können, und sie verstanden nicht, dass sie ihn mit jedem geworfenen Stein nur noch größer machten. Doch die übrigen Menschen glaubten nun dem Drachen, wenn er brüllte, er werde sie alle vernichten.

Da erschien aus dem Lande Irgendwo ein alter Schuster und Eierverkäufer, der in Wirklichkeit ein als Mensch verkleideter Schimpanse war, und weil er gerade nichts Besseres zu tun hatte, sah er den letzten Drachen-Bewerfmeistern dabei zu, wie sie verzweifelt gegen die Riesenechse kämpften. Und da er ein Schimpanse war und Schimpansen fast so gerne Steine schleudern wie Menschen und den Menschen auch gerne alles nachmachen, wollte er bald unbedingt mitmachen. Mittlerweile gab es aber fast keine Steine mehr, und die Drachen-Bewerfmeister behielten die wenigen, die noch da waren, eifersüchtig für sich. Der als Schuster und Eierhändler verkleidete Schimpanse hatte leider auch gerade keine bei sich – nur einen Korb mit Hühnereiern, also warf er eben mit denen.

Der Drache sah die Eier auf ihn zufliegen und wurde aufgeschreckt durch ihr besonders hartes und zurechtgeformtes Aussehen, darum blähte er sich gewaltig auf, um sie abprallen zu lassen. Das wäre natürlich gar nicht nötig gewesen, denn die Eier zerbrachen ja einfach an ihm, und er spürte sie nicht einmal. Da schüttelten die Drachen-Bewerfmeister den Kopf und dachten: „Was für ein Affe, dieser alte Schuster und Eierverkäufer!“

Doch der Drache hatte ja nichts gespürt, und er blähte sich noch mehr auf, weil er meinte, diese für ihn gänzlich neuen und vielleicht gefährlichen Geschosse würden erst auftreffen. Und der Affe warf auch weiter, und der Drache dachte: „Vielleicht hat dieser kleine Mensch, der sich aufführt wie ein Affe, nur danebengeschossen, aber jetzt und jetzt trifft er mich!“ Und er blähte sich noch mehr auf, und der Affe warf noch ein Ei, und der Drache blähte sich noch mehr auf, so gewaltig blähte er sich auf, dass er fast den Mond berührte, doch er spürte noch immer nichts. Und der Affe warf weiter und weiter, und da blähte sich der Drache noch mehr auf und blähte sich auf, bis er nur noch eine einzige riesige Kugel war, so groß wie, ja, so groß wie die ganze Welt. Und da war die Haut des Drachen nur mehr ganz dünn wie bei einem Luftballon, und es wurde vollkommen dunkel auf der Welt, weil kein Futzelchen Licht mehr vom Himmel kam, und man hörte nur noch das Geräusch von der Stelle, wo er gerade noch an der Erde rieb. Und an dieser Stelle, die etwa so groß war wie ein Handteller, genau dort lag die zerbrochene Eierschale von dem ersten Ei, das der Schimpanse geworfen hatte, und an der rieb die hauchdünne Haut des aufgeblähten Drachen.

Da machte es ganz leise „Plopp!“, wie wenn ein Regentropfen in ein Glas Wasser fällt, und der Drache war zerplatzt. Gleichzeitig wurde es wieder hell, weil ja die Sonne nicht mehr verdeckt wurde.

Das war dem Schuster und Eierverkäufer, der eigentlich ein Schimpanse war, nur recht – es war ihm auch lieber, wenn die Sonne schien und er sah, wo er hinschoss. Doch da war nichts mehr zum Bewerfen, nur eine kleine Heuschrecke saß ärgerlich zirpend vor ihm auf dem Boden, und die war ihm kein Ei wert. Da bereute er wieder mal, es den Menschen nachgemacht zu haben.

Als er von den begeisterten Drachen-Bewerfmeistern gefragt wurde, wie er es denn geschafft hätte, mit ein paar Hühnereiern das furchtbare Ungeheuer zu erlegen, klagte er nur über den Verlust von achtzehn Stück seiner frischen Ware, und da er sich mit der Aussprache der Menschensprache ein wenig schwer tat, klang das wie: „Oktzin Oia!“ Und als sie ihn fragten, wie er denn heiße und woher er käme, klagte er immer noch: „Oktzin Oia! Oktzin Oia!“ Darum nannten ihn die Menschen den großen Helden Oktzinoia.

Seither vermeiden es die Menschen, Kiesel auf Heuschrecken zu werfen. Es wäre ja immer möglich, damit einen Zwergdrachen zu treffen. Ich zumindest habe noch nie einen Kiesel auf eine Heuschrecke geworfen, schon gar nicht auf eine schlafende. Du vielleicht?

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16091

Die Physik der Liebe

Es gibt ja wohl nichts Peinlicheres, als von der eigenen Katze verlacht zu werden, dachte ich mir, als ich nach dem Öffnen der Kiste nichts Besseres vorzuweisen hatte als eine weitere Kiste. Mit einem missmutigen Blick bedachte ich die Katze, auf dass sie sich trollte, was sie natürlich nicht tat, sondern zuerst daran schnupperte, an der Kiste in der Kiste, um schließlich mit den Krallen einige unschöne Kratzer an ihr zu hinterlassen. Erst dann trollte sie sich.

Und insgeheim musste ich meiner Katze Recht geben, zum Lachen war die Sache mit der Kiste, das Geschenk zu meiner Volljährigkeit von Onkel Zacharias aus Amerika, der wahrscheinlich nicht einmal Zacharias hieß, und außerdem hatte ich so meine Zweifel, ob er überhaupt mein Onkel war. Was die Familiensaga betraf, kreiste die schöne Legende, dass er mir als Stöpsel von vier Jahren einmal durchs Haar gestrichen und mich daraufhin zu seinem Lieblingsneffen erklärt hatte. Aber vielleicht war Onkel Zacharias auch nicht mehr als der Clown auf meinem Geburtstagsfest gewesen, eingekauft, um uns Kinder mit seinen Sachen zum Staunen und zum Lachen zu bringen.

Nun, das mit Amerika mochte stimmen, wenn ich jetzt all die unzähligen kalifornischen Briefmarken auf der Außenseite der äußeren Kiste betrachtete, dass der Onkel Zacharias sich bis nach Amerika hatte flüchten müssen, das schwärzeste aller schwarzen Schafe in unserer Familie. Und davon gab es beim besten Willen genug, wenn man beispielsweise an Großvater Emil dachte, der Isaac Newton widerlegt hatte und daraufhin in die Schwerelosigkeit entschwunden war. Oder an die bigotte Tante Luise, die auf dem Weg zur täglichen Frühmesse vom Rand der Erdenscheibe gefallen war, zum Lachen peinlich die beiden, aber das tat jetzt nichts zur Sache.

Um Onkel Zacharias ging es, dessen Kiste in der Kiste ich im ersten Augenblick nicht zu öffnen wagte, denn dass sich darin noch eine weitere Kiste befände, so billig würdest du es dir nicht geben, lieber Onkel, einen böseren Scherz als ein unendliches Matrjoschka-Spielchen würdest du dir für mich ausgedacht haben. Denn als den größten aller Gaukler hatte die Sippe dich immer schon gebrandmarkt, wenn sie es ausnahmsweise einmal nicht vorgezogen hatte, dich ganz zu verschweigen. Wüst schon die erste Legende von deinen Gaukeleien aus deiner Jugend, als du dich dem fahrenden Volk angeschlossen haben sollst, den Zigeunern, und dich angeblich als Wahrsager versucht hast. Blutjungen, leichtgläubigen Frauen sollst du aus der Glaskugel gelesen haben, was sie nicht für kluge, schöne und gesunde Kinder zur Welt bringen würden, nur um sie danach im hinteren Teil der Bude zu verführen und zu schwängern. Schlimme Sachen sollst du angestellt haben, nicht zum Lachen und wahrlich Grund genug, dich ins ferne Amerika aus dem Staub zu machen.

Jetzt war ich froh, keine mich verlachende Katze um mich zu haben, denn Onkel Zacharias‘ nächster böser Scherz schien zu heißen, dass sich die Kiste in der Kiste einfach nicht öffnen ließ, nicht mit Zähnen oder Klauen oder Brechstange. Andererseits vollkommen unmöglich, dass mein Onkel nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als mir einen formvollendeten Kubus schenken zu wollen, gerade er, dem nachgesagt wurde, dass er den rechten Winkel für die entmutigendste und entwürdigendste Errungenschaft der Menschheit hielt, humorlos wie die Erbsünde. Hunger müsste sie eigentlich haben, die mir zugelaufene, namenlose Katze, denn auch ich bekam langsam Hunger, je länger ich mich mit dem Kubus herumärgerte. Die allerletzte Sardinenbüchse war ich bereit mit der Katze zu teilen, aber nirgends schien sie aufzutreiben zu sein, und so schweiften meine Gedanken wieder ab, auf den Spuren der Abenteuer des Onkel Zacharias.

Unbegrenzt wolltest du sein in deinen Möglichkeiten, und dafür ist Amerika genau das richtige Land gewesen, weit genug und naiv genug für deine Gaukeleien, und zügellos ausgetobt sollst du dich ja haben, wenn ich dem Glauben schenken darf, was ich so im Fernsehen gesehen habe. Angefangen mit dem Riesenaffen, der dir schon bei deiner Ankunft auf Ellis Island aus dem Rucksack gesprungen ist, den du auf der Spitze des Empire State Building tanzen und nach Flugzeugen grapschen hast lassen, da kann ich nicht mithalten, mit einer einfachen Katze. Aber wie du das mit der Mondlandung hinbekommen hast, den Amerikanern die Gesetze der Raumzeit vorgegaukelt hast, wird mir für ewig ein Rätsel bleiben, nur bei der im Wind wehenden Flagge auf der Mondoberfläche hast du etwas geschlampt. Und dann als Krönung die Sache mit der Mojave-Wüste, die vor deiner Ankunft ein blühendes Tal gewesen sein soll, bevor du deine größte Gaukelei gezündet hast, die Lachende Atombombe. Weit hast du es gebracht, so weit, dass du sogar Pate gestanden haben sollst für die übermannshohe Puppe, die sie jedes Jahr beim Burning Man Festival verbrennen – gib’s ruhig zu, du bist auch noch stolz darauf!

Die Physik der Liebe, davon hatte das teutonische rothaarige Mädchen mit den vorwitzigen Sommersprossen gesprochen, und dass ich keine Ahnung davon hätte, hatte sie noch gehässig hinzugefügt, um mich dann für immer zu verlassen, keine drei Stunden und vierzehn Minuten war das her. Die Physik der Liebe, wie hatte das aus ihrem Mund geklungen, nach in sich verhakten Atomen wie aus einem Bausatz Legosteine, und dessen nicht genug, mit Kleister verstärkt,  anschließend vernietet und verschraubt, sicher wie die Titanic, so hatte sie geschmeckt, die Physik der Liebe auf den spitzen Lippen dieses Rotschopfs. Du verstehst, wovon ich spreche, geliebter Onkel, und wohl als Einziger unserer weitläufigen Sippe. Also, etwas Aufheiterung könnte ich jetzt wirklich gut gebrauchen!

Meine Gedankenverlorenheit musste es gewesen sein, die meine Finger an die richtigen Stellen des Kubus des Onkel Zacharias hatte gleiten lassen, denn auf einmal schnappte der Deckel auf, wie bei einer richtigen Kiste, und darin saß die Katze. Mit einem bösen, giftig grünen Blick bedachte sie mich, und mit einem beleidigten Fauchen, dann war sie mit einem Satz aus der Kiste und trollte sich mit eingezogenem Schwanz unter das Bett.

Schön hast du mich zum Narren gehalten, Onkel, einen Daseinssprung hast du mir also geschenkt, den Quantensprung einer Katze, die von nun an den Namen Schrödinger weghaben wird. Wirklich toll, deine Gaukelei, geschätzter Onkel, nicht mehr als ein Witz also die ganze Sache, selten so gelacht!

Harald Schoder
derewigreisende.net

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16084

 

 

Life, Teil 2

(inspired by The Walking Dead)

Seit dem Vorfall am Indoor-Pool waren einige Wochen vergangen. Die Gruppe hatte zwischenzeitlich in einem Gefängnis eine sichere Unterkunft gefunden. Sie hatten sich häuslich eingerichtet, sogar Gemüse gepflanzt. Die Gemeinschaft wuchs, und Routine gewann langsam die Oberhand.
Sara und Daryl waren sich nähergekommen. Nicht körperlich, auch wenn die Anziehung von beiden wahrgenommen wurde. Sie gingen oft auf Versorgungstour, hielten Wache. Sprachen zusammen, schwiegen zusammen. Ihre Vertrautheit miteinander war weiter gewachsen.

Müde von ihrer Nachtschicht stand Sara auf dem Posten am Wachturm. Die Beißer waren überschaubar, aber in den letzten Tagen hatten sich immer wieder Überlebende draußen herumgetrieben, anscheinend um zu spionieren. Rick hatte den Chef der Gruppe kennengelernt, die Leute wirkten dubios und waren mit Vorsicht zu genießen.
Lächelnd beobachtete Sara ein Vogelpärchen, das im Einklang über die Wälder flog. Die Sonne war gerade im Begriff, über den weit entfernten Berggipfeln aufzugehen. „Warum lächelst du?“, fragte eine Stimme hinter ihr. Sara erschrak nicht. Nicht bei seiner Stimme. Sie breitete die Arme aus. „Sieh dich um. Es ist wunderschön. Schöne Dinge machen mir Freude. Also lächle ich. Ganz einfach“, erklärte Sara ihren Gemütszustand.

Ganz einfach. Daryl sah sich um. Für ihn war es ein Morgen wie jeder andere. Er war fasziniert von Saras Gabe, ihrer Umwelt mit einer so positiven Einstellung zu begegnen.
Daryl ging zu Sara und stellte sich neben sie. Seine Brust berührte leicht ihren Arm, den sie noch immer ausgestreckt hatte. Der Duft ihrer Haut und der frisch gewaschenen Haare stieg in seine Nase. Sie hatten einfache Kernseife in den Waschräumen des Gefängnisses gefunden, aber in Verbindung mit ihrer Haut machte ihn der Geruch seltsam unruhig.
Sara spürte das kühle Leder seiner Weste an ihrem Arm, als er neben sie trat. Es war vertraut, das Leder, die Wärme, die sein Körper ausstrahlte. Langsam senkte sie ihre Arme und hielt sich am Geländer fest. Dann sah sie ihn von der Seite an.
Er schien zu versuchen, dasselbe in der Umgebung zu entdecken, das sie sehen konnte. Seine Augen waren zusammengekniffen und seine Stirn lag in Falten. Sie musste schmunzeln. „Ist schon o. k., wenn du das nicht siehst. Dafür hast du ja mich“, meinte sie grinsend und rempelte ihn sanft mit ihrer Schulter an. Daryl verzog einen Mundwinkel nach oben. Er war kein Mann großer Worte. Umso mehr registrierte Sara die Art seiner nonverbalen Kommunikation. Er musste nichts sagen, damit sie ihn verstand.
Er blickte auf ihre Hand, die am Geländer lag, und bevor er wusste warum, lag seine Hand auf ihrer und hielt sie fest. „Dafür hab ich dich“, wiederholte er leise. Sara. Sie wusste, was in ihm vorging, bevor es ihm selbst klar war. Sie konnte ihm ansehen, wie es ihm erging. Er teilte sich durch seine Mimik, seine Gestik mit, nicht durch Worte.

Sara hatte Daryl nicht mehr auf den Vorfall am Pool angesprochen. Daryl war wie ein verschrecktes Waldtier, wenn es um Gefühle ging. Umso überraschter war sie von dieser Aktion. Vielleicht war die Zeit jetzt reif, darüber zu reden. Sie genoss seine Berührung, fest und zärtlich zugleich.
Fragend sah sie ihn an. „Du wirkst angespannt. Was ist los?“, fragte sie leise. „Nichts“, entgegnete er schnell. Er nahm seine Hand von ihrer, räusperte sich und ging einen Schritt zurück. Sie hatte Recht, wieder einmal. Er konnte aber nicht in Worte fassen, warum.
„Daryl“, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme. Sie stellte sich vor ihn und tippte mit ihrem Zeigefinger auf seine Brust. Sie spürte, dass er weiter zurückgehen wollte, aber sie zog ihn sanft an seiner Lederweste zu sich. „Sieh mich an“, flüsterte sie. Sie suchte Augenkontakt. „Ich sage dir jetzt was. Wirst du zuhören?“, fragte sie leise und lächelte ein bisschen als sich ihre Blicke fanden.
Wie ein Schuljunge verlagerte Daryl sein Gewicht von einem Bein auf das andere. Sein Herz schien in seinen Hals gerutscht zu sein, in seinen Ohren hörte er sein Blut rauschen. Er war zerrissen: wollte weg, wollte bleiben. Schließlich atmete er tief durch und nickte leicht.

„Ich muss oft daran denken, dass du mich gerettet hast, Daryl. Und ich weiß, dass du auch daran denkst. Und daran, was fast passiert wäre“, sagte Sara und ließ von seiner Weste ab. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer werden würde, sich zu überwinden und das Thema anzusprechen.
Daryl merkte, dass sie der Mut verließ. Die Arme verschränkt, den Blick gesenkt. Plötzlich war sie wieder in ihrer alten Rolle gefangen. Klein, unscheinbar, introvertiert. Aber das war sie nicht mehr. Sie wusste es nur nicht, weil keiner da war, der es ihr sagte. „Hey“, sagte er leise und hob ihr Kinn sanft an, damit sie ihn wieder ansehen musste. „Rede weiter. Bitte“, entgegnete er und hob kurz die Augenbrauen, um sie so aufzufordern, weiterzusprechen.
Sara lächelte ihn an. „Deine harte Schale hat Brüche bekommen. Das irritiert dich. Weil ich die Brüche sehen kann. Lass es zu, Daryl, ich werde dir nichts tun. Dazu mag ich dich viel zu sehr.“ Ihre Stimme wurde immer leiser.
„Hmm“, brummte Daryl und kam einen Schritt näher auf sie zu. Ihre Gesichter waren sich fast so nahe wie damals. Wieder wehte ihm eine Brise ihres Duftes in die Nase, die eine Gänsehaut bei ihm entfachte.
„Ich glaube dir. Glaubst du mir, wenn ich dir sage, dass du stärker und mutiger bist, als du denkst? Du hast deinen Bruder, Freunde und auch kurz einmal deinen Lebensmut verloren, und bist doch hier. Stärker als zuvor“, entgegnete Daryl.

Sara sah ihn überrascht an. Mit diesen Worten hatte sie nicht gerechnet. Sie öffnete ihre verschränkten Arme und strich mit einer Hand vorsichtig eine Haarsträhne aus Daryls Gesicht. Bei ihrer Berührung zuckte Daryl zusammen. Wenn er sie schon aufforderte, mutig zu sein, durfte er jetzt auch keinen Rückzieher bei ihr machen.
„Das glaubst du also, ja?“, fragte Sara nach. „Das weiß ich“, korrigierte Daryl sie. Sara stockte der Atem. Beide warteten darauf, was der andere als Nächstes tun würde. „Worauf wartest du?“, fragte Daryl mit heiserer Stimme. „Gute Frage“, murmelte Sara. Gerade als sie ihren Kopf anhob, um ihn zu küssen, hallte ein Schuss durch die morgendliche Stille. Im nächsten Augenblick fühlte Sara einen heftigen Schmerz an ihrem Kinn.

Sie sackte zusammen und fiel auf die Knie. Verstört griff sie an ihr Kinn und betrachtete ihre Hand, die sofort von einem roten Blutfilm überzogen war. Sie hörte nichts mehr, sah nur noch das Blut und spürte ihren Puls, der mit jedem weiteren Schlag noch mehr Blut aus der Wunde presste.
Wimmernd fiel sie zur Seite und registrierte Daryl, der sie auffing und ein Stück Stoff gegen ihr Kinn drückte. Er nahm ihre Hand und führte sie an ihre Wunde. Sie sah, dass er mit ihr sprach, aber sie verstand ihn nicht. In seinem Gesichtsausdruck erkannte sie Panik und Wut.
Sie griff nach dem Stoff, der bereits feucht vom Blut war und drückte ihn selbst gegen die Wunde. Sara beobachtete Daryl, wie er ins Innere des Wachturms kroch und den anderen über Walkie-Talkie Bescheid gab. Er ließ sie nicht aus den Augen und griff nach dem Maschinengewehr, das am Boden lag.
Daryl deutete ihr mit der Hand, dass sie ruhig liegen bleiben sollte. Wie in Zeitlupe beobachtete sie Daryl, der in die Richtung zurückschoss, aus der der Schuss gekommen war. Sara lehnte sich gegen die betonierte Brüstung, eine Hand gegen ihre Wunde drückend. Der Schmerz war nicht mehr so intensiv, auch das Pulsieren war schwächer geworden. Sara wusste aber nicht, ob die Blutung nachgelassen oder ob sie schon zu viel Blut verloren hatte. Die Haut an der Unterseite ihres Kinns spannte. Sie wurde müde und schloss die Augen.

Daryl sah, dass ein paar Männer am Boden unterwegs waren, um die Angreifer zu verfolgen. Es konnten nicht viele sein. Es war nur der eine gezielte Schuss gewesen, nicht mehr. Er warf das Maschinengewehr zurück auf den Boden und lief zu Sara. Sie war blass, die Hand, die auf ihre Wunde drückte, zitterte.
Sie war so weit gekommen. Sie durfte jetzt nicht sterben. Nicht jetzt. „Mach die Augen auf, Sara. Bleib bei mir. Komm schon“, versuchte Daryl ruhig zu sagen. Er erschrak über die Panik in seiner Stimme, als er sich selbst hörte.
Mit flatternden Lidern öffnete Sara wieder die Augen. „Ich bin da. Ich bin da“, murmelte sie und räusperte sich. Es tat weh, und ihr schmerzverzerrtes Gesicht trieb Daryl ein Messer in die Brust. Er konnte nicht abschätzen, wie schwer sie verletzt war. Der ganze Bereich rund um Sara war blutverschmiert, aber sie war ansprechbar. Ein gutes Zeichen.
„Du musst zu Hershel“, sagte Daryl und griff unter ihre Schultern und ihre Knie, um sie hochzuheben. „Nein. Ich kann selbst gehen“, sagte Sara bestimmend und stemmte ihre Hand gegen seine Brust. Er stützte sie beim Aufstehen und schob sie behutsam Richtung Stiegenabgang.

Sara sah ihn an und erschrak. „Bist du auch verletzt?“, murmelte sie ängstlich, denn sie hatte Blutspritzer in seinem Gesicht entdeckt. Vorsichtig wischte sie einen Tropfen auf seiner Wange weg, nur um mit ihren blutverschmierten Fingern noch mehr Blut auf seinem Gesicht zu verteilen. „Oh. Sorry“, sagte sie langsam. „Das ist meins.“
Daryl umschlang ihre Taille und stieg vorsichtig die Stufen mit ihr hinunter. „Mir geht’s gut. Und dich kriegen wir auch wieder hin“, sagte Daryl. Glenn kam ihnen entgegen und übernahm die weitere Wache am Wachturm, während Daryl sich beeilte, Sara zu Hershel zu bringen.
Adrenalin schien durch ihren Körper zu schießen, denn die Müdigkeit ließ wieder nach, und Sara merkte, dass ihre Gedanken klarer und ihr Kreislauf kräftiger wurden. Einen Arm hatte sie um Daryls Schultern gelegt, mit der zweiten hielt sie nach wie vor den Stofffetzen wie einen Druckverband auf die Wunde.

Vorsichtig setzte Daryl Sara auf ihrem Bett in ihrer Zelle ab. Hershel war ihnen gefolgt. „Sie hat Blut verloren. Ich weiß aber nicht wie viel“, erklärte Daryl, als er Hershel Platz machte, damit er sich um Sara kümmern konnte. Sara ließ ihre Arme sinken und atmete tief durch. Bei Hershel war sie in guten Händen. Auch seine Tochter Maggie war da, um ihn dabei zu unterstützen.
Daryl sah zu, wie Maggie anfing, die Wunde zu säubern. Jedes Mal, wenn sie an der Verletzung ankam, sah er Sara die Schmerzen an. Anfangs zuckte ihr ganzer Körper, nach und nach reduzierte sich die Reaktion auf ein Zusammenkneifen der Augen oder ein Rümpfen der Nase. Sie weinte ohne zu schluchzen, und ihre Tränen vermischten sich mit dem Blut auf ihrem Gesicht, bis sie von Maggie mit Wasser und einem sauberen Tuch abgewaschen wurden.

Die Schmerzen wurden mit jeder Berührung erträglicher. Sara suchte den Augenkontakt mit Daryl, der in der Tür stand. Als Daryl ihren Blick bemerkte, erwiderte er ihn und nickte ihr aufmunternd zu. Sie wünschte sich, dass er sich neben sie setzte und bei ihr blieb. Aber das konnte sie nicht von ihm verlangen. Nicht vor den anderen. Noch nicht.
„Es sieht schlimmer aus als es ist. Die Wunde blutet zwar stark, ist aber nicht tief. Ein Streifschuss. Ein paar Zentimeter weiter oben und dein Kiefer wäre zertrümmert. Du hattest Glück“, erklärte Hershel ruhig und lächelte Sara an.
Daryl fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare. Er war erleichtert. Er seufzte unbewusst laut auf, sodass sich Hershel und Maggie kurz zu ihm umdrehten. „Bist du verletzt?“, fragte Maggie und war im Begriff aufzustehen, doch Sara hielt sie am Arm zurück. „Ihm geht’s gut. Das ist alles mein Blut, er stand direkt neben mir, als der Schuss fiel“, erklärte Sara erschöpft und machte eine kaum merkbare Kopfbewegung in Richtung Tür. „Genau. Ich wasch das mal ab“, brummte Daryl verstört und ging aus der Zelle.

Zielstrebig marschierte er in die Waschräume, doch anstatt das Blut abzuwaschen, setzte er sich auf den Boden neben dem Waschbecken und starrte auf seine Hände. Auch sie waren blutrot. Das Gefühl, Sara zu verlieren, hatte in ihm Chaos erzeugt. Noch viel mehr als damals, als er sie aus dem Pool gezogen hatte.
Dieses Chaos irritierte ihn. Sara irritierte ihn. Aber er konnte seine Gedanken an sie nicht abschalten. Gedanken und Gefühle, die ihn verunsicherten. Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als jemand kurz gegen seine Stiefelspitzen trat. Es war Rick, der vor ihm stand.
„Alles o. k.? Wie geht’s Sara?“, fragte er nach. Daryl sprang auf und drehte den Wasserhahn auf, um sich die Hände zu waschen. Und um Rick nicht ansehen zu müssen. „Ja. Streifschuss. Wird schon wieder. Habt ihr was gefunden?“, antwortete er knapp.
„Eine Botschaft vorne bei den Autowracks. Sie werden wiederkommen. Und sie wollen das Gefängnis. Wir müssen vorbereitet sein“, erklärte Rick emotionslos. Dann klopfte er Daryl freundschaftlich auf die Schulter. „Geh wieder zu ihr. Sie braucht dich. Und du brauchst sie“, sagte Rick ruhig.

Überrascht sah Daryl ihn im Fliesenspiegel an und wollte etwas erwidern, doch Rick hob abwehrend die Hand. „Vertrau mir, Daryl. Ihr zwei ergänzt euch. Du musst es nur zulassen. Es ist schön, jemanden zu haben, der einen auch ohne Worte versteht.“ Seine Stimme klang seltsam wehmütig.
Daryl richtete sich auf und stellte das Wasser ab. Über den Spiegel sah er Rick an, der ihm müde lächelnd zuzwinkerte und ihn dann wieder allein ließ. Es zulassen. Als ob das so einfach wäre. Er schlenderte langsam zu Saras Zelle zurück. Sie saß mittlerweile alleine auf ihrem Bett, ihre Wunde war versorgt und verbunden.
„Hey, wie geht’s?“, sagte er leise und wartete in der Tür. Sara lächelte ihn an. „Hey. Geht schon wieder, danke“, antwortete sie und deutete ihm, zu ihr zu kommen. Daryl zögerte kurz, kam dann näher und ging vor ihr in die Hocke. Er stützte sich links und rechts von Sara an der Bettkante ab und sah sie prüfend an. „Was sagt Hershel?“, fragte er nach. Sara rollte mit den Augen. „Etwas blass um die Nase bin ich vielleicht noch, wegen dem Blutverlust. Ein paar Tage pausieren, dann kann ich wieder mit anpacken!“

Daryl nickte und sah sich unbeholfen in der Zelle um. Sara zupfte seine Lederweste zurecht und betrachtete ihn. Er war verunsichert. Es gab nicht oft Momente, in denen er so verletzlich wirkte. Er war sonst immer so stark. Sara nahm all ihren Mut zusammen. Sie beugte sich vor und nahm sein Gesicht in beide Hände. „Was zum…?“, zischte Daryl fast panisch, aber Sara legte ihre Daumen auf seine Lippen, und er verstummte.
Er spürte die Wärme, die von ihrem Körper ausging. Sie schien seinen eigenen Körper anzufachen, er hatte das Gefühl, innerlich zu verbrennen. Sara beobachtete, wie Daryls Gesicht rot anlief. Mit einem Lächeln lehnte sie sich vor zu seinem Ohr. „Ich bin nur mutig“, flüsterte sie, bevor sie es sanft küsste. Langsam wanderte sie mit ihrem Mund über seinen Kiefer vor bis zu seinem Mund.
Vorsichtig kniete sich Daryl zwischen Saras Beine und wanderte mit seinen Händen vorsichtig zu ihrer Taille. Er drückte sie näher an sich und genoss ihre Nähe, ihre sanften Küsse. „Schön, dass du auf mich hörst“, erwiderte Daryl mit rauer Stimme, bevor sich ihre Lippen das erste Mal berührten.
Er hatte es vergessen. Nicht mehr gewusst, wie es sich anfühlen konnte. Jemandem so nahe zu sein. Als sich ihre Zungen trafen, war es wie ein Stromschlag, der gleichzeitig durch beide Körper fuhr. Während ihre Küsse immer leidenschaftlicher wurden, schmiegte sich Sara an ihn und fuhr ihm durch die Haare, zärtlich daran ziehend. Daryls Hände wanderten unter ihr Shirt und streichelten ihre weiche Haut.

Als sie sich wieder voneinander trennten, waren ihre Gesichter erhitzt und ihre Wangen gerötet. Aber beide lächelten. „Langsam, Süße. Du bist verletzt“, sagte Daryl leise und fuhr mit seinem Handrücken über ihren Verband.
„Ich bin auch auf Drogen. Hershel hat mir was gegen die Schmerzen gegeben. Also spüre ich die Verletzung momentan nicht wirklich. Mir ist eher etwas schwindlig. Liegt wahrscheinlich am Blutmangel“, grinste sie und zwinkerte Daryl zu. „Also haben jetzt nur die Drogen aus dir gesprochen, oder wie?“, fragte er neckisch. Sara sah ihn liebevoll an und küsste ihn kurz. „Die haben mir nur geholfen, das zu tun, was ich schon längst hätte tun sollen.“

Petra Hechenberger

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16066

Das Kanin

Für Doris

Es urteilt sehr von oben hin
Die Fachwelt über das Kanin
Hat ihm das –chen nur angefügt
Weil ihm sein Lebensstil genügt

Nicht jagt es Reh noch Antilope
Doch stünd’ ihm solches zu Gebote
Und dass man seine Macht vergisst
Geht zurück auf Merlins List

Gefürchtet war im Mittelalter
Der mutige Kaninenhalter
Das Kanin war wild und rau
Und fraß zum Frühstück manche Sau

Der Tribut war unerträglich
Den Bauern ging es klag und kläglich
Doch zollten sie ihm Speis und Sachen
Schließlich tötete es Drachen

Gehalten war’s schon schwere Last
Als Wildkanin war es verhasst
Berittene Kaninenhorden
Erfreuten sich an Raub und Morden!

Geschickt ward d’rum, um Rat zu fragen
Nach Kanin Merlin hoch an Tagen
Dem weisesten aller Kanine
An seinem Waldhütten-Kamine

Dieser kam und sah sich’s an
Kratzt sich die Ohren dann und wann
Und verlangt’ ein Honorar
Das wirklich unbescheiden war

Der Landverwalter buckelte
Woraufhin Merlin ruckelte
Auch sehr würdig zuckelte
Und am Starkbier nuckelte

Darauf zog er sich zurücke
Und erfand sein größtes Stücke
Das Medizin-Kanin erfand er
In Scharen fiel es übers Land her

Und verkündet‘ neue Lehre
Eine stolze, eine hehre
Die jedem ehrlichen Kanin
Tief im Herzen sich verfing

Ihr mögt, sprach‘s, stark und mächtig sein
Die Menschen liefern euch die Schwein‘
Und ja, ihr lebt in Saus und Braus
Doch eines Tags ist’s damit aus

Was habt ihr dann bewirkt im Leben
Außer Zittern, Zagen, Beben?
Wär’s schöner nicht, geliebt zu scheiden?
Wär’s edler nicht, sich zu bescheiden?

Zu nähren sich von Gras und Kräutern
Die Körper, Geist und Seele läutern?
Die Jagd hilft nur sich abzulenken
Und schadet Sehnen und Gelenken

Blutrünst’ger Ehrgeiz ist für Narren
Die Weisheit liebt es auszuharren
Der nobelste Behuf von Tieren
Ist Weltbeschau und Meditieren

Und Kanine, gebt es zu
Nach Gelassenheit und Ruh
Sehnt sich euer tiefstes Streben
Wann wollt er dieses Streben leben?

Legt ab den Weltbezwingungswahn
Ihr Kanine wild und zahm
Er entspringt nur nied’rem Triebe
Widmet vielmehr euch der Liebe!

Wer wollte nicht gestreichelt sein
Von Menschenhand – jahraus, jahrein
Anstatt mit Macht sie einzuketten
Zu liefern euch die Schwein‘, die fetten

Wer wollte nicht im Kreis sich sammeln
Um nach Herzenslust zu rammeln
Und so den Weg des Tantra wandeln
Statt ständig kriegen und verhandeln

Wach auf, Kaninenvolk der Welt
Und sieh, wie’s wahrhaft sich verhält
Ein Schritt nur, mehr ist nicht geboten:
Reicht euch zum Verein die Pfoten!

So kam’s, dass just ein Ungeheuer
Durch Merlins gold’ner Worte Feuer
Von allen Tier’n des Weltgefild‘
Zuerst Vollkommenheit erhielt

Dein –chen, oh Mensch, kannst du dir sparen
Bedenk, was sie dir einstmals waren
Sieh, das erhabene Kanin
Wie weit ist’s heute zu ihm hin.

Ja, so ist der Lauf der Welt
Wer aber selbst Kanine hält
Er streichle diese täglich
Und nähre sie auch redlich.

http://www.thepoke.co.uk/2015/04/05/10-medieval-rabbits-didnt-mess-around/

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Hinweis für alle, die sich dafür interessieren, wozu ein Kanin noch alles imstande ist:
weiterlesen mit Etwas Fell

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16056

 

Vom Stadtgrün

Palmström kam zu etwas Geld
Und wollt damit erwirken
Dass seine Straße Grün erhält
Er entschied sich bald für Birken

Er investiert’ in 18 Bäume
Die er eigenhändig setzte
Realisierte seine Träume
Auch wenn er das Gesetz verletzte

Schon sah Palmström sich lustwandeln
Im selbstgeschaff’nen Birkenhain
Er wird noch mit der Stadt verhandeln
Doch diese wird verständig sein

Ja, sie wird ihn sogar preisen
Schon die Luftverbesserung
Wird sich als segensreich erweisen
Welch ein Sieg der Aufklärung!

Ach, Palmström, wann wirst du begreifen
Wie immer bist du weit voraus
Wie immer muss die Zeit noch reifen
Deine Birken riss man aus

„Eigenmächtig Pflanzerey“
So war‘s auf einem Schild zu lesen
„Verbietet sich die Magistrey:
Nur sie darf diese Stadt verwesen!“

Palmström wurd‘ fuchsteufelswild
Und beschlug mit starker Hand
Dies Schild mit einem eig‘nen Schild
Worauf wie folgt zu lesen stand:

„Oh, selbstverliebte Magistrey
Befreie dich vom Größenwahn
Und begreif, die Stadt ist frey
Und dir beileib’ nicht untertan!

Verwesen willst’ die Stadt allein?
Du weißt nicht, was verwesen heißt
Du mordest meinen Birkenhain
Was deine Unberufenheit beweist

Denn zum Verwesen braucht’s erst Leben
Und Leben speist aus Moder sich
Aus abgelebten Leben eben
Und dieses ruf zur Rache ich

D’rauf besorgt er Dschungelsamen
Karnivoren, Dornenhecken
Hauswandmoose und Lianen
Und schlich damit von Eck zu Ecken

Ein jedes davon fand bald Halt
Und nach heißen Sommerwochen
Ward die Straß’ zum Urwald bald
Durch den entsprechend Tiere krochen

Vögel, selt‘ne, groß und klein
beherrschten bald das Baumgezweig
Dam- und Rotwild, Fuchs und Schwein
Durchstreiften scheu das Unterzeug

Und während Auerhähne balzten
Baumgiganten krachend fielen
Sauen Autos niederwalzten
Eul‘ und Eulin sich gefielen

Fraß die Wucherung sich weiter
Erfasste andre Straßenzüge
Wurde lang und breit und breiter
beherrscht’ schließlich das Stadtgefüge

Der Mensch behalf sich mit Macheten
Seine Wege durchzubahnen
Trampelpfade sich zu treten
Baute sich Lianenbahnen

Palmström erhielt ein formlos Blatt
Per Affenpost traf dieses ein:
„Wir haben‘s satt, der Sieg ist dein
Es verflucht dich auf immer: der Magistrat!“

Palmström damals noch unerfahren
Im Feuermachen und Glutbewahren
Entbrannte den unsanften Gruß
Als willkommenen Fidibus

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16050

Der Kaiser von China

Soll der Kaiser von China fliegen?
Soll er lieber Kinder kriegen?
Ist er uns lieber als Kaiser auf Probe
Oder in Damen-Garderobe?
Soll der Kaiser riesengroß sein
Oder besser erbsenklein?
Isst er am liebsten Käsenocken
Oder Radieschen mit Schneeflocken?
Soll er zu Hause sich nützlich machen?
Baut er lieber Kinderdrachen?
Seht die tausend Möglichkeiten,
Die tausend Sorgen uns bereiten.

Von allem am besten ein bisschen was
So macht er uns am meisten Spaß.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques | Inventarnummer: 16021

 

Späte Erkenntnis

Spät aber doch musste Palmström begreifen
Dass die Menschen nicht lernen, dass sie nicht reifen
Diese Erkenntnis extrapolierend,
Entwarf er die Zukunft, sie war schockierend.

Wetter, ruft er, soll all mein Streben
Das Menschenglück zu mehr’n und heben
Eitler Wahn gewesen sein?
Gekränkt schließt sich Palmström im Zimmer ein.

Er beschließt in dieser Zeit,
Dass er sich von der Welt befreit
Und sollt er d’rob in besten Jahren
Geradewegs zur Hölle fahren.

Gedanklich ist er schon gesprungen
Hat Edelstahl sein Herz durchdrungen
Hat Palmström sich in alten Schwarten
Beraten über Todesarten

Schierling, Branntwein, Wagenlenken, …
Da erfasst ihn ein Bedenken:
Vielleicht, mein Zweifel unbenommen,
Gelingt‘s der Welt davonzukommen?

Besser doch mein gutes Leben,
Statt zu beenden, abzugeben.
Und dabei noch finanziell
Es zu sanieren, eventuell!

Wir kennen Palmström und wir verstehen
Er will nur nach dem Rechten seh‘n.
Man übergibt sein Leben nicht
belastet, das ist Bürgerspflicht!

Der Käufer dafür erhält doppelte Chance
Und so begrüßen wir Palmströms Annonce:

Halb unverbrauchtes Leben
Wäre günstig abzugeben.
(Leider keine Garantie
Wie in solchen Fällen nie)
Männlich, ledig, maturiert
Heeresdienst ist absolviert
Kein Ärgernis den Staatsgesetzen
Zeugungsfähig laut Attesten
Im großen Ganzen unversehrt
Kaum durch Schuldenlast beschwert
Überhaupt recht tadellos
Weltekel bloß
Noch nicht alt und nicht zu jung
Selbstabholung.

Vielleicht war’s dieses letzte Wort
Der erwünschte Selbst-Transport
Dass die Annonce nicht Antwort fand
Doch einer hat ihn am Stil erkannt:

Korf verfasst ein kurzes Schreiben:
Ich rat dir, Palmström, sei bescheiden
Wir gehör’n, liest Palmström bleich,
In ein eher geistig Reich,

Wie alles was, ich sag‘s nicht gern
Geschaffen von Christian Morgenstern.
Du bist ein Mann der Dichtung
Und trägst von daher die Verpflichtung,

Vertraglich gesichert durch deinen Verlag,
Dich zu erhalten Tag für Tag
Palmström, nachdem er die Folgen erwogen,
Hat die Annonce zurückgezogen.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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www.verdichtet.at | Kategorie: fantastiques und unerHÖRT! | Inventarnummer: 16004

 

Life, Teil 1

(inspired by TWD)

Leere. Unendliche Leere. Das war alles, was sie in diesem Moment fühlte. Sara starrte auf die Wasseroberfläche des Indoor-Pools, der sich vor ihren Augen über das halbe Untergeschoss des verlassenen Einfamilienhauses erstreckte.
Es war still hier unten. Die anderen durchsuchten das Obergeschoss des Hauses nach Kleidung. Konserven. Waffen. Das Haus schien sicher zu sein. Fürs Erste. Sie hatten schon seit ein paar Stunden in Ruhe marschieren können. Sara ging in die Knie und ließ eine Hand langsam durch das Wasser gleiten. Es war angenehm. Der Raum war friedlich. Das Wasser schlug leise gegen den Beckenrand.

Das Haus wirkte noch fast bewohnt. Etwas unordentlich. Die Bewohner mussten bis vor Kurzem noch hier gewesen sein. Vielleicht hatten sie flüchten können. Sara wünschte es ihnen. Ohne sie je gekannt zu haben. Sie schloss die Augen, senkte den Kopf und atmete tief durch. Ein Schluchzen durchbrach ihre Atemzüge.
Dieses Sterben war so sinnlos. Seit einem knappen Jahr war ihre Gruppe unterwegs und kämpfte ums Überleben. Tag für Tag. Nacht für Nacht. Sie kämpften gegen die Jahreszeiten, gegen wilde Tiere. Aber was viel schlimmer war: Sie mussten gegen andere Menschen kämpfen.
Da waren jene, die ihre Vorräte wollten. Und da waren die anderen. Die nicht mehr sie selbst waren. Seit der Virus ausgebrochen war. Die Menschen starben. Standen wieder auf und machten sich auf die Suche. Nach anderen Menschen. Die sie fressen konnten. Untote Kannibalen. Nicht vorstellbar – und doch war es Realität geworden.
Der Kern der Gruppe war seit Anbeginn der Apokalypse zusammen. Zu Beginn waren sie acht gewesen – Rick und Lori, Daryl, Carol und Sofia, Glenn, Luke und Sara. Sie waren der Seuche entronnen und schlossen sich zusammen. Alleine war die Überlebenschance gleich null. Drei von ihnen hatten es trotzdem nicht bis hierher geschafft.
Dafür hatten sich andere der Gruppe angeschlossen. Momentan waren sie zehn Personen. Das Vertrauen innerhalb der Gemeinschaft musste groß sein, um das Überleben aller garantieren zu können. Wobei – eine Garantie gab es nie.

Heute war ein schlechter Tag für Sara. Einer jener Tage, an denen selbst sie die Zukunft der Menschheit hinterfragte. Wo das alles hinführen sollte. Was aus den Überlebenden werden sollte. Menschheit … Die Definition des Wortes musste wohl neu überdacht werden.
Sara war sonst immer diejenige, die die Köpfe der anderen wieder aufrichten konnte. Ihr Optimismus und ihre Fröhlichkeit waren ihre Markenzeichen. Sie schien mit allen gut auszukommen, denn sie wusste, wie sie den Menschen begegnen musste. Es war eine Gabe, sich auf andere Menschen einstellen zu können – ohne sich dabei zu verstellen.

Aber heute war es anders. Heute benötigte Sara jemanden, der ihr sagte, dass das alles nicht umsonst war. Dass es einen Sinn machte, in diesem Chaos weiterzuleben. Sie hing in einem Tal der Hoffnungslosigkeit fest. Vorgestern hatten sie wieder zwei aus ihrer Gemeinschaft verloren. Greg und Suzie waren gebissen worden. Das hieß, dass sie selbst zu Monstern mutierten. Ein Pärchen, gerade mal Anfang 20.
Sara erinnerte sich daran, wie sie in diesem Alter gewesen war. Es war noch nicht allzu lang her, nur ein paar Jahre. Und doch erschien es ihr wie eine Ewigkeit. Freitagabend mit Freunden ausgehen, ein romantisches Essen mit ihrem Freund, Heiligabend mit ihren Eltern und ihrem Bruder Luke.
Ihre Eltern hatten das alles Gott sei Dank nicht mehr miterleben müssen. Sie waren beide ein paar Monate vor dem Virusausbruch bei einem Autounfall gestorben.

Luke hatte sie drei Monate, nachdem sich die Gruppe gemeinsam auf den Weg gemacht hatte, einen sicheren Ort zu finden, bei einem Angriff verloren. Er wollte sie schützen. Und fiel dabei den Beißern in die Arme. Er konnte sich befreien, aber die Bisse, die er davongetragen hatte, ließen der Gruppe keine Wahl.
Sara konnte sich noch von ihm verabschieden. Sie hielt ihn im Arm, als Luke, ihr Bruder, ein Mensch, starb. Betete, dass seine Seele friedlich den Weg zu ihren Eltern finden würde. Sie hielt ihn so lange im Arm, bis sich der Körper wieder zu regen begann.
Das war nicht mehr Luke. Sein Körper, ja. Aber das, was Luke ausgemacht hatte, sein Wesen, war weg. Das war nur noch ein tödlicher Virus, der sich leblose Körper zu eigen machte, um sich weiter zu verbreiten.
Rick wollte es tun. Doch Sara kam ihm zuvor. Sie griff mit Tränen im Gesicht nach ihrem Jagdmesser und rammte es ihrem Bruder in die Stirn. Es schien ihr in diesem Moment, dass sie sich das Messer in ihr eigenes Herz stieß. Sein Körper erschlaffte zum zweiten – und letzten – Mal.
Es konnten ihnen ganze Körperteile fehlen, das war egal. Doch wenn das Gehirn zerstört wurde, war das auch für diese Kreaturen das Ende.

Luke. Ihr Bruder. Er fehlte ihr. Sie waren immer eng verbunden gewesen. Er war ihr Held. Hatte auf sie aufgepasst. Die Tage nach seinem Tod waren es die anderen gewesen, die ihr Halt gegeben hatten. Die ihr Mut zugesprochen und sie beschützt hatten.
Fast jeder von ihnen hatte mittlerweile einen Verlust zu beklagen. Rick hatte seine Frau Lori verloren, Carol ihre Tochter Sofia. Daryl hatte auch seinen Bruder verloren, doch Merle war nie Teil ihrer Gemeinschaft gewesen.

„Den oberen Stock können wir verbarrikadieren. Wir bleiben heute hier“, hörte sie Rick dumpf im Obergeschoss rufen. Sara blinzelte geistesabwesend und starrte weiter in das Wasser.
Plötzlich spürte sie eine angenehme Nässe, die ihren Körper umschloss. Sie war in den Pool gefallen und trieb regungslos auf der Wasseroberfläche. Sie betrachtete die Fliesen am Grund des Pools. Das Wasser lief in ihre Ohren. Egal. Sie hielt die Luft an.
Eine seltsame Ruhe machte sich in ihrem Körper und ihrem Geist breit. Wie in Trance hörte sie ihrem eigenen Herz zu, wie es seinen Schlag verlangsamte. Das Wasser schlug sachte gegen ihren Körper. Sara atmete langsam und gleichmäßig aus. Die Luftblasen stiegen links und rechts neben ihrem Gesicht hinauf zur Wasseroberfläche.
Sara war bewusst, dass sie sich bewegen musste, um Luft zu holen. Aber sie schaffte es nicht. Sie war müde. Die Glieder schmerzten von den tagelangen Märschen und Nächten auf hartem Beton oder unwegsamem Gelände. Es war angenehm, leicht, im Wasser zu treiben. Sie war ruhig. Hatte nach wie vor nicht wieder eingeatmet.
Langsam merkte sie, wie der Atemreflex versuchte, wieder einzusetzen. Ein paar Mal tief unter Wasser einatmen, dann wäre es vorbei. Der ganze Schmerz, die Erinnerungen, das Leid. Alles wäre vergessen. Aber für die anderen wäre es nicht vorbei.
Sie würde zurückkehren. Vielleicht würde sie jemanden aus der Gruppe erwischen, bevor sie jemand töten konnte. Die jüngsten Neuzugänge waren noch nicht so trainiert in ihrer Verteidigung. Sie hatten sich monatelang in einer Firmenkantine verschanzt, bis sie von Rick und Glenn gefunden wurden.

Sara wusste, wie schwer es für jeden einzelnen war, ein Mitglied der Gemeinschaft an die Beißer zu verlieren. Auch wenn das Wesen, das getötet werden musste, nichts mehr mit dem ursprünglichen Menschen gemein hatte. Die meisten interpretierten das Notwendige mit Mord.
Mord in der Familie. Sie würde mit dieser Aktion einen aus der Gruppe dazu zwingen, wieder morden zu müssen. Das konnte sie nicht zulassen.
Da war er, der Überlebenswille. Sara versuchte sich mühevoll zu drehen, konnte sich aber nicht bewegen. Ihre Kleidung war mit Wasser vollgesogen und zog sie unter die Oberfläche. Ihre Arme klatschten auf das Wasser, um sich aufzurichten, aber sie schaffte es nicht.

Da bemerkte sie einen Schatten, kurz darauf sprang jemand neben ihr ins Wasser. Die Welle trug sie in die entgegengesetzte Richtung. Für einen Augenblick kam ihr Kopf über Wasser, sie konnte kurz einatmen und gurgelte etwas Unverständliches.
Wenn es ein Beißer war, musste sie weg. Sie versuchte zu schwimmen, kam aber nicht vom Fleck. Jemand packte sie an der Schulter und drehte sie mit Gewalt um. Sara holte tief Luft. Sie hatte bereits Wasser geschluckt und hustete es wieder aus.
Ein starker Arm umfasste ihre Taille von hinten. „Atme, Sara! Verdammt Sara, atme!“, rief ein Mann aufgebracht und schwamm mit ihr die wenigen Meter bis zu den Eingangsstufen des Pools.
Sie atmete ein paar Mal tief durch. Dann fing sie hemmungslos an zu weinen. Es war kein Beißer. Sie lehnte ihren Kopf gegen die Schulter ihres Retters. Ihre Sinne waren benebelt, sie erkannte ihn nicht.
Er setzte sich auf die oberste Stufe und hielt sie fest. Sara lehnte erschöpft zwischen seinen Beinen auf der Stufe unterhalb. „Ich wollte … ich konnte nicht … ich bin so … müde …“, murmelte sie verzweifelt. „Shhh“, sagte er leise und nahm seinen zweiten Arm zu Hilfe, um sie besser zu stützen.
Es überkam sie wieder ein Hustenanfall und sie erbrach Wasser. „Gut so, raus damit“, sagte er ruhig und wiegte sie leicht hin und her. Sie stöhnte auf stützte sich auf seinen Knien ab, um sich richtig auf die Stufe zu setzen.

Ihre Arme zitterten, sie brachte selbst kaum die Kraft auf. Er schien zu merken, was sie vorhatte, und half ihr. „Ich konnte es nicht …“, sagte sie wieder und schluchzte auf. „Was?“, fragte er leise.
Sie richtete sich auf und versuchte sich zu beruhigen. „Es beenden. Ich hätte jemanden von euch erwischen können. Bevor ihr mich getötet hättet. Das hätte ich mir nie verzeihen können. Auch wenn ich dann nicht mehr ich selbst bin“, antwortete sie. Sara rieb sich die Augen, die vom Chlor brannten.
„Kleiner Tipp am Rande: Besorg dir eine eigene Pistole. Ein Schuss. In den Kopf. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Du bist tot und wir haben keine Arbeit. Aber glaub bloß nicht, wir hätten uns von deiner ersoffenen Beißerleiche erwischen lassen.
Kannst dich doch sowieso nicht anschleichen. Ich hätte dich auf zehn Meter Entfernung gehört“, erklärte er trocken.

Sara musste lächeln. Zu so einer Antwort war nur einer fähig. Am Beckenrand sah sie seine Armbrust auf den Fliesen liegen. Sie drehte sich um und sah Daryl.
„Hi“, sagte er leise und nickte ihr leicht zu. „Hi“, flüsterte sie. „Ich hätte dich getötet. Das weißt du, oder“, meinte er und sah ihr in die Augen. Seine Worte mussten einem Außenstehenden kalt und emotionslos erscheinen. Doch sie wusste, wie er es meinte.
„Ja“, erwiderte sie mit zitternder Stimme. „Ich hätte es gehasst. Aber ich hätte es getan“, erklärte Daryl. Saras Mundwinkel zuckten. Sie wollte nicht wieder weinen. Sie nickte kurz und heftig. „Ich weiß. Du willst niemanden mehr verlieren“, sagte sie und atmete tief durch.

Er nahm ihr Gesicht in beide Hände. „Ich will niemanden mehr verlieren“, wiederholte er ruhig Saras Worte. Sein Blick wirkte besorgt. „Ich … Die Gruppe darf dich nicht verlieren“, ergänzte er.
Sara hielt kurz die Luft an und blinzelte. Wassertropfen liefen über ihr Gesicht und vermischten sich mit den Tränen auf ihren Wangen.
Sie sah ihn fragend an und zog die Augenbrauen zusammen. Hatte er gerade „Ich darf dich nicht verlieren“, sagen wollen? „Sara. Codename Sunshine. Wenn wir dich sehen, schöpfen wir neuen Lebensmut. Trotz der ganzen Scheiße hier. Die Sonne geht auf. Sara sagt, es wird ein schöner Tag. Wir erledigen Beißer. Sara hofft auf ihren Seelenfrieden. Vogelbabys fallen aus ihrem Nest. Sara setzt sie wieder zurück. Ich würde das Federvieh nicht mal sehen. Und alles passiert mit einem Lächeln auf den Lippen“, erklärte er sanft. Er blickte kurz auf ihre gleichmäßig geformten Lippen und fuhr mit einem Daumen kurz darüber, um die Wassertropfen darauf wegzuwischen.

Es tat ihm weh, sie leiden zu sehen. Sie hatte sich seit ihrem ersten Aufeinandertreffen stark verändert. Sie hing damals an ihrem Bruder, ließ ihm den Vortritt, stand in seinem Schatten. Luke war in Ordnung gewesen, hatte sich um sie gekümmert.
Aber er hatte nie versucht, Sara aus dieser passiven Rolle herauszuholen. Sie war stark. Ein Fels in der Brandung. Sie war optimistisch. Sie sah in jedem das Gute, ließ sich aber nicht blenden.
Mit Hilfe ihrer Menschenkenntnis hatte Rick schon einige Male die im Nachhinein betrachtet richtige Entscheidung für die Gruppe treffen können, als sie auf andere Überlebende trafen. Sie wusste, wie Daryl tickte, und akzeptierte ihn, wie er war. Sie konnte Geheimnisse bewahren, die sonst niemand wusste. Das mochte er an ihr.
Die letzten Monate war sie ihm ans Herz gewachsen. Er zeigte seine Gefühle nicht offen, das hatte er nie gelernt. Schon gar nicht Frauen gegenüber. Er war ohne Mutter oder Schwester groß geworden. Dafür mit einem Vater, der trank und seinen Bruder und ihn misshandelt hatte.
Diese Gruppe war das, was einer Familie am nächsten kam, selbst als sein Bruder noch lebte. Merle hatte sich mit den falschen Leuten umgeben. Als ihn die Beißer erwischten, beendete Daryl sein Dasein. So hatten sie beide, Daryl und Sara, ihre Brüder verloren – getötet mit ihren eigenen Händen.

Sara war durcheinander. Sie wusste, dass Daryl ein zynischer Einzelgänger war. Innen drin jedoch genauso verletzbar wie alle anderen. Aber diese Seite zeigte er so gut wie nie. Sie verlangte es auch nicht oder manipulierte ihn dazu, sie zu zeigen. Das letzte Mal war es aus ihm herausgebrochen, als er Merle getötet hatte.
„Keine Ahnung, wie du das immer schaffst, aber es ist cool“, flüsterte er und lächelte leicht. Das kam auch nicht oft vor bei ihm. Aber wenn es jemand schaffte, dann war es Sara. „Pass auf dich auf und bleib bei uns. OK?“, fragte er und sah ihr fordernd in die Augen.
Sie nickte leicht und sah nach unten. Er gab ihr einen brüderlichen Kuss auf die Stirn. Wie er es schon oft getan hatte. Aber diesmal war es anders. Er hielt kurz inne und wanderte dann langsam ihr Gesicht entlang, seine Nasenspitze streifte ihre Wange.
Sara schloss die Augen. Trotz der nassen Kleidung war ihr nicht kalt. Sie spürte ebenfalls, dass die Stimmung anders war als sonst. Sie mochte Daryl. Vor der Apokalypse wären sie sich wahrscheinlich nie begegnet.
Er war ehrlich und geradlinig. Er akzeptierte Rick als Chef der Gruppe und stand ihm loyal zur Seite. Er achtete auf die Schwächeren der Gruppe. Sie wusste, dass jeder Verlust auch innerlich an ihm nagte.
Sie spürte seinen Atem auf ihrem Mund und merkte, dass er zögerte, sie zu küssen. Sie öffnete kurz ihre Augen und sah direkt in seine. Sein Blick wechselte immer wieder kurz zu ihrem Mund.

Er spürte eine seltsame Unruhe in seiner Brust, sein Hals schien sich zu verengen. Etwas hielt ihn zurück, sich die letzten Zentimeter vorzubeugen.
Auch Sara hatte den Wunsch, ihn zu küssen. Aber sie wollte nicht, dass ihre Beziehung sich dadurch veränderte. Sie mussten sich aufeinander verlassen können, Beziehungsstress konnte sich in diesen Zeiten niemand leisten.
Sie streckte sich ihm entgegen und küsste ihn leicht auf seine Wange. Dann umarmte sie ihn und drückte ihn so eng an sich, wie es ihre geschwächten Arme zuließen. Daryl vergrub seinen Kopf in ihrer Halsbeuge, schloss die Augen und streichelte ihren Rücken.
Sie genoss seine Berührung, seine warmen Hände strahlten durch die feuchte Kleidung auf ihre Haut. Auch er empfand ihre Umarmung als angenehm, beruhigend, in einer gewissen Art sogar beschützend.
Saras Kopf war wie leergefegt. Keine schwermütigen Gedanken. Nur dieser Moment. Diese Umarmung. So langsam ihr Herz kurze Zeit zuvor noch geschlagen hatte, so kräftig und schnell pulsierte es in diesem Augenblick. Ja. Sie war am Leben. Und sie wollte leben. Weiterleben. Mit Daryl und den anderen. Ihrer Familie.

Nach einer gefühlten Ewigkeit trennten sie sich voneinander. Sie sah ihn an und merkte, wie er sich wieder verschloss. Er sah an ihr vorbei Richtung Treppenhaus, sein Körper spannte sich an und er ging auf Abstand. Sie nahm es ihm nicht übel. Sie hörte die zwei Neuen die Treppe hinunterpoltern und stand vorsichtig auf.

„Was zum Teufel ist denn hier passiert?“, rief Alex neugierig und blieb am anderen Ende des Pools gemeinsam mit Andy stehen. „Ich wollte mich umbringen und hab mich ins Wasser gestürzt. Daryl hat mich wieder rausgezogen“, erklärte Sara ruhig und sah die beiden an. Daryl saß noch immer hinter ihr und beobachtete die zwei Burschen still.
„Komm schon, Sunshine. Rede keinen Blödsinn. Wieso solltest du dich umbringen wollen?“, fragte Andy und schüttelte den Kopf. Sara senkte kurz den Kopf und drehte sich leicht zu Daryl. „Da sagt man mal die Wahrheit und es glaubt einem keiner“, murmelte sie. Daryl verzog den Mund, um ein Grinsen zu unterdrücken, und stand ebenfalls auf.
„Dann gib’s halt zu, Sara“, begann Daryl und räusperte sich. „Sie ist über ihre eigenen Beine gestolpert, ausgerutscht und reingefallen. Ich hab sie rausgezogen“, erklärte Daryl in seiner ernsten Art. Die alternative Begründung erschien den beiden glaubhafter.

Alex und Andy machten sich über Sara lustig. Sara stieg langsam an Daryl vorbei aus dem Wasser und hielt sich dabei an seinem Oberarm fest. Einen Moment länger als notwendig verweilte ihre Hand an der Stelle, bevor sie weiterging. Daryl folgte ihr mit einigen Schritten Abstand und beobachtete sie.
Sie war noch wackelig auf den Beinen, schien sich aber wieder beruhigt zu haben. Er überlegte, ob er sie hätte küssen sollen. Obwohl: Dieser Moment hatte ihre Beziehung in jedem Fall verändert. Irgendetwas war anders.
Bei seiner Armbrust angekommen, hob Sara sie schwerfällig auf und zielte in die Richtung der beiden Jungen. „Ihr macht euch jetzt mal nützlich und sucht mir eine bequeme Schlafmöglichkeit da oben. Ich bin älter, mir steht ein Bett zu. Oder zumindest eine Couch. Wenn es breit genug ist, teile ich auch. Ausnahmsweise. Macht schon, sonst jage ich euch Pfeile in den Hintern!“, sagte sie gespielt streng und ging langsam auf Alex und Andy zu.
„Yes, Ma‘am!“, riefen beide lachend und liefen zurück zu den anderen, um ihnen Saras Missgeschick brühwarm zu erzählen. Und hoffentlich eine Schlafmöglichkeit zu reservieren. Sara drehte sich um und hielt Daryl die Armbrust hin. „Du hast da was fallen lassen, Robin Hood“, lächelte sie ihn an. Er nahm ihr die Armbrust ab und schulterte sie.

„Sehen wir zu, dass wir trockene Sachen auftreiben. Sonst krepieren wir an einer harmlosen Grippe und die anderen müssen uns beide abknallen. So habe ich mir meinen Abgang nicht vorgestellt“, sagte Daryl und deutete Richtung Stiegenaufgang.
Sara nickte. „Dann wäre die ganze Aktion hier umsonst gewesen. Zumindest was mich angeht“, sagte sie sarkastisch und ging voraus. Vor den ersten Stufen drehte sie sich noch einmal um. Er blieb ebenfalls stehen und sah sie fragend an.
„Andererseits hast du seit Langem wieder mal sowas wie eine Dusche abbekommen. Ich finde, das war es wert“, kicherte sie leise, zwinkerte ihm zu und ging dann langsam die Stufen hoch. Er sah ihr nach und grinste.
Sie war immer noch dieselbe. Davon war er überzeugt. Aber irgendetwas war anders – doch anders hieß nicht zwingend schlechter. Das hatte sie ihn in den letzten Monaten gelehrt.

Petra Hechenberger

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